Weiße Rosen aus Névez

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„Haben Sie, als Sie vorhin hier eingetroffen sind, irgendetwas Besonderes gesehen? Etwas, das anders gewesen ist als sonst?“

„Nein, mir ist nichts aufgefallen, abgesehen von dem großen Stein, der an dem Ast hängt.“ André zeigte auf den Brocken über dem Leichnam.

„Gibt es hier im Garten weiße Rosen?“, fragte Monique Monsieur Guivarch.

„Weiße Rosen? Nein, hier stehen rote, gelbe und rosafarbene Rosen. Weiße gibt es nicht. Ich persönlich finde weiße Rosen sehr schön und würde sie sofort pflanzen. Dort drüben gibt es eine schöne Stelle, dort könnten sie sehr gut…“

„Haben Sie vielen Dank, Monsieur Guivarch“, unterbrach Anaïk seine Ausführungen.

„Falls wir noch Fragen haben, melden wir uns bei Ihnen.“ Sie drehte sich um und ging zurück zu Dustin.

„Hast du noch etwas gefunden?“, fragte sie ihren Kollegen.

„Nein. Ich werde mir den Gurt, mit dem der Stein befestigt worden ist, im Labor genauer ansehen. Auch das Hanfseil will ich untersuchen. Viel mehr haben wir nicht. Ich vermute, dass sich daraus keine heiße Spur zum Täter ergibt. Der Stein gibt mir zu denken, ich kann mich erinnern, dass Gärtner häufig einen Stein an einen Ast binden, wenn sie verhindern wollen, dass ein Ast zu sehr in die Höhe wächst. Hat der Ast später eine gewisse Dicke erreicht, kann man den Stein wieder entfernen. Vielleicht handelt es sich ja um einen Gärtner?“

„Interessante Überlegung, zumal mir der Gärtner, André Guivarch, gerade gesagt hat, dass Monsieur Malencourt seinen damaligen Gärtner vor drei Jahren entlassen hat. Vielleicht ein Racheakt des alten Gärtners?“

„Denkbar Anaïk, aber ist das nicht etwas billig? Bringt man jemanden um, weil man einen Auftrag verliert?“

„Wer steckt schon im Kopf eines Mörders?“

Monique hatte sich im Garten weiter umgesehen und nach Spuren gesucht. Warum war der Hausbesitzer in der Nacht in den Garten gegangen? Sie durchstreifte den Garten und betrachtete jede Kleinigkeit. Sie fand nichts Wesentliches. Als sie wieder am Haus ankam und über die Terrasse ging, fiel ihr auf, dass eine Scheibe von den drei Balkontüren eingeschlagen war, die Tür stand offen. Sie ging näher zur Tür und sah sich das Loch an. Eindeutig, hier war ein Stein eingeschlagen. Sie sah ins Innere. Auf dem Boden lag der Stein und etwas entfernt ein Zettel. Sie trat ins Haus und sah sich das genauer an.

Der Raum war mit Parkett ausgelegt. Sie durfte keine Spuren zerstören. Außer einem Stein, einem Zettel und Glasscherben von der Balkontür war nichts Auffälliges zu sehen. Sie ging zu dem Stein. Neben dem Stein lagen ein größerer Gummiring und das Papier. Monique hob das zerknitterte Blatt hoch. Mit einem Filzschreiber stand darauf geschrieben:

Komm und sieh dir an, was du angerichtet hast. Auf deinem Kiesweg im Garten kannst du dein Werk bewundern!

Es war eindeutig eine Aufforderung in den Garten zu gehen. Damit hatte der Mörder also Monsieur Malencourt in den Garten gelockt, und der war der Aufforderung nachgekommen.

Monique ging zu ihren Kollegen zurück.

„Dustin, ich habe im Haus einen Stein gefunden, der durch eine der Balkontüren geworfen worden ist. Daran muss dieses Blatt Papier befestigt gewesen sein. Sieh dir doch bitte mit deinen Leuten auch das Haus an.“

„Hatte ich sowieso vor.“

„Was steht auf dem Papier?“, fragte Anaïk jetzt ihre Kollegin.

„Schau es dir an, das dürfte die Erklärung für seinen nächtlichen Gang in den Garten sein.“ Monique reichte ihrer Chefin das Papier.

Komm und sieh dir an, was du angerichtet hast. Auf deinem Kiesweg im Garten kannst du dein Werk bewundern!

„Damit ist Malencourt in den Garten gelockt worden. Sein Mörder hat auf ihn gewartet, und als Malencourt dann an dieser Stelle angekommen ist, hat er den Stein losgelassen, und der hat Monsieur Malencourt erschlagen. Dustin, meinst du, dass du an dem Stein Fingerabdrücke sichern kannst? Der Stein muss ja hierhergetragen worden sein“, wandte Anaïk sich an den Kollegen.

„Ich kann es versuchen“, erwiderte Dustin und sah den Stein mit seinen scharfen Kanten an.

„Er hat beim Transport bestimmt Arbeitshandschuhe getragen. Wir holen den Stein runter und nehmen ihn mit. Dazu brauchen wir aber eine Leiter", meinte Dustin weiter.

„Eine Leiter? Ja klar, und wie hat der Mörder den Stein befestigen können? Hatte der Mann auch eine Leiter dabei?“

„Nicht zwangsläufig, Anaïk, sieh mal, der Stein ist am Gurt befestigt gewesen. Der Mörder hat das freie Ende des Gurtes über den Ast geworfen und den Stein hochgezogen. Dann hat er das freie Ende des Gurtes durch die Verknotung am Stein geschoben. So hat er keine Leiter gebraucht.“

„Und wenn du jetzt den umgekehrten Weg nimmst, dann brauchst du auch keine Leiter“, meinte Anaïk und sah Dustin an.

„Stimmt, aber ich möchte keine eventuellen Spuren auf dem Gurt zerstören. Vielleicht hat er seine Handschuhe ja beim Verknoten ausgezogen. Ich möchte den Gurt lieber dort oben durchtrennen“, antwortete Dustin und zeigte zu dem Ast hoch.

„Gut, wir lassen dich alles in Ruhe erledigen und machen uns auf den Rückweg ins Kommissariat.“

Kapitel 4

Anaïk Bruel stand vor ihrer großen Pinnwand und betrachtete die Eintragungen zu ihrem neuen Fall. Einen Toten in Névez hatte es bei der police judiciaire seit den Serienmorden vor einigen Jahren nicht mehr gegeben. Damals waren innerhalb kürzester Zeit drei Männer, an dem zur Gemeinde Névez gehörenden Küstenabschnitt zwischen dem Plage de Tahiti und dem kleineren Strand bei Rospico, ermordet worden. Der Fall ist in die Geschichte des Kommissariats als Die Möwenspur eingegangen. Er war von ihrem Vorgänger, Ewen Kerber, bearbeitet worden. Die endgültige Lösung des Falles hatte damals über drei Jahre lang gedauert. Paul Chevrier, der Mitarbeiter von Kerber, der heute in Brest tätig ist, hatte ihr bei ihrer ersten Zusammenarbeit mit der police judiciaire von Quimper davon erzählt. Die Besonderheit der Mordserie war damals, dass die Ermordeten alle mit Fischabfällen bedeckt gewesen sind.

Jetzt gab es also wieder einen Mordfall in der touristischen Kleinstadt unweit von Pont-Aven. Der Tote war zwar nicht mit Fischabfällen bedeckt, dafür lag eine weiße Rose neben der Leiche. Ein beträchtlicher Unterschied, zumindest für die Nase.

Anaïk sah sich die Bilder von der Leiche und der Mordwaffe an. Ein Gesteinsbrocken von mindestens 20 Kilogramm. Der Transport des Steins und die Befestigung hatten Zeit in Anspruch genommen. Da das Opfer zwischen 23 Uhr und Mitternacht zu Tode gekommen war, und die Dunkelheit erst gegen 22 Uhr 30 eingesetzt hat, müssen die Vorbereitungen in nur einer halben Stunde geschehen sein. Sie könnten einen Aufruf in der Zeitung veröffentlichen, mit der Bitte um Zeugen, die um diese Zeit etwas Auffälliges vor dem Anwesen von Monsieur Malencourt beobachtet haben. Vielleicht hatte jemand ein Fahrzeug gesehen oder beobachtet, dass eine Person einen Stein transportiert hat. Einen Versuch wäre es wert.

Monique Dupont betrat das Büro ihrer Chefin und sah sie vor der Pinnwand stehen.

„Hast du schon etwas entdeckt?“, fragte sie.

„Nein, ich überlege gerade, ob wir einen Zeugenaufruf veröffentlichen sollten. Vielleicht hat jemand gesehen, wie der Gesteinsbrocken auf das Terrain gebracht worden ist.“

„Daran habe ich auch schon gedacht. Ich habe mir auch überlegt, ob es uns weiterbrächte, wenn wir wüssten, woher der Stein stammt. Die Felsen an der Küste haben ja durchaus unterschiedliche Zusammensetzungen. Ich habe den Gedanken aber schnell wieder verworfen.“

„Wieso eigentlich? Die Idee ist gut. Wir könnten damit eventuell auf den Wohnsitz unseres Mörders schließen“, meinte Anaïk und betrachtete erneut die wenigen Eintragungen. Dann sprach sie weiter.

„Wir suchen ein Motiv. Das Motiv für den Mord könnte mit der Havarie von Malencourt zu tun haben und mit dem Tod des Retters. Darüber haben wir an der Fundstelle der Leiche schon spekuliert. Ich habe versucht, die Angehörigen des Verunglückten ausfindig zu machen. Ich bin auf seine Frau, Isabelle Audic, und auf seine Eltern gestoßen. Der Vater, Jean Audic, ist bereits über 70 Jahre alt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein 70-jähriger Mann die Tat begangen hat“, meinte Anaïk.

„Warum nicht?“, fragte Monique.

„Heute sind viele Menschen mit 70 noch kräftig und agil. Möglich wäre es theoretisch. Aber wir können uns den Mann ja mal ansehen, bevor wir ein Urteil über seine körperliche Verfassung fällen. Gibt es weitere Angehörige?“

„Außer den Erwähnten habe ich niemanden gefunden. Zum Kreis der Verdächtigen könnten auch sehr gute Freunde gehören, auch die sollten wir nicht außer Acht lassen.“

„Hast du die Adressen der Angehörigen? Wir sollten die zuerst aufsuchen“, meinte Monique und sah ihre Chefin an.

„Die habe ich hier, lass uns hinfahren. Der Vater von René Audic wohnt in Kerfany Les Pins, einem Ortsteil von Moëlan-sur-Mer.“

„Moëlan? Den Ort kenne ich nicht, genauso wenig wie Kerfany.“

„Es ist auch mein erster Besuch in dem Ort. Ich habe mir die Lage auf der Karte angesehen. Es sieht herrlich aus, direkt an der Mündung des Belon gegenüber von Port Manec´h, mit Blick auf den Aven und den Ozean.“

Die zwei Frauen verließen das Kommissariat und fuhren über die Voie Express bis zur Ausfahrt Kerandréo, folgten dann der D 104, bogen auf die D 783, der sie 500 Meter folgten, bevor sie auf die D 24 und schließlich auf die D 116 abbogen.

Anaïk parkte auf der Anhöhe und stellte den Motor ab. Sie genoss den Blick auf das malerisch gelegene Dorf, ein herrlicher kleiner Badeort, mit schönem Sandstrand, netten Häusern, beinahe schon Villen, umgeben von Pinien und wildem Ginster. Vom Strand blickte man auf die Mündung des Belon und auf die Landzunge, die den Belon vom Aven trennt. Auf der anderen Seite der Bucht lag der Hafen von Port Manec´h mit seinem weißen Leuchtturm mit dem markanten roten Hut und dem roten Schriftzug Port Manec´h. Die Hafenmole, hinter der die Schiffe Schutz fanden, sah von hier wie ein schwarzer Finger aus, der sich in die Bucht schob. Das Wasser der Bucht war heute tiefblau.

 

Ja, das war ihre Bretagne, eine Landschaft, die hinter jeder Biegung neue Panoramen, neue atemberaubende Ausblicke, wilde felsige Ufer, alte Fischerdörfer und wunderbare Strände hervorzauberte.

„Einfach toll!“, rief Monique aus.

Anaïk nickte und startete den Motor wieder, um die letzten Meter bis zum Haus von Jean Audic zurückzulegen. Das Haus lag in der Allée des Chèvrefeuilles. Eine niedrige Steinmauer und ein hölzerner Scherenzaun, der inzwischen fast vollständig von einer Hecke überwuchert war, schlossen das Grundstück zur Straße ab. Die Zufahrt wurde links und rechts von zwei Vierkanthölzern begrenzt. Am rechten Pfosten war ein langes Holztor befestigt, das weit offenstand. Am linken Pfosten hing der übliche Briefkasten. Der Weg führte geradewegs zur Garage des Hauses. Vor der Garage stand ein Renault Clio. Das kleine und einfache bretonische Haus, dessen Fenster nach Süden ausgerichtet waren, hatte einen Wintergartenanbau, der den Blick auf das offene Meer freigab.

Die Kommissarinnen stiegen aus und gingen durch das geöffnete Tor auf das Haus zu. An der Eingangstür klingelte Anaïk. Ein Gong schallte durchs Haus. Wenig später stand ein Mann um die 70 Jahre vor ihnen. Es musste sich um Monsieur Audic handeln.

„Bonjour Mesdames“, begrüßte er die beiden Damen.

„Sie wünschen?“, fragte er mit sonorer männlicher Stimme.

„Bonjour! Monsieur Audic, vermute ich?“ Anaïk lächelte den Herrn an.

„Ja, ich bin Jean Audic“, antwortete er.

„Monsieur Audic, wir sind von der police judiciaire aus Quimper. Mein Name ist Anaïk Bruel, und das ist meine Kollegin, Monique Dupont. Wir hätten Sie gerne gesprochen. Dürfen wir eintreten?“

Monsieur Audic nickte und trat zur Seite. Er schloss die Tür hinter den Kommissarinnen und ging voraus in den kleinen Wintergarten.

„Bitte, treten Sie doch näher und nehmen Platz.“ Er zeigte auf eine Sitzecke mit einem Chesterfield-Sofa und zwei entsprechenden Sesseln. Ob es sich um Originale oder um Nachahmungen handelte, konnte Anaïk nicht sagen. Sie setzte sich auf das Sofa, und Monique nahm neben ihr Platz. Monsieur Audic machte es sich in einem der Sessel bequem.

„Darf ich Ihnen etwas anbieten? Vielleicht eine Tisane oder einen Kaffee?“, fragte er die Kommissarinnen.

„Haben Sie vielen Dank, ich möchte nichts“, antwortete Anaïk und schlug die Beine übereinander. Auch Monique lehnte dankend ab. Bevor sie eine erste Frage stellen konnten, betrat eine Dame den Raum.

„Meine Frau“, stellte Jean Audic sie vor.

„Bonjour Mesdames“, grüßte sie und sah ihren Mann an.

„Hast du unseren Besuch nach einem Getränk gefragt?“

„Aber sicher, Enora, die beiden Damen von der police judiciaire haben abgelehnt.“

„Sie sind von der police judiciaire? Was führt Sie zu uns nach Kerfany? Sie haben hoffentlich keine weitere schlechte Nachricht, der Tod unseres Sohnes reicht uns.“

„Nein, Madame Audic, wir haben keine schlechte Nachricht, aber der Tod ihres Sohnes ist der Grund unseres Besuchs. Wir ermitteln in einer Mordangelegenheit. Ich wollte ihrem Mann gerade den Grund unseres Besuches erklären.“

Enora Audic setzte sich in den zweiten Sessel und sah gespannt auf die Kommissarin.

„Madame, Monsieur Audic, wir haben heute Morgen in Névez die Leiche des Mannes gefunden, den ihr Sohn vor einer Woche aus Seenot gerettet hat.“

„Sprechen Sie von Monsieur Malencourt? Diesem undankbaren, arroganten, aufgeplusterten und hochmütigen Menschen?“

„Nun, ob der Tote damit zutreffend beschrieben ist entzieht sich meiner Kenntnis. Ja, es handelt sich um Monsieur Malencourt.“

„Um ihn ist es nicht schade“, erwiderte Madame Audic und wischte sich einige Tränen aus den Augen.

„So darfst du nicht sprechen, Enora“, sagte ihr Mann und sah seine Frau verständnisvoll an. Dann fügte er erklärend hinzu:

„Er hat unseren Sohn auf dem Gewissen. Kein Dankeschön für seine Rettung ist ihm über die Lippen gekommen. Wie soll man einen solchen Menschen anders bezeichnen als hochmütig und arrogant.“

„Warum sind Sie jetzt hier?“, wandte Madame Audic sich wieder an Anaïk.

„Bitte verstehen Sie uns richtig, Madame, wir müssen mit jedem sprechen, der ein Motiv für die Tat haben könnte. Der Verlust ihres Sohnes könnte ein solches Motiv sein. Daher müssen wir fragen, wo Sie, Monsieur Audic, gestern Abend zwischen 22 Uhr und Mitternacht gewesen sind?“

„Sie denken, mein Mann hätte diesen Wichtigtuer umgebracht?“ Madame Audic war jetzt aufgebracht.

„Madame Audic, wir denken nicht, dass ihr Mann etwas mit der Sache zu tun hat. Wir müssen jedoch alle Alibis der Personen überprüfen, die ein Motiv haben könnten, und wir können ihren Mann nicht ausnehmen.“

„Mein Mann ist hier bei mir gewesen, das kann ich beschwören. Mein Mann hat nichts mit dem Tod von diesem Menschen zu tun.“

Anaïk sah Monsieur Audic an. Jean Audic nickte.

„Ja, es stimmt. Ich habe den ganzen Abend hier verbracht. Ich würde mir meine Hände nicht schmutzig machen für so einen Menschen. Ich wünsche niemandem den Tod, aber ich kann meine Frau sehr gut verstehen. Sein Tod hat uns hart getroffen. Wissen Sie, mein Sohn hat seine ehrenamtliche Tätigkeit beim SNSM mit Leib und Seele ausgeübt. Er ist immer bereit gewesen, sein Leben für andere aufs Spiel zu setzen. Er war ein ausgezeichneter Schwimmer, und er kannte sich mit den Gefahren des Meeres aus. Dass er für einen Menschen sterben musste, der sich bewusst in diese Gefahr begeben und nach seiner Rettung nicht einmal das Wort Merci gefunden hat, das macht die Situation für uns unerträglich. Wir haben erfahren, dass ihn die Hafenmeisterei vor dem Auslaufen vor dem Sturm gewarnt hat. Der Mann hat gelacht und die Warnung hochmütig ignoriert. Können Sie sich das vorstellen? Da kommt einer aus Paris und will erfahrenen Bretonen zeigen, dass wir keine Ahnung vom Segeln haben? Das wir uns nicht mit dem Meer und seinen Gefahren auskennen? Wer hat denn einen Eric Tabarly oder einen Loïck Peyron hervorgebracht? Wer hält denn den Rekord bei der Weltumsegelung? Das sind doch wir Bretonen!“

Monsieur Audic hatte sich in Rage geredet. Seine Frau legte beruhigend ihre Hand auf seinen Arm. Jean Audic blickte seine Frau an.

„Ist doch wahr“, meinte er und verstummte dann.

Anaïk und Monique erhoben sich.

„Ich habe noch eine Bitte. Darf ich einen Blick in den Kofferraum ihres Autos werfen?“

„Einen Blick in mein Auto werfen? Aber sicher, ich habe nichts zu verbergen. Wonach suchen Sie denn?“

„Nach nichts Bestimmtem“, meinte Anaïk. Sie verabschiedeten sich von Frau Audic.

Jean Audic ging voraus und nahm den Fahrzeugschlüssel aus einer grauen Schale auf der Kommode im Flur. Dann öffnete er die Haustür und ging zügig zu seinem Auto. Der Kofferraum machte einen sauberen und aufgeräumten Eindruck, drei Einkaufstüten, zwei paar Wanderschuhe und Gummistiefel.

„Haben Sie vielen Dank, Monsieur Audic“, das ist auch schon alles gewesen“, sagte sie und verabschiedete sich von ihm. Danach reichte ihm auch Monique die Hand. Die Kommissarinnen verließen das Grundstück.

„Was hast du in seinem Wagen gesucht?“, fragte Monique.

„Ich wollte nachsehen, ob mit dem Wagen vielleicht der Gesteinsbrocken transportiert worden ist.“

„Daran hätte ich nicht gedacht. Und?“

„Ich glaube nicht, ich habe weder Sand noch kleinere Kieselsteine gesehen.“

„Was für einen Eindruck hattest du von ihm?“, fragte Monique ihre Kollegin.

„Ich glaube ihm, ich glaube nicht, dass er unser Mörder ist.“

Sie bestiegen ihr Fahrzeug und machten sich auf den Weg ins Kommissariat. Die Frau des verunglückten Retters suchten sie nicht auf. Eine Frau konnte unmöglich einen solchen Stein tragen und aufhängen.

Yannicks Bericht lag bereits vor. Die Autopsie hatte seine Vermutung bestätigt. Die Todesursache war der Schlag mit dem Stein gegen seine Schläfe. Der Felsbrocken hatte zu einer Schläfenbeinfraktur geführt, an der der Mann nach wenigen Minuten gestorben war. Dass Monsieur Malencourt eine beginnende Leberzirrhose hatte, die vermutlich vom Genuss entsprechender Mengen Alkohol herrührte, war ein Nebenprodukt der Autopsie. Wenn er so weiter getrunken hätte, wäre er in wenigen Jahren an der Leberzirrhose gestorben.

Auch ein erster Bericht von Dustin lag bereits auf ihrem Schreibtisch. Dustin hatte nach der Entfernung der Leiche einen Zigarettenstummel der Marke Gauloises Bleu gefunden, die Klassische. Daran waren Reste von Speichel, die er Yannick zur weiteren Untersuchung gab. An der weißen Rose fanden sich keinerlei Spuren, die einen Rückschluss auf den Täter erlaubt hätten. Ansonsten hatte er etwas abseits der Leiche einen Champagnerkorken von einer Flasche Dom Pérignon gefunden.

Anaïk trat an ihre Pinnwand und notierte die wesentlichen Fakten.

Zigarettenstummel mit DNA (Handwerker? Fischer? Älterer Mann?), Champagnerflaschenkorken Dom Pérignon

Wenn es sich um eine ältere Person handelte, bliebe Monsieur Jean Audic in ihrem Fokus. Was für einen Beruf hatte er ausgeübt? War er Raucher? Während ihres Gesprächs hatte der Mann nicht geraucht. Auch war ihr nicht aufgefallen, dass ein Aschenbecher im Wintergarten gestanden, oder dass es in dem Raum nach kaltem Rauch gerochen hätte. Zur Sicherheit müssten sie der Frage nach den Zigaretten nachgehen. Warum hatte eine weiße Rose neben dem Leichnam gelegen?

Kapitel 5

Mike Cornby kam von Pont-Aven. Er hatte sich vor einigen Jahren dort ein großes Anwesen gekauft. Jetzt war er auf dem Weg nach Kerdruc. Dort lag seine Segelyacht. Er liebte den Weg von Pont-Aven zu dem kleinen Hafen. Es war ein romantischer pittoresker Weg, vorbei an der alten Gezeitenmühle, der kleinen im Wald versteckten Kapelle und dem Château du Henan. An manchen Tagen stellte er seinen Wagen für eine halbe Stunde oberhalb der alten Mühle ab und spazierte die Straße hinunter, überquerte die Steinbrücke, an der die schiefergedeckt Mühle stand, und genoss den Blick auf den Fluss. Bei Ebbe war die Einbuchtung des Aven von der Mühle bis zur Flussmitte eine große schlammige Fläche, die durch ein kleines Rinnsal geteilt wurde, das vom Henan-Weiher gespeist wurde. Damals hatte die Gezeitenmühle so funktioniert, die Flut hatte das Wasser in die Bucht und in den Weiher gedrückt und so das Mühlrad angetrieben. Bei Ebbe floss das Wasser aus dem Weiher ab und trieb das Mühlrad in die andere Richtung. Die Mühle war schon seit vielen Jahren nicht mehr in Betrieb. Das alte Gemäuer aus Granit war eine kleine Sehenswürdigkeit. Neben der Mühle hatte ein Austernzüchter sein Refugium gefunden, bei dem er hin und wieder einige Austern kaufte. Frischer waren sie nicht zu finden.

Heute würde er ein Stückchen dem GR 34 folgen. Er überquerte die Brücke, folgte der Straße 200 Meter weit, überquerte den Parkplatz und folgte dem Fußweg entlang des Aven. Es war Ebbe, und der Aven war jetzt ein schmaler Fluss. Bei Flut war der Aven hier beinahe 400 Meter breit. Die Fahrrinne war durch grüne und rote Bojen gekennzeichnet.

Mike Cornby spazierte gemächlich den Pfad entlang, er hatte die Stelle erreicht, an der ein weiterer Pfad zur Kapelle führte. Er folgte diesem Weg, der an seiner linken Seite von einem Zaun begrenzt war, um den Privatbesitz des Château du Henan gegen unliebsame Besucher zu schützen. Die Kapelle lag vor ihm. Er umrundete das Gebäude und wollte ihr einen Besuch abstatten. Eine Eichentür mit einem Rundbogen unterbrach die Granitmauer. Die Kapelle hatte einen kleinen zwei Meter hohen Glockenturm. Die beinahe fensterlose Kapelle war von schönen, hellblauen und rosafarbenen Hortensien umwachsen.

Mike Cornby stand vor der verschlossenen Tür des Gotteshauses und musste auch diesmal den Ort verlassen, ohne einen Blick ins Innere werfen zu können. Er ging von der Kapelle zur Straße zurück und zu seinem Fahrzeug.

Mike Cornby machte sich auf den Weg nach Kerdruc. Die Flut würde in den nächsten zwei Stunden ausreichend Wasser in den Aven drücken, um mit der Yacht aufs offene Meer segeln zu können. Mike stellte seinen Wagen auf dem Parkplatz ab, gleich neben der großen Hinweistafel auf den Intermarché von Névez. Sein kleines Beiboot, mit dem er zur Yacht übersetzen musste, lag auf der rechten Seite der Kaimauer.

 

Ein alter Fischer stieg gerade in sein Ruderboot, das bestimmt mehr Jahre auf dem Buckel hatte als der Mann. Das Boot war blau angestrichen und hatte einen knallroten Rand. Mit dem farbenfrohen Boot ruderte der Mann zu seinem kleinen Fischerboot, unweit von Mikes Yacht.

Mike kannte den Fischer, einen schrulligen, mürrischen und wortkargen Mann aus Kerdruc, Antoine Manac´h. Er brachte bestimmt 100 Kilo auf die Waage. Man sah ihn immer mit seiner ehemals blauen Schirmmütze, alten Jeans und seiner verwitterten grauen Windjacke.

Mike hingegen trug nur englische Kleidung, meist auf Maß gefertigt. Seine 60 Supermärkte florierten in England und waren die Grundlage seines extravaganten Lebens. Der Fischer könnte mehr aus seinem Betrieb machen, dachte er überheblich. Er würde an seiner Stelle statt eines einzigen kleinen Bootes dreißig große besitzen. Er dachte in anderen Dimensionen. Nach dreißig Jahren harter Arbeit hätte man genügend Geld verdient und könnte sein restliches Leben im Luxus verbringen.

Vor einigen Wochen war er mit dem alten Mann zum ersten Mal ins Gespräch gekommen und hatte ihm genau diese Überlegungen vorgetragen.

„Monsieur Manac´h, ich sehe Sie immer mit ihrem kleinen Fischkutter aufs Meer hinausfahren. Sie sind zwei Stunden lang draußen und kommen mit einem kleinen Fang wieder zurück. Warum bleiben Sie nicht länger, fangen mehr Fische und verdienen mehr Geld. Auf diese Art und Weise baut man sich langsam, aber sicher ein Vermögen auf. Vielleicht kaufen Sie ein zweites Boot und steigern ihr Einkommen.“

Antoine Manac´h sah Mike Cornby grinsend an und fragte:

„Was soll ich dann mit dem vielen Geld machen?“

„Sie legen sich in die Sonne, ruhen aus und brauchen keine Gedanken mehr an ihr Einkommen zu verschwenden.“

„Aber das mache ich doch schon seit dreißig Jahren. Ich komme nach zwei Stunden vom Fischfang zurück, verkaufe meine Fische und ruhe mich den restlichen Tag aus, manchmal gehe ich noch einer kleinen Tätigkeit nach, die mir Spaß macht. Meine Rente reicht für das tägliche Leben aus. Der Fischfang ist mein Zeitvertreib und ein kleines Zubrot. Wozu brauche ich ein zweites Boot und mehr Fische? Ich bin sowieso schon zu alt dafür. Viel mehr als mein Essen und eine Flasche Wein pro Tag brauche ich nicht. Ich könnte täglich einen Hummer verzehren oder meine Fische gegen Austern eintauschen, falls es mir nach solchen Dingen gelüstete.“ Damit beendete er das Gespräch. Mike Cornby erwiderte nichts mehr.

Jetzt fuhr der Alte wieder aufs Meer hinaus. Mike holte sein kleines Beiboot und ruderte zu seiner eleganten 16-Meter-Yacht. Der hatte er den Namen Cornby II gegeben, weil es bereits seine zweite Segelyacht war. Es war eine Jeanneau, Sun Odyssey. Ein schnittiges Boot, das eine beträchtliche Geschwindigkeit entwickelte. Mike hielt sich für einen erfahrenen Segler, auch wenn er diesen Sport erst seit einigen Jahren zwischen England und der bretonischen Küste ausübte. Wenn Freunde aus dem Königreich nach Brittany kamen, wie seine Landsleute die Bretagne nannten, nahm er sie gerne auf eine Spritztour mit und versuchte ihnen zu imponieren. Die Cornby I war im letzten Jahr zu Schaden gekommen, als er bei einer Fahrt einen unter der Wasseroberfläche versteckten Felsen übersehen hatte. Sein Sonar hatte ihn zwar gewarnt, aber er war so mit seiner Prahlerei beschäftigt gewesen, dass er die Warntöne überhört hatte. Die Seenotrettung von der Trévignon war damals ausgerückt und hatte ihn und seine drei Begleiter aus dem Wasser gefischt.

Das Meer war heute ruhig, es würde ein herrlicher Tag zum Segeln. Mike stieg auf seine Yacht und befestigte das Beiboot am Heck. Dann öffnete er den Zugang zur Kabine und überprüfte, ob er alles Nötige an Bord hatte. Er lichtete den Anker, startete den Motor und fuhr durch die markierte Fahrrinne flussabwärts auf Port Manec´h zu. Die Segel setzte er erst kurz bevor er das offene Meer erreicht hatte. Das Boot nahm Geschwindigkeit auf, und das Schiff bahnte sich seinen Weg durch die Wellen, der Wind blies ihm durch die Haare. Es war ein erhabenes Gefühl. Sein Ziel waren die Glénan-Inseln. Der kleine Archipel hatte es ihm angetan. Er liebte diese Inseln, besonders im Frühjahr. Ab April blühten dort die weltweit einzigartigen Glénan-Narzissen und verwandelten die Inseln in ein bretonisches Paradies. Ihre Blütenpracht konnte man von April bis Juni bewundern. Das kristallklare türkisfarbene Wasser und die weißen feinen Sandstrände unterstrichen den tropisch paradiesischen Eindruck. Jetzt waren die Narzissen allerdings verblüht.

Mike saß entspannt am Ruder. Er hielt seinen Blick auf den Leuchtturm von St. Nicolas, der größten Insel des Archipels, gerichtet und genoss die frische Luft. Er umrundete die Inseln und trat den Rückweg an. Für den späteren Nachmittag hatte er ein Rendezvous mit einem äußerst hübschen Mädchen verabredet, das er keinesfalls verpassen wollte. Er hatte geplant, mit dem Mädchen in Pont-Aven, in der weithin für ihre außergewöhnlichen Patisserien bekannten Chocolaterie, etwas trinken zu gehen und mit ihr ein Stückchen Kuchen zu essen. Ein unvergessliches Erlebnis sollte es werden. Danach müsste sich der weitere Verlauf des Abends entwickeln.

Zeitig genug lief er im Hafen von Kerdruc ein, verankerte die Yacht an seiner Liegestelle und ruderte mit dem Beiboot zurück zur Hafenmole. Der alte Fischer war ebenfalls wieder zurück, sein rot und blau angestrichenes altes Ruderboot war an einen Befestigungsring geknotet. Mike ging zu seinem Audi A8, er stieg ein und gab Gas. Bis nach Pont-Aven waren es nur wenige Minuten. Seine Vorfreude auf das Treffen mit dem Mädchen hatte ihn schon den ganzen Tag lang begleitet.