Das Lied des Nebelhorns

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Unter Minimal Music, dieser bedeutenden musikalischen Neuerung, die ihren Anfang in den USA genommen hat, wird oft nur das Werk einer knappen Handvoll Komponisten – Terry Riley, La Monte Young, Steve Reich und Philip Glass – verstanden, obwohl diese Leute in ein Netz von Musikern und Komponisten eingebunden waren, von denen viele – von Julius Eastman bis Joan La Barbara – denselben Überzeugungen und Prinzipien folgten. Dennis Johnson, der mit Riley und Young befreundet war, schuf nur ein Werk, eine minimalistische Komposition für Klavier mit dem Titel November. 1959 geschrieben, wurde sie erst in diesem Jahrtausend einem größeren Publikum bekannt. Interessanterweise nimmt diese Komposition Terry Rileys In C von 1964, die als »Stunde null« der Minimal Music gilt, in vielen Elementen vorweg. Doch damals kannte noch niemand Johnsons Komposition. Wann also entstand dieser spezifische Klang? Mit seinem ersten öffentlichen »Auftritt«? Oder schon mit der ersten Niederschrift, auch wenn die erst Jahrzehnte später zur Kenntnis genommen wurde?

Über Acid House heißt es gelegentlich herablassend, es sei vom Phuture-Mitglied Earl Smith jr. (besser bekannt als der unvergleichliche DJ Spank-Spank) »zufällig« entdeckt worden, als der eines Nachts zusammen mit DJ Pierre an einem neuen Roland-303-Synthesizer herumgespielt habe, um herauszufinden, was man mit dem Gerät alles anstellen konnte. Dabei sei »aus heiterem Himmel« der charakteristische Sound entstanden. Tatsächlich hat Phuture den neuen Klang namens Acid House aus der gründlichen und systematischen Beschäftigung mit der Musikszene Chicagos heraus entwickelt. So wie die Dampfmaschine benutzt wurde, um die Mechanisierung auf eine neue, ungeahnte Stufe zu heben, so wurden Synthesizer dazu verwendet, der Clubmusik neue Dimensionen zu verleihen. Beide Phänomene in einem Atemzug zu nennen mag willkürlich wirken, aber unstrittig ist, dass sich die Entwicklung beider Klänge einem technologischen Fortschritt verdankte, der wiederum weitere Entwicklungen anstieß. Clubmusik und industrielle Revolution sind zwar durch Jahrhunderte voneinander getrennt, gleichzeitig aber durch die forcierte Suche nach technischer Neuerung und Modernität, die ihr eigentlicher Antrieb ist, eng miteinander verbunden. Beide kommen in ihrem Klang überein, der hier wie dort durch Experimentieren entstanden ist. In beiden Fällen bringt eine neue Technologie einen neuen und charakteristischen Klang hervor, der aber nicht durch die Technologie definiert ist, die ihm zugrunde liegt, sondern durch die Art und Weise, wie die Menschen, die ihn hören, ihn einsetzen. Anders gesagt, lässt sich der Klang des Nebelhorns nicht auf seine technische Funktion reduzieren. Kulturelle und soziale Faktoren sowie willkürliche Entscheidungen haben den Klang zu dem gemacht, als das wir ihn heute wahrnehmen.

Musikalische Genres und weltbewegende Erfindungen – egal ob es sich um Nebelhörner oder Acid House handelt – sind so gut wie nie das Werk eines einzelnen Genies. »Helden«-Geschichten, die anderes behaupten, halten einer genaueren Überprüfung nur ausgesprochen selten stand. Und so erweist sich in unserem Fall, dass Foulis nicht der Einzige war, der an einem Signalhorn arbeitete, und das Gerät, das schließlich an unseren Küsten Verbreitung fand, nicht seines war. Parallel zu Foulis entwickelten gegen Ende des 19. Jahrhunderts mehrere Ingenieure vergleichbare Apparaturen. Ein Amerikaner namens Celadon Leeds Daboll ließ sich 1860 mit Druckluft betriebene Hörner patentieren, zunächst in seiner Heimat, drei Jahre später auch in Großbritannien.4

Der Chemieprofessor Frederick Hale Holmes entwickelte 1863 ein Horn mit einem Rohrblatt als Tonerzeuger, und wenige Jahre später wurde das erste Drucklufthorn patentiert. In den 1880er-Jahren folgten ein handbetätigtes diaphonähnliches Nebelhorn, ein von einem Kolben betriebenes Nebelhorn sowie weitere Varianten. Robert Hope-Jones – der Erfinder der Wurlitzer-Orgel – reichte 1896 ein Patent für eine Weiterentwicklung des Diaphons ein, in dem als Anwendungsgebiet neben der Verwendung in der Orgel ausdrücklich auch Schallsignale genannt werden. Ein weiteres, später eingereichtes Patent hat ausschließlich ein Nebelhorn zum Inhalt.

Nichtsdestotrotz wird die Erfindung des Nebelhorns allein Foulis zugeschrieben. So wie die singenden Frösche der Geschichte von der Erfindung des Exotica erst die richtige Würze verleihen, so ist es in Foulis’ Geschichte das Klavier. In beiden Fällen handelt es sich um eine Zutat, die unabhängig von ihrer historischen Wahrheit den Reiz der Geschichte erhöht. Und in beiden Fällen sagt diese Zutat weniger über den Klang als vor allem darüber aus, welche Gefühle mit ihm verbunden sind. Was Foulis’ Geschichte so fesselnd macht – dass er ein Außenseiter war, ein Einzelgänger, der verarmt starb, obwohl er die gewaltige Maschine erfunden hat, der ich verfallen war –, kann nicht einmal ansatzweise erklären, warum Nebelhörner, auch wenn sie auf seine Erfindung zurückgehen mögen, einen derartigen Einfluss auf eine Musikjournalistin haben können, die ein Jahrhundert später fernab jeder Küste geboren wurde.


Das Patent von Celadon Leeds Daboll aus dem Jahr 1860

Foulis’ Geschichte ist fantastisch und zugleich romantisch. Ich ließ mich von den Stimmungen und Motiven mitreißen, die darin anklingen und mir aus dem Kino vertraut sind, von dem Leid und Verderben, die durch die Geschichte wabern wie der Nebel, in dem sie sich zutrug. Ich begriff, dass dieser Nebel, der vor fast 170 Jahren einen Strand einhüllte, die Tür war, die zu tiefer liegenden Schichten und zu belastbaren Fakten führte, weil er einer der wenigen belastbaren Fakten war, die in der Geschichte steckten. Der Nebel stand für Stimmungen, war Gleichnis und bedeutete Gefahr, aber, wichtiger noch, im Nebel lagen auch Ursache und Wirkung. Nicht nur Foulis’ Geschichte war ohne ihn undenkbar, sondern auch die Existenz des Nebelhorns. Wenn ich das Nebelhorn verstehen wollte, musste ich erst einmal den Nebel verstehen.

Schwerwetter

An einem frostigen Novembermorgen mache ich mich auf den Weg zu meinem Büro. Es liegt an der Themsemündung, und aus dem Fenster kann ich die Salzmarschen von Leigh Marsh sehen. Wenn ich dort bin, arbeite ich im Rhythmus der Gezeiten. Ist das Wasser bei meiner Ankunft weg, gehe ich erst, wenn es wieder zurück ist, ist es da, bleibe ich, bis ich wieder den feuchten Sand der Salzwiesen sehen kann, die im Sommer sattgrün und im Winter schmutzig braun sind. Ich fahre mit dem Fahrrad und komme dabei durch jene Landschaft, in der auch Joseph Conrads Erzählung Herz der Finsternis beginnt. Von London kommend, ankert Marlow mit seiner Segeljacht im Mündungsgebiet der Themse. »In der Ferne verschmolzen das Meer und der Himmel.«5 Über den Marschen von Essex hängt Dunst, »der einem Gewebe aus leuchtender Gaze« gleicht.6 Doch als ich eine Pause einlege, um etwas zu verschnaufen, ist kein Horizont zu sehen, kein Himmel und kein Meer und auch keine in Dunst gehüllte Salzmarsch, weil ich von dem hellen Grau eines dichten Morgennebels umfangen bin.

Die Luft ist nass und schwer, die Feuchtigkeit schlägt sich auf meiner Kleidung nieder. Mein Blick ist eigentümlich unscharf und müht sich vergeblich, die klamme und dumpfe Luft zu durchdringen. Der Nebel kriecht in die Manschetten meiner Ärmel, und obwohl ich das Haar zusammengebunden habe, ziehen sich einzelne Strähnen durch die Feuchtigkeit zu Locken zusammen. Wo der Nebel auf das kalte Metall meines Fahrrads trifft, etwa am Lenker, bildet sich Kondenswasser. Laternenmasten und Poller sind allenfalls schemenhaft zu erkennen. Und wie im Dunkeln glaube ich, meinen Atem, der vom Fahrradfahren leicht beschleunigt ist, lauter zu hören als gewöhnlich. Doch auch wenn der Nebel alles vor meinem Blick verbirgt, fühle ich mich anders als im Dunkeln. Ich bin umgeben von Licht, dem die Tiefe fehlt. Die Welt ist zusammengeschrumpft auf die Größe dessen, was ich hören kann, und was ich hören kann, reicht weiter als das, was ich sehen kann. Der Nebel dämpft Geräusche, verbannt den Sehsinn vom Spitzenplatz und schärft meinen Geruchs- und meinen Tastsinn. Wenn ich tief einatme, kann ich sogar die Luft schmecken; ich spüre das salzige Seegras auf meiner Zunge und die öligen Abgase in meinem Hals.

Ich halte inne und lausche.

Leuchtende Scheinwerfer ziehen vorbei wie motorisierte Himmelskörper, die im vom Nebel verlangsamten Straßenverkehr mitschwimmen. Am Ende des zwei Kilometer langen Southend Pier hupt das moderne Nebelsignal, das vom Geräusch der Autos und dem Krächzen der nahezu unsichtbar herumschwebenden Möwen fast übertönt wird. Es soll Kajaks und kleineren Sportbooten den Weg weisen und ist ungleich leiser als die Hörner der Containerschiffe, die in dem ausgebaggerten Teil der Themsemündung Richtung Londoner Hafen ziehen. Wenn der Nebel so dicht ist wie heute, stoppen die großen Schiffe mitunter im Hauptfahrwasser oder fahren sehr langsam und geben mithilfe des Nebelhorns ihre Position kund. Um das Piepsen am Ende des Piers auch nur wahrzunehmen, sind sie viel zu groß, Kapitän und Besatzung stecken in geschlossenen Ruderhäusern und Kabinen hoch über der Wasserlinie.

Ich, die ich auf festem Boden stehe, aale mich derweil im Nebel und genieße die Stille um mich herum. In Eugene O’Neills Drama Eines langen Tages Reise in die Nacht, in dem der Nebel als Versinnbildlichung für die Eintrübung des Verstandes durch die Alkoholsucht steht, findet Edmund für seine Weltflucht folgende Worte:

Gerade den Nebel wollte ich. Wenn man halb den Weg herunter ist, kann man das Haus schon nicht mehr sehen. Man weiß nicht mehr genau, wo es war. Auch nicht die anderen Häuser, den ganzen Weg entlang. Ich konnte nur ein paar Schritt weit sehen. Keine Menschenseele weit und breit. Alles um mich herum sah und hörte sich unwirklich an. Nichts war so, wie es ist. Das wollte ich gerade – mit mir selbst allein sein in einer anderen Welt, wo Wahrheit unwahr wird und das Leben sich vor sich selbst verbergen kann. Hinter dem Hafen, wo die Straße am Ufer entlanggeht, habe ich sogar das Gefühl verloren, auf festem Boden zu sein. Nebel und Wasser gingen ineinander über. Es war, wie wenn man auf dem Meer ginge, über das Wasser. Als ob ich vor langer Zeit ertrunken wäre. Als wäre ich ein Geist, dem Nebel zugehörig, und der Nebel war der Geist des Meeres.7

 

Nebel ist Materie gewordenes Wetter, zugleich greifbar und unbegreiflich. Ein Nebelhorn erklingt im Nebel und wegen des Nebels, Klang und Wetter sind dadurch verbunden, dass sie auf unsere Sinne einwirken. Nebel löscht das Sichtbare aus, während das Brüllen des Nebelhorns in der Undurchsichtigkeit als akustischer Anker fungiert. Nebel wirkt anders als Dunkelheit – die Nacht lässt sich künstlich aufhellen, aber wie vertreibt man Nebel? Kennen Sie einen anderen Klang, der so fest mit einem bestimmten Wetter verbunden ist? Die Glocke eines Eisverkaufswagens? Die Sirenen der Gezeitenwarnung von Venedig? Das Heulen der Zivilschutzsignale? Keiner dieser Klänge gleicht dem des Nebelhorns. Der Eiswagen bimmelt bei jedem Wetter. Zivilschutzwarnungen gehen dem Ereignis voraus, ihr Warnruf fordert die Menschen zum Handeln auf. Das Nebelhorn unterscheidet sich diametral davon, nicht nur hinsichtlich der Technik, sondern auch funktional. Offiziell handelt es sich um eine Navigationshilfe. Es wurde nicht nur erfunden, um Schiffe vor gefährlichen Küstenabschnitten und Sandbänken zu warnen, sondern vor allem, um ihnen mitzuteilen, wo sie sich befinden.8

Sind wir dem Wetter ausgesetzt, werden alle unsere Sinne angesprochen, in jedem Falle aber der Sehsinn, der Hörsinn und der Geruchssinn, mitunter auch der Tastsinn. Ein Sommerregen bewirkt eine Veränderung der Lichtstimmung, weil sich der Himmel verdunkelt und Regenwolken aufziehen. In Städten ist der Geruch des Staubes, der vom heißen Beton aufsteigt, ein Vorbote der ersten Regentropfen, die wir auf unserer Haut und in unseren Handflächen spüren. Auf dem Land steigt uns der Duft von Erde und Laub in die Nase.9

Um verschiedene Arten von Nebel zu unterscheiden, wird zunächst danach geschaut, wie und wo er sich bildet. Strahlungsnebel entsteht, wenn die Erde nach Sonnenuntergang auskühlt; er legt sich im Morgengrauen über Marschen und Senken und löst sich mit steigenden Temperaturen in Wohlgefallen auf. Advektionsnebel bewegt sich horizontal fort und rollt heran, wenn sich feuchte Luft über eine kältere Fläche wie das Meer oder ein Schneegebiet legt. Es gibt Talnebel und Bergnebel, auch orografischer Nebel genannt, Verdunstungsnebel und Eisnebel. Es gibt sogar Nebelbögen – farblose Lichtbögen aus leuchtendem weißem Dunst.

Nebel, Dunst und Wolken sind Variationen ein und desselben Prinzips: Kondensation. Die Definition von Nebel ist dabei ausgesprochen anthropozentrisch geraten, weil sie einen Beobachter voraussetzt. Der einzige Unterschied, den der britische meteorologische Dienst zwischen Nebel und Dunst macht, ist die Sichtweite. Nebel unter wissenschaftlichen Aspekten in den Blick zu nehmen bedeutet daher, den Menschen als Beobachter aus der Definition zu entfernen.

Waren Sie je auf einem Konzert oder in einem Club, wo so viel Kunsteis zum Einsatz kam, dass Sie sogar von Ihrer Begleitung separiert wurden? Wie hat sich das angefühlt? Haben Sie sich desorientiert gefühlt, verloren? Nehmen Sie dieses Gefühl, nicht sehen zu können, was sich unmittelbar neben Ihnen befindet, und versetzen Sie sich auf ein Schiff auf hoher See. Sie haben keine Ahnung, in welche Richtung Sie fahren, und die Situation wird allmählich gefährlich. Ursache ist ein Verlust, das Fehlen von Orientierungspunkten, die gewöhnlich für die Navigation benutzt werden – gleich ob Sie in Ihre Stammkneipe oder in einen sicheren Hafen wollen, wenn auch mit unterschiedlichen Folgen.

Musiker, die in ihren Konzerten große Mengen Trockeneis einsetzen, nutzen den Nebel als Kulisse für die Musik, die zu hören das Publikum gekommen ist. Die mit langen Mänteln und Kapuzen angetane Gruppe Sunn O))), prominente Vertreter des Doom Metal, deren dröhnende Gitarren aus monumentalen Verstärkertürmen dringen, setzt Nebel ein, um die Intensität des Klanges zu erhöhen. In ihren Konzerten machen sie davon derart massiv Gebrauch, dass in angrenzenden Gebäuden die Rauchmelder ausgelöst wurden. In dem einen Zusammenhang kann Nebel, selbst wenn er aus der Maschine stammt, also Nervenkitzel bewirken, weil er die Welt im Handumdrehen verändert. In einem anderen Zusammenhang, etwa auf See und ohne festen Boden unter den Füßen, verbreitet er Angst und Schrecken.

Nebel, der sich über das Meer und die Küste senkt, ist lebensbedrohlich, weil sich in seinem Gefolge der Tod anschleichen und ganze Schiffe verschlingen kann. Jeder Seemann weiß, wie schnell Nebel aufziehen kann und was das für den Orientierungssinn bedeutet. Chris Williams, der als Hausmeister und Teilzeit-Wärter auf dem Leuchtturm von Nash Point in Südwales gearbeitet und zahllose Ausfahrten auf dem Bristolkanal unternommen hat, erinnert sich daran, dass sich sein Boot einmal bei dichtem Nebel um 180 Grad gedreht hat, während er sich einen Handschuh überzog.

Nebel beschreibt eine Grenze, Nebel beschreibt eine Stimmung. Wenn Ella Fitzgerald A Foggy Day von George Gershwin singt, geht es nicht um das Wetter, sondern um den Nebel als Gleichnis für ein persönliches Leid. Wenn der Angebetete schließlich auftaucht, lichtet sich der symbolische Nebel. Doch der Nebel ist nicht nur der sichtbare Ausdruck für Ellas Gefühle, sondern zugleich etwas, das diese Gefühle erst hervorruft. Wenn Bob »The Bear« Hite von der Gruppe Canned Heat auf der Platte Live at Topanga Corral10 murmelt »I’m already in a fog. I don’t need the machine«, dann zielt er auf eine gänzlich andere Form des Nebels ab, die ihn einhüllt – einen Nebel, der chemikalischen Ursprungs ist.

Der Nebel zieht sich durch die westliche Kultur wie eine Rauchschwade, angefangen von Aphrodite, die in der Ilias Paris mithilfe einer Wolke in Sicherheit bringt, bis hin zu John Carpenter, der in seinem Film Nebel des Grauens eine Nebelbank über eine verschlafene Kleinstadt an der kalifornischen Küste hereinbrechen lässt, in der von Lepra gezeichnete Zombie-Piraten stecken. Stephen King lässt in seinem Buch Der Nebel ebenfalls Monster auftreten; in James Herberts Roman Der Nebel bringt er Wahnsinn unter die Menschen. Eine besondere Rolle spielt der Nebel im Genre des Schauerromans, wo er als Sinnbild der menschlichen Irrtümer und als Schwelle zur Geisterwelt dient. Nebel spielt eine tragende Rolle in Susan Hills Die Frau in Schwarz, in den Büchern mit Sherlock Holmes und bei H. G. Wells. Robert Louis Stevensons Figur Dr. Jekyll biegt in eine neblige Gasse ein und verlässt sie als Mr. Hyde.11 Am meisten beeindruckt mich jedoch der Nebel, der Dracula an die Küste von Whitby verschlägt (der dortige Leuchtturm erhielt übrigens erst 1903 ein Nebelhorn, also einige Jahre nach Draculas Ankunft). Das Schiff erreicht die Küste bei dichtem Nebel, der selbst nach britischem Maß gemessen beklemmend ist:

Dann kam wieder der Nebel vom Meer, dichter als zuvor, eine feuchte Dunstmasse, die alles wie ein graues Leichentuch einhüllte, so dass die Menschen ganz auf ihr Gehör angewiesen waren, denn das Brüllen des Sturms und das Krachen des Donners und das Dröhnen der mächtigen Böen drangen noch lauter als zuvor durch die nasskalten Schleier.12

In San Francisco gehört der Nebel zur Stadt und die Stadt zum Nebel. Und zu diesem Nebel gehören die Nebelhörner. Rund um die Bucht von San Francisco ertönen sie durchschnittlich zweieinhalb Stunden pro Tag, und in den Brauereien im Umland wird Bier gebraut, das Verloren im Nebel, Nebelbrecher oder Stadt des Nebels heißt. Wenn die Einwohner von San Francisco über Wolken reden, sprechen sie von »hohem Nebel«, und wenn dieser hohe Nebel in die Straßen der Stadt Einzug hält, fühlen sie sich »eingenebelt«. In einem Buch von Edwin Rosskam von 1930 heißt es, dass der Nebel nicht zum Wetter gehört, sondern »wie eine Insel im Wetter treibt«. Der Nebel ist so allgegenwärtig, dass er in Gestalt eines sarkastischen Charakters namens Karl der Nebel (benannt in Anlehnung an die Figur Karl der Riese aus dem Film Big Fish) einen eigenen Twitter-Account unterhält. Karl brüstet sich damit, das Feuerwerk zum Nationalfeiertag verhindert zu haben, ärgert Touristen, indem er sich vor die Linsen ihrer Fotoapparate schleicht, und schießt Selfies – graue Rechtecke in unterschiedlichsten Schattierungen. Besonders Letzteres entbehrt nicht einer gewissen Komik, weil Nebel selbst nicht fotografiert werden kann, sondern allenfalls seine Wirkung, etwa wenn er ein Motiv ganz oder teilweise verhüllt. 1966 behauptete ein gewisser Gareld M. Corman, er habe eine Linse erfunden, mit der er durch den Nebel von San Francisco hindurchsehen könne. Er gab ihr den Namen »Ohmichlescope«.13

In seinem Buch über das Wetter in der Bucht von San Francisco – das in Wahrheit ein Buch über den Nebel in der Bucht von San Francisco ist – führt Harold Gilliam aus, dass pro Stunde bis zu einer Million Tonnen Wasser in Form von Dunst und Nebel durch die Meerenge Golden Gate wabert. Im späten Frühling und im Sommer kann die Nebelwalze zwischen hundert Metern und mehreren Hundert Kilometern breit und zwischen hundert Metern und einem knappen Kilometer hoch sein – Ausmaße, die ihn zugleich fester und stofflicher wirken lassen, als er tatsächlich ist. Der Schriftsteller George Sterling, der San Francisco als »kühle, graue Stadt der Liebe« bezeichnete, war davon überzeugt, dass der Nebel eines schönen Tages als Energiequelle genutzt werden könnte, weil er mit bis zu sechzig Stundenkilometern durch das Golden Gate strömt.

Solch beeindruckende Zahlen verschlinge ich regelrecht, aber so aussagekräftig sie auch sind, verlieren sie ihre Bedeutung, wenn man sie auf eine Masse bezieht, bei der es sich letztlich um bewegte schwere Luft handelt. Nebel kann ich weder greifen noch fotografieren – seine Anwesenheit erschließt sich allein aus der Relation zu anderen Dingen.

Geschwindigkeit, Dichte und Häufigkeit des Nebels in der Bucht sind zurückzuführen auf Verschiebungen der Pazifischen und der Nordamerikanischen Platte, die sich vor 650 000 Jahren zugetragen haben. Die Bucht ist genau genommen ein Durchbruch, den der Pazifische Ozean auf Meereshöhe in die kalifornischen Küstengebirge geschnitten hat, und weil sich dieser Durchbruch am Golden Gate stark verjüngt, wird die Luft, gleich ob heiß oder kalt, stark beschleunigt, wenn sie hindurchmuss, weshalb der Sonne zehn Minuten und weniger genügen, um sie in Nebel zu verwandeln. Würde man den Nebel von San Francisco mitsamt der aus den geografischen Besonderheiten resultierenden Energie an die Themsemündung verfrachten, könnte ich ihm mit dem Fahrrad nicht folgen.

Die Frühjahrs- und Sommernebel von San Francisco sind Advektionsnebel, der entsteht, wenn feuchte Luft auf die Wasseroberfläche in der Bucht trifft oder, bei warmem Wetter, warme Luft an den umgebenden Hängen aufsteigt und abkühlt. Winter- oder Tule-Nebel sind Strahlungsnebel; verantwortlich ist das Zusammentreffen von kaltem Land und warmer Luft, die darüber hinwegstreicht. Der Ausdruck »Tule« ist eine Ableitung aus dem Aztekischen und meint die Binsen, an denen sich der Nebel sammelt. Für die meisten Schiffsunglücke, die sich in der Bucht ereignen, sind diese Winter- oder Tule-Nebel ursächlich.

Auch für andere Nebelformen, die sich einer besonderen Geografie verdanken, gibt es dialektale Bezeichnungen. Manche ziehen besonders schnell auf, andere sind besonders kalt, und wieder andere zeichnen Trugbilder in die Luft. In Südamerika heißen besonders dichte Nebel, die nicht von Regen begleitet werden, camanchaca, in Chile und Peru steht das Wort garúa für kalte Winternebel; die im Westen der USA lebenden Schoschonen nennen Nebel, der in den tiefen Gebirgstälern gefriert, pogonip. Das Niederländische kennt den Ausdruck witte Wieven, womit in Nebelschwaden gehüllte Frauen gemeint sind, die im Herbst erscheinen. In Schottland und Nordengland heißt Meeresnebel kurz haar oder fret.

Nebel spielt im Volksglauben und in der Mythologie eine wesentliche Rolle. Mal ist er der Bote, der etwas bringt, mal der, der Dinge enthüllt, dann wieder jemand, der eine Brücke zwischen der diesseitigen Welt und anderen Sphären schlägt. An der britischen Küste kursiert eine Geschichte aus dem Cornwall des 16. Jahrhunderts, die von einem großen Nebel berichtet, aus dem eine Burg hervorsteigt, gefolgt von einer Flotte aus größeren und kleineren Schiffen. Der Legende nach lag die Isle of Man einst unter der Wasseroberfläche, und als sie sich schließlich erhob, blieb sie unter einem magischen Nebelschleier verborgen. Auch Avalon war laut manchen Überlieferungen auf magische Weise verhüllt. In außereuropäischen Kulturen sind solche mythischen Erscheinungsformen des Nebels ebenfalls anzutreffen. Im Popol Vuh – der Schöpfungsgeschichte der Mayas – bewirkt das Aussprechen des Wortes »Welt«, dass sich das Land »wie eine Wolke, wie Nebel« aus dem Wasser erhebt. Seinen Ursprung mag dieses Bild in der Art und Weise haben, in der Wolken und Nebel die Berge ver- und enthüllen, von denen die Region geprägt ist.

 

Doch wo oder wann auch immer, in all diesen Geschichten, erst recht in der Wirklichkeit, ist der Nebel so gut wie nie harmlos oder ungefährlich. Im Zweiten Weltkrieg verhinderte Nebel über den Flugplätzen, dass Flugzeuge der Alliierten sicher landen konnten, wenn sie von ihren Einsätzen zurückkamen. Aus diesem Grund wurde FIDO entwickelt, ein System aus zwei langen, mit Treibstoff gefüllten Röhren, die parallel zur Landebahn ausgelegt und in der Hoffnung angezündet wurden, dass sich so der Nebel vertreiben ließe. Auf diese Weise wurden pro Stunde 450 000 Liter Treibstoff vernichtet. Piloten, die sich im Anflug befanden, bot sich mit der brennenden Landebahn ein wahrlich infernalisches Bild. Doch das war sicherlich immer noch besser als die bis dahin verwendete Praxis, im Fall, dass der Flugplatz im Nebel lag, mit dem Fallschirm abzuspringen und das Flugzeug ins Meer stürzen zu lassen.

Auf meinem Weg entlang dem Themseufer fällt mir das Läuten einer Glocke auf, die an einer Tonne befestigt ist und von den Wellenbewegungen zum Klingen gebracht wird. Ich kann die Umrisse der Landschaft förmlich hören, wissend, dass die Flut noch bevorsteht. Bei uns Sehenden wird der Orientierungssinn durch Nebel empfindlich gestört, ohne dass er dadurch greifbarer würde. Wir können ihn nicht in die Hände nehmen, und doch legt er sich um uns, vereinzelt uns, schneidet uns von der Außenwelt ab.

Künstlerinnen und Künstler wie Ólafur Elíasson, Antony Gormley und Fujiko Nakaya – eine Bildhauerin, die für ihre Nebelinstallationen bekannt ist, die sie wie flüchtige Skulpturen für den öffentlichen Raum entwirft – haben diese Eigenschaften des Nebels in ihrer Arbeit aufgegriffen. Alle drei haben mit teils überwältigendem Erfolg Ausstellungen veranstaltet, die die Frage thematisierten, was es bedeutet, in künstlichen Nebel einzutauchen und sich so von der Außenwelt abzukapseln. Solcherlei Kunst ist auf keinerlei Vorwissen angewiesen, weil sie eine unmittelbare sinnliche Erfahrung ermöglicht. Auch das kann Nebel.

Auch Menschen mit eingeschränkten sinnlichen Fähigkeiten kennen eine solche Neuordnung der Wahrnehmung unter dem Einfluss von Nebel. Blinde nennen Schnee gelegentlich auch »Nebel der Nichtsehenden«, weil er die Informationen über die Welt unterdrückt, die sie sonst über das Gehör aufnehmen. Während Sehende Ecken und Flächen, Wege, Straßen und Hindernisse über die Augen wahrnehmen, orientieren sich Blinde anhand des Echos, das auf ihre Ohren trifft. Schnee aber löscht diese Informationen aus. Wenn ein Blinder bei Starkregen die Haustür öffnet, dann ist das, so John M. Hull in seinem Buch Im Dunkeln sehen, als würde ein Sehender die Vorhänge seines Fensters öffnen. Beide verschaffen sich ein Bild von der Welt, der eine über die Augen, der andere über das Gehör.14

Zurück nach Essex, wo ich noch immer am Ufer der Themse entlangradele, das Kollern der Gänse und den Klang der Fallen höre, die im Jachthafen an metallene Masten schlagen. Diese Geräusche sagen mir, wo ich mich befinde, setzen meinem wenig verlässlichen Raumgefühl willkommene Grenzen. In dichtem Nebel auf meine Umwelt zu hören hat mir dabei geholfen, für die Geschichte, der ich auf der Spur war, einen Rahmen zu finden und so etwas über die Rolle herauszufinden, die das Nebelhorn in der Klanglandschaft unserer Küsten einnimmt.

Nebelhörner sind die Tonspur des Nebels und seiner Verbündeten, ein Mittel, fehlende Sicht zu überwinden, wenn Tiefe und Details von einem weiß-grauen Schleier verhüllt sind, wenn der Orientierungssinn ins Zweifeln gerät und man nicht mehr mit Sicherheit sagen kann, wo man sich befindet. Hier und jetzt an der Themsemündung, von einem Licht umfangen, dem jede Tiefe abgeht, bin ich von dem Ort, den ich wie meine Westentasche kenne, vollständig getrennt. Der Nebel hat nicht nur meine Sinne umsortiert, sondern auch den Ort neu geformt, und im Gepäck hat er all die Assoziationen mit der Schauerliteratur und deren Grenzerfahrungen. Ich stehe unter dem Bann des Nebels, bin vom Wetter eingehüllt, seinen unterschiedlichen Bedeutungen, und erlebe nach, wie seine feuchten Finger nach Schriftstellern und Seeleuten gleichermaßen gegriffen haben.

Und doch: Nebelhörner waren zwar die größten und lautesten Klangerzeuger an unseren stillen Küsten, aber beileibe nicht die ersten, und sie kamen auch nicht aus dem Nichts. Womit sich die Frage stellt, was an den entlegensten Grenzen des Festlands erklang, bevor das Nebelhorn zu brüllen begann, und was dafür verantwortlich ist, dass ein derart monströses und zugleich melancholisches Ding wie das Nebelhorn erfunden wurde.