Karl May

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Einleitung
Mein Weg mit Karl May

»Sie haben den Leihschein falsch ausgefüllt!«

»Wieso das denn?«

»Der Autorenname stimmt nicht. Es kann ja wohl kaum sein, dass Karl May selbst ein Buch mit dem Titel ›Die Wahrheit über Karl May, von einem dankbaren Leser‹ geschrieben hat!«

Die Dame an der Theke des Deutschen Literaturarchivs in Marbach liegt falsch, obwohl sie mich zunächst erfolgreich verunsichert. Ich bin zum ersten Mal hier im Bibliothekssaal, um als angehender Abiturient für ein Referat zu recherchieren. Einige Minuten später wird die 1901 erschienene Broschüre zusammen mit anderen historischen May-Veröffentlichungen aus den Katakomben des Archivs angeliefert. Ich werde an diesem Tag noch auf manches Kuriosum zu Karl May stoßen. Mein bisheriges Bild von ihm wird völlig auf den Kopf gestellt.

Karl Mays Reiseerzählungen seien als Gleichnisse, also bildlich resp. symbolisch zu nehmen, lese ich erstaunt in Mays 1910 erschienener Selbstbiografie »Mein Leben und Streben« und wähne mich einer sensationellen Entdeckung auf der Spur. Man sieht, dass ich ein echt deutsches, also einheimisches, psychologisches Rätsel in ein orientalisches Gewand kleide, um es interessanter zu machen und anschaulicher lösen zu können, schreibt er weiter. Der vermeintliche Abenteuerschriftsteller Karl May sei in Wahrheit ein ambitionierter Autor mit einer besonderen Mission gewesen, keineswegs nur ein Schreiber für die Jugend: Wie man bei einem geistig und seelisch so bedeutsamen, ja schweren Inhalt meine Bücher als ›Jugendschriften‹ und mich als ›Jugendschriftsteller‹ bezeichnen kann, würde unbegreiflich sein, wenn man nicht wüsste, dass alle, die diesen Fehler begehen, sie entweder nicht begriffen oder nicht gelesen haben.

*

Eigentlich war ich mit 19 Jahren dem typischen Karl-May-Lesealter entwachsen und hatte bis dahin nicht sonderlich viele Bücher von ihm gelesen. War es ein Zufall gewesen oder, wie May selbst in seinen Erzählungen immer wieder schreibt, eine ›Schickung‹? Jedenfalls hatte ich mich für den Schöpfer von »Winnetou« als Gegenstand meiner Hausarbeit entschieden. Ich erinnerte mich vage an die schon Jahre zurückliegende Lektüre der zweibändigen »Old-Surehand«-Ausgabe: Hatte es da nicht sogar einige tiefschürfende Szenen gegeben, zum Beispiel Gespräche über Religion?

Ansonsten kannte ich Mays Werke vor allem von Hörspielschallplatten der 70er-Jahre. Vor dem Lautsprecher des »DUAL«-Plattenspielers hatte ich schon zigfach die Verbrüderung von Old Shatterhand und Winnetou und den tragischen Tod des Apachen miterlebt oder die Reise zum »Schatz im Silbersee« verfolgt. Zudem hatte ich um den Rapphengst Rih geweint. Unvergessen die Stimme von Hellmut Lange, der als Kara Ben Nemsi die Hörspiele des Labels EUROPA zu Klassikern machte. Vorstellungen von Freundschaft wurden durch Karl May geprägt, der zeigte, dass Hautfarbe und Herkunft bei der Beurteilung eines Menschen keine Rolle spielen darf. Wenn Hans Paetsch als Winnetous Vater Intschu-Tschuna mit Donnerstimme die Tragik der Indianer beklagte, bekam man ein schlechtes Gewissen, als Bleichgesicht geboren zu sein. Ich wusste auch, dass sich hinter dem »Kleeblatt« die Westmänner Sam Hawkens, Will Parker und Dick Stone verbargen, und kannte selbstredend die Ahnenreihe von Kara Ben Nemsis Diener und Freund aus den Orientabenteuern auswendig, in meiner Generation ein gerne angewandter Charaktertest: Hadschi Halef Omar Ben Hadschi Abul Abbas Ibn Hadschi Dawud Al Gossarah!

Karl May verdankte ich sogar einen frühen literarischen Triumph: Meine Nacherzählung von »Winnetou I«, eine straffe Prosafassung des Hörspiels in einem DIN-A5-Heft, akzeptierte die gutmütige Grundschullehrerin in der 4. Klasse als Vorleistung für drei Strafarbeiten, und im gleichen Jahr (1975) glänzte ich bei einem Quiz in einem Kaufhaus: Heinz-Ingo Hilgers, Winnetou-Darsteller der Bad Segeberger Festspiele, war in voller Kostümierung gekommen, um die Marbacher Jugend zu examinieren. Am Ende durfte ich stolz einen Karl-May-Band mit »Winnetou«-Autogramm nach Hause tragen.

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Wenn ich allerdings an das erwähnte Referat fürs Gymnasium zurückdenke, schäme ich mich heute etwas dafür, Karl Mays Selbstauskünfte zum Symbolismus in seinem Gesamtwerk ziemlich unreflektiert übernommen zu haben. Ich beeindruckte damals Lehrer, Schulkameraden und mich selbst mit der überzeugt vorgetragenen These, dass bei May jedes Wort seine tiefere (oder höhere) Bedeutung habe. Allerdings bin ich nicht wirklich traurig darüber, Mays Apologetik geglaubt zu haben, denn so blieb ich an ihm und seinem Werk für die nächsten Jahre hängen. Abenteuer-Romantik allein wäre für mich keine ausreichende Rechtfertigung dafür gewesen, als Erwachsener systematisch die meisten May-Bände zu verschlingen.

Just zu jener Zeit traf sich in einem Nachbarort im Tagungsraum eines Hotels erstmals ein Karl-May-Kreis. Hier begegnete ich zum ersten Mal honorigen älteren Herrschaften, die immer noch voller Begeisterung von Karl May sprachen, sich an historischen Buchausgaben erfreuten und darüber diskutierten, wer im Knabenalter den Tod Winnetous am meisten betrauert hatte. Einer der Teilnehmer wollte sich drei Tage im Wald versteckt haben.

Ich wurde darüber aufgeklärt, dass Karl May ein Gegenstand seriöser Forschung sei, lernte Urtexte von Bearbeitungen unterscheiden und war noch im Jahr 1984 stolzer Besitzer des Mitgliedsausweises Nr. 999 der Karl-May-Gesellschaft. Diese literarische Vereinigung bestand damals seit 15 Jahren und leistete, wie ich bald feststellte, Erstaunliches in der Erforschung von Karl Mays Leben und Werk.

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Zunächst einmal holte ich ab meinem 20. Lebensjahr das nach, was andere schon hinter sich hatten. Ich las den überwiegenden Teil aller Karl-May-Bücher, vor allem seine Reiseerzählungen (Gesammelte Werke Band 1 bis 33). Natürlich erlag ich dabei der Faszination, geführt durch einen bezwingenden Erzähler, den Zauber exotischer Völker und Landschaften nachzuerleben. Bewusst achtete ich nun auf Finessen, etwa wie Karl May es immer wieder erreicht, seinen eigentlich unglaublichen Geschichten den Anstrich von Authentizität zu geben, oder dass er mit dem Leser wie mit einem Freund kommuniziert. Karl May bedeutete mir aber durchaus noch mehr. Meine damalige Suche nach religiöser Orientierung bekam durch die May-Lektüre überraschend viele Anstöße. Ich fand in zahllosen Beispielen bestätigt, was er selber über den Zweck seiner Bücher sagte: Ich will eindringen, will Zutritt nehmen in seine Seele, in sein Herz, in sein Gemüt. Und mit dieser Erfahrung stehe ich nicht alleine da: In einer von May für die Broschüre »Karl May als Erzieher« ausgewählten Leserzuschrift heißt es: »Ihre Schriften sind nicht in erster Linie ›Reiseerzählungen‹, sondern ›Reden an die Völker‹, Predigten des Gottvertrauens und der Menschenliebe, lebendiger und wirksamer, wie viele, denen diese Worte als Stichworte voranstehen.«

Nachhaltig beeindruckt hat mich auch Karl Mays pazifistisches Buch »Und Friede auf Erden«, in dem er so vehement für Frieden und Völkerverständigung eintritt. Insbesondere stellt er für mich sehr überzeugend dar, dass die Anwendung von Waffengewalt kein Mittel ist, Frieden zu erzwingen. Sein in diesem Buch mehrfach zitiertes Gedicht »Gebt Liebe nur, gebt Liebe nur allein« prägte sich mir so tief ein, dass ich es unter dem frischen Eindruck dieser Lektüre wohl geschafft hätte, stehenden Fußes eine Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen zu formulieren.

In den ersten Jahren meiner intensiveren Beschäftigung mit ihm durchlief ich so etwas wie eine fundamentalistische Karl-May-Phase. Die Arbeit der Karl-May-Gesellschaft war Mitte der 80er-Jahre noch sehr stark darauf ausgerichtet, ihm die Anerkennung in der Literaturgeschichte zu vermitteln, die ihm durch naserümpfende Kulturwächter bis dahin versagt geblieben war. Besonders kämpfte man gegen die Reduzierung Mays auf den »Jugendschriftsteller« an (heute buhlt man dagegen gerade darum, dass die Jugend Karl May entdeckt und weiterhin liest). Als erwachsener Karl-May-Freund sah ich mich damals zu vielen Rechtfertigungstiraden veranlasst, um für den Ruf meines Lieblingsautors zu kämpfen. Ich hielt sogar einen Volkshochschulvortrag zum Thema »Old Shatterhand war ein Dichter«, das im Programmheft zum eher sinnfreien »Old Shatterhand war ein Schriftsteller« gestutzt wurde.

Um Karl May vom Nimbus des Trivialautors zu befreien, musste man für ihn um den Dichter-Lorbeerkranz ringen. Eifernd wurden Zeugnisse bedeutender Literaten gesammelt, die sich respektvoll über Karl May geäußert haben:

Ernst Bloch: »Karl May ist einer der besten deutschen Erzähler, und er wäre vielleicht der beste schlechthin, wäre er eben kein armer, verwirrter Proletarier gewesen.«

Ralph Giordano: »So lange Menschen lesen, werden sie auch Karl May lesen.«

Heinrich Mann: »Ich höre, dass Karl May der Öffentlichkeit so lange als guter Schriftsteller galt, bis irgendwelche Missetaten aus seiner Jugend bekannt wurden. Angenommen aber, er hat sie begangen, so beweist mir das nichts gegen ihn – vielleicht sogar manches für ihn. Jetzt vermute ich in ihm erst recht einen Dichter!«

Martin Walser: »Ich bin ein Karl-May-Bewunderer: immer schon gewesen und geblieben. Ich glaube, dass er für jedes Lebensalter geschrieben hat. Als ich ihn früher las, las ich das Abenteuerliche; heute glaub ich, es war das Tröstliche im Abenteuerlichen, das ihn so lesenswert macht.«

Irgendwann einmal war ich aber gelassen genug, nicht mehr bei jeder Gelegenheit den May-Apologeten zu spielen. Rechtfertigungsdrang kommt ja immer aus einer eigenen Unsicherheit heraus. Das ist beim religiösen Fundamentalismus nichts anderes. Wer wirklich gewiss ist, dass er für sich und sein Leben etwas Gutes entdeckt hat, lernt damit umzugehen, dass andere über dasselbe Thema anders denken.

 

Dass Karl May tatsächlich zum »Guten« gehört, zu dem, was mein Leben nachhaltig bereichert hat, ist für mich jedenfalls heute gewiss, auch wenn er sich als christlicher Mentor nur vorübergehend auf meinem Lebensweg behaupten konnte. Die Ernsthaftigkeit seiner christlichen Überzeugung und seine Wahrheitsliebe in religiösen Fragen nehme ich May aber trotzdem noch heute ab. Davon, dass er mit seinen Büchern an mir und anderen Gutes bewirkt hat, bin ich überzeugt.

Neben der »inneren« Prägung durch ihn führte die Beschäftigung mit seinem Werk zu vielen besonderen Erlebnissen: Karl May hat mir zum Beispiel noch einen Einblick in die letzten Jahre der deutschen Demokratischen Republik ermöglicht. In der Karl-May-Gesellschaft übernahm ich damals die Patenmitgliedschaft für einen DDR-Bürger, der mich bald darauf einlud, mit ihm die Karl-May-Stätten in Hohenstein-Ernstthal und Radebeuel zu besichtigen. Durch die entstandenen Freundschaften erlebte ich die politische Wende natürlich anders mit, als es ohne Ostkontakte der Fall gewesen wäre.

Eine besondere Sache war auch die sogenannte »Winne-Tour« nach Texas und Neu-Mexiko, die ich zusammen mit 40 Karl-May-Freunden aller Altersgruppen unternahm: Sozusagen eine Reise auf den Spuren eines Mannes, der seine Fußstapfen dort nie hinterlassen hatte. May hat ja alle Reisen über die Prärien und durch die Schluchten des mittleren Westens der USA nur in der Fantasie unternommen. Inzwischen aber kennen ein paar Leute dort den Namen Karl May und wissen, warum die Deutschen über die Geheimnisse des Llano Estacado besser Bescheid wissen als die Einheimischen. Im Jahr 2000 hat ihm die Texas Tech University in Lubbock ein Symposium gewidmet.

Kostbare Erinnerungen: die früheren Tagungen der Karl-May-Gesellschaft mit Festvorträgen des ehrwürdigen Professors Dr. Heinz Stolte, der bereits 1936 seine Doktorarbeit zum Thema Karl May geschrieben hat. Oder das »Karl-May-Fest« in Berlin mit einer rauschenden Ballnacht zum 80. Geburtstag des Filmproduzenten Artur Brauner. Außerdem natürlich einige Festspielbesuche (Bad Segeberg, Rathen, Elspe, Weidensfeld/Österreich).

Zuletzt inspirierte Karl May mich literarisch: Mit der Adaption einer May-Geschichte zu einem »Winnetou«-Hörspiel kehrte ich zu meinen frühesten literarischen Wurzeln zurück (ich hatte ja in Schulheften Hörspiele nacherzählt). Und Karl May hat sich sogar in meinen Roman »Aljoscha. Eine Geschichte vom Suchen und Finden« eingeschlichen, der eigentlich Dostojewski gewidmet ist. Von ihm habe ich schließlich den Optimismus übernommen, dass man mit Büchern die Welt ein bisschen freundlicher und liebevoller machen kann.

Ich fühle mich durch Karl May für mein Leben beschenkt, obwohl die biografische Forschung der letzten Jahrzehnte manches an seiner Persönlichkeit entzaubert hat. Ich werde in diesem Buch nicht umhinkommen, auf einige problematische Seiten seiner Persönlichkeit einzugehen. Aber wir müssen ja nur in unser eigenes Inneres blicken, um zu erkennen, dass Widersprüchlichkeit ein Teil unserer Existenz ist. Im richtigen Leben konnte May nicht immer der Edelmensch sein, den er in seinen Büchern verkörperte. Aber als Mensch, der so stark in seinen Büchern lebte, würde er vielleicht in einem »jüngsten Gericht« als Old Shatterhand oder Kara Ben Nemsi beurteilt, wenn er nicht ohnehin unter den Gnadenerlass fiele. »In dieser Seele loderte das Feuer der Güte«, schrieb die Friedensnobelpreisträgerin Bertha von Suttner unmittelbar nach dem Tode Mays.

Jeder, der es unternimmt, der umfangreichen Literatur über Karl May noch ein Buch hinzuzufügen, sollte eine Rechtfertigung parat haben. Ein überflüssiges Buch ist in meinen Augen ärgerlich. Ich hoffe, dass dieses kleine Buch, das für May-Fachleute eigentlich nichts »Neues« enthält, dennoch Sinn macht, weil es Menschen erreicht, die mit der existierenden Fachliteratur mutmaßlich nie in Berührung kämen. Zudem ist manches gute Buch über Karl May in Vergessenheit geraten, kaum mehr erhältlich oder schwer zu lesen.

Ich will einige Fakten zu Karl May liefern, vielleicht einigen immer noch verbreiteten populären Irrtümern auf den Pelz rücken, vor allem aber der bunten Vielfalt im Karl-May-Kosmos meine Referenz erweisen. Die eigenen Erlebnisse rund um den sächsischen Fantasten zeigen mir, dass Karl May ein Thema fürs Leben sein kann, selbst wenn man nicht einem »Karl-May-Kult« verfällt.

Immer wieder wird im Folgenden von Mays Glauben die Rede sein, der beinahe in jedes seiner Werke einfloss. Als Kara Ben Nemsi oder Old Shatterhand hat er in den Reiseerzählungen manches tiefsinnige Gespräch mit den Gefährten geführt, zuweilen regelrecht seelsorgerlich. Der Lotse Karl May, der seine Leser so sicher und behaglich durch exotische Landschaften führte und die Zuversicht einflößte, jeder Gefahr erfolgreich zu trotzen, konnte durchaus Gottvertrauen vermitteln.

Bewusst lasse ich persönliche Empfindungen einfließen, wobei ich überzeugt davon bin, hier und da von anderen Karl-May-Lesern ein wissendes Lächeln zu ernten. Was Fakten angeht, habe ich mich darum bemüht, verlässlich zu sein. Wo man sich um den »wahren Karl May« und die angemessene Pflege seines Vermächtnisses streitet, will ich kein Öl ins Feuer gießen.

Erster Teil
· Leben ·
Blindheit und Armut

Obwohl das Leben Karl Mays heute nahezu lückenlos erforscht ist, sind über ihn immer noch diverse Mythen im Umlauf. Meist ist er selbst die Quelle, vor allem, weil er sich so stark mit den Helden seiner Reiseerzählungen identifizierte, dass er auf Vortragsreisen erzählte, er habe die in seinen Büchern geschilderten Abenteuer als Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi wirklich erlebt. Diese »Old-Shatterhand-Legende« wurde zwar schon zu Lebzeiten nachhaltig erschüttert, aber Freunde und Feinde Mays sorgten noch jahrzehntelang nach seinem Tod dafür, dass sich populäre Irrtümer über ihn hartnäckig behaupteten. Dies gilt sowohl für Verbrämungen als auch für Verleumdungen.

Die Hüter seines Vermächtnisses, die Witwe Klara May und der Gründer des Karl-May-Verlages, Euchar Albrecht Schmid, meinten das Ansehen Mays dadurch zu schützen, dass sie den Anschein wahrten, er habe sicher, oder zumindest mit hoher Wahrscheinlichkeit, in den 60er- und 70er-Jahren des 19. Jahrhunderts Nordamerika und den Orient bereist und gute Englisch-, Arabisch- und sonstige Sprachkenntnisse besessen. Auf dem anderen Ende der Skala verbreiteten sich Gerüchte, Karl May habe alle seine Bücher im Gefängnis geschrieben und er sei zeitweise Anführer einer Räuberbande gewesen. Vor allem habe er seine Leser permanent betrogen und von anderen Autoren abgeschrieben.

Heute lässt sich Wesentliches aus Mays Vita durch Dokumente belegen. Zudem hat man gelernt, dass etwaige Flecken in einem Lebenslauf nicht alles über menschlichen Wert oder Unwert aussagen. Und schon gar nichts über literarische Befähigung! Beides wurde im Fall von Karl May immer wieder munter vermischt. Inzwischen liefern viele Bücher differenzierte Vorstellungen über die Persönlichkeit des Sachsen.

Aber bisweilen eröffnen sich durch akribische Nachforschungen neue Rätsel. Vor einigen Jahren konnte man zum Beispiel noch wesentlich unbefangener in eine Lebensbeschreibung Mays einsteigen. Da nahm man als ziemlich gesichert an, dass die blühende Fantasie des Schriftstellers darauf zurückzuführen sei, dass der am 25. Februar 1842 in Hohenstein-Ernstthal geborene Sohn eines Webers aufgrund von Mangelernährung oder einer Infektion erblindete und erst im 5. Lebensjahr wieder sehend wird. Mays Mutter absolviert zu dieser Zeit eine Hebammenausbildung in Dresden und lernt einen Arzt kennen, der sich des Jungen annimmt und ihn erfolgreich operiert. So schildert es Karl May 1910 in seiner Autobiografie »Mein Leben und Streben«. Einen ersten literarischen Hinweis auf die Erblindung gibt May schon in seiner Erzählung »Old Surehand« (1894). Ich bin dreimal blind gewesen und musste dreimal operiert werden, berichtet da der Ich-Erzähler Old Shatterhand und führt aus, dass er als Kind so schwächlich gewesen sei, dass er erst mit sechs Jahren richtig gehen lernte. May, der sich bei Abfassung des »Surehand«-Romans komplett mit dem Erzähler seiner Abenteuerreisen identifizierte, hat diese Version zeitgenössischen Berichten nach ebenso in Vorträgen und privaten Gesprächen verbreitet. Außerdem überliefert ist die mit Sicherheit nicht zutreffende Variante, er sei blind geboren worden, die in einer von May autorisierten Studie aus dem Jahr 1906 auftaucht (Heinrich Wagner: »Karl May und seine Werke«).

Geburtshaus von Karl May in Hohenstein-Ernstthal. Diese Aufnahme stammt wahrscheinlich von Klara May und ist um 1910 entstanden.

Erblindungen aufgrund von Infektionserkrankungen durch verseuchtes Wasser waren in den ärmeren Bevölkerungsschichten nicht ungewöhnlich. Die Lebensbedingungen der Heimweber und ihrer Familien in dem kleinen Städtchen an den Ausläufern des Erzgebirges waren als Folge der Industrialisierung erbärmlich, von Karls 13 Geschwistern erlebten nur vier das Erwachsenenalter. Zweifel an der frühkindlichen Blindheit begründete der Mediziner und May-Forscher Johannes Zeilinger in einem bei der Tagung der Karl-May-Gesellschaft 1999 gehaltenen Vortrag damit, dass alle infrage kommenden Krankheiten, die zu einer Erblindung hätten führen können, in der Regel offensichtlichere Folgeschäden an den Augen hinterlassen hätten. Von solchen ist aber im späteren Leben Mays nichts bekannt, abgesehen von einer Kurzsichtigkeit, die ihn für den Militärdienst untauglich machte.

Aus psychologischer Sicht, nicht zuletzt weil das Blindheitsmotiv auffällig oft in seine Romane einfließt, ist man dennoch geneigt, daran festzuhalten, dass Karl May die ersten Jahre seines Lebens tatsächlich in Dunkelheit verbrachte. Dies wäre zugleich die Erklärung dafür, dass er in besonderer Weise von der mit im Haushalt lebenden Mutter seines Vaters umhegt wurde. May spricht von ihr als der »Märchengroßmutter«, die ihn mit spannenden Märchen und Erzählungen versorgt und damit seine Fantasie angeregt haben soll.

Großmutter erzählte eigentlich nicht, sondern sie schuf; sie zeichnete; sie malte; sie formte … Mochte sie aus der Bibel oder aus ihrer reichen Märchenwelt berichten, stets ergab sich am Schluss der innige Zusammenhang zwischen Himmel und Erde, der Sieg des Guten über das Böse und die Mahnung, dass alles auf Erden nur ein Gleichnis sei, weil der Ursprung aller Wahrheit nicht im niedrigen, sondern nur im höheren Leben liege. Ich bin überzeugt, dass sie das nicht bewusst und in klarer Absicht tat; dazu war sie nicht unterrichtet genug, sondern es war angeborene Gabe, war Genius, und der erreicht bekanntlich das, was er will, am sichersten, wenn man ihn weder kennt noch beobachtet. Großmutter war eine arme, ungebildete Frau, aber trotzdem eine Dichterin von Gottes Gnaden und darum eine Märchenerzählerin, die aus der Fülle dessen, was sie erzählte, Gestalten schuf, die nicht nur im Märchen, sondern auch in Wahrheit lebten.

An dieser Stelle seiner Biografie erwähnt May auch ein angeblich im Familienbesitz befindliches altes Buch mit dem orientalischen Titel »Der Hakawati« (der Märchenerzähler), in dem die Geschichte über den Stern »Sitara« enthalten sein soll. Die Figur des Hakawati und das Sitara-Märchen spielen in Karl Mays Alterswerk eine wichtige Rolle, wie wir noch sehen werden. Im Bemühen, seinen literarischen Weg im Rückblick als eine planmäßige Mission zu deuten, dürfte May dieses geheimnisvolle Märchenbuch der Großmutter erfunden haben, denn ganz offensichtlich mischt er in einer Synthese aus Dichtung und Wahrheit philosophische Ansichten aus seinen späten Schriften unter seine hier geschilderten Kindheitseindrücke. Deren Wiedergabe wirkt somit stellenweise reichlich verklärt, wirft aber ein Licht auf das reiche Seelenleben Mays:

In meiner Erinnerung tritt zuerst … das Märchen ›von der verloren gegangenen und vergessenen Menschenseele‹ auf. … Ich habe mit meinen blinden, lichtlosen Kindesaugen um sie geweint. Für mich enthielt diese Erzählung die volle Wahrheit. Aber erst nach Jahren, als ich das Leben kennengelernt und mich mit dem Innern des Menschen eingehend beschäftigt hatte, erkannte ich, dass die Kenntnis der Menschenseele in Wirklichkeit verloren und vergessen wurde und dass alle unsere Psychologie bisher nicht imstande war, uns diese Kenntnis zurückzubringen. … Ich wollte und wollte sie finden. … Da nahm Großmutter mich auf ihren Schoß, küsste mich auf die Stirn und sagte: ›Sei still, mein Junge! Gräme dich nicht um sie! Ich habe sie gefunden. Sie ist da!‹ ›Wo?‹, fragte ich. ›Hier, bei mir‹, antwortete sie. ›Du bist diese Seele, du! … Man hat dich herabgeworfen in das ärmste, schmutzigste Ardistan. Aber man wird dich finden; denn wenn alle, alle dich vergessen haben, Gott hat dich nicht vergessen.‹ – Ich begriff das damals nicht; ich verstand es erst später, viel, viel später. Eigentlich war in dieser meiner frühen Knabenzeit jedes lebendige Wesen nur Seele, nichts als Seele. … Wenn jemand sprach, hörte ich nicht seinen Körper, sondern seine Seele. Nicht sein Äußeres, sondern sein Inneres trat mir näher. Es gab für mich nur Seelen, nichts als Seelen. Und so ist es geblieben, auch als ich sehen gelernt hatte, von Jugend an bis auf den heutigen Tag. Das ist der Unterschied zwischen mir und anderen. Das ist der Schlüssel zu meinen Büchern.

 

Die Kindheit endete für May mit dem »sehend werden« im 5. Lebensjahr. Nun wurde er stärker zur damals üblichen Kinderarbeit herangezogen. Der Webstuhl stand in der heimischen Stube. Das Tagwerk waren etwa 14 Stunden. Während der Vater am Webstuhl saß, nähten Frauen und Kinder Leichenhandschuhe, eine Nebenerwerbsquelle. Die Weberei brachte weniger ein als das Existenzminimum. Hunger und Entbehrung kennzeichneten diese Jahre. Das Geburtshaus Karls, eine Erbschaft der Mutter, konnte von der Familie nicht mehr gehalten werden, so dass man schon 1845 eine Mietwohnung am nahegelegenen Ernstthaler Markt bezogen hatte.

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