Schwarzmarkt Magie

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„Hey, lass gut sein, Mann! Ist doch ihre Sache, wenn sie nicht mitmachen will“, versuchte Joe ihn zu beruhigen, doch es klappte nicht.

Die Spritzer hörten auf, über ein unklares Tor und die Entscheidung des Schiedsrichters zu diskutieren, und schauten die beiden streitenden Recken an.

Langsam kriegte sich Mr. Knochen ein. „Ich habe alles vorbereitet, Missie, jetzt gibt es kein Zurück mehr, also mach deinen Job!“, befahl er schroff.

Alex zog ihr Samsung aus der Tasche und wählte Ninos Nummer. Dieser meldete sich: „Hallo, Alex, lange nichts mehr von dir gehört! Was ist los?“

„Was los ist? Dein Mr. Knochen hat mich für eine Solonummer bestellt und jetzt steht er hier mit Gartenschlauch-Joe und einer Bande von Spritzern.“

„Was wird das?“, fragte Mr. Knochen.

Er starrte Alex weiter wütend an, während sie telefonierte. Dann legte sie auf. „Klär das mit Nino!“, sagte sie, zog sich einen der Klappstühle zurück und pflanzte sich mit verschränkten Armen darauf. Nun gingen die Spritzer wirklich zu ihren Hosen zurück und zogen sich an.

„Was soll das werden?!“, schrie Mr. Knochen.

„Ich warte darauf, dass Nino dir die Hölle heiß macht“, antwortete Alex und blieb lächelnd sitzen.

Mr. Knochen griff sich an die Stirn und begann herumzulaufen. „So eine verdammte Scheiße habe ich in meiner ganzen Laufbahn noch nicht erlebt“, sprach er zu sich selbst.

Einer der Spritzer stand plötzlich neben Alex und schaute auf sie hinunter. „Und, äh … du hast wirklich einen Schwanz?“

„Ja“, sagte Alex, nicht ganz sicher, was das werden würde.

„So von Geburt an oder …“

„Ja, so von Geburt an.“

„Und … du bist keine Transe?“

„Nein, bin ich nicht.“

Kurze Stille, dann: „Cool“, und er ging wieder.

Schließlich flog die Tür auf und Nino Goldfinger stürzte herein, mit dickem, fettem Pelzmantel um die dürren Glieder, schicken, violett glänzenden Schuhen, einem weißen Hut mit pinkfarbenem, leopardengemustertem Hutband, dicker, goldener Elvis-Sonnenbrille im Gesicht und dem markanten spitzen Kinn. Alex stand auf und ging zu ihm hinüber. Er breitete die Arme aus und nahm Alex zur Begrüßung in die Arme: „He, Alex, du kannst dich ruhig öfter melden! Was ist los?“

„Also“, begann Alex, „dein Mr. Knochen ruft mich zur Solonummer und sagt zu Perücke und Make-up zuerst okay. Dann bin ich da und es heißt: Sorry, Mädchen“, äffte sie ihn nach, „wir haben keine Zeit für Perücke und Make-up. Also lass dich von Gartenschlauch-Joe in den Arsch ficken und von den Pennern dabei anspritzen und … oh, bevor ich es vergesse, wäre nett, wenn du auch einen hochkriegen würdest, das war verdammt noch mal los!“

Nino stakste auf Mr. Knochen zu. „Hey, stimmt das?“

„Ruhig. Ja, größtenteils ja“, gab Mr. Knochen zu.

„Alex macht so was nicht mit, war dir doch bewusst, oder?“

Mr. Knochen massierte seine Nasenwurzel. „Nino, du weißt, dass die Leute was besonders Widerliches und Abartiges sehen wollen, weil wir sie sonst verlieren.“

„Porno ist mehr als das!“, führte Nino an.

„Nino, du weißt, dass ich dich immer geschätzt habe, aber davon hast du keine Ahnung mehr“, sagte der kleine zu dem großen Kerl. „Du bist irgendwo in der Vergangenheit hängen geblieben. Heute heißt das hop oder top und deine Alex hat mir top schon zugesichert, also überzeug sie bitte.“

„Nein, das werde ich nicht. Was drehst du hier überhaupt?“

Mr. Knochen stöhnte auf. „Okay, Alex wird von Joe hier rückwärts genommen, während die Spritzer auf sie spritzen. Punkt.“

Nino dachte kurz nach. „Wie soll es denn zu so was kommen?“

„Nino“, sagte Mr. Knochen ruhig.

„Was ist das denn für eine Handlung? Ich meine, worum geht’s in diesem Porno?“

„Nino“, sagte Mr. Knochen erneut.

„Und diese Location, hast du zum Drehen keine Strandvilla oder so?“

„Nino!“, schrie er jetzt. „Es gibt keine Handlung, außer das Ficken!“

„Wir waren uns doch einig, dass wir was Besseres bringen wollen als den üblichen Scheiß. Wir bringen Kunst, Mann.“

„Tut mir leid, das sagen zu müssen, aber du hast keinen Durchblick mehr. Was du gedreht hast, war weichgespülter Softporno-Dreck und die Einzigen, die sich deine Lesbischen Gladiatorinnen vom Mars angeschaut haben, waren Idioten, die einfach mal grüne Schlampen mit Antennen sehen wollten. Denkst du, auch nur ein Mensch auf Erden hat sich die Dialoge angehört? Bei so was spult man weiter! Das will keiner sehen! Wir sind hier nicht in Hollywood! Die Leute wollen nur den Sex sehen und der soll so dreckig und deutlich wie möglich sein, der ganze Rest ist Zeitverschwendung! Dein Traum, aus Pornos Kunst zu machen, ist der letzte Dreck! So was will keiner sehen! Du bist veraltet, Alter!“ Nino stand da wie ein gerügter Junge, während Mr. Knochen weitersprach: „Was du machen willst, gucken sich nicht mal Feministinnen an. Wir haben nur Geld, weil ich drehe, was die Leute sehen wollen! Der Rest ist Mist. Denk doch mal über die erste Sache nach, die du mit Alex gedreht hast …“

Nino blieb weiter stumm mit gesenktem Haupt stehen und Alex ahnte nichts Gutes. Sie ging langsam auf die beiden zu. Es würde tatsächlich einen Wetterumschwung geben, sie konnte das Unwetter bereits spüren, von ihrer Narbe bis in ihre Gedärme hinein.

„Denk an diesen Mist“, fuhr Mr. Knochen fort. „Ein Mädchen träumt davon, von ihrer Freundin gefickt zu werden, und findet eine Wunderlampe, aus der Joe hier mit viel Rauch und einem falschen Schnauzbart kommt und ihrer Freundin einen Schwanz dranzaubert!“ Er schlug sich vor die Stirn. „Dann ficken sie das erste Mal nach dreißig Minuten. Die Fingerszene am Anfang war der reinste Müll! Und sie diskutieren mit ihren Eltern und hauen schließlich ab. Und – oh, ja – treiben es am Ende im Sonnenuntergang! In welcher Welt lebst du Schwachkopf überhaupt? Dein Traum vom abendfüllenden Hollywood-Porno wird niemals wahr! Irgendwann wird einer meiner Pornos einen Oscar kriegen“, äffte Mr. Knochen Nino nach. Die Sexszenen werden eher stören, weil alle wissen wollen, wie es weitergeht!“ Er lachte.

Als Mr. Knochen wieder aufsah, hatte Nino schon die goldene Beretta gezogen und drückte sie gegen dessen künstlich gebräunte Stirn. Mit weit aufgerissenen Augen schrie er: „Was verfickt machst du kranker Idiot da?!“

„Du hast recht“, meinte Nino. „Mein Traum wird nie etwas, nicht in dieser Welt. Aber ich werde einen Schmierfleck wie dich ganz sicher nicht weiter rumlaufen lassen.“

„Scheiße, das meinst du nicht ernst!“

Alex war mit ihren Cowboystiefeln am Boden festgefroren. Ebenso wie die Spritzer. Nino verkniff sich die Tränen unter seiner riesigen Sonnenbrille.

Dann kam der Sturm.

Die Mündung flammte auf und schickte eine vom Drill angedrehte Kugel voran, die in Mr. Knochens künstlich gebräunte Stirn eintrat, dessen Augen in diesem traumatischen Moment in zwei verschiedene Richtungen starrten. Die Kugel bahnte sich ihren Weg, sein Hinterkopf explodierte und zog einige rosafarbene Schlangen an Gehirnwindungen mit sich, die wie ein Vektor auf dem Boden aufschlugen und zum Ausgang zeigten. Der Rest des Körpers folgte dem Pfeil aus Hirnmasse und schlug mit dem Kopf voran auf.

Die dünnen Krallen mit den langen goldenen Fingernägeln zitterten, während sie verkrampft die Pistole hielten. Einige Blutspritzer waren auf seinem Mantel und seinem Hut wie auch auf seiner Sonnenbrille gelandet. Langsam senkte er die Pistole und schaute zu Alex. Zum ersten Mal, soweit sie sich erinnern konnte, nahm er die Elvis-Sonnenbrille ab und Alex konnte seine traurigen, dunkel umrandeten Augen sehen.

Sie wussten beide, dass es das Ende war.

Alex löste ihre Stiefel vom Boden, während die Spritzer paralysiert dastanden und nichts zu tun wussten. Sie würden, sobald es vorbei war, diesen schrecklichen Ort verlassen und nie zurückkehren. Seit dem Knall verließen bereits alle das Gebäude, bis auf diejenigen in diesem Raum. Der tote Mr. Knochen starrte mit einem Auge die Spritzer an und mit dem anderen Alex, die seinem losgelösten Blick entging, indem sie zu Nino lief, der dort weinend und verloren stand, und ihn in die Arme nahm. Nino weinte und ließ die Brille fallen, die auf dem Boden aufschlug.

„Tut mir leid, Nino“, sagte Alex, ohne so recht zu wissen, was. Sie löste sich von ihm.

Nino deutete auf die Exit-Tür, wo eine Tasche stand. „Ich habe es gewusst.“

„Was?“, fragte Alex.

„Dass es so kommen würde. Ich habe es gewusst.“

In dieser Melancholie standen sie da, inmitten des Porno-Sets.

„Was willst du jetzt tun?“

„Ich könnte mich erschießen oder …“

„Oder was?“

„Oder mich ergeben … was ich nicht tun werde“, fügte er hinzu. „Oder …“

„Oder?“

„Oder ich fahre dorthin, wo ich es schaffen kann. Wenn ich schnell genug fahre, komme ich an, ehe ich losgefahren bin.“

Alex sagte nichts, vor allem, weil sie Nino nicht so recht folgen konnte.

„Die Tasche an der Tür ist für dich. Da ist mein Geld drin. Ich brauche es nicht.“ Er berührte ihre Schultern, schaute sie an und ging schließlich ein paar Schritte zurück. „Ich erinnere mich noch, wie du damals am Straßenrand standest und ein Schild hochhieltest, auf dem Nirgendwo stand. Ich dachte einen Moment darüber nach, einfach vorbeizufahren, bin aber froh, dass ich es nicht getan habe. Du bist schließlich noch nicht angekommen, was?“ Er beugte sich herab und hob seine Sonnenbrille auf. Sie hatte einen spinnennetzartigen Sprung und war mit einigen Blutflecken besprenkelt. „Gehen wir?“

Alex nickte. Sie gingen an Mr. Knochen vorbei, Alex beugte sich herunter und hob die Tasche im Gehen auf. Gemeinsam durchschritten sie die Exit-Tür und alle darauffolgenden.

 

Draußen sah Alex, dass Ninos Wagen – derselbe, in dem er sie damals aufgelesen hatte – zwei Parkplätze neben ihrem stand. Beide gingen zu ihren Autos, öffneten die Türen und warfen sich einen letzten Blick zu. Nino lächelte. „Wir sehen uns bei der Oscar-Verleihung“, sagte Alex lächelnd. Beide stiegen ein.

Alex warf die Tasche auf die Rückbank und startete den Wagen mit dem Gefühl, dass Nino in seinem Gefährt die Überschallgeschwindigkeit erreichen könnte und sich die Erde unter seinen Reifen langsamer drehen würde, als beide hinaus in Leipzigs Gedärme schossen. Hinaus aus der Stadt auf die langen, leeren Straßen der Nacht.

Alex fuhr ein ganzes Stück. Halb in Trance registrierte sie irgendwann, dass es bald Morgen werden würde. Also bog sie von der Straße auf einen langen Feldweg ab und tuckerte in ihrem Ford Escort EXP dahin. Der Himmel hellte sich langsam auf. Der einzig sichtbare Lichtfleck war das weiße Mondgestein. An einem alten Kirschbaum bog sie ein und fuhr ein Stück. In dem langsam weiß-blau werdenden Himmel zeichneten sich kreuz und quer Karos aus wunderschönen Chemtrails ab. Schließlich hielt sie den Wagen an, wo die Umgebung noch immer grau war. Rund herum ragten riesige, dünne Windräder in den Himmel. Sie stieg aus, holte eine Jacke aus dem Kofferraum, platzierte sie so auf der Motorhaube ihres treuen Fords, dass sie den Lack unmöglich zerkratzen konnte, und setzte sich darauf. Nur ein dünner, verschwommener, roter Ring zog sich über die Landschaft. Bald würde die Sonne aufgehen. So hell, wie der Streifen war, musste der Rand der Sonne jeden Moment über die Erde lugen.

Wie weit von zu Hause war sie wohl entfernt? Nicht von dem Ort, sondern von der Zeit, als sie das Haus mit ihrer vollgestopften Reisetasche verlassen, sich an die Straße gestellt und das Schild mit ihrem Reiseziel Nirgendwo hochgehalten hatte? Es musste sehr weit weg sein.

Sie erinnerte sich, wie sie zum ersten Mal hinter dem Steuer eines Wagens gesessen hatte. Sie musste damals elf oder zwölf gewesen sein. Damals hatte sie nicht einmal geahnt, ein Zwitter zu sein. Ihre Eltern hatten ihr weisgemacht, sie wäre ein Junge, und so war sie auch aufgewachsen. Damals hatte sie kurz geschorenes Haar getragen. Wenn sie jetzt daran dachte, war es, als wären es gar nicht ihre Erinnerungen, sondern die eines anderen. Die Erinnerungen von jemandem, der jetzt erwachsen war, vielleicht eine kleine Familie hatte und mit den Kumpels in den Club Blue Monday zum Saufen ging. Dieser Jemand war nicht sie.

Ihr Vater war ein ziemlich großer Kerl, der gern Holzfällerhemden trug und als Mechaniker arbeitete. Neben ihrem Haus hatte er seine kleine Werkstatt. Als Junge glaubte Alex, als Erwachsener genau so auszusehen. Mit diesem stoppelbärtigen, gespaltenen Kinn, dem länglichen Gesicht, den schmalen Augen und dem dunklen Haar. An diesem einen Morgen sagte er zu ihr: „Sohn –“ Immer, wenn er irgendeine Ankündigung machte, die Alex betraf, sagte er „Sohn“, nie „Alex“, und zwar mit einer gewissen Aufbruchstimmung in der Stimme. Er sagte also: „Sohn, heute werde ich dir zeigen, wie man ein Auto fährt. Na, was hältst du davon?“ Und es gab keine Antwort außer: „Das ist spitze, Paps“, die ihn nicht verärgert hätte.

Also gingen sie an diesem Morgen hinaus zu seinem Chevrolet Balzer, diesem schwarzen Monster von Auto. Er warf ihr den Schlüssel zu und Alex fing ihn etwas ungeschickt auf. Damals war ihr Vater noch ganz anders, als er noch einen Sohn hatte, den er zu einem Prachtexemplar von Mann formen konnte, wie er selbst eines war. Alex schloss den Wagen auf und kletterte auf den Fahrersitz. Es war ein eigenartiges Gefühl, dort zu sitzen, von hier aus sah die Welt ganz anders aus als vom Beifahrersitz.

Wie oft schon hatte er ihr während der Fahrt die Armaturen erklärt? Wie oft hatte Alex ihm zugesehen, während er diesen Wagen fuhr. Seine Augen, die immer zielgerichtet geradeaus gestarrt hatten, während er erzählte. Nun saß sie selbst hinter diesen gewaltigen, cremefarbenen Armaturen, legte die Hände um das große, schwarze Lenkrad, in dessen Mitte ein Kreuz prangte, als ob dies hier ihre Religion wäre. Als ob Autos sie für den Rest ihres Lebens begeistern würden.

Ihr Vater nahm auf dem Beifahrersitz Platz und schaute wie immer zielgerichtet geradeaus, als würde er die brachiale Zukunft in Augenschein nehmen. „Ich habe dir alles erklärt, Sohn“, sagte er. „Rechts ist das Gas, in der Mitte die Bremse und links die Kupplung.“ Alex drehte den Schlüssel im Zündschloss, schob ihren im Turnschuh steckenden rechten Fuß auf das Pedal und den anderen auf die Kupplung. Sie musste lächeln, als sie an das Gefühl dachte, wie der Wagen sich aufgebäumt hatte, um kurz darauf mit einem gewaltigen Ruck zu ersterben.

Alex saß zwischen den beiden Lichtern auf der Motorhaube und schaute sich den Sonnenaufgang in der nebligen, unscharfen Frühe an. Sie sah, wie sich der gesamte Himmel rot färbte und das erste glühende Stück Sonne aus dem roten Wolkenmeer auftauchte. Die Windmühlen glänzten und die ersten warmen Strahlen erstreckten sich über den holprigen Weg und die Felder. Alex setzte nun die Pilotensonnenbrille auf, die sie die ganze Zeit in den Fingern gedreht und gewendet hatte, während die Sonne träge und wabernd aufstieg.

Die Erinnerung an die leichten, aber tiefen Vibrationen des Wagens, den sie damals endlich zum Leben erweckt hatte, strömte auf sie ein. Vorsichtig, geradezu ängstlich drehte sie das Lenkrad nach rechts, während der Chevrolet über die Gittersteine aus der Ausfahrt vor der Garage rollte. Sie fuhr den grob asphaltierten Weg nach rechts, den sanften Hügel hinauf. Der Anstieg war kaum merklich, doch Alex fühlte sich, als würde sie eine Achtzig-Grad-Steigung hinauffahren und das Auto fast umkippen. „Nur zu, Sohn, gib etwas mehr Gas“, wies ihr Vater sie an und Alex verstärkte den Druck auf das Pedal. Der Chevrolet rollte murrend und knurrend hinauf, den Gärten und Feldern entgegen, wo die ersten elfenbeinweiß strahlenden Windräder standen, die sich in den darauffolgenden Jahren karnickelgleich vermehren sollten. Alex’ Augen huschten für den Bruchteil eines Augenschlags zu den schwarzen Anzeigen, doch als sie wieder den weiten, blauen und von jeder Wolke befreiten Himmel über dem Feldweg sah, hatte sie bereits vergessen, was sie gesehen hatte. Es war ein langer, steiniger, staubiger Weg, fast wie der, auf dem Alex jetzt stand und der Sonne beim Aufquellen zusah. Rundherum erhellte sich der Himmel.

„Gib noch etwas Gas, komm schon, Junge, trau dich!“, forderte ihr Vater und Alex gab noch mehr Gas. Als der dunkle, lavasteingleiche Asphalt endete und in die staubige Straße überging, gab es ein kurzes Auf und Ab. Alex beschleunigte. Es waren vielleicht 50 Kilometer pro Stunde, aber ihr kam es vor wie 220. Langsam erwachte dieses merkwürdige Glück in ihr, das Monstrum aus Stahl und Kunststoff endlich zu beherrschen, dass sie die Zügel fest in der Hand hatte und es ihren Befehlen folgen würde, egal, wie auch immer diese lauten würden. Alex begann, unsicher zu lachen. Ihr Vater grinste, zufrieden mit ihr, seinem Sohn.

Von diesem Tag an fuhr Alex für einen Teenager unheimlich oft und bald schon bis zum Kaufhaus oder zu den kleinen Läden in der Nähe. Bis irgendwann mit siebzehn oder achtzehn – überraschenderweise konnte Alex sich nicht mal mehr genau erinnern, wie alt sie gewesen war – die wirklichen Schwierigkeiten anfingen. Als ihr Becken sich eher in die weibliche Richtung entwickelte und ihre Brüste zu wachsen begannen, wurde ihr klar, dass sie nicht einfach nur ein Junge war. Damals war das Fahren das Einzige, was ihr eine gewisse Stabilität gab, während die Welt um sie herum zusammenbrach, als ihr eröffnet wurde, dass sie kein einfacher Junge war, sondern halb und halb.

Alex machte sich erst spät Gedanken über die dünne Narbe, die neben ihrem Penis verlief. Ihre Mutter erklärte ihr damals, dass die Narbe von einer „offenen Stelle“ herrührte, die kurz nach der Geburt geschlossen werden musste. „Du musst dir deshalb keine Sorgen machen“, fügte sie hinzu, während sie Alex an sich drückte und umarmte. Ungläubig fragte Alex: „Wirklich?“ Wegen der Gefahr, die von dieser Narbe ausging, war sie sich nicht ganz sicher. Ihr Vater antwortete darauf: „Du lebst doch noch, oder etwa nicht?“

Das hatte Alex viele Jahre gereicht, bis sie sich eben zu verändern begann. Dann eröffnete man ihr, dass sie mit zwei Geschlechtern geboren wurde und der Arzt, der bei der Geburt dabei gewesen war, ihre Eltern fragte, was sie lieber haben wollten, da man das Kind in so einem „Zustand“ nun mal nicht belassen konnte. Also entschlossen sich ihre Eltern, auf besonderem Wunsch des Vaters, für einen Jungen und glaubten in ihrer geistigen Einfachheit und der Angst, dass es sich damit erledigt hatte. Wer hätte schließlich damit rechnen können, dass sich Alex’ restlicher Körper ganz abrupt in die weibliche Richtung entwickeln würde? Das Unheil war wie die Sonne zu einem Oval aufgestiegen, schwer und schwabbelnd.

Alex erinnerte sich gut, wie ihr Vater sie drängte, sie solle sich Medikamente besorgen, um die weiblichen Hormone zu unterdrücken. Doch Alex entschied sich dagegen, was ein Glücksgriff sein sollte, denn überraschenderweise harmonierte ihr Körper, kurzum: Ihr Körper formte sich weiblich, während ihr Prügel sich verhielt, wie man es von ihm erwartete. Jede hormonelle Therapie hätte sie aus dem Gleichgewicht gebracht.

Ihr Vater sprach sie damals mit „Alexander“ an, als könnte er sie mit dieser Zauberformel beherrschen. Das Schlimmste an allem aber waren die Einfachheit und die Leichtfertigkeit der Entscheidung, dass sie ein Junge sein sollte. Das darauffolgende Übel brachte das Fass endgültig zum Überlaufen: Der Arzt riet ihr, sich „umwandeln“ zu lassen. Zuerst hatten sie ihr einfach das weibliche Geschlecht genommen und nun wollte man ihr auch noch ihren kleinen Freund wegschneiden und durch eine künstliche Vagina ersetzen, nur, damit sie sich der Gesellschaft anpassen konnte, weil sie sonst niemand akzeptieren würde.

Ihr Vater wäre sicher stolz auf seinen Sohn, wenn er wüsste, mit welch schicken und geschmackvollen Fräuleins sie auf so männliche Weise verkehrte. Das jedenfalls dachte sich Alex, während sie zusah, wie die Sonne sich langsam und zäh vom Boden löste. Eines nämlich fürchtete ihr stolzer Vater mehr als alles andere: dass sein Sohn eine Schwuchtel sein könnte. Sicher würde es ihn wenigstens etwas ermutigen, wenn er wüsste, dass Alex’ Arsch auch weiterhin eine Einbahnstraße bleiben würde. Bei diesem grotesken Gedanken hätte sie fast gelacht. Nun war sie ihrem Vater äußerlich wie innerlich so unähnlich. Das Einzige, was vermutlich wirklich noch zu ihm gehörte, war das fast unmerklich gespaltene Kinn.

Das Rot setzte sich langsam ab und immer mehr helles, von Wolken zerschnittenes Blau ergriff vom Himmel Besitz. Die Sonne wurde allmählich weiß, das Licht schwappte über den Rand der Welt und floss die Felder hinab. Es wurde Tag. Ein neuer, sehr junger Tag. Wohin sollte sie nun fahren? Wie ging es weiter? Von hier aus konnte die Reise fast überall hingehen, vielleicht sogar zu den Far Lands, wo der Leveleditor der Welt die ersten Fehler machte. Wo die Naturgesetze langsam ausgehebelt wurden. Vielleicht würde sie auch mitten ins Nirgendwo fahren, so wie immer …

Eines aber war ihr spätestens jetzt klar: Der Sonnenaufgang war voll porno.

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