SCHWARZE KITTEL - Katastrophen-Medizin

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Ankunft in Léogâne

Keine 20 min nach dem Abflug landeten Jasmin und Harry dicht bei der Stadt Léogâne. Harrys Freund ließ den Motor laufen, während Jasmin und Harry geduckt ausstiegen und sich mit dem Gepäck entfernten, bevor der Hubschrauber wieder abhob und entschwand. Harry bot seiner Begleiterin an, ihr wieder den dunkelgrünen Rucksack abzunehmen, obwohl sie ihn heute zum ersten Mal selbst mit einem großen grau-schwarzen Rucksack beladen sah. „Danke nein, vielleicht später!“ Harry drehte sich um und schritt flott aus. Jasmin hatte Mühe ihm zu folgen. Es verging keine Viertelstunde, dann konnte Jasmin nicht weiter. Ohne Worte holte Harry seinen Rucksack von seinem Rücken, schnallte ihn nach vorne und schwang sich Jasmins auf seinen Rücken. Jasmin hatte noch nicht einmal die Riemen wieder auf ihre Länge eingestellt gehabt. Selbst mit dem geringeren Gewicht gelang es Jasmin nicht, Schritt zu halten, so musste Harry immer wieder auf sie warten. Anfangs waren sie querfeldein gegangen, dann auf ausgefahrenen Feldwegen. Als sie an eine quer verlaufende Straße kamen, schlug Jasmins Vordermann vor, dass sie an dieser Stelle mit dem Gepäck warten sollte, er würde in die Stadt gehen und ein Auto organisieren. Auch wenn Jasmin nicht ganz wohl bei der Idee war, allein hier stehen zu bleiben, wo immer mal Fahrzeuge vorbeikamen, aber niemand von ihnen Notiz zu nehmen schien, war die Aussicht auf einen noch langen Fußmarsch noch unangenehmer. Sie legten die Rucksäcke in einen ausgetrockneten kleinen Graben, in den Jasmin sich ebenfalls hockte, sobald Harry aufgebrochen war. Die Hitze und der Durst machten ihr zu schaffen. Sie hätte sich am liebsten ausgestreckt und geschlafen, aber so wehrlos am Straßenrand traute sie es sich nicht, sondern versuchte, sich die Zeit mit Planungen und Sortieren der Eindrücke zu vertreiben. Irgendwann war sie doch mit dem Kopf auf den Knien eingenickt, als das Geräusch eines haltenden Wagens sie aufschreckte. Nicht Harry, sondern zwei junge Schwarze stiegen aus und näherten sich. Jasmin richtete sich auf, begrüßte die beiden forsch, sie warte auf ihren Mann, der gleich zurückkäme, lehnte das Angebot sie mitzunehmen entschieden ab, zumal der Wagen stadtauswärts unterwegs war. Zögernd, aber friedlich stiegen die Fremden wieder ein und fuhren weiter. Erleichtert setzte Jasmin sich wieder in die leichte Vertiefung. Sie kramte nach einem Kaugummi, der ihr im Kampf gegen Hunger und Durst half. Es schien endlos zu dauern, bis Harry tatsächlich selbst am Steuer einer alten Karre neben ihr hielt. Sie verstauten das Reisegepäck. Harry setzte ein Stück auf den Feldweg zurück, um zu drehen, und fuhr gemütlich nach Léogâne. Einzelne Straßen der Stadt waren relativ eben, aber häufig mussten sie abbiegen oder umkehren, weil breite Risse oder Löcher in der Straße die Weiterfahrt unmöglich machten oder Trümmerreste die Durchfahrt versperrten. In dieser Stadt schien nichts heil geblieben zu sein. Ansonsten die gleichen Bilder von Obdachlosen, die überall ihr Lager aufzuschlagen schienen. Kinder kletterten auf den Steinhügeln rum, saßen, lagen oder spielten auf jedem kleinen freien Fleck. Jetzt in der Mittagshitze war der faulig-süßliche Geruch der Verwesung kaum auszuhalten. Jasmin zog ein Papiertaschentuch aus ihrer rechten Hosentasche und ließ einige Tropfen des kleinen 4711-Fläschchens, das sie morgens in ihre linke Hosentasche gesteckt hatte, auf das Tuch fallen, das sie sich anschließend locker vor Nase und Mund hielt. „Bestens vorbereitet“, nickte Harry ihr zu. Sie bot an, ihm auch eines zu machen, doch er musste ja fahren, so hielt sie ihm zweimal zwischendurch ihr Tuch vor seine Nase, bis er den Kopf schüttelte: „Danach ist es nur noch schlimmer!“ Damit hatte er leider Recht. Der starke Geruch des Kölnisch Wassers verflog relativ rasch, und der Kontrast zu dem Ekel erregenden Leichengestank ließ sie würgen. Am liebsten hätte sie die Stadt sofort wieder verlassen, aber Harry schien ein Ziel zu haben, auf das er trotz aller Umwege zuhielt und schließlich in einer Gasse anhielt, die genauso kaputt aussah wie alle anderen. „Wir können die Sachen nicht im Auto lassen“, also zogen sie die Rucksäcke auf. Jasmin nahm ihre beiden selbst und hoffte, dass es nicht mehr weit zu laufen war. Tatsächlich stiegen sie über zwei Schutthaufen, bogen rechts ab in eine schmale Straße, nach ca. 70 m erneut nach rechts und hielten in einer noch engeren Gasse, in der es durch die eng stehenden Mauerreste etwas geschützt und geringfügig kühler war. Ein älterer Mulatte erhob sich und kam hinkend ein paar Schritte auf sie zu. Jasmin verstand seinen Namen nicht, aber begrüßte ihn mit Wangenkuss rechts und links nach französischer Art. Er bot ihr mit der Hand eine Art Sitzplatz auf ein paar gestapelten Holzlatten an, dann unterhielt er sich mit Harry auf Kreolisch. Jasmin war überrascht, dass der Deutsche auch diesen Dialekt offensichtlich mühelos verstand und sogar sprach, während sie nur einzelne Worte aufschnappte, aber dem Gespräch nicht folgen konnte. Bald wandte Harry sich ihr zu: „Ich gehe los, um zu schauen, ob der Messpunkt von Léogâne zugänglich ist, damit ich meine Daten bekomme. Was hast du vor?“ Jasmin zögerte. Sollte sie ihn begleiten? Sie befürchtete, ihm lästig zu werden. Alleine loszuziehen traute sie sich nach den bisherigen Eindrücken auch nicht. „Ich werde hier bleiben. Vielleicht kann ich was helfen.“ Harry brach umgehend ohne Rucksack auf, begleitet vom einheimischen Freund.

Straßenambulanz in Léogâne

Jasmin wandte sich an eine Frau, die seitlich des Holzstapels hockte und deren linker Arm unnatürlich verdreht herab hing. Jasmin sprach sie in langsamem Französisch an: „Ich bin Ärztin, kann ich mir Ihren Arm mal ansehen?“ Die Frau reagierte kaum. Jasmin hockte sich trotzdem vor die Verletzte, bewegte mit ihrer rechten Hand vorsichtig den Arm, während die linke Hand auf der Schulter tastete. Wie erwartet war die Schulterpfanne leer. Der Arm war nach vorne ausgekugelt. Jasmin stellte ihr rechtes Bein angewinkelt neben die Frau, zog eine kurze Latte aus dem Stapel, die sie unter die linke Achsel der Patientin schob, um dann mit einer raschen Zug-Drehbewegung den Oberarmkopf zurück in die Gelenkpfanne zu bringen. Die Frau hatte kurz aufgejammert, aber als Jasmin den Arm erneut auf seine Beweglichkeit prüfte, schien sie keine größeren Schmerzen mehr zu haben. Die Ärztin holte zwei Paar Einmalhandschuhe, eine Packung Verbandsmull, Schere und Desinfektionsmittel sowie ihr Stethoskop aus dem großen Rucksack und packte alles zum Schutz gegen den Staub in eine Jutetasche. Sie schob die Rucksäcke hinter den Holzstapel und zog zwei Latten schräg darüber, um sie ein wenig zu verstecken. Anschließend begab sie sich vorne auf die breitere Gasse, ging noch ca. 50 m zurück Richtung Auto und suchte sich einen ebenen Platz für ihre zweite Straßenambulanz. Sie sah sich um, hängte sich demonstrativ ihr Stethoskop um den Hals und machte mit weit ausgestreckten Armen eine einladende Geste. Es wimmelte nur so von Kindern, die sie neugierig beäugten, aber nicht näher kamen. Die Erwachsenen ignorierten Jasmin, beschäftigt mit der Suche nach Verwendbarem in den Haufen aus zerstörten Gebäuden oder an kleinen Feuern, über denen in Töpfen etwas zu essen köchelte. Manche Mütter hielten kleine Kinder im Arm, die apathisch bei der Hitze vor sich hindösten. Wieder frustrierte Jasmin ihre Ohnmacht. Mit Wasser, Suppe und Infusionen könnten viele dieser exsikkierten, ausgetrockneten, Menschen gerettet werden, aber bis die externe Hilfe auch in die letzten Gassen käme, würde es für viele zu spät sein. Die Ärztin lehnte sich abwartend an einen Stapel Trümmer. Sie überlegte, ob sie von ihren Kaugummis an die Kinder verteilen sollte. Es würde vielleicht die Hemmschwelle senken, aber sie hätte kaum für alle Kinder auch nur ein Kaugummi, es könnte Streitereien auslösen, es würde das Anbetteln von Ausländern fördern – Jasmin entschied sich Stücke eines Kaugummistreifens als Belohnung nach einer Untersuchung einzusetzen. Einige Meter weiter lag ein ca. 16-jähriges Mädchen regungslos am Straßenrand. Anfangs dachte Jasmin, sie schliefe, aber fand es doch ungewöhnlich für das jugendliche Alter. Sie ergriff ihre Tasche und ging auf den Teenager zu, der auch auf ihre Ansprache nicht reagierte. Die Ärztin streichelte ihr über den Kopf, über die Wangen. Das Mädchen glühte. Jasmin überlegte, ob nur von der Hitze, da sie ungeschützt in der Sonne lag oder ob sie hohes Fieber hatte. Sie zog am Rücken das Shirt-Oberteil des Mädchens hoch, um die Lunge abzuhören. Bei eingeschränkter Beurteilbarkeit durch die Seitenlage und fehlende tiefe Inspiration konnte sie das abgeschwächte Atemgeräusch nicht eindeutig als Ausdruck einer Lungenentzündung werten, aber der rasche Puls und die blasse Mundschleimhaut zeigten einen schockähnlichen Zustand. Sie musste aus der Sonne, brauchte Flüssigkeit und ein Antibiotikum. Entschlossen ging sie auf ein paar Männer, die auf einem Schuttberg rumkletterten, zu. Sie zeigte auf das Mädchen, fragte nach den Eltern, nur Schulterzucken und Kopfschütteln. Jasmin erkundigte sich, wo das nächste Krankenhaus sei. „Cassé“, kaputt, wie fast alles in der Stadt. Sie fragte vergeblich nach einem Zeltlazarett oder Ähnlichem, aber die Männer schienen sich nur um ihre Probleme hier in der Gasse zu kümmern und konnten ihr keinen Tipp geben. Vielleicht hätte Harry auf Kreolisch mehr herausgefunden oder das arme Mädchen zu einem Hospital fahren können, doch war völlig ungewiss, wann er zurückkäme. Sie zeigte auf zwei kräftige Männer und zeigte pantomimisch wie das Mädchen weggetragen werden sollte. Einer stieg zu ihr herunter, der andere schüttelte abweisend den Kopf. Wahrscheinlich hatten sie das Mädchen bereits aufgegeben. Als Jasmin selbst mit tragen helfen wollte, kam ein älterer Mann rüber und nahm ihr die Beine ab. Sie ging voran in die enge Gasse, ließ das Mädchen an einem kleinen freien Streifen ca. 10 m entfernt von dem engen Durchgang mit dem Holzstapel ablegen und dankte den Männern, die an ihre Arbeit zurückkehrten. Jasmin hörte jetzt in Rückenlage Herz- und Atemgeräusche am vorderen Thorax ab. Es eilte. Sie zerrte ihren Notfallrucksack vor, kramte Kanüle, Infusionsbesteck und Infusionsbeutel heraus und versorgte die junge Haitianerin mit einem venösen Zugang. Die ältere Frau, der sie den Arm eingekugelt hatte, kam zögernd näher. Jasmin drückte ihr den Beutel in die Hand und schloss die Infusion an, drehte sie fast voll auf. Mit der Armrepositionslatte baute sie einen provisorischen Infusionsständer und horchte das Mädchen immer wieder ab. Als die Kochsalzlösung nach ca. 20 min fast leer war, suchte Jasmin eine Zuckerlösung aus ihrem Vorrat und ließ diese langsamer eintropfen. Der Puls war jetzt immerhin schon unter 100/min gesunken, noch immer zu schnell. Wenn sie jetzt etwas Flüssiges hätte, um der Patientin Medikamente einflößen zu können! Ihr Blick fiel auf den leeren Infusionsbeutel, in dem sich noch der übliche kleine Rest befand. Jasmin kam eine Idee. Sie zerdrückte mit einem Stein ein Antibiotikum und eine fiebersenkende Tablette in einem ungebrauchten Einmalhandschuh, legte ihn der Patientin auf den Bauch, schnitt den Infusionsbeutel mit einem breiten Schlitz auf und schüttete das Tablettenpulver hinein. Mit einer 10 ml Spritze – ohne Nadel – rührte sie, bis sich das Pulver in der Flüssigkeit gelöst hatte, zog die angereicherte Kochsalzlösung in die Spritze und drückte die Medizin langsam in die am Handrücken befestigte Kanüle. Not macht erfinderisch! Jasmin rollte die Isomatte aus und zog sie unter die junge Patientin, dann setzte sie sich vor die Kranke. Erst jetzt überlegte sie, welcher Erreger für den schlechten Zustand des Teenagers verantwortlich sein könnte, mögliche Verursacher gab es viele. Ohne Labor gab es nur statistische Wahrscheinlichkeiten. Für Gesunde sind die meisten dieser Erreger harmlos, aber hier, wo alle geschwächt waren …! Jasmin überlegte, ob sie richtig gehandelt hatte oder ob der Abstand der anderen Bewohner der Gasse die vernünftigere Lösung war. Wäre das Mädchen in den nächsten Stunden gestorben, hätte sich das Problem mit der Lungenentzündung erledigt gehabt, aber jetzt hatte sie ein höchstwahrscheinlich infektiöses Kind anbehandelt, das ohne weitere Therapie nur einige Tage später sterben würde. Wie hoch war für sie selbst die Ansteckungsgefahr? Sie hatte bei allen Einsätzen die Verwendung von Mundschutz für sich abgelehnt. Er schuf eine Distanz zum Patienten, der das Gesicht nur teilweise sehen konnte, und es signalisierte eine Ansteckungsgefahr, die für all die, die sich nicht schützen konnten, dadurch noch bedrohlicher erschien. Sie sah auf ihre Gummihandschuhe herab, nur ein minimaler Schutz. Im Schatten der engen Gasse nahm sie weiter hinten viele obdachlos gewordene Menschen wahr, die größtenteils teilnahmslos vor sich hinstarrten oder gekrümmt in Nischen dösten. Die Kinder sammelten sich offensichtlich in der helleren Gasse. Jasmin stand auf und ging erneut mit ihrer Verbandstasche zur Quergasse. Sie beobachtete das Treiben. Vier oder fünf Kinder spielten mit einem ausgezehrten terriergroßen Hund. Größere Kinder suchten aus den Schuttbergen Steine heraus. Manche der Kinder, die auf der Straße saßen, waren offensichtlich krank. Einige hatten dreckverschmierte Wunden. Freiwillig würden sie wohl kaum zu ihr kommen. Wenn sie Waisen waren, würden sich auch keine Eltern um sie kümmern. Also ging Jasmin langsam auf einen ca. Dreijährigen zu, der mit ausgestreckten Beinen da saß. Jasmin streichelte ihm über die schwarzen Haare, über die Backen und hockte sich vor ihn. Sie hob den Kleinen unter den Achseln an und wollte ihn auf die Beine stellen, aber er weinte laut auf und belastete nur das linke Bein. Sie setzte ihn vorsichtig wieder hin und tastete erst das gesunde Bein spielerisch ab, lächelte den Bub an, dann mit leichter Berührung das schmerzende Bein. Jasmin vermutete einen Bruch der Unterschenkelknochen. Da sie keine offene Wunde entdecken konnte, hatte der Junge gute Heilungschancen, wenn man die Knochen für ca. 3-4 Wochen ruhig stellte. Sie richtete sich auf, suchte kurz in den umliegenden Haufen nach hölzernen Trümmern und bastelte aus vier Lattenstücken mit einem Wickelverband eine Schiene, die über das Knie hinaus bis zur Mitte des Oberschenkels reichte. Sie hob den Kleinen hoch und stellte ihn vorsichtig auf seine Beine. Er stand und sah sie überrascht an. Sie steckte ihm ein Drittel eines Kaugummistreifens für seine Tapferkeit in den Mund und suchte weitere Holzreste als Krückenersatz. Damit war der Bann gebrochen. Mehr und mehr Eltern brachten ihre Kinder oder zeigten ihr entzündete Wunden. Jasmin desinfizierte, verband, horchte ab, bis Harry neben ihr auftauchte und ihr eine 0,5 l-Flasche Wasser in die Hand drückte. Dankbar trank sie und ging mit ihm zur Schattengasse. Niemand folgte ihnen. Die meisten suchten sich Sitzplätze und verfielen wieder in die trostlose Stimmung. Jasmin sah nach dem Mädchen, dessen Herzaktion langsamer und regelmäßig war. Die Zunge war noch immer trocken, aber nicht mehr ganz so farblos. Inzwischen war auch die Zuckerlösung fast eingelaufen, mehr konnte Jasmin momentan nicht für die Kranke tun. Harry wusste auch nicht, wo man sie hätte hinbringen können, fragte seinen Freund. „Das Mädchen lebte vorher schon auf der Straße. Ich habe sie immer wieder im Viertel gesehen.“

 

Jasmin ging mit den Männern rüber zu dem Holzstapel, wo die Frau mit der verletzten Schulter sich als die Ehefrau von Harrys Freund entpuppte. Sie hatte inzwischen etwas Reis gekocht und bot den deutschen Gästen an, zuerst aus dem Topf zu essen. Beide aßen anstandshalber nur wenig, obwohl es gut schmeckte und sie richtigen Hunger verspürten. Jasmin unterhielt sich mit Harry über seine Messergebnisse, fragte nach den weiteren Plänen. Harry wechselte zwischen Kreolisch mit seinen Freunden und Deutsch locker hin und her: „Wir übernachten hier, diese Gassen gelten als sicher vor nächtlichen Überfällen. Morgen früh fährt Henrie uns ca. 12 km nach Osten, von dort sind es immer nur wenige Kilometer zu den in den Bergen verteilten Dörfern, ich muss u.a. bis zum Gipfel Morne de la Selle, immerhin 2680 m hoch, dort gibt es wichtige Vergleichsmessungen. Und du? Bleibst du oder willst du noch immer in die Dörfer?“ „Ich komme noch ein Stück mit, wenn das geht. Ich muss raus aus dem Elend und Dreck der Städte.“ Jasmin nahm zwei Schlucke aus der Wasserflasche, die sie am liebsten in einem Zug geleert hätte. Sie sah, dass Harry und sein Freund noch drei weitere kleine Plastikflaschen aus dem Zentrum mitgebracht hatten, also 500 ml für jeden von ihnen – ein Bruchteil des Tagesbedarfs. Aus einem Laden oder einer Verteilung? Ob sie hier mit ihrem Geld Wasser und was zu essen kaufen konnte? Harry antwortete ihr, dass es zwar kleine Märkte gab, wo alles gehandelt wurde: Gemüse, Reis, Textilien, Elektroteile und was so aus den Trümmern gerettet wurde, aber Wasser bot momentan niemand an, dafür musste man lange bei den Ausgabestellen anstehen. Henrie und Harry hatten nach knapp 1 h Warterei jeder zwei Flaschen für sich erhalten und teilten nun mit den Frauen. Jasmin fiel ihre fiebrige Patientin ein. Sie stand auf und legte die kurze Distanz zu ihrem Krankenlager zurück. Das Gesicht der jungen Mulattin war ziemlich eingefallen, mit tiefliegenden Augen, vorspringenden Wangenknochen und spitz zulaufendem Kinn. Die Temperatur schien etwas gesunken, die Augen waren klarer. Die Patientin schien ansprechbar. Als sie auf Französisch fragte, ob das Mädchen sie höre, öffnete es die Augen. Jasmin prüfte den Puls, zog die Kanüle, da die zweite Infusion leer war. „Ton nom? Nome? Name?“ „Julie“, antwortete die Haitianerin erstaunlich klar, aber Jasmins weitere Fragen auf Französisch verstand sie nicht, richtete sich jedoch halb auf. Die Ärztin gab ihr zwei der mitgebrachten Tabletten in den Mund und reichte ihr die noch halbvolle Wasserflasche. Julie verschluckte sich zwei- oder dreimal, aber leerte die Flasche gierig. Jasmin setzte sich neben den Teenager auf ihre Isomatte, blieb ca. ¼ h dort sitzen. Es wurde dunkel. Die wenigen Menschen in der schmalen Gasse richteten sich zum Schlafen. Die Deutsche legte der Einheimischen die Hand auf die Schulter und bedeutete ihr, sich wieder hinzulegen, bevor sie selbst zu Harry zurückkehrte.

Das ältere Ehepaar betete ungefähr stündlich vor dem Holzstapel niederkniend für ein paar Minuten. Harry erläuterte: „Sie machen sich Sorgen um ihren jüngsten Sohn. Er war unverletzt, half dann Verletzte zu bergen und wurde selbst verschüttet, lag in einer eingestürzten Hütte für viele Stunden. Vor drei Tagen war bereits ein ausländisches Hilfsteam da mit zwei Suchhunden, die mehrere Überlebende aufspürten. Sie nahmen vier Schwerverletzte in einem großen Hubschrauber mit zur weiteren Versorgung.“ Die Deutschen dachten beide, dass er wahrscheinlich in der Hauptstadt in einem Lazarett lag und hoffentlich bald zurückkommen könnte. In dem schmalen Durchgang von nicht mal 2 m hatten sie keinen Platz sich alle auszustrecken. Das ältere Ehepaar behauptete, es würde sowieso im Sitzen schlafen. Nun versuchten die Ausländer eine erträgliche Schlafposition zu finden. Jasmin polsterte ein wenig mit Schlafsack und Jacke, trotzdem war es eine der unbequemsten Nächte, zumal sie bei jeder Bewegung der anderen aufwachte und aufgrund der vielen ungewohnten Geräusche in ständiger Alarmbereitschaft war.

Noch bevor es hell wurde, stand Jasmin leise auf, ging um die Ecke in die Seitengasse und reckte ihre schmerzenden Glieder. Die meisten anderen Obdachlosen lagen oder saßen noch, in der Dämmerung nur als Kleiderhaufen zu erkennen. Henrie war Schreiner. Er hatte weiter im Zentrum ein Haus mit Werkstatt gehabt, alles eingestürzt. Wegen der Gewalttaten hatte er mit seiner Frau ein ruhiges Eck gesucht. Als Jasmin Henries Bein untersuchen wollte, hatte Harry erzählt, dass Henrie schon seit Jahrzehnten hinke, weil er sich als junger Mann beim Fällen eines Baumes in den rechten Unterschenkel gehackt habe. Julie lag schlafend ausgestreckt auf der Matte. Noch immer müde hockte Jasmin sich vor ihre Patientin und döste. Nach und nach entstand Trubel um sie rum. Vereinzelt wurden kleine Feuer gemacht, um irgendetwas zu kochen. Kinder wimmelten überall in der breiteren Straße. Was hatten diese Kleinen für eine Lebensperspektive? Angeblich war ein Großteil von ihnen nun allein. Welch ein Horror, mit 3 oder 4 Jahren sich selbst überlassen zu sein! Die verwaisten Säuglinge und Kleinkinder schienen von den überlebenden Erwachsenen aufgenommen worden zu sein. Oder waren sie in den letzten Tagen ohne fremde Hilfe einfach gestorben? Diesen kleinen Erdbebenopfern stand ein Leben auf der Straße bevor, wenn sie nicht irgendwo in einem Waisenhaus unterkamen, wo zumindest für das Nötigste gesorgt werden könnte. Sie brauchten Zuneigung, Erziehung, Bildung, eine Aufgabe. Wer sollte das leisten bei wahrscheinlich Tausenden von Waisenkindern? Sie kannte die Adoptionsdiskussion aus Flüchtlingsdörfern, wo Kriegswaisen in „reichen“ Ländern eine neue Heimat geboten wurde. Wenn man zu Hause bequem auf dem Sofa sitzt, kann man sich leicht darüber aufregen, dass diesen Kindern ihre Heimat, ihre Kultur, ihre Mitmenschen genommen werden, wenn man sie in ein fremdes Land fliegt, aber wenn man das Elend der auf sich gestellten Minderjährigen vor Ort sieht, dann wischen Mitleid und der Wunsch zu helfen alle Argumente weg. Was soll aus all diesen Kindern ohne Fürsorge werden? Wie soll ausreichend Geld ins Land kommen, diese jungen Opfer die nächsten 10 Jahre zu versorgen und auszubilden? Bei den Kriegskindern konnte man von „Heimat“ als Land, wo man aufgewachsen ist und sich wohl fühlte eh kaum sprechen. Wie viele waren ihr Leben lang auf der Flucht oder in Lagern? Hatten sie nicht sogar ein Recht auf eine Adoption? Die Menschenrechte wollten allen Kindern Nahrung und Bildung garantieren - selbst wenn das finanziell möglich wäre, haben Heranwachsende doch auch ein Anrecht auf persönliche Zuwendung, die in Heimen viel weniger möglich ist. Jasmin kannte in Deutschland mehrere Familien, die Kinder aus Notsituationen, auch wenn es sich um deutsche Kinder aus Drogenmilieu etc. handelte, adoptiert hatten. Zumindest die aus ihrem Bekanntenkreis hatten wirklich Glück gehabt, in Familien aufzuwachsen, die für alles sorgen konnten. Wie viele ungewollt kinderlose Paare nahmen große gesundheitliche Risiken mit künstlichen Befruchtungen auf sich, gaben ein Vermögen für diese Versuche aus. Von dem Geld hätten viele Kinder jahrelang unterstützt werden können! Jasmin hatte selbst keine Kinder, aber das Leid der Kleinen, die oft gar nicht verstanden, was passierte, lag ihr immer besonders am Herzen. In Deutschland engagierte sie sich für missbrauchte oder vernachlässigte Kinder, häufig von den eigenen Eltern misshandelt. Dort entschieden die Familienrichter sehr häufig für einen Verbleib der Kinder in problematischen Familien, da die Eltern meist trotz allem von den Kindern geliebt wurden. Adoptionswilligen wurden hingegen so viele Vorgaben und Schwierigkeiten gemacht, um Kinder vor einem möglichen Schaden zu bewahren, dass viele mögliche Stellen für Kinder und viel Zeit verschwendet wurden. Jasmin erschütterte das Bild dieser haitianischen Kinder, die irgendwie selbst für ihren Unterhalt sorgen mussten. Wovon lebten die eigentlich seit Tagen? Sie schämte sich ihres Hungers, hatte sie doch noch gestern Morgen Brot und abends Reis gegessen, aber dieses Heer an Kindern konnten die Überlebenden nicht mit versorgen. Jasmin spürte wie ihr die Tränen über die Wangen liefen. Sie wandte sich um zu Julie, wollte wenigstens ihr das Leben retten.

 

Es war inzwischen hell geworden. Jasmin holte aus ihrem Rucksack eine Tablette des Breitbandantibiotikums, weckte Julie und ließ sie das Medikament trocken schlucken. Mit je einem halben Kaugummistreifen regten die beiden den Speichelfluss an. Jasmin war mit ihren Untersuchungsergebnissen der Verletzten zufrieden und versuchte erneut vergeblich auf Französisch oder Englisch ein paar Informationen von Julie zu bekommen, als Harry zu ihnen trat und auf Kreolisch übersetzte. Das Mädchen war schon lange Vollwaise, wie lange konnte sie an nichts fest machen. Sie besuchte keine Schule, sondern lebte auf der Straße, half auf dem Markt und bekam dafür was zu essen. Jasmin machte sich Gedanken, was jetzt aus dem geschwächten Mädchen würde. Sie brauchte noch Ruhe, aber auch Nahrung und Flüssigkeit. Das Ehepaar betete erneut murmelnd für seine Kinder. Die beiden Deutschen falteten die Hände und senkten die Köpfe. Harry wusste, dass der mittlere Sohn in den USA arbeitete und in Sicherheit war. Das älteste Kind, eine Tochter, lebte weiter im Westen in der Küstenstadt Jérémie. Nach den großen Verwüstungen durch die Wirbelstürme im Spätsommer 2008 waren sie umgezogen, weil ihr Ehemann als Maurer dort Arbeit fand. Auch von ihnen hatten die Eltern noch keine Nachricht.

Harry und Jasmin aßen wieder nur wenig von dem angebotenen Reis, weil sie ein schlechtes Gewissen hatten, von dem Wenigen des Ehepaares auch noch zu essen. Andererseits durften sie die beiden auch nicht vor den Kopf stoßen. Jasmin schnallte Schlafsack und Jacke auf ihren großen Rucksack, holte ihre Isomatte und wollte sich von Julie verabschieden. Das Mädchen sah sie entsetzt an, streckte ihr bettelnd die Hände entgegen und wollte mitkommen. Jasmin hatte sich mit ihrer Hilfsaktion in ein arges Dilemma gebracht. Hilflos hob sie die Schultern, umarmte Julie und ging zu Harry, der sich bereits lebhaft gestikulierend verabschiedete. Jasmin dankte mit Worten und Gesten. Die Frau zeigte auf ihre Schulter und dankte, konnte ihren Arm wieder gut bewegen. Als sie hintereinander zu Henries Auto gingen, folgte Julie ihnen. Sie zog Jasmin am Arm, sah sie flehentlich an, murmelte was Unverständliches. Zwar gab es noch einen freien Sitzplatz, aber Harry wehrte ab, bis Jasmin sich einen Ruck gab: „Kann sie nicht mitkommen? Sie muss eh noch überwacht werden und braucht noch vier Tage lang je drei Antibiotika-Tabletten. - Hier hat sie doch kaum eine Überlebenschance!“ „Wie du meinst!“ Harry öffnete für Jasmin und Julie die Beifahrertür, klappte den Sitz vor, damit sie einsteigen konnten, während Henrie das Gepäck verstaute. Der Geruch von Aas wurde wieder stärker, als sie stadteinwärts fuhren. Sie brauchten lange, um durch die Ausläufer der Stadt gen Osten zu kommen, immer wieder mussten sie Umwege machen, zweimal auf der Landstraße ein Stück umkehren, weil die Straße unpassierbar war.

Henrie brachte sie bis ins Zentrum eines kleinen Dorfes. Im Vergleich zu den enormen Zerstörungen in den Städten sah es hier erfreulicher aus. Hier stand noch etwa die Hälfte der Gebäude, die Straßen waren nicht von Obdachlosen belagert und der Anblick einer erhalten gebliebenen Kapelle gab Hoffnung. Harry lud das Gepäck aus, Jasmin half Julie aus dem Wagen, die sich kaum auf den Beinen halten konnte. Harry drückte Henrie 30 $ in die Hand: „Fürs Fahren!“ Er konnte dem Freund nichts für die Gastfreundschaft anbieten, ohne ihn zu verletzen, aber die 30$ reichten normalerweise für einen Monat zum Überleben. Bises-Küsse und gute Wünsche zum Abschied, dann kehrte Henrie zurück nach Léogâne.

Inzwischen hatten sich nicht nur neugierige Kinder, sondern auch einige Erwachsene eingefunden. Ein ankommendes Auto fiel wieder auf. Harry fragte nach dem Dorfältesten. Man geleitete sie zu einer Steinhütte. Ein Schwarzer mit fast weißen Haaren trat auf das Getümmel vor seinem Heim aus der Tür. Harry grüßte respektvoll, erklärte ihre Anwesenheit und bat um Rat. Jasmin saß mit Julie, die zu kollabieren drohte, ein Stück abseits. Die Ärztin machte sich Vorwürfe: Die Belastungen waren für das Mädchen noch zu groß, aber hätte sie Julie einfach ihrem Schicksal überlassen, hätte sie sich ständig gefragt, was aus ihr geworden wäre. Jasmin glaubte an die Ansichten vieler Kulturen, dass man, wenn man jemandem das Leben gerettet hatte, für ihn verantwortlich war. Normalerweise war es unmöglich, sich weiter um Patienten zu kümmern und erübrigte sich auch, aber für Julie empfand Jasmin anders als für die übrigen Patienten der letzten Tage. Eine Dorfbewohnerin brachte eine kleine Schüssel mit Wasser, die sie den Ankömmlingen reichte. Jasmin drückte rasch die Mittagstablette aus dem Blister, steckte sie Julie in den Mund und bedeutete ihr, dass sie das Gefäß allein leer trinken durfte. Sie legte den Arm um den Teenager, damit Julie sich an sie lehnen konnte. Welch eine andere Atmosphäre hier in dem kleinen Ort! Jasmin nahm keinen Leichengeruch wahr. Was sie hier wohl mit ihren Toten gemacht hatten? Als Harry zu ihnen kam, gab er die Informationen weiter: 8 km gen Südosten gab es ein Dorf mit einer Krankenstation, man könnte die beiden Frauen hinfahren. Harry wollte sich heute noch zu Fuß ein bis zwei Orte weiter nach Osten aufmachen, also war der Zeitpunkt der Trennung gekommen. Jasmin bedauerte es sehr. Er war ein hilfsbereiter Begleiter gewesen, der die Landessprache beherrschte, sich etwas auskannte und ohne viele Worte Probleme anging. Sie tauschten Visitenkarten und versprachen, einander in Deutschland wieder zu kontaktieren. Nach ein paar aufmunternden Worten an Julie schwang Harry seinen Rucksack auf den Rücken und marschierte flotten Schrittes los. Jasmin sah ihm nach, winkte ihm zu, als er sich noch einmal umdrehte und kam sich verlassen vor. Es kostete sie ihren ganzen Willen, aufzustehen und laut „Docteur, docteur“ zu rufen, während sie auf sich zeigte und ihr Stethoskop hervor holte. Die Kinder standen im Halbkreis rum, keines näherte sich. Sie holte ein paar Kaugummistreifen aus ihrer Hose, teilte einen in drei Stücke und hielt eines hoch. Am nächsten stand ein ca. fünfjähriges Mädchen, das den Kopf schief legte und zu ihrer erhoben Hand hinaufsah. Wahrscheinlich kannten diese Kinder die Süßigkeit nicht. Jasmin steckte ihr Stethoskop in die Ohren, entrollte ihre Isomatte und hockte sich auf ihren „Behandlungsplatz“. Eine Mutter mit einem Säugling war die Erste, die zur Ärztin kam. Der Junge hatte einen aufgetriebenen Bauch, war unterernährt und brauchte dringend Hilfe. Mit französischen, spanischen und englischen Worten erklärte Jasmin der Mutter, dass sie mit zum Hospital kommen müsse. Die Frau schüttelte den Kopf und verschwand. Ein hübscher Junge im Grundschulalter kam zögernd näher. Seinen Unterarmbruch versorgte Jasmin mit einer Schlinge aus Verbandsmull, eigentlich war das Material für eine Schlinge, die man aus jedem anderen Textilstück hätte schneiden können, zu schade, aber der Verletzte lief mit seiner hellweißen Schlaufe quasi Werbung für die neu eröffnete Praxis. Er kaute eifrig auf seinem Kaugummi und löste dadurch wahrscheinlich den anschließenden Run auf die Kindersprechstunde aus. Stundenlang untersuchte, säuberte, behandelte Jasmin vorwiegend Kinder mit unterschiedlichsten Verletzungen, auch viele ohne körperliche Folgen des Erdbebens, die sie ebenfalls ernsthaft untersuchte und mit Kaugummi belohnte. Dankbar tranken Jasmin und Julie, die sich die ganze Zeit im Hintergrund hielt, je eine Schüssel Wasser, die ihnen von Dorfbewohnern gebracht wurden. Als es dunkel zu werden begann, hielt Jasmin wieder ihre Hand hoch und zeigte ihre fünf Finger. Die Dorfbewohner und vor allem viele Kinder saßen im Kreis um sie herum und sahen ihr zu wie in einem Theater, ruhig und interessiert. Nach den letzten fünf Fällen stand Jasmin auf, rollte ihre Isomatte zusammen, steckte das Stethoskop in ihren Rucksack und zog beide Gepäckstücke an. Sie formte mit den Händen ein Kreuz, wollte dort die Nacht verbringen und sah sich nach ihrem Schützling um. Julie hatte sie beobachtet. Ihre Augen strahlten auf, als Jasmin ihr winkte, mit zu kommen. Wie bei einer Prozession zogen die Gäste gefolgt von vielen Einheimischen Richtung Kirche. Jasmin war erschöpft, aber zufrieden. Sie hatte heute keine medizinischen Wunder vollbracht, aber sie hatte vielen Menschen das Gefühl gegeben, dass sie nicht vergessen waren mit ihrem Leid. Mehrere Familien brachten ihnen Schüsseln mit etwas Suppe oder Reis oder Wasser, die Jasmin mit schlechtem Gewissen wegen der anderen Hungernden nicht wirklich genießen konnte, aber sie versuchte sich zu beruhigen, dass sie niemandem helfen konnte, wenn sie in zwei Tagen zusammenbräche. Jasmin kniete spontan vor den Altar und betete. Zwar war sie evangelisch-lutherisch aufgewachsen und dies eine katholische Kirche, aber für die Bewahrung in den Gefahren der letzten Tage zu danken und um Schutz und Hilfe für sich und die Erdbebenopfer zu bitten, brauchte es eigentlich kein Gebäude. Jasmin bemerkte, dass die Kinder und Obdachlosen nicht ins Gebäude gefolgt waren, sondern sich draußen verteilten. Um nicht unabsichtlich Gefühle der Dorfbewohner zu verletzen, dass sie die Kirche als Nachtquartier entweihten, legten sich Jasmin und Julie wie zum Spalier entlang des Eingangs auf Isomatte bzw. Schlafsack.

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