SCHWARZE KITTEL - Katastrophen-Medizin

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Flughafen Toussaint Louverture

Das Geräusch der Anschnall-Zeichen wegen des beginnenden Landeanflugs ließ die Passagiere hochschrecken. Inzwischen sah man durch die kleinen Fenster draußen nur noch in die Dunkelheit. An Bord herrschte eine auffällige Stille. Es war insgesamt ein ruhiger Flug gewesen, keine Turbulenzen und in der Kabine kein Lärm. Keine Familien mit Kindern an Bord. Keine lauten Teenies. Viele der Reisenden hatten lange Phasen des Flugs verschlafen, doch jetzt war die Anspannung deutlich zu spüren. Die meisten machten sich wohl Gedanken, was auf sie im Unglücksgebiet zu kam. Problemlose Landung, nur wenig Applaus, alle blieben noch ruhig auf den Sitzen, bis die Maschine endgültig zum Stillstand kam. Kein Gehetze und Gedränge beim Ausstieg, sondern zügiges, geordnetes Verlassen des Flugzeugs über die herangefahrene Gangway. Auch bei der spärlichen Beleuchtung erkannte man, dass die Flughafengebäude des Aéroport international Toussaint Louverture vom Erdbeben nicht verschont geblieben waren. Vor allem der Tower war schwer beschädigt.

Bei der Landung war es laut Monitoranzeige 20 Uhr 42 Ortszeit. Jasmin hatte ihre kleine Uhr, die innen am Bauchbeutel befestigt war, umgestellt. Trotz des faulen Tags war sie müde und sehnte sich eigentlich nur nach einem Bett. Die Reisenden standen bis auf wenige, die offensichtlich nur mit Handgepäck gereist waren und schon mit Auto oder Jeep abgeholt wurden, auf dem Rollfeld rum. Die meisten beobachteten, wie das Gepäck direkt aus dem Frachtraum runter geworfen wurde auf einen flachen Hänger, der dann von einem kleinen Jeep gezogen zu den Passagieren gebracht wurde. Während die Koffer und Rucksäcke vom Hänger an die Besitzer verteilt wurden, beluden weiter hinten Angestellte den nächsten Gepäckwagen. Der Vorteil dieser direkten Gepäckausgabe war zweifellos, dass Frachtstücke nicht ohne weiteres irgendwo verschwinden konnten. Da Jasmin so früh eingecheckt hatte, war ihr Rucksack bei den letzten Gepäckstücken. Hoffentlich hatten die Infusionsbeutel die mechanische Belastung im Frachtraum und beim Entladen heil überstanden! Das Rollfeld leerte sich erstaunlich schnell. Jasmin hielt vergeblich Ausschau nach einem Shuttle-Bus in die Hauptstadt, schließlich mussten ja alle irgendwie weiter kommen. Sie erkundigte sich bei zwei Flugbegleiterinnen, die die Gepäckabwicklung beaufsichtigten, nach einer Transfermöglichkeit oder einem Flughafenhotel, vergeblich. Das Flugpersonal war in einem zum Teil erhaltenen Seitenflügel des Flughafens untergebracht, aber für die Passagiere gab es hier keine Übernachtungsmöglichkeit. Schwer beladen mit ihren beiden Rucksäcken ging Jasmin um das Flughafengebäude, dessen Zugang gesperrt war. Sie passierte die Tore, bewacht von zwei Soldaten mit Maschinenpistolen. Vor dem Gebäude zerstreuten sich die Menschen rasch. Fast alle wurden abgeholt; Sie hatten offensichtlich ihre Ankunft besser vorbereitet als Jasmin die ihre. Zweimal bat sie vergeblich, ob man sie mitnehmen könnte, aber die Autos waren bereits besetzt. Hier gab es nicht mal Schutz, wo sie die Nacht auf ihrer Matte hätte verbringen können, Jasmin fühlte Frust und Ärger aufsteigen. Frust, dass nach der langen Anreise ihre Weiterreise schon am Flughafen behindert wurde. Ärger auf sich, dass sie diese Probleme nicht vorausgesehen hatte. Unentschlossen blieb sie in Sichtweite der Wächter stehen, vielleicht würden sie ja mal abgelöst und es ergäbe sich eine Mitfahrgelegenheit. Schließlich setzte sie sich an einen oben abgebrochenen Fahnenmasten gelehnt auf ihre Isomatte, legte den Kopf auf die Knie und versuchte sich einzureden, dass sie hier so weit außerhalb wahrscheinlich sicherer war, als wenn sie jetzt in der Nacht in der Innenstadt ohne Ziel herumirren würde. So hatte sie sich das nicht vorgestellt! Sie wollte mit dem Shuttle in die City, dort zu einem Krankenhaus, hatte erwartet mit offenen Armen empfangen zu werden. Alle wären glücklich über Infusionen und Antibiotika. Man würde ihr ein Feldbett oder ein Zelt für ihre Matte zeigen und sie fragen, wo sie denn arbeiten möchte. Stattdessen war sie schon bei der Ankunft das erste Mal auf sich allein gestellt.

Nach einer Weile wurde es Jasmin am Mast zu unbequem. Sie suchte sich eine heil gebliebene Außenmauer des Flughafengebäudes, schnallte den Schlafsack ab, streckte sich darauf entlang der Steinmauer aus und legte den Rucksack wie einen Wall auf ihre andere Seite. Eine Weile lauschte sie auf jedes Geräusch, aber dann war sie wohl eingeschlafen und wurde erst wieder munter, als sie Motorengeräusch hörte. Sie schnappte ihre Sachen und eilte um die Mauerecke zu den Wächtern, die gerade in einen kleinen Jeep stiegen, während ihre Kollegen den Dienst antraten. Aufgescheucht durch die Geräusche, die Jasmin mit dem auf dem Boden schleifenden Schlafsack erzeugte, zielten die Soldaten mit den Waffen auf die sich nähernde Person. Jasmin blieb prompt stehen, stellte den nur rasch in die rechte Hand genommenen kleinen Rucksack neben sich auf den Boden und ließ Matte und Schlafsack links niedersinken, erhob die freien Hände auf Kopfhöhe und rief „Pas de danger! Pas de danger!“ Einer der abgelösten Soldaten stieg aus und kam zu ihr rüber. Er erinnerte sich an die Frau, die abends auf der Suche nach einem Bus gewesen war. „Que voulez-vous?“, fragte er knapp. Jasmin kam sich lächerlich vor mit den erhobenen Händen, als ob sie ein ertappter Verbrecher wäre, nahm sie langsam runter und faltete sie vor dem Bauch. Sie erklärte, dass sie als deutsche Ärztin gekommen war, um zu helfen, aber keine Möglichkeit gefunden hatte, zum Krankenhaus nach Port-au-Prince zu gelangen. Sie bat, dass man sie mitnähme. Der junge Mann rief etwas rüber zum Wagen, kurze Diskussion hin und her, dann machte er ihr ein Zeichen, zum Auto zu gehen. Er folgte ihr mit ein paar Schritten Abstand. Jasmin musste ihr Zeug allein schleppen, aber er stemmte die Rucksäcke hinten auf die kleine Ladefläche, ließ sie auf den Mittelplatz und setzte sich an die Tür. Jasmin wäre am liebsten wieder ausgestiegen. Sie hasste diese Enge und eingezwängt zwischen zwei fremde Militärangehörige zu sein, erschien ihr eher bedrohlich als beruhigend, doch wie sollte sie sonst an ihr Ziel kommen? Der Jeep startete. Jasmin versuchte trotz der Ruckelei auf unebener Straße möglichst wenig Körperkontakt zu ihren Nachbarn zu haben. Sie erinnerte sich an psychologisches Briefing für andere Einsätze, wo man auch mit Entführung und Vergewaltigung rechnen musste. „Bau eine persönliche Verbindung auf, lenke sie ab, gib ihnen keine Zeit auf dumme Gedanken zu kommen …“ Jasmin betonte, wie froh sie war, dass man sie in die Stadt bringe, dass sie als Notärztin den Schwerverletzten helfen wollte, dass sie als Anästhesistin bei schwierigen OPs gebraucht würde, dass Intensivmedizin Spezialisten brauchte, dass sie schon öfter mit „Ärzte ohne Grenzen“ in Krisengebieten war. Wie sollte sie eine Beziehung aufbauen, wenn sie doch fürchtete mit jeder Frage über die Situation in der Stadt oder die Familien Wunden bei den Männern aufzureißen? Sie prüfte jeden Satz, ob er unverfänglich war, versuchte insbesondere den Beifahrer ins Gespräch zu ziehen, wo denn seiner Meinung nach am dringendsten Hilfe benötigt wurde, was ausländische Helfer tun sollten, welche Hilfsgüter am wichtigsten seien … Plötzlich bog der Wagen unerwartet von der Straße nach links ab auf einen steinigen Feldweg. Jasmins Gedanken arbeiteten auf Hochtouren, was könnte sie tun, sobald der Wagen stehen blieb. Der Fahrer wandte sich ihr kurz zu: „…cassé …“. „Kaputt“, schnappte Jasmin nur auf. Wollte er ihr sagen, dass die Straße kaputt war und sie deswegen einen Umweg machten? Sie war viel zu angespannt, um noch ein Gespräch am Laufen zu halten. Auf der Uhr im Armaturenbrett sah sie, dass es morgens kurz nach ½ 5 war. Es wurde schon etwas heller. Sie entdeckte viele Fahrzeugspuren auf dem Nebenweg, was dafür sprach, dass die beiden sie nicht an einen einsamen Fleck entführen wollten. Langsam sank ihr Adrenalinspiegel wieder etwas ab. Jetzt spürte sie ihren Hunger und vor allem Durst. Sehnsüchtig dachte sie an ihre Dose Cola in der Jacke, aber wollte sie nicht vor ihren Nebenmännern raus holen und trinken, sondern begnügte sich mit dem Gedanken, dass sie in der Stadt angekommen zuerst den quälenden Durst löschen wollte.

Ankunft in Port-au-Prince

Trotz der Distanz von nur rund 30 km vom Flughafen zur Stadt, zog sich die Fahrt endlos hin. Die Haitianer waren stumm, wahrscheinlich müde von ihrem nächtlichen Dienst, aber sie schienen nicht gefährlich zu sein. Jasmin war heilfroh, als sie sich der Stadtgrenze von Port-au Prince näherten. Haitis Hauptstadt zählte laut Wikipedia ca. zwei Millionen Einwohner, wobei man allerdings in den zahlreichen Slums nie genau wusste, wie viele Menschen dort lebten. Es war gespenstisch, im Licht der aufgehenden Sonne an den Ruinen und Schuttbergen vorbei zu fahren. Der Jeep musste sich hier den Weg im Schritttempo über die kaum erkennbare Straße suchen, um Steinhaufen zirkeln, hupend Überlebende aus dem Weg treiben, um von dem größtenteils zerstörten Außenbereich ins Zentrum vorzudringen. Jasmins Augen konnten gar nicht so rasch die vielfältigen Eindrücke ans Gehirn melden. Natürlich erinnerte vieles an die zerstörten Häuser und Hotels 2006 nach dem Tsunami in Thailand, aber hier schienen die eingestürzten Gebäude kein Ende zu nehmen. Vereinzelt mal ein Haus oder eine Hütte, die zumindest teilweise erhalten geblieben waren, aber sie wirkten fremd wie sie zwischen den meterhohen Steinbergen herausragten. Jasmin kannte ähnliche Bilder von den bombenzerstörten Städten im 2. Weltkrieg, aber auf den Schwarz-Weiß-Fotos oder Wochenschau-Filmen hatte man nicht in Bunt die Möbel, Kleidung, Decken und persönlichen Sachen aus den Trümmern herausstechen sehen. Autos waren zerbeult oder verschüttet. Strom, Gas, Wasser abgeschaltet. Am Straßenrand, wenn man ihn noch als solchen bezeichnen konnte, hockten überall Menschen. Unzählige, kaum bekleidete Kinder sahen mit großen Augen auf, wenn sich der Wagen näherte. Stapel von „Lumpen“, die sie erst nach mehreren solchen Anhäufungen als Leichenhaufen erkannte, entlang des Wegs. Je weiter sie stadteinwärts gelangten, umso langsamer kam der Wagen voran, kam immer wieder zum Stillstand, bis sich das Straßengewühl teilte und einen schmalen Gang freigab. Schließlich hielt der Fahrer an einem kleinen Platz an, stellte den Motor ab und stieg nun selbst aus. Unsicher, was sie tun sollte, schaute Jasmin den Beifahrer an, der daraufhin ebenfalls ausstieg, ihr die Hand bot, um sie beim Aussteigen zu unterstützen, und dann ihr Gepäck annahm, das der Ältere von der Ladefläche herunterreichte. Jasmin breitete als erstes ihre Matte auf dem Boden aus, legte den eingestaubten Schlafsack darauf und rollte beides miteinander zusammen, befestigte ihre Schlafstatt unten an ihrem großen Rucksack und schlüpfte in die Trageriemen, als der junge Soldat ihn ihr hochhielt. Beinah wäre sie rücklings gestürzt, als die 30 kg plötzlich ihren Körperschwerpunkt verlagerten, nachdem der Soldat losgelassen hatte. Er griff rasch nach ihrer Hand und bewahrte sie vor einem Sturz. „Merci bien“, dankte Jasmin umgehend. Jetzt in der Morgensonne konnte sie gar nicht mehr verstehen, dass sie vor den beiden hilfsbereiten Soldaten eine derartige Angst gehabt hatte. Erleichtert, dass sie endlich am erhofften Ziel war, schnallte sie sich den schwarzen Rucksack mit ihren persönlichen Sachen vorne um und verabschiedete sich mit aneinander gelegten Händen und einer leichten Kopfbeugung, einer Abschiedsgeste aus Asien, die aber erfahrungsgemäß weltweit verstanden wurde. Der Fahrer zeigte mit ausgestrecktem Arm nach links und stieg wie sein Untergebener wieder ein. Sie bogen nach rechts ab. Mit den 11 kg des kleinen Rucksacks vor dem Bauch war es etwas leichter, das Gleichgewicht wieder zu finden. Jasmin machte die ersten Schritte in die angegebene Richtung.

 

Straßenambulanz in Port-au-Prince

Sie war so mit sich beschäftigt gewesen, dass sie gar nicht bemerkt hatte, wie sich ein Menschenauflauf um sie angesammelt hatte. Natürlich fiel sie hier als Weiße gleich auf, noch dazu mit ihrem Gepäck. Als der Wagen sich entfernte, schloss sich der dunkle Kreis dicht um sie. Alle Augen schienen auf sie gerichtet: Argwöhnische, neugierige, hungrige, traurige, ablehnende, fragende, wartende Augenpaare. Wieder hob Jasmin ihre Hände neben den Kopf, nutzte das Symbol der offenen Handflächen, um ihr friedfertiges Kommen zu signalisieren. Hatten die Erwachsenen noch ca. 1 m Abstand zu ihr gelassen, war das Innere des Kreises nun mit vielen kleinen Kindern ausgefüllt. Wieder arbeitete Jasmins Gehirn fieberhaft. Zwar waren die Menschen sicher nicht böse, aber vielleicht verzweifelt genug, um ihr die prall gefüllten Rucksäcke abzunehmen, in der Hoffnung irgendwas Brauchbares zu finden. Sie versuchte, einen Schritt in die angegebene Richtung zu machen, aber die Menschen wichen nicht zur Seite, sondern bildeten eine bunte, stumme Wand. „Verschaff dir Respekt! Biete ihnen deine Hilfe an! Verbünde dich mit ihnen gegen das Unglück“, ermunterte Jasmin sich selbst. Durch den Rucksack vor ihrem Bauch hatte sie ein stark eingeschränktes Gesichtsfeld nach vorne und unten, konnte sich deswegen nur unbeholfen bewegen. Kurz entschlossen schnallte sie ihn wieder ab, zeigte mit der rechten Hand auf sich:„Je suis docteur.“ Sie nahm eines der kleinen Kinder vor sich hoch auf den Arm, schaute dem verdutzten Mädchen in die Augen, indem sie die Augenlider etwas hochzog, streckte die rechte Hand mit dem Daumen nach oben zeigend vor und sagte besonders laut „ok“. Setzte das erste Kind, das inzwischen zu weinen begonnen hatte, vorsichtig wieder runter, entdeckte rechts von sich einen ca. sechsjährigen Jungen mit stark verkrusteten Blutstreifen auf dem linken Arm. Sie hielt mit ihrer linken Hand auf dem Schlüsselbein des Buben liegend die Schulter fest und bewegte vorsichtig den Arm des Kindes in jede Richtung. Freie Beweglichkeit in den Gelenken, also wie erwartet nur eine Weichteilwunde am Oberarm. Wieder machte sie die Faust mit nach oben gestrecktem Daumen, lächelte ihren Patienten an und sah sich scheinbar emsig nach weiteren Verletzten um. Sie registrierte, dass sie ein kleines bisschen mehr Spielraum zur Verfügung hatte. Die Stimmung entspannte sich, man nickte ihr zu, ließ Überlebende mit Verletzten durch die Reihen um sie rum nach innen. Was nur als deeskalierende Maßnahme gedacht war, begann sich zu einer Straßenambulanz zu entwickeln. Was konnte Jasmin hier ohne Hilfsmittel und im Straßendreck schon erreichen? Sie war jahrelang als Notärztin zu Unfällen gekommen und wusste, dass oft die Unverletzten ihren ärztlichen Beistand dringender benötigten als die Unfallopfer, um die man sich meist nach der Erstversorgung in Ruhe weiter medizinisch kümmern konnte, aber die Angehörigen gerieten in Panik, heulten hysterisch, kollabierten oder bekamen Herzanfälle, sie galt es zu beruhigen. Auch hier auf diesem gedrängten Platz sah Jasmin ihre Hauptaufgabe darin, den Familien und Freunden Hoffnung zu machen, dass es den Erdbebenopfern bald besser gehen würde. Nach dem fünften oder sechsten Patienten holte sie ihr Stethoskop aus dem Rucksack, mehr als Accessoire ihrer Autorität denn als medizinisch notwendiges Hilfsmittel. Was sollte es auch nützen, wenn sie jetzt trotz der Geräuschkulisse einen Herzfehler hörte oder Zeichen einer Lungenstörung wahrnahm? Sie spürte, wie sie nach jedem Untersuchten selbstbewusster wurde, fragte nach Wasser zum Reinigen von Wunden – natürlich vergeblich – schnitt mit ihrer Verbandsschere, die sie aus der Seitentasche ihres großen Rucksacks zog, Stücke von Kleidung der Opfer ab und machte daraus provisorische Verbände um ihre Wunden, damit nicht noch mehr Keime durch den überall präsenten Staub eindrangen. Sie schwitzte, obwohl sie Jacke und Fleece-Pulli schon bald ausgezogen und auf ihre Rucksäcke gelegt hatte. Ihr trockener Gaumen verlangte nach der Cola, die noch immer in der Jackentasche steckte, aber es war kein Gedanke daran, jetzt davon trinken zu können. Immer neue Verletzte wurden herbeigeschleppt. Bei einigen rechnete Jasmin damit, dass sie die nächsten 48 Stunden nicht überleben würden, trotzdem lächelte sie ihnen aufmunternd zu, streichelte ihnen über die Arme oder den Kopf. Mütter mit Kleinkindern umdrängten sie, manche hingen schon apathisch als Ausdruck der Austrocknung auf den Armen der Frauen. So positiv es wegen der fehlenden Unterkünfte war, dass im Januar auf Haiti keine Regenzeit ist, so hoffnungslos war es momentan wohl, auf trinkbares Wasser zu hoffen.

Jasmin wusste nicht, wie lange sie Notfall-„Sprechstunde“ gehalten hatte, als sie sich aus der vorherrschenden gebückten Position aufrichtete. Sie musste zum Krankenhaus finden, brauchte Unterstützung und Schutz, denn bei Anbruch der Dunkelheit wollte sie nicht mehr mit ihrem Gepäck allein hier unterwegs sein. „Où est l' hôpital?“, erkundigte sie sich, aber die Hilfesuchenden drängten prompt vehementer auf sie ein. Jasmin untersuchte weiter zahlreiche Wunden, manche von ihnen hätten genäht werden müssen, alle gehörten gesäubert und verbunden. Sie konnte hier nichts ausrichten. Die Menschen brauchten vor allem Wasser: Zum Trinken, zum Waschen, zum Desinfizieren, zum Entfernen des überall präsenten Staubs. Jasmin gestand sich ein, dass sie hier ihre Zeit aus medizinischer Sicht nutzlos vertat. Sie könnte mit ihrer Ausbildung Patienten, die eine intensivmedizinische Therapie brauchten, das Leben retten. Sie könnte bei großen Operationen über das Leben der Operierten wachen, stattdessen stand sie hier und betrieb eine Basismedizin, die jeder Sanitäter oder Ambulanzpfleger hätte durchführen können. Zwar tat es den Erdbebenopfern offensichtlich gut, dass mitten unter ihnen jemand nach ihnen sah, aber Jasmin wollte medizinisch etwas leisten und nicht vorwiegend Doktor spielen, um Ängste zu beruhigen. Sie meinte, einige Brüche ertastet zu haben, riet den Betroffenen ins Krankenhaus zu gehen, da sie hier nicht mal provisorische Materialien zum Schienen hatte. Um Probleme am Zoll zu vermeiden, hatte sie keine Opiate mitgenommen, mit denen sie die stärksten Schmerzen einiger Verletzter für einige Stunden hätte lindern können, doch so stand sie mit leeren Händen dem Leid gegenüber. Wieder versuchte sie dem Ansturm zu entkommen, aber als sie den Rucksack anhob, um ihn auf den Rücken zu ziehen, griffen zig Hände nach ihr. Sie hielt die rechte Hand hoch und zeigte mit ihren Fingern „encore 5“, suchte mit den Augen Patienten aus, die aus ärztlicher Sicht untersucht werden sollten. Es war die übliche Triage, die rasche Einteilung in drei Kategorien: Dieser Patient braucht keine ärztliche Hilfe, überlebt auch so; Dieser benötigt medizinische Betreuung, um zu überleben; Dieser hat kaum Chancen zu überleben, bekommt erst medizinische Hilfe, wenn die anderen mit besseren Überlebenschancen versorgt sind. Drei oder vier ihrer heutigen Patienten würden wohl kaum überleben. Die meisten der sie umgebenden Verletzten würden auch ohne Hilfe überleben, nun wollte sie noch welche rausfischen, die sich irgendwo für weitere ärztliche Hilfe vorstellen sollten. Es war erstaunlich ruhig, als die Ärztin die Wartenden musterte. Sie entdeckte ein junges Mädchen in der dritten oder vierten Reihe, dessen Gesicht rot-blau aufgeschwollen war, das rechte Auge verschlossen, die Nase schien nach links verschoben. Als Jasmin auf die junge Haitianerin zuging, öffneten sich die inneren Ringe ein wenig, um sie durch zu lassen. Mit bereits total verdreckten Einmalhandschuhen tastete die Medizinerin erst die Schädelkalotte, dann das Gesicht ab. Der rechte Jochbogen war mehrfach gebrochen, aber die Kieferknochen schienen intakt. Wenn man den Jochbogen operativ richtete, konnte man dem Mädchen sicher dauerhaft helfen. Sie zog ihren Rezeptblock, der ihre Mitteilung legitimieren sollte, zum sechsten Mal aus der hinteren Hosentasche, vermerkte „Multiple fractures of the right os zygomaticum“ und drückte den Zettel einer Frau, die das Mädchen jetzt umarmte, in die Hand. Jasmin erklärte den beiden, dass sie unbedingt zu einem Krankenhaus gehen sollten, um die Fraktur richten zu lassen. „Merci, merci bien!“, dankte die Ältere. Jasmin hoffte, dass das Mädchen tatsächlich einen Operateur fand.

Erst jetzt registrierte Jasmin mit Schrecken, dass sie sich von ihrem Gepäck ein ganzes Stück entfernt hatte, wusste nicht einmal mehr genau, wo sie vorher gestanden hatte, aber die Menschen machten ihr respektvoll Platz und zeigten ihr mit der sich bildenden Gasse wie sie zurück zu ihren Rucksäcken kam. Noch vier Fälle hatte sie der Menge versprochen. Langsam drehte Jasmin sich suchend um ihre eigene Achse, winkte einer Gruppe von Männern zu, die einen jungen Kerl auf einem Brett sitzend hielten, der nach Luft zu ringen schien. Sein linker Brustkorb war deformiert und bewegte sich kaum. Irgendetwas Schweres hatte ihm zahlreiche Rippen mehrfach gebrochen, dabei war die Lunge wahrscheinlich aufgespießt worden, er müsste dringend operiert und mit Druckluftbeatmung versorgt werden. Sie legte ihr Stethoskop auf dem Thorax auf. Links kein Atemgeräusch, die Lunge war kollabiert. Jetzt hätte sie gerne zumindest rasch ein Röntgenbild gemacht, um ihren Verdacht auf einen Pneumothorax zu bestätigen. Wenn Luft durch eine Verletzung von Lunge und Lungenfell zwischen Lungen- und Rippenfell gelangt, ist das Vakuum zwischen den beiden Pleurablättern zerstört, die Lunge folgt nicht mehr den Bewegungen des Brustkorbs, um Luft beim Einatmen anzusaugen. Gefährlich wird es, wenn die Luft durch einen Ventilmechanismus zwischen Lunge und Brustwand nicht mehr entweichen kann, dadurch der Innendruck weiter steigt und Herz und große Gefäße verschoben werden. Jasmin musste sich entscheiden. Ein Handgriff könnte dem Mann primär das Leben retten, falls ein Ventil-Pneumothorax vorlag, aber für einen Arzt, der gewohnt ist, möglichst steril zu arbeiten, war ein Eingriff auf offener Straße, bei all dem Schmutz, ein Horror. Die möglicherweise eindringenden Keime würden den Mann sekundär an Infektionen sterben lassen, wenn er nicht antibiotisch behandelt werden konnte. Jasmin bedeutete den Trägern, den jungen Mann auf den Boden zu legen, wies an, dass je einer der Umstehenden Beine und Arme fixierte, schob das Brett seitlich unter den linken Oberkörper. Ein Mann hockte sich und nahm den Kopf des Thoraxpatienten in den Schoß, hielt ihn mit den Händen seitlich fest. Jasmin holte die größte Kanüle, die sie im Gepäck hatte, aus ihrer Rucksackseitentasche, legte sie noch eingepackt dem Patienten auf den Bauch und umfasste den Brustkorb des Mannes mit beiden Händen. Die gespreizten Finger spürten links die Fragmente der gebrochenen Rippen. Mit sanftem Druck versuchte sie die Knochenteile in eine annähernd anatomische Position zu schieben. Auch in Deutschland hätte sie bei einer Rippenserienfraktur wenig mehr tun können. Ein Gips am Brustkorb war unmöglich und von dem früher üblichen Bandagieren war man wieder abgekommen, weil der Verband die Atmung auch auf der gesunden Seite einschränkte und weitere Komplikationen wie Lungenverklebungen oder Lungenentzündungen zur Folge hatte. Allerdings wäre ein Patient mit einem instabilen Rippenthorax unter anderen Bedingungen mit Druckbeatmung zur inneren Schienung und ausreichenden Belüftung therapiert worden. Sie tastete sorgfältig Rippe für Rippe im Seitenvergleich ab, schob die Bruchstücke in den Weichteilen in eine waagerechte Position. Anfangs versuchte der Thoraxpatient sich unter Schmerzgebrüll aus dem Griff der anderen Männer zu lösen, doch er hatte kaum noch Kraft und schnappte schon angestrengt nach Luft. Die Anästhesistin realisierte, dass das bisher erreichte Repositionsergebnis reichen musste, wenn sie ihn nicht unter ihren Händen sterben lassen wollte. Hastig zog sie die verschmierten Handschuhe aus, entnahm vorsichtig die sterile Kanüle, ertastete linkes Schlüsselbein und obere Rippen und stach die lange Nadel bis zum Plastikansatz in die linke Thoraxspitze. Die Kanüle steckte regungslos im Brustkorb. Trotz der angespannten Ruhe um sie herum, war es zu laut, als dass die Ärztin das typische Zischen bei erfolgreicher Punktion durch das Entweichen der gefangenen Luft hätte hören können. Der junge Schwarze begann tiefer zu atmen, öffnete die Augen wieder. Die Nadel begann sich leicht wippend zu bewegen. Die linke Lunge wurde wieder belüftet. Sie hatte es geschafft. Jasmin gab den Helfern ein Zeichen, den Mann frei zu geben und beobachtete wie er nach und nach ruhiger atmete. Der kaputte Brustkorb würde ihm noch wochenlang bei jedem Atemzug Schmerzen bereiten, aber er war stark und hatte eine reelle Chance zu überleben. Auf Französisch erklärte sie zwei der älteren Männern, die ihn gebracht hatten, dass er sich möglichst wenig für vier Wochen bewegen sollte, am besten sitzend schlafen sollte, um die Rippen wenig zu belasten. Geschient durch die Zwischenrippenmuskeln würden die costalen Fragmente hoffentlich wieder miteinander verwachsen. Sie sollten schauen, ob sie etwas gegen die Schmerzen für ihn auftreiben konnten. Zu Hause hätte man geduldig ausprobiert, welches Schmerzmittel in welcher Dosierung schmerzlindernd wirkte ohne eine Atemdepression zu verursachen, aber hier hoffte sie nur, dass der Jüngling es mit Glück schaffte, irgendwas gegen die erheblichen Thoraxschmerzen zu bekommen. Sie kniete noch immer neben ihrem letzten Fall, als sie eine deutsche Stimme wahrnahm: „Frau Doktor! Frau Doktor!“ Erfreut wand sie den Kopf und hielt Ausschau nach dem Rufer. Völlig unerwartet stand plötzlich ihr Flugnachbar neben ihr und half ihr auf die Füße. „Glückwunsch! Tolle Arbeit!“ Jasmin hatte sich zuvor so auf ihren Patienten konzentriert, dass sie alles andere ausgeblendet hatte. Jetzt erst entdeckte sie ein Fernsehteam, das sie im Fokus hatte, bemerkte, dass sich ein kleiner freier Platz um sie und den Thoraxverletzten gebildet hatte. Sie hatte den Umstehenden noch drei Fälle versprochen, aber sie war physisch und psychisch fix und fertig, hatte nur den einen Wunsch, hier weg zu kommen. Der Deutsche gab dem dreiköpfigen Fernsehteam ein Zeichen. Wie Bodyguards bahnten sie ihr einen Weg durch die Masse und schleppten ihre Rucksäcke mit. Ein kurzes Stück weiter bog der Trupp nach links in eine Seitenstraße ein, hier war es weniger belebt. Die drei Fremden verabschiedeten sich mit raschem Gruß, der Deutsche dankte ihnen auf Spanisch und schon verschwanden die Reporter auf der Suche nach neuen Bildern. Jasmin wäre am liebsten einfach nur auf einen der Steinhaufen gesunken, um endlich wieder zu sitzen, aber der Retter hatte sicher Recht sie anzutreiben: „Wir sollten sehen, dass wir noch ein ganzes Stück von Ihrer Straßenambulanz wegkommen, bevor neue Patienten behandelt werden wollen.“ Jasmin bückte sich, um den grünen Rucksack auf den Rücken zu ziehen, aber sie hatte keine Kraft mehr, die 30 kg auch nur anzuheben. „Nehmen Sie den kleinen“, wies der Landsmann sie an und schnallte sich die Tragriemen des großen länger, bevor er ihn mit Schwung auf seinen Rücken drehte. Dankbar zog Jasmin den schwarzen Rucksack mit einem Drittel des Gewichts auf ihren Rücken, doch sogar diese Last ließ sie fast zusammenbrechen. Tatsächlich hatte sich die Seitenstraße, die kaum noch eine freie Gasse zwischen den aufgetürmten Schutthügeln aufwies, in der Zwischenzeit mit Menschen gefüllt. Jasmin folgte dem Journalisten, der einen Weg über kleinere Stein- und Sandansammlungen suchte, was den Vorteil hatte, dass die Leute ihnen nicht so schnell folgen konnten wie auf dem ebenen Untergrund, aber es war sehr anstrengend. Jasmin befürchtete immer wieder, sich den Knöchel zu verstauchen, wenn Steine unter ihrem Tritt wegrollten oder ihr Fuß in Zwischenräumen von Holz, Steinen, Metall eingeklemmt zu werden drohte. Der GEO-Abgesandte bog mehrmals rechts und links ab, dann hielt er an und sah sich nach der Deutschen um, die ihm nur mit Mühe folgen konnte. Als sie neben ihm stand, wies er auf einen mehrstöckigen riesigen Steinkasten, dessen linke Hälfte zusammengestürzt war. „Das ehemalige UNO-Hauptquartier“, erläuterte er wie ein Touristenführer, „allein hier mindestens 100 Tote unterschiedlichster Nationalität“. An einer erhaltenen Hausecke lehnte Jasmin sich erschöpft an. Ihr fiel die Cola-Dose ein, die in der auf dem großen Rucksack oben festgeschnallten Jackentasche sein musste. Jetzt 300 ml kühle Koffeindroge war genau das Richtige! Schon als sie die Aludose in der Hand hielt, hätte sie stutzig werden müssen wegen der aufgetriebenen Form, aber Jasmin öffnete die Dose gierig und wurde von einer rausspritzenden schwarzen Fontäne erwischt, die Jasmins Polo-Shirt verdreckte. Damit waren ca. 100 ml des Getränks verloren, aber Jasmin setzte sofort an, um den Rest zu leeren, doch schon nach dem zweiten Schluck setzte sie ab. Die warme Zuckerbrühe ließ sie beinah würgen. Welch eine Enttäuschung! Ihre Durstgefühle hatte sie immer mit Gedanken an diese Reserve bekämpft, jetzt war ihre Reserve nahezu unbrauchbar und ihr Durst kam ihr noch quälender vor als zuvor. Hilflos sah sie Harald Soundso an. „Am besten ich bringe Sie jetzt zur Traumaklinik“, lenkte er sie ab und drehte sich zum Gehen. Unentschlossen hielt Jasmin die Getränkedose in der Hand. Trinken oder nicht trinken – das war hier die Frage! 100 ml Flüssigkeit waren besser als nichts, beschloss die inzwischen vom Aussehen eher an eine Obdachlose denn an eine Ärztin erinnernde Medizinerin und leerte angewidert die kleine Dose mit dem süßen Gesöff. Anfangs schleppte sie die leere Coladose noch eine Weile in der rechten Hand mit. Es widerstrebte ihr, Müll einfach so abzustellen, aber sie brauchte beide Hände, um immer wieder Halt zu suchen und ließ die Aludose schließlich in den Trümmern einer Hütte stehen. Sie musste sich derart auf die vor ihr liegenden Schritte konzentrieren, dass sie kaum etwas von den neugierigen Blicken der Haitianer mitbekam. Die Sonne brannte mit gefühlten 30 Grad herab. Der Staub, den sie bei jedem Schritt aufwirbelte, kroch in Nase, Mund und Augen. Der Gestank wurde mit zunehmender Hitze immer unerträglicher. Es mussten Hunderte von Leichen bereits im Verwesungsstadium sein. Zu Hause vor dem Fernseher hörte es sich immer so neutral an: „Es besteht Seuchengefahr!“, aber diese Zustände, wo sich die Behelfsunterkünfte neben den gestapelten Leichen befanden, der Todesgeruch allgegenwärtig war, das stellte sich keiner, der bequem im Sessel vor den Nachrichten Sitzenden, so vor. Wenn hier nicht rasch möglichst die Leichen beerdigt oder besser noch verbrannt wurden, würde es nach der ersten Welle der Erdbebentoten bald eine zweite der Seuchenopfer geben. Sauberes Wasser zum Trinken und Kochen war rar. Die hygienischen Verhältnisse erschienen der Ärztin katastrophal. Das menschliche Leid erschütterte die Deutsche zutiefst.