Das Lied des Nebelhorns

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Der Leuchtturm von South Foreland steht fünf Kilometer südlich von Dover an der Küste von Kent. Der weiß getünchte, achteckige Turm, den eine mit Zinnen gespickte Galerie ziert, wurde in den 1840er-Jahren errichtet, um ankommende Schiffe vor den Goodwin Sands zu warnen. Wenn die Sandbänke an der Einfahrt zur Straße von Dover bei Hochwasser knapp unter der Wasseroberfläche liegen, stellen sie eine unsichtbare Falle in Form eines großen Kommas dar, in die viele Schiffe tappen. Für die Geschichte des Nebelhorns ist es der wichtigste Ort in ganz Großbritannien, weil Trinity House hier die erste groß angelegte Testreihe durchführte. Hier fanden Nebelhörner im 19. Jahrhundert Aufnahme in die offiziellen Institutionen, von wo aus ihr surrealer Klang Teil der Infrastruktur an den britischen Küsten wurde. Der Schritt dorthin wurde durch mehrere Testreihen geebnet, für die ganze Gruppen von Nebelhörnern aufgebaut und über Monate hinweg tagtäglich zum Klingen gebracht wurden (Nebel war dafür nicht erforderlich). So wollte man herausfinden, was zu leisten sie imstande waren. Anders als die hochemotionale Sirene, die ich in South Shields gehört hatte, verschreckten diese Hörner die Anwohner eher und wirkten sich so negativ auf ihr Wohlbefinden aus.

Der Leuchtturm ist heute noch in Betrieb, das Nebelhorn aber ist längst restlos entfernt. Auf den vorgelagerten Klippen wächst kurzes Gras, das bis zur Bruchkante reicht, von der aus frische Erde und Gesteinsbrocken ins Meer hinabfallen. Regelmäßig lösen sich aus dem Weg, der an der Küste entlangführt, kleine Stücke; Zäune und Gatter, die ins Nichts führen, stehen unmittelbar über dem schwindelerregenden Abgrund.

Dokumente, die von den hier durchgeführten Tests zeugen, sind rar gesät, und vor Ort weist nichts auf die Versuchsreihen hin. Das irrwitzige und doch hochdramatische Theaterstück, das hier aufgeführt wurde, ist in Vergessenheit geraten und zu einer Fußnote in der Geschichte des Klanges verkommen. Dabei gleichen diese Tests der Nabe eines Rades, dessen Speichen über den Stand der Wissenschaft im Großbritannien jener Zeit Auskunft geben, über die Art und Weise, wie Klang in Archiven abgelegt wurde, und schließlich darüber, warum das Nebelhorn nie das Maß an Sicherheit garantieren konnte, das gebraucht und gesucht wurde.

Ich war davon ausgegangen, im Archiv von Trinity House Unterlagen zu den Tests finden zu können, doch dann erwies sich, dass der entsprechende Bestand zunächst durch Bomben, später auch durch schlechtes Management dezimiert worden war.31 Trinity House ist eine 500 Jahre alte Institution mit Sitz am Tower Hill in London.32 Das historische Gebäude beherbergt unter anderem Miniaturleuchttürme aus Zinn, erlesene Schmuckteller und den zweitgrößten Webteppich der Britischen Inseln.

Das Gebäude wurde in der schlimmsten Nacht der deutschen Luftangriffe auf London ausgebombt, große Teile der Unterlagen wurden dabei vernichtet. Auf einem Foto, das die Schäden festhält, sieht es so aus, als wäre das Haus ausgeweidet und die darin aufbewahrte Geschichte in einem glühenden Schlund entsorgt worden. Mancher Band, den ich aus dem Regal zog, hat verkohlte Ecken, einen schwarz gefärbten Rücken und von Qualm beschädigte Seiten. Was genau verloren ging, ist bis heute nicht geklärt – da man nicht genau weiß, was ursprünglich vorhanden war, fällt es schwer, die Verluste zu benennen. Und vieles hat nur als Fragment überdauert.

Da das Archivmaterial zu den Testreihen nur sehr lückenhaft ist, musste ich woanders suchen, um etwas zu finden. Fündig wurde ich schließlich in einer Parlamentsakte. Dort stellte sich heraus, dass Nebelhörner in den Archiven nur als Maschinen vorkommen, nicht als Klangerzeuger. Mein spezifisches Interesse an den Nebelhörnern – ihr Klang – findet in den Archiven keinen Widerhall. Funde, die darüber Auskunft gaben, waren allenfalls zufällig, Marginalien, die sich in langweiligen dicken Wälzern mit Preislisten für Ventile und Dichtungen fanden, die für die tägliche Instandhaltung dieser furchterregenden Klangmaschine gebraucht wurden.

Der Historiker Jules Michelet hat für die Arbeitsweise von Archiven folgendes Bild gefunden: »ein großer brauner, langsamer Fluss ohne Ufer, in dem alles schwimmt. Was hängen bleibt, landet als Treibgut in den Archiven.« Die Wissenschaftlerin Maria Tamboukou hat die Archivrecherche mit dem Strahl eines Leuchtturms verglichen, der über eine Landschaft streicht. So treffend diese Metapher auch ist, in den Archiven der Leuchttürme nach Nebelhörnern zu suchen glich einer Kombination von Planung und Zufall, eine Kombination, die im Lauf der Zeit Züge einer okkulten Praktik annahm. Für die offiziellen Aufzeichnungen ist die Beschaffenheit des Klanges nicht so wichtig wie die Verlässlichkeit der Technik.

Wer gern in Archiven arbeitet, entwickelt mit der Zeit eine geradezu fetischistische Zuneigung zu den sinnlichen Facetten einer Recherche: das Ritual an der Garderobe, wo man Mantel und Tasche abgibt, um Zugang zu den heiligen Hallen des Lesesaals zu erhalten, der Duft antiker Bücher, vom Schmutz vergangener Jahrhunderte geschwärzte Fingerspitzen. Für mich ging vom Klang der Lesesäle eine spirituelle innere Ruhe aus. Oft herrscht in ihnen eine besondere Art der geräuschvollen Stille – ein geistvolles Wirren der Köpfe, während die dazugehörigen Körper unruhig auf den Stühlen wippen, das Wischen und Rascheln von umgeschlagenen Seiten, die flüsternden Stimmen der Archivare, die Fragen beantworten, ein Laptop, der zum Leben erweckt wird, und mit unfehlbarer Sicherheit auch jemand, der jede Seite eines großformatigen Wälzers einzeln abfotografiert, aber es versäumt hat, das Geräusch des Verschlusses abzuschalten. Die Archivare sind die Hohepriester dieser Räume, weil sie Auskunft und Anweisungen erteilen, hier und da mit Übersetzungen und der Erklärung des Unerklärlichen helfen und so der Erleuchtung und dem Aufstieg des niederen Archivsubjekts, des Nutzers und Wissenschaftlers, in eine höhere Sphäre der Erkenntnis den Weg bereiten.33

Archive sind nicht allwissend, sondern Sammlungen, die mehrere Menschen mit jeweils ganz eigenen Vorstellungen davon, was aufbewahrt werden muss und was nicht, über Jahre zusammengetragen haben. Dinge nehmen unvorhergesehene Wege, gehen verloren oder geraten in Vergessenheit, oder sie sind unauffindbar in dicken Büchern verborgen. Hinzu kommt, dass Archive sich kaum mit dem Gedanken vertragen, die Suche etwa nach Zeugnissen eines Klanges im Bestand wie dem von Trinity House, deren Arbeit durch diesen Klang definiert ist, könnte vergebliche Liebesmüh sein. Beim Stöbern in Kisten und Kästen stieß ich auf Funde, die dort nicht hingehörten, aber einer Offenbarung gleichkamen; ich nahm lose Fäden auf, die zu Schatzkammern voller Informationen führten; ich las beiläufig Texte, die das, was ich zu wissen glaubte, auf den Kopf stellten. In Archiven werden keine Wahrheiten aufgehoben, die Überlieferung ist auf diese oder jene Weise lückenhaft, und alle dort hinterlegten Ereignisse bewahren sich das Potenzial, wie Tristram Shandy endlos weitererzählt werden zu können. Wie viele Worte man dieser Erzählung hinzufügt, hängt davon ab, wie viele Details, Gedanken und Zeugen man aufrufen und wie weit man die Geschichte weiterspinnen möchte.

Schließlich und endlich hielt ich zwei Dokumente in Händen – zwei kostbare Aufzeichnungen, die mich begeisterten wie sonst nur Sonderpressungen von Langspielplatten, die sich in der hintersten Ecke verstaubter Ramschläden finden. Es waren wissenschaftliche Artikel, die wertvolle Informationen über die Geschichte des Nebelhorns enthielten, über die Tests, denen es unterzogen wurde, und über seinen Klang und die Gründe, warum er als geeignet empfunden wurde, an den Küsten des Landes zu erklingen. Mehr als die Geschichte von Foulis und seiner Klavier spielenden Tochter war dies der Ursprung, nach dem ich gesucht hatte.

Die Dokumente enthielten einen detaillierten Bericht über groß angelegte, bizarr anmutende Experimente, die Faradays unglückselige Unternehmung in Dungeness in den Schatten stellen und ein weitaus dramatischeres Bild vermitteln als die Darbietungen vom Souter Point, deren Zeugin ich wurde. Bei dem einen Dokument handelte es sich um die in den 1960er-Jahren angefertigte Fotokopie eines Berichts über ein Experiment, das Lord Rayleigh 1901 durchgeführt hatte. Das andere Dokument war noch etwas älter und klang mir auch nachhaltiger in den Ohren, weil es die in der geradezu lyrischen Wissenschaftssprache der Zeit vor 1900 verfasste Schilderung einer Verwandlung enthielt, mit der die ikonischen weißen Kreidefelsen der Kanalküste in eine Bühne für ein gigantisches und zeitlich unbefristetes Klangerlebnis umfunktioniert wurden. In diesem Bericht, 1874 publiziert, sind Versuche beschrieben, die John Tyndall in seiner Eigenschaft als wissenschaftlicher Berater von Trinity House 1873 durchführen ließ.

Dass sich das Nebelhorn zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort durchsetzt – zumindest im Vereinigten Königreich –, ist Tyndalls Verdienst. Das Nebelhorn ist deutlich mehr sein Kind als das von Zeitgenossen wie Lord Rayleigh. Schließlich war Tyndall der Erste, der wissenschaftliche Artikel darüber verfasste, das Gespräch mit seinem amerikanischen Kollegen vom US Lighthouse Board, Professor Henry, suchte34 und die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Akustik beförderte, nicht zuletzt durch seine Experimente mit Nebelhörnern.

Denn Tyndall testete am Leuchtturm von South Foreland nicht nur ein Nebelhorn, sondern einen ganzen Chor von Hörnern, Glocken und Kanonen, die ihre Stimmen vor einem Publikum erhoben, das sich aus einigen handverlesenen Männern in einem Boot zusammensetzte. Ansonsten hörte nur das große weite Meer zu. Die Klippe, auf der der Chor Aufstellung genommen hatte, wurde zu einer Bühne für akustische Experimente umfunktioniert – ein fantastisches Gebilde aus Klang und Mechanik, wie es sich der Steampunk nicht schöner wünschen könnte.

 

Im Jahr 1865 löste John Tyndall seinen Vorgänger Michael Faraday als wissenschaftlicher Berater von Trinity House ab. Er war von Haus aus Physiker, der mit Arbeiten zum Treibhauseffekt (der für den Klimawandel verantwortlich ist) bekannt geworden war. Auch die Erklärung dafür, warum der Himmel blau ist, verdanken wir ihm. Er gehörte zu den Berühmtheiten des 19. Jahrhunderts und zog mit seinen Vorträgen, die er freitagabends in der Royal Institution hielt und mit eindrucksvollen Schauexperimenten garnierte, die Massen an.35 Zum Einsatz kamen modernste Apparaturen, darunter eine gläserne Röhre, mit der er erklärte, wie blaues Licht entsteht. Oder er staffierte sich mit Südwester und Handschuhen aus, um im Dampf eines Gasbrenners die Entstehung von Nebelbögen vorzuführen. Seine wissenschaftlichen Veröffentlichungen fanden zahllose Leser und Leserinnen, darunter auch eine junge Frau namens Virginia Woolf.36

Tyndall war aber auch ein Außenseiter. Er entstammte der irischen Arbeiterklasse und hatte sich nach oben gearbeitet. Um studieren zu können, hatte er sich von einem Freund Geld leihen und eine Reihe von bezahlten und unbezahlten Arbeiten übernehmen müssen. Auch im Wortsinn bemühte er sich um Aufstieg, denn er war ein begeisterter Bergsteiger, dem gemeinsam mit zwei Freunden die Erstbesteigung des Weisshorns in den Schweizer Alpen gelang. Seine Frau Louisa Charlotte Hamilton, die mehr als zwei Jahrzehnte jünger war als er, assistierte ihm häufig bei seiner Arbeit. Gleichwohl vertrat Tyndall die Überzeugung, dass Frauen zu Geistesarbeit nicht in der Lage seien.

Bei der Lektüre mehrerer Biografien über Tyndall, aber auch der Briefe und der wissenschaftlichen Artikel, die er verfasste, fand ich heraus, dass er offenbar unter, um es modern auszudrücken, Stress und innerer Unruhe litt. Er bewegte sich stets an der Grenze zum Burn-out, litt häufig unter Magen- oder anderen Schmerzen, vor denen er nur in den wenigen Wochen Urlaub im Jahr Ruhe fand. Er klagte über den Druck, unter dem er stand, und über die viele Arbeit, die ihm keine Zeit für Muße ließ. Dabei schrieb er erfolgreiche Bücher, bekleidete gehobene Positionen in mehreren Institutionen, verschickte jeden Tag zehn Briefe, verfasste Gedichte und publizierte bedeutende wissenschaftliche Artikel.

Der erste Biograf Tyndalls weiß zu berichten, dass Tyndall Tanz und Musik verabscheute, sich für ursprüngliche Klänge aber begeistern konnte. Und ausgezeichnet schreiben konnte er darüber, fand anschauliche Metaphern und Beschreibungen. Er formulierte prägnant und plastisch, fand Vergleiche, die fachspezifisch, aber doch allgemeinverständlich waren, die Balance zwischen klischeehaft und unverständlich hielten und die unsichtbaren Schwingungen in der Luft, die uns umgibt, anschaulich machten. In seinem Buch über den Schall beschreibt er das Geräusch von Wellen, die auf einen Steinstrand treffen. Die Klangpalette, die er ausmacht, reicht »vom schrillen Kreischen bis zu jenem Brutzeln, das beim Braten von Speck entsteht«. In den Berichten über die Tests an der Küste von Kent heißt es über Nebelkanonen, dass ihr Klang an den »Aufprall eines flexiblen Körpers auf Eisenblech« erinnert. In seinem Buch The Glaciers of the Alps, einem frühen Standardwerk über die Bewegungen der Gletscher und den Alpinismus, das zur Hälfte physikalisches Fachbuch und zur Hälfte Naturbeschreibung ist, erinnert er sich an eine Sturmnacht in der Schutzhütte auf der Nordflanke des Mont Blanc.

Wie sich die Frequenzen eines schwingenden Körpers, sofern sie rasch genug aufeinanderfolgen, zu einem anhaltenden Ton überlagern, so verbanden sich die stoßweise niedergehenden Böen zu einem Sturm, der durch die Felsspalten drängte und seine ganz eigene Musik schuf, die gewaltig anschwoll und die Fantasie nach draußen trug, zu den Wolken und in die Dunkelheit, hinauf zu den Gipfeln des Berges mit den abgehenden Lawinen und dem herumwirbelnden Schnee.

Tyndalls Leben endete im Alter von dreiundsiebzig Jahren unerwartet und grausam. Seine Frau Louisa hatte ihm versehentlich eine tödliche Menge Chloralhydrat verabreicht, von dem er jeden Abend eine kleine Dosis nahm, um seine Schlaflosigkeit zu bekämpfen. Louisa begriff augenblicklich, was sie angerichtet hatte, und Tyndalls Biograf Roland Jackson berichtet von einem Wortwechsel, der unfreiwillig komisch geriet. Louisa soll zu ihrem Mann gesagt haben: »John, ich habe dir Chloral gegeben«, worauf er ohne erkennbare Erregung erwidert haben soll: »Meine Liebe, ich fürchte, du hast deinen John umgebracht.« Nach zehnstündiger Agonie wurde er schließlich erlöst.

Zu seinen Lebzeiten war Tyndall ein führender Wissenschaftler, doch nach seinem Tod verblasste die Erinnerung an den beliebten Forscher schnell. Sein Vermächtnis sind seine Arbeiten zu Licht und Schall, einschließlich der Testreihe am Leuchtturm von South Foreland, die in eine Zeit fiel, in der europäische Wissenschaftler die Zusammensetzung der Luft zu verstehen begannen, was zu entsprechenden Umbrüchen führte. Das Nebelhorn steht im Zentrum seiner Arbeit und seines Vermächtnisses. Der Autor und Wissenschaftler Steven Connor hat es auf einen sehr schönen Nenner gebracht, als er Tyndall grundlegende Änderungen unseres Denkens und Wissens über die Luft zuschrieb, die so von einem »leeren zu einem bewohnten und angefüllten Raum wurde, in dem es von Wellen und Energie unterschiedlichster Art, für die wir keine Sinne haben, nur so wimmelt« und die sie zu einem »Vehikel einer universellen Verständigung« werden lassen.

Tyndall reiste im Mai 1873 mit der Absicht an die Kreideküste von South Foreland, ein Klangsignal zu finden, das auf eine Entfernung von sechs Kilometern – was dem Wendekreis eines Schiffes entsprach – verlässlich funktionierte. Sein gut achtzigseitiger Bericht über die Experimente beschreibt das Geräusch, das jedes der geprüften Hörner machte, in welcher Entfernung es zu hören war, und einige unerklärliche Effekte, ergänzt um technische Zeichnungen der Apparaturen und einer Klangkarte von South Foreland, die zeigt, wie sich der Schall über die Landschaft ausbreitete.

Am Tag seiner Ankunft erwarteten ihn auf den Klippen zwei drei Meter lange Schalltrichter aus Messing, eine Eisenbahnpfeife und eine Dampfpfeife. Am Fuß der Steilküste, siebzig Meter tiefer und nur über ein System aus zwölf notdürftig miteinander verbundenen Leitern erreichbar, standen zwei weitere Schalltrichter und eine Pfeife. Während der folgenden neun Monate wurden zahllose weitere kleinere und größere Hörner und Pfeifen auf Herz und Nieren getestet, an manchen Tagen auch Haubitzen, Mörser und 18-Pfund-Kanonen, die an der Burg von Dover standen und von Kanonieren bedient wurden. Zum Vergleich wurde eine Zeit lang auch eine Glocke hinzugezogen. Es stellte sich heraus, dass sie den Hörnern heillos unterlegen war.

Ich stehe an einer Stelle, an der damals all diese Geräte aufgebaut gewesen sein könnten. Zu sehen ist davon aber nichts mehr. Ich frage mich, wie viel von den Klippen seither abgebrochen sein mag und wo die Leitern in den schwindelerregenden Abgrund geführt haben mögen. Hier stehen keine Zäune, und das Gras endet unvermittelt im unendlichen Luftraum über dem Meer.

Zu dem Komitee, das das Spektakel von einer eleganten Jacht aus verfolgte, gehörten Altbrüder von Trinity House, in der Regel Mitglieder der Royal Navy oder der Admiralität, sowie Tyndall selbst (hinzu kam die Besatzung der Jacht). Viele Tage verbrachten sie damit, aufs Meer hinauszudampfen und dem Klang der Hörner, Pfeifen und Kanonen zu lauschen. Die Prosa, in der Tyndall diese Ausfahrten beschreibt, steckt voller Wiederholungen, wodurch sie einen ganz eigenen Rhythmus bekommt. Und sie enthält viele plastische Beschreibungen. Für die Schilderung von Wind, Wetter und Seegang findet Tyndall Worte, die die heutige Leserschaft an moderne Poesie erinnert: »Ein außergewöhnlich starker Regenschauer kam im gestreckten Galopp auf uns zu«, heißt es dort, und ein paar Tage später ist das Meer »wild und geräuschvoll«, weil die Klangwellen »von der aufgewühlten See« reflektiert werden.

Bei der Prüfung der Nebelwarnsysteme ging Tyndall geradezu verbissen vor. Er verglich und stellte gegenüber, veränderte die Richtung, in die sich der Schall ausbreitete, und aktivierte versuchsweise zwei Hörner gleichzeitig und schuf auf diese Weise pulsierende industrielle Klanggewitter. Man könnte sich an ein Musikfestival erinnert fühlen, das sich zwar an Sonderlinge wie mich richtet, das ich aber leider um etwa 150 Jahre verpasst habe. Am 11. Juni »erbrachten zwei gleichzeitig tönende kleinere Hörner einen sehr schönen Klang. Ihr Pulsieren war charakteristisch, wenn auch dann und wann unregelmäßig. Drei kleine Hörner, die gleichzeitig ertönten, ergaben hingegen ein schrilles und letztlich unbefriedigendes Klangerlebnis.«

Die Menschen in den umliegenden Dörfern und Städten – zu denen die quirlige Hafenstadt Dover zählte – wurden Ohrenzeugen der Klangexperimente Tyndalls, ob sie wollten oder nicht. Tyndall schickte einen seiner Männer los, damit er festhielt, bis wohin der Schall vorgedrungen war. In die Berichte, die dabei entstanden, flossen auch die Stimmen der Bevölkerung ein, die er unterwegs traf. Meistens brachten sie Klagen über den Lärm vor, der von den Versuchen ausging. In Walmer, knapp zehn Kilometer entfernt, klagte eine Anwohnerin darüber, dass sie die Nebelhörner noch im Inneren ihres Hauses hören konnte und sich »ziemlich elend« fühlte. Ein Mann berichtete von einem Pferd, das vor einer Mühle angebunden war und sich losriss, als ohne jede Vorwarnung die Nebelhörner zu heulen begannen. Andernorts, so wusste Tyndalls Bote zu berichten, wurde beklagt, dass sich die Kakofonie über Städte und Dörfer legte und »das Jammern des Windes und alle sonstigen Geräusche übertönte«. Ein Zeitungsartikel über die Tests bezeichnete die Nebelhörner als »Tyndalls enthemmte, grausame Sirenen, jene hübsch anzusehenden Hörner, die die Landbevölkerung vor die Frage stellen, ob die Fähigkeit zu hören ein Fluch oder ein Segen ist, wohingegen sich die Menschen auf See fragen, ob es ein nützlicheres Gerät gibt«. Wie sehr sich diese Reaktionen doch von der Schwärmerei jener Menschen unterscheiden, die vom Klang der Hörner ergriffen und zugleich fasziniert sind, wie es mir am Souter Point widerfuhr. Es sind Reaktionen von Menschen, die im Namen der Wissenschaft und der Sicherheit auf See um ihren Schlaf und ihr gewohntes Leben gebracht wurden.

Die Tests von South Foreland litten darunter, dass ein wesentlicher Bestandteil fehlte: Nebel. Als sich im Dezember 1873 dichter Nebel über London legte, machten sich Tyndall und ein Mitarbeiter auf den Weg zum Serpentine-See, im Gepäck drei Orgelpfeifen, eine Flöte, eine kleine Glocke und diverse Zündhütchen, um ein spontanes Konzert ganz eigener Art zu geben. Das Klappern, Läuten und Tuten breitete sich ungehindert über den See aus, und Tyndall konnte sich sogar über das Wasser hinweg mit seinem Assistenten unterhalten. Der Nebel, so die Schlussfolgerung, stellte für den Schall also kein Hindernis dar.

Das Konzert rief zwei Polizisten auf den Plan, die neugierig geworden waren und wissen wollten, was der Krach zu bedeuten hatte, den der Mann mit dem markanten Backenbart im Nebel veranstaltete. Tyndall erklärte ihnen sein Experiment, woraufhin sie ihm mit einigem Enthusiasmus berichteten, dass sie trotz des Nebels soeben Big Ben gehört hätten und er ihnen in der vergangenen Nacht, als der Nebel besonders dicht war, lauter als sonst erschienen sei. Bei gutem Wetter hingegen komme es vor, dass sie ihn überhaupt nicht hörten. Diese Begebenheit ist mir unter veränderten Vorzeichen vertraut: Man begegnet Fremden, die sich leidenschaftlich an einen ihnen vertrauten Klang erinnern. So werden Zufallsbegegnungen zu Faktoren der eigenen Recherche, weil sie etwas wissen, was man selbst nicht weiß: wie das Wetter ihre vertraute Umgebung beeinflusst. Tyndalls Polizisten kannten den Klang von Big Ben, und wenn sie Streife gingen, fiel ihnen jede Veränderung im Klangbild der Glocke auf. So konnte das zwanglose Gespräch im Nebel am Serpentine-See den Beweis liefern, dass Nebel den Schall nicht dämpft. Es war ein Durchbruch, eine Entdeckung, die der herrschenden Lehrmeinung diametral widersprach.37

Tyndall publizierte seine Entdeckung, aber bis zum heutigen Tage liegt die genaue Beziehung zwischen Nebel und Schall – nun ja – im Nebel. Einige der ehemaligen Leuchtturmwärter, mit denen ich sprechen konnte, äußerten die Überzeugung, dass Nebel die Lautstärke des Nebelhorns mindert. Dass eine Nebelfront, die eine optische Barriere errichtet, auch die Akustik beeinflusst, ist ein naheliegender Gedanke, und tatsächlich liegen bei Nebel mehr und schwerere Partikel in der Luft. Und doch ist die Annahme falsch. Akustiker konnten nachweisen, dass Nebel und Dunst so gut wie keinen Einfluss darauf haben, wie sich Schall in der Luft fortbewegt. Die Wetterbedingungen aber, unter denen sich Nebel bildet, nehmen im Zusammenklang mit atmosphärischen Begleiterscheinungen wie der Schichtung der Lufttemperatur sehr wohl Einfluss auf die Ausbreitung des Schalls.38 Nebel besteht aus Wassermolekülen; anders als bei Wasser ist der Abstand der einzelnen Moleküle jedoch so groß, dass der Schall nicht beeinflusst wird. Hinzu kommt aber eine Vielzahl weiterer Einflussfaktoren, denn Nebel kommt selten allein, sondern wird von anderen Wettererscheinungen verursacht und begleitet. Deren Zusammenspiel bleibt schwer nachvollziehbar und deshalb rätselhaft.

 

Im Zuge seiner Experimente mit unterschiedlichsten Nebelhörnern hielt Tyndall auch Erlebnisse fest, die man psychedelische Klangerfahrungen nennen könnte. Diese Erlebnisse, gleich ob sie sich unter sengender Sonne auf dem offenen Meer oder im Schatten der Klippen zutrugen, sind in den Aufzeichnungen meist mit dem Phänomen verbunden, dass der Klang der Nebelhörner von unsichtbaren Kräften in Schwebung versetzt oder gänzlich zum Verstummen gebracht wurde. Dieses Phänomen hat etwas Geheimnisvolles. Schall trifft auf Schwaden von gebundenem Wasser und wird moduliert, zum Verstummen gebracht oder reflektiert.

Aus Büchern waren mir diese verwirrenden Effekte bekannt, und die Beschreibungen hatten mich elektrisiert. Sie waren mir so ungewöhnlich wie irreal vorgekommen, und insgeheim hatte ich sie der viktorianischen Lust an Übertreibung zugeschrieben. Doch als ich an einem kühlen Märznachmittag am Leuchtturm von South Foreland stehe, kann ich der Landschaft förmlich ansehen, wozu sie fähig ist. Die weißen Klippen auf festem Gestein, der stürmische Wind und die spiegelnde Wasseroberfläche bilden das ideale Werkzeug, um Schall zu dämmen, zu deformieren, zu reflektieren oder vollständig zu verschlucken. In seinen Aufzeichnungen spricht Tyndall von »akustischen Wolken«, in denen der Klang der Nebelhörner aus unerfindlichen Gründen einen Moment lang verstummte, um wie von Geisterhand wiederaufzutauchen, sobald das Boot weiter hinausgefahren war. Von See her rollten Echos heran und verliefen sich in der Ferne. Tyndalls Bericht findet dafür Worte, die einem Gedicht gleichen. Ein Ohrenzeuge war davon überzeugt, dass die Echos »aus der unendlichen Weite des Ozeans« stammten, und schilderte fasziniert, wie sie »das Boot erreichten, von Zauberhand geführt und von unsichtbaren Wänden zurückgeworfen«. Ein anderer Teilnehmer erinnerte sich so: »Die Echos drangen aus der kristallklaren Luft zu uns, zunächst in einer Lautstärke, die der des direkten Schalls glich, ehe sie allmählich und kontinuierlich bis zum vollständigen Verstummen abnahm.«

Ich versuche mir vorzustellen, wie es sich angefühlt haben mag, an diesen Experimenten teilzunehmen, als diensthabender Leuchtturmwärter vor Ort gewesen zu sein, als Kisten mit sonderbaren Gerätschaften und riesigen Schalltrichtern angeliefert wurden, und beobachten zu können, wie ein Team von Assistenten mehrere Tage lang damit beschäftigt ist, eine Bühne zu errichten, auf der sich eine Ansammlung von unbändigen Nebelhörnern einer Naturkulisse gegenüberstellt, in der sich das Grau des Himmels mit dem Grau des Wassers verbindet – eine Szenerie, die an eine zeitgenössische Präsentation von Bauhaus-Skulpturen erinnert.

Hier oben throne ich gewissermaßen über dem Hafen von Dover und der glitzernden Wasseroberfläche, alles unter mir ist zur Miniatur geschrumpft. Ich stelle mir vor, wie ich mich diesem euphorisierenden Klang hingebe, den Echos, die aus dem Nichts zu kommen scheinen, dem rhythmischen Pulsieren der Nebelhörner, die gleichzeitig zum Leben erwachen und sich über die Meereslandschaft vor mir ausbreiten. Das Geräusch dreier Fähren, die die Verbindung Calais – Dover bedienen, reißt mich aus den Tagträumen – und im ersten Moment blicke ich in die falsche Richtung. Der moderne Hafen wirkt von hier oben winzig, die kantig hervortretenden Auskragungen aus Beton wirken zwergenhaft, betrachtet man sie vor dem Hintergrund der vormenschlichen Erdgeschichte, die hier zu hundert Meter aufragenden weißen Klippen geronnen ist. Dass ich am Horizont drei Fähren unterscheiden zu können glaube, deckt sich nicht mit dem akustischen Eindruck, den ich habe. Aus meinem Blickwinkel schrumpfen Größe und Entfernung zusammen, während das akustische Umfeld den Klang der Schiffsmotoren zu verstärken scheint. Ich kann sie laut und deutlich hören und komme deshalb zu dem Schluss, dass die Schiffe nicht weit entfernt sind, sondern klein.

Tyndall schrieb die mysteriösen Klangerlebnisse, die er hier machte, der »Launenhaftigkeit der Atmosphäre« zu, was klingt, als rede er über ein ungezogenes Kind. Und tatsächlich fließen warme und kalte Luft in unsichtbaren Strömen über- und untereinander, wie es ihnen beliebt beziehungsweise Luftfeuchtigkeit und Temperatur von Sonne, Meer und Land ihnen vorgeben. Seevögel umschwirren mich, wie sie einst Tyndall umschwirrt haben. Sie nutzen dafür Luftströmungen, die ich nicht sehen kann, Tyndall noch nicht verstehen konnte und die doch nicht weniger potent sind als ihre Pendants im Wasser. Sie verfügen über Mittel und Wege, Nebelhörner ihrer unbändig scheinenden Kraft zu berauben, sie zum Spielball unsichtbarer Hände zu machen, die ihnen die Luft zum Atmen abschneiden. Dass ein ohrenbetörender Lärm so leicht zum Schweigen gebracht werden kann, flößt einem neue Ehrfurcht vor der Kraft und der Unberechenbarkeit der Elemente Erde, Wasser und Wind ein.

Scheinbar wahllos auftretende Echos, die von unsichtbaren Wänden reflektiert werden, sind dem Betrieb eines Nebelhorns nicht eben förderlich. Kalkulierbare Echos waren bei Nebel ein seit vielen Jahren und auf vielen Routen bewährtes Hilfsmittel. Es gibt zahllose Geschichten von Seeleuten, die am Ruder stehen und in den Nebel brüllen, um sich anhand der Echos zu orientieren. Manche Kollision mit einem Eisberg wurde so vermieden. Doch wie soll ein Seemann eine Gefahr erkennen, wenn das Echo Ursprung und Richtung, aus der es kommt, nicht preisgibt?

Dieses Problem scheint Tyndall nicht großartig tangiert zu haben – was mich wundert. Die neunmonatige Testreihe war ein aufwendiges Unterfangen, und das Aufstellen der Nebelhörner verschlang Unsummen. Für viel Geld musste eine Infrastruktur geschaffen werden, die Geräte, die darin Platz fanden, benötigten Treibstoff und regelmäßige Wartung. Wie ließ sich all das rechtfertigen, wenn Schall nach Belieben abgelenkt und vom Winde verweht werden konnte, reflektiert, verschluckt und zum Verstummen gebracht? War das Nebelhorn dann nicht eine heillose Verirrung des Industriezeitalters? Gesucht wurde ein Klang, der so verlässlich war wie das Licht eines Leuchtturms und es bei Bedarf ersetzen konnte. Gefunden hatte man etwas, das so zuverlässig war wie ein Betrunkener, den man zum Einkaufen schickt. Irgendetwas wird er sicherlich mitbringen, im Zweifel aber nicht das, was benötigt wird.

Tyndall war von Trinity House beauftragt worden, ein Gerät ausfindig zu machen, das noch in sechs, sieben Kilometer Entfernung zu hören war. Am Ende der Tests stand eine Apparatur, deren Schall je nach Wetter zwischen dreißig Kilometer und ein paar Hundert Meter weit trug. Tyndalls Antwort auf dieses Dilemma war, dass er für das verlässlichste Schallsignal plädierte, und das war nun einmal das lauteste. Sicherheitshalber stellte er seinem Bericht eine Warnung voran, die alle Seefahrer, die bei unsichtigem Wetter auf das Nebelhorn angewiesen waren, zur Vorsicht mahnte. Diese Warnung gilt bis heute. Das Leuchtfeuerverzeichnis des britischen Hydrografischen Instituts stellt dem Abschnitt über Nebelsignale folgende fett gedruckte Hinweise voran:

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