Die schwarzen Männer

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„Gute Entscheidung“, sagte Paul und ließ sich über den aktuellen Stand informieren. Jugo Kerhat berichtete auch über die Forderungen der Geiselnehmer. Das herbeigerufene Einsatzkommando war inzwischen ebenfalls eingetroffen, und die Männer verteilten sich auf die umliegenden Gebäude, Hausecken, Hinterhöfe und rings um den Laden. Die Geiselnehmer konnten das Haus jetzt unmöglich ungesehen verlassen. An eine Flucht war nicht zu denken. Der Leiter des Einsatzkommandos trat zu Kerhat und Paul Chevrier.

„Haben Sie uns informiert?“

„Ganz genau, ich habe Sie um Unterstützung gebeten“, sagte Kerhat und unterstrich seine Worte mit kräftigem Kopfnicken.

„Dann übernehmen wir jetzt die weitere Kommunikation mit den Geiselnehmern. Gibt es schon irgendwelche Forderungen?“

„Ja, ich habe gerade eben gehört, dass die Geiselnehmer einen Fluchtwagen fordern, 500.000 Euro in gebrauchten Scheinen und die Freilassung von ihrem bereits verhafteten Kumpanen. Der Mann hat in dem Wagen gesessen, als wir hier eingetroffen sind. Er hat sich ohne Gegenwehr festnehmen lassen. Ich habe den Eindruck, dass der Mann nicht zu den abgebrühtesten Ganoven gehört. Wir haben eine Stunde, um die Forderungen zu erfüllen.“

„Wir sollten zuerst versuchen, das Ultimatum zu verlängern, um sie zu zermürben. Vielleicht geben sie dann auf. Wie können wir die Leute erreichen?“

„Ich habe mir die Telefonnummer des Juwelierladens geben lassen“, sagte Kerhat und reichte den Zettel an den Leiter des Einsatzkommandos, der sofort vom Einsatzwagen aus eine Verbindung zum Laden herstellte.

„Quinnec hier“, meldete er sich, als auf der anderen Seite das Telefon abgenommen wurde.

„Ich leite die Operation. Ich habe von ihren Forderungen gehört. Die erste Forderung, euren Kumpel freizulassen und euch den Fluchtwagen zu besorgen, können wir sofort erfüllen. Aber das Geld können wir nicht so schnell auftreiben. Dafür brauchen wir etwas mehr Zeit.“

„So, so, Sie brauchen mehr Zeit! Wir haben aber keine Zeit. Wenn wir das Geld nicht in einer Stunde haben stirbt eine Geisel, danach werden wir nach jeder viertel Stunde eine weitere erschießen. Haben Sie mich verstanden!“

„Sie brauchen nicht so laut zu schreien, ich kann Sie durchs Telefon sehr gut hören. Das ändert aber nichts daran, dass ich das Geld nicht in einer Stunde auftreiben kann. Eine halbe Million kann ich mir nicht aus den Rippen schneiden. Sie müssen mir wenigstens drei Stunden Zeit lassen. Dann kann das Geld hier sein. Wenn Sie jedoch auf ihrer Forderung bestehen, werden wir eben das Gebäude stürmen und den Tod einer Geisel in Kauf nehmen müssen. Da Sie sowieso geplant haben, eine Geisel zu erschießen, muss ich das wohl hinnehmen. Mehr als eine Geisel werden Sie nicht erschießen können, bevor wir Sie und ihre Komplizen erschießen. Wir sind Profis, davon dürfen Sie ausgehen.“

„Sie bluffen, Sie würden doch nie das Leben einer Geisel aufs Spiel setzen.“

„Wetten wir?“

Auf der anderen Seite blieb es stumm. Der Geiselnehmer schien nachzudenken. Serge hatte den Eindruck, dass er ihn mit seiner Aussage komplett verunsichert hatte. Serge Quinnec würde nie das Leben einer Geisel in Kauf nehmen, eine solche Haltung würde ihn sofort ins Gefängnis bringen, das wusste er. Aber der Geiselnehmer konnte sich dessen nicht sicher sein. Es war ein riskantes Spiel. Sollte der Mann bei seinen Forderungen bleiben, hatte er sich in eine schlechte Ausgangslage manövriert. Er hoffte, dass der Verbrecher unter Druck geriet und zu einem Zugeständnis bereit war. Drei Stunden sind eine recht lange Zeit in einer solchen Situation, das wusste er.

„Okay, drei Stunden, aber keine Minute länger“, schallte es plötzlich aus dem Hörer.

Serge Quinnec atmete tief durch, eine zentnerschwere Last fiel von seinen Schultern. Zum Zeichen, dass der Geiselnehmer eingelenkt hatte, hob er den Daumen der linken Hand und sah zu den beiden Kollegen. Paul Chevrier und Jugo Kerhat standen links und rechts des Leiters des Einsatzkommandos und warteten auf ein Gespräch mit ihm.

„Gut, dann mache ich mich sofort an die Arbeit, um das Geld zu beschaffen. Sie hören wieder von mir.“

„Sollte nicht ein Psychologe ein solches Gespräch führen?“, fragte Paul und sah Quinnec fragend an.

„Sicher, das ist die Vorschrift, aber bis der Psychologe von Brest hier ist, ist die von den Geiselnehmern gesetzte Frist bereits abgelaufen. Hätte ich warten sollen?“

„War ja nur eine Frage.“ Pauls Handy klingelte.

„Bonjour Monsieur Nourilly, was kann ich für Sie tun?“

„Ich habe gehört, es gibt einen Toten und eine Geiselnahme in Douarnenez?“

„Ob es einen Toten gibt wissen wir noch nicht genau. Die Gendarmerie von Douarnenez hat uns vorsichtshalber sofort informiert, nachdem in dem überfallenen Juwelierladen ein Schuss gefallen ist. Wir haben noch keinen Überblick über die Situation im Laden. Weder wissen wir wie viele Geiselnehmer sich im Geschäft aufhalten, noch wie sie bewaffnet sind, oder wie viele Geiseln sich in ihrer Gewalt befinden.“

„Kerber ist doch in Urlaub, brauchen Sie meine Hilfe?“

„Stimmt, Kollege Kerber hat eine Woche Urlaub. Ich glaube, dass ich alleine klarkomme. Sollte ich Hilfe benötigen, dann erlaube ich mir, mich vertrauensvoll an Sie zu wenden.“

„Tun Sie das, Monsieur Chevrier, tun Sie das. Ich helfe gerne. Noch etwas, wie sieht es mit einer Information an die Presse aus? Sollen wir die schon informieren?“

„Dafür ist es bestimmt noch zu früh. Ich melde mich bei Ihnen, sobald wir die Presse benachrichtigen können.“

„Gut, Sie halten mich auf dem Laufenden.“

Paul legte auf und atmete tief durch. Er war Nourilly gerade noch einmal entkommen. Er konnte sich an eine Situation erinnern, die lag schon viele Jahre zurück, da hatte Nourilly sich in die Ermittlungsarbeit in einem Mordfall eingeschaltet. Seine Unerfahrenheit in Ermittlungsarbeiten hatte damals beinahe dazu geführt, dass der Fall unaufgeklärt geblieben wäre. Damals war es Ewen gelungen, Nourilly davon zu überzeugen, dass es eine große Hilfe wäre, wenn er sich um die Presse kümmern könnte. Das Wort Presse brauchte man Nourilly nicht zweimal zu sagen. Vermutlich wäre er ein ganz hervorragender Pressekonferenz-Organisator geworden. Alleine der Gedanke an eine Pressekonferenz, führte bei Nourilly dazu, dass Glanz in seine Augen trat. Wenn er zudem noch über seinen Beitrag zur Lösung eines Falles berichten durfte, aus seiner Sicht war die Führung einer Dienststelle wichtiger als die Kleinarbeit in den Niederungen der Routinearbeit, schien der Gipfel der Freude erreicht zu sein.

„War das der Chef?“, fragte Quinnec und sah Paul schelmisch an. Er hatte während des Gesprächs das Mienenspiel in Pauls Gesicht verfolgen können.

„Ja, das war Nourilly. Er wollte lediglich wissen, ob er schon die Presse informieren soll.“

„Die Presse! Die fehlt mir gerade noch. Die tauchen noch früh genug hier auf.“

„Wie wollen Sie weiter vorgehen?“ Paul lenkte das Gespräch wieder auf die anstehenden Entscheidungen.

„Wir müssen zuerst wissen, wie viele Geiselnehmer im Geschäft sind und wie Sie bewaffnet sind. Wichtig ist auch zu wissen, wie viele Geiseln sich da drinnen aufhalten.“

„Der festgenommene Fahrer kann uns doch die Fragen beantworten. Der Mann sitzt in unserem Einsatzfahrzeug.“ Jugo Kerhat mischte sich jetzt wieder ins Gespräch ein.

„Gute Idee! Versuchen wir es, hoffentlich stellt sich der Mann nicht taub und verweigert jegliche Auskunft.“

Serge Quinnec und Jugo Kerhat gingen gemeinsam zum großen Einsatzfahrzeug der Gendarmerie. Die Schiebetür an der Seite des Wagens wurde aufgeschoben und gab den Blick auf den zusammengekauerten, mit Handschellen gefesselten Mann auf der Sitzbank frei. Er machte nicht den Eindruck eines eiskalten Verbrechers, viel eher schien es Serge, als sei der Mann zum ersten Mal in eine Straftat verwickelt.

„Serge Quinnec, ich leite hier den Einsatz“, stellte er sich vor, als er dem Mann gegenüber Platz genommen hatte.

„Wie heißen Sie?“

„Maurice, Maurice Colbert.“

„Also Maurice, wir haben hier eine sehr ernste Situation. Deine Kumpels haben vermutlich eine Geisel erschossen oder schwer verletzt, sie halten weitere Geiseln in ihrer Gewalt, und wie es aussieht, werdet ihr alle wegen des Raubüberfalls, der Geiselnahme und des versuchten oder ausgeführten Mordes vor Gericht gestellt werden. Die Strafe für diese Verbrechen wird bestimmt in der Gegend von lebenslänglich liegen. Du hast die Chance, deine Situation etwas zu verbessern, falls du mit uns zusammenarbeiten willst.“

„Aber ich habe doch gar nichts gemacht! Ich sollte doch nur den Wagen fahren. Ich habe niemanden erschossen und auch keine Geisel genommen.“

„Mitgefangen, mitgehangen, Maurice, das Gesetz macht da keinen Unterschied.“

„Aber wie kann ich Ihnen helfen, ich habe doch keine Ahnung?“

„Sie könnten uns zum Beispiel sagen, wie viele Männer in dem Geschäft sind.“

„Wir sind zu viert gewesen. Drei sind in den Laden gegangen.“

„Wie sind die Männer bewaffnet?“

„Jeder hat eine Pistole, aber ich kann Ihnen nichts über die Waffen sagen. Ich kenne mich damit nicht aus.“

„Sie wissen nicht zufällig, wie viele Geiseln in dem Geschäft sind?“

„Nein, ich bin nicht reingegangen. Ich habe im Wagen gesessen und sollte sofort losfahren, wenn sie wieder rauskommen.“

„Gibt es jemanden der das Kommando führt?“

„Klar, das ist Denis, Denis Maubert, der ist eiskalt!“

„Wie heißen die anderen beiden?“

„Jules Fucauld und Marc Gourand. Die haben mit Maubert in Brest eingesessen. Sie kennen sich schon seit Jahren.“

 

Serge Quinnec nickte, so als wollte er zum Ausdruck bringen, dass er die Männer gut kannte. Er notierte sich die Namen und verließ den Einsatzwagen.

Kapitel 4

Ewen Kerber war jetzt bereits seit fünf Tagen auf der Insel Groix. Langsam bekam er den Eindruck, schon seit Monaten hier zu sein. Er hatte mit Carla die Insel in ihrer Gesamtheit umrundet, die meisten Weiler besucht, die herrlichen weißen Strände mit dem feinen Sand genossen und verschiedene Mineralien gefunden. Ewen war von diesem fantastischen weißen Sand am Plage Grands Sables besonders beeindruckt. Er war sicher, dass es in ganz Frankreich keinen helleren Sand als diesen hier gab. Aber langsam wurde ihm die Insel nun doch zu klein. Seit gestern hatte er den Eindruck, alles schon gesehen zu haben, wie zum Beispiel das kleine Granithaus mit der blauen Tür und dem roten Briefkasten. Ewen war sicher, diese Tür schon einmal gesehen zu haben, während Carla ihn zu überzeugen versuchte, noch nie an dem Ort gewesen zu sein. Schließlich hatten sie heute einen ganz anderen Weg als an den Vortagen genommen.

Ihre Abende spielten sich weitgehend rund um den Port Tudy und Le Bourg ab. Wenn sie ihren Aperitif einnehmen wollten, und Ewen bestand auf seinen gewohnten Appetitanreger, suchten sie meistens ein Lokal rund um den Hafen oder im Ortszentrum von Le Bourg auf. Den Thunfisch auf der Kirchturmspitze hatte er von allen Seiten betrachtet und fotografiert. Langsam wurde es Zeit, wieder aufs Festland zu fahren. Der Urlaub war morgen auch vorbei. Für die Rückfahrt hatte Carla die Fähre am Nachmittag gebucht, so dass sie spätestens gegen 17 Uhr 30 wieder in Quimper sein würden.

Vom Port Saint-Nicolas aus waren sie heute der Küstenlinie gefolgt und besuchten das Höllenloch, le Trou de l´Enfer. Von hier aus wollten sie in Richtung Le Bourg und Port Tudy weitergehen. Das Wetter hatte die ganze Woche über ein Einsehen mit ihnen gehabt. Weder beständiger Regen noch heftige Winde hatten ihren Urlaub getrübt. Zwei Mal hatte es morgens etwas geregnet, aber bereits nach einer Stunde schien die Sonne wieder.

Ewen fühlte sich sehr gut erholt, auch Carla schienen die Tage gut bekommen zu sein. Sie war ein wenig sonnengebräunt und strahlte Zufriedenheit aus.

„Was machen wir morgen, mein Schatz?“, fragte sie ihren Mann, als sie in Sichtweite des Kirchturms mit dem Thunfisch kamen.

„Mein Vorschlag ist, dass wir uns am letzten Tag nicht verausgaben. Lass uns eine kleine Tour aussuchen, die uns nicht zu weit vom Hafen entfernt. Ich habe vorgestern den kleinen Hafen Port Lay von der Höhe aus betrachtet, wir sind daran vorbeigekommen. Vielleicht können wir uns den etwas genauer ansehen?“

„Aber Ewen, der ist so klein, da haben wir in einer halben Stunde jedes Haus ausführlich betrachtet. Wir könnten schon etwas mehr einplanen.“

„Ich war ja auch nicht der Meinung, dass wir nur den kleinen Hafen besuchen sollten. Wir könnten auch noch den Menhir l’apéritif besuchen.“

„Ein Menhir der Aperitif heißt?“

„Ja, ich habe davon gelesen. Der Menhir ist umgefallen, aber er hat wohl eine Höhe von 5,7 Metern gehabt. Man sagt, dass er den Fischern als Navigationspunkt gedient hat, wenn sie den Port Tudy angesteuert haben. Dank des Menhirs konnten sie ihre Boote genauer und schneller in den Hafen manövrieren und waren so früher zu Hause.“

„…und konnten den Aperitif schneller einnehmen?“, meinte Carla ergänzend.

„Vielleicht hat er dadurch seinen Namen erhalten“, antwortete Ewen.

„Ewen, ich glaube, wir sollten in Quimper einen Menhir aufbauen, damit auch du den Weg schneller nach Hause findest.“ Carla lachte, während Ewen ein nachdenkliches Gesicht machte.

„Wir können den Menhir gerne besuchen, Ewen“, meinte Carla, als sie bereits die Straße hinunter zum Hafen gingen und an dem kleinen, alten Zollhaus, gegenüber von ihrem Hotel, vorbeikamen.

„Wir können unseren Aperitif heute im Hotelgarten einnehmen, was hältst du davon?“

„Eine sehr gute Idee, Carla, der Garten ist schön ruhig und sonnig.“

Sie betraten das Hotel und nahmen ihren Zimmerschlüssel vom Brett. Die Rezeption war unbesetzt, was Ewen irritierte. Jeder konnte sich einen Zimmerschlüssel schnappen und in aller Ruhe ein Zimmer durchstöbern? Die Vorstellung behagte ihm überhaupt nicht. Ansonsten war er mit dem Hotel ganz zufrieden. Das Essen entsprach seinen Vorstellungen, und die Bedienung arbeitete diskret und effektiv.

„Hoffentlich ist gleich jemand an der Rezeption, damit wir unseren Aperitif auch bestellen können“, meinte Ewen, als sie auf ihr Zimmer gingen, um die Wanderschuhe gegen bequemere auszutauschen. Nach wenigen Minuten verließen sie ihr Zimmer und gingen hinunter in den Garten. Zu ihrem Erstaunen war eine Bedienung im Garten und deckte einen Tisch ein.

„Bonjour Madame, dürfen wir bei Ihnen eine Bestellung für einen Aperitif aufgeben?“, fragte Ewen die Dame.

„Bien-sûr, Monsieur“, antwortete sie ihm.

Ewen und Carla wählten einen Tisch in der Mitte des Gartens. Carla entschied sich für den Platz in der Sonne, Ewen wählte ein etwas schattigeres Plätzchen aus.

„Was darf es denn sein?“

„Für mich ein Glas Champagner“, antwortete Carla.

„Mir dürfen Sie ein Rosé bringen“, sagte Ewen und lächelte die Frau an.

„Sagen Sie, kann man auch im Garten das Abendessen einnehmen? Ich sehe, dass Sie einen Tisch eindecken.“

„Die Herrschaften haben am Morgen gebeten, im Garten essen zu dürfen. Wir versuchen alle Wünsche unserer Gäste zu erfüllen.“

„Es wird mir bestimmt zu frisch im Garten“, meinte Carla, als Ewen sie fragte, ob auch sie den Garten dem Speisesaal vorziehen würde.

„Außerdem haben wir einen schönen Tisch am Fenster mit Blick auf den Hafen. Ich genieße den Blick sehr. Das ist für mich mehr Urlaub, als ein Essen im Garten. Zuhause essen wir so oft im Garten.“

„Da hast du Recht, mein Schatz“, meinte Ewen.

Ewen sah, wie an jedem Tag, auf sein Handy, ob er nicht doch einen Anruf von Paul überhört hatte. Aber kein Anruf war eingegangen. Paul schien tatsächlich ohne ihn klarzukommen. Einerseits freute er sich darüber, andererseits kam er sich dabei fast schon überflüssig vor. Aber falls er in den nächsten Jahren in Pension gehen sollte, musste Paul die Abteilung schließlich auch alleine führen können. Der Gedanke tröstete ihn, denn er hielt große Stücke auf seinen Freund. Bestimmt würde Paul ihn hin und wieder um Rat fragen, falls es einen besonders kniffligen Fall geben sollte.

Am nächsten Morgen machten sie sich auf den Weg zu dem kleinen Hafen Port Lay.

„Du hast gestern Recht gehabt“, meinte Ewen, nachdem sie knappe zehn Minuten durch den kleinen Hafen gegangen waren.

„Hier ist wirklich nicht viel zu sehen. Lass uns zum Menhir gehen.“

„Aber einen Aperitif gibt es so früh noch nicht“, lächelte Carla und sah ihren Mann verschmitzt an.

Ewen ging auf die Bemerkung gar nicht erst ein. Sie wanderten in Richtung Le Bourg, überquerten den Platz vor der Kirche und folgten der Straße, die zu dem kleinen Ort Locmaria führte. Der Menhir stand auf einer Wiese, an der Stelle, an der sich die Straßen Locmaria Port Tudy und Le Bourg Kerohet trafen. Ewen bestaunte den umgefallenen Menhir. Danach machten sie sich auf den Weg zurück, holten ihr Gepäck im Hotel ab und schlenderten langsam zum Hafen.

Ewen holte noch einmal sein Handy aus der Tasche und sah auf das Display, ob er auch heute keinen Anruf verpasst hatte. Aber nichts wurde angezeigt. Ewen wollte sein Handy gerade wieder in der Hosentasche verschwinden lassen, als es klingelte, und auf dem Display der Name Paul erschien.

Kapitel 5

Serge Quinnec telefonierte mit der Einsatzzentrale und bat um alle Informationen zu den Geiselnehmern. Der von ihm angeforderte Psychologe war bereits unterwegs. Seinen Männern gab er den Befehl, nach einer Möglichkeit zu suchen, Bilder vom Inneren des Juwelierladens zu erhalten. Kleine, einem Endoskop ähnelnde Kameras, gehörten als Basisausstattung zu ihrer Ausrüstung, genauso wie Richtmikrophone, mit denen sie versuchen konnten, Gespräche mitzuhören.

Die Scharfschützen hatten ihre Positionen sofort nach ihrem Eintreffen eingenommen und jetzt alle Fenster und Türen im Visier. Sie hatten keinen Einblick in den Laden, es wäre auch nicht ratsam, einen der Geiselnehmer zu erschießen, falls dies überhaupt möglich wäre. Die Gefahr für die Geiseln würde sich damit enorm erhöhen. Niemand konnte wissen, wie die restlichen Verbrecher darauf reagierten. Entweder sie konnten alle gleichzeitig unschädlich machen oder keinen.

„Es gibt ein kleines Entlüftungsrohr auf der Seite des Hauses, wir werden versuchen, dort eine Kamera hineinzuschieben, Serge.“ Serge Quinnec sah ins Gesicht eines vermummten Kollegen.

„Sehr gut! Führt das Rohr direkt in den Laden?“

„Das wissen wir noch nicht, es kommt auf einen Versuch an. Ist aber durchaus denkbar.“ Er entfernte sich wieder und schlich zu der kleinen engen Seitenpassage neben dem Juwelierladen.

Serge ging zum Einsatzwagen und stellte sich neben einen Mitarbeiter, der vor einem großen Computerbildschirm saß und auf ein Signal der Kamera wartete. Jetzt tauchte ein erstes Bild auf. Die Kamera wurde durch das Rohr geführt, an dessen Ende ein heller Fleck zu sehen war. Zentimeter für Zentimeter wurde die Kamera vorwärtsbewegt. Der helle Fleck verwandelte sich langsam in ein Gitter und kam der Optik der Kamera immer näher. Vorsichtig manövrierte der Kollege den endoskopähnlichen Schlauch mit der kleinen Kamera zu einem Schlitz der Abdeckung. Dann sahen die Polizisten in das Innere des Ladens. Sie konnten die Geiseln auf dem Boden kauernd sehen und die drei maskierten Männer verteilt im Raum stehen. Jeder hielt eine Waffe in der Hand. Das eingebaute Mikrophon lieferte jedes Geräusch gleich mit.

Gebannt sah Serge Quinnec auf den Bildschirm und versuchte, sich ein Bild von der Situation zu machen. Er versuchte, die Anzahl der Geiseln festzustellen. Hinter der Verkaufstheke lag ein Mann auf dem Boden. Vermutlich handelte es sich um das Opfer des abgegebenen Schusses vor etlichen Minuten. Auf dem Boden vor der Theke sah er drei Frauen und zwei Männer. Insgesamt waren somit fünf Geiseln in der Gewalt der Verbrecher und ein verletzter oder toter Juwelier.

„Und wenn die Gendarmen nicht auf deine Forderungen eingehen?“, hallte es plötzlich aus dem Lautsprecher.

„Dann müssen wir eben mehr Druck ausüben. Wir sind am Drücker, wir haben die Geiseln.“

„Willst du wirklich alle Geiseln erschießen?“, fragte der Mann, der unmittelbar neben den Geiseln stand.

„Was heißt alle? Wir brauchen nur eine zu töten, und schon lenken die da draußen ein.“

„Und was ist, wenn sie das nicht tun? Was passiert, wenn sie einfach stürmen und uns alle abknallen? Ich habe keine Lust abgeknallt zu werden.“

„Und wir sind Ihnen wohl egal?“, rief eine jüngere Frau, die unmittelbar neben dem toten Mann auf dem Boden lag.

„Halts Maul!“, schrie der Angesprochene ihr entgegen.

Serge Quinnec verfolgte das Gespräch aufmerksam. Die Männer im Laden begannen nervös zu werden. Das hatte er mit der Verlängerung des Ultimatums zu erreichen beabsichtigt. Mit jeder Minute erhöhte sich die Chance, dass die Geiselnehmer untereinander Zwist bekamen und letztlich aufgaben.

„Warum willst du überhaupt Maurice freibekommen? Die Beute lässt sich besser durch drei als durch vier Leute teilen.“

„Du Dummkopf, ich will verhindern, dass der Grünschnabel auspackt. Es ist doch besser, wenn die Bullen nicht wissen wer wir sind.“

„Glaubst du wirklich, Denis, dass sie das noch nicht wissen? Maurice ist bestimmt bereits befragt worden. Der packt sofort aus. Seine Knie schlottern doch schon, wenn er nur einen Bullen sieht. Und wenn wir die Geiseln mitnehmen wollen, passen wir sowieso nicht in unseren Wagen. Hast du dir das überlegt?“

„Hmmm, da hast du Recht, Jules, ich werde mir etwas einfallen lassen.“

„Da solltest du aber schnell nachdenken. Wenn du plötzlich mit anderen Forderungen kommst, verlangen die Bullen vielleicht noch mehr Zeit. Ruf sie sofort an, los.“

Serge Quinnec hatte für den Moment genug gehört. Er überlegte, wie er auf eine neue Forderung reagieren sollte. Der Mann hatte ihm ja schon einen Hinweis gegeben. Er konnte also auf Zeit spielen. Es stellte sich jetzt nur die Frage, was würde Denis fordern?

 

„Monsieur Quinnec, der Psychologe ist eingetroffen. Sie sollten ihn über den aktuellen Stand informieren. Dann kann er die weiteren Verhandlungen mit den Gaunern übernehmen.“ Jugo Kerhat sprach Quinnec an, als er aus dem Überwachungswagen ausgestiegen war.

„Der Psychologe? Ach ja, wo steckt er?“

„Er steht dort drüben, neben unserem Wagen.“

Serge Quinnec ging auf den hageren, ca. 1,80 großen Mann mit den graubraunen Haaren zu. Er machte einen sympathischen Eindruck. Er war kein Freund von Psychologen, weil er schon öfter festgestellt hatte, dass die Herrschaften nur Psychologie studiert hatten, um vielleicht unbewusst ihre eigenen Schwierigkeiten besser meistern zu können. Dieser Mann hier erschien ihm in anderem Licht. Er strahlte Zufriedenheit und Selbstsicherheit aus, die auf Serge jedoch nicht arrogant wirkte. Bekleidet mit Anzug und weißem Hemd und ohne Krawatte stand er neben dem Einsatzfahrzeug der Gendarmen und sah auf den Juwelierladen.

„Bonjour, ich bin Serge Quinnec. Ich leite den Einsatz. Sie sind der angeforderte Psychologe?“

„Stimmt, ich bin Elouan Le Gripp, seit gerade einmal zwei Wochen Polizeipsychologe.“

„Schön, dass Sie hier sind. Kann ich Sie kurz in den aktuellen Stand einführen?“

„Ich bitte darum, Monsieur Quinnec.“

„Also, nachdem wir Sichtkontakt zu den Geiselnehmern hergestellt haben, wissen wir jetzt, dass es sich um drei Männer handelt und um fünf Geiseln. Der Inhaber des Ladens ist entweder schwer verletzt oder tot. Jedenfalls liegt eine reglose Person auf dem Fußboden hinter der Verkaufstheke. Ich habe mit den Geiselnehmern bereits gesprochen. Sie fordern die Freilassung ihres Komplizen, einen Wagen und eine halbe Million Euro in gebrauchten Scheinen. Sie haben uns ein Ultimatum gestellt. In einer Stunde wollten sie ihre Forderungen erfüllt sehen. Bei meinem Gespräch mit ihnen, haben sie sich dann bereit erklärt, uns drei Stunden zusätzlich zu gewähren.“

„Wie haben Sie das hinbekommen?“

„Ich habe ihnen gedroht. Entweder sie geben mir mehr Zeit, um die Forderungen erfüllen zu können, oder wir stürmen.“

„Haben die Männer nicht mit der Ermordung der Geiseln gedroht?“

„Haben sie, aber ich habe ihnen gesagt, dass es mir egal sei. Daraufhin haben sie eingelenkt.“

„Sie haben Ihnen das abgenommen?“

„Es blieb ihnen nichts anderes übrig. Anscheinend habe ich sehr überzeugend argumentiert.“

„Das war ein riskantes Spiel, das ist Ihnen bestimmt klar gewesen.“

„Es war ein wenig gepokert, ich hatte aber wohl die besseren Nerven.“

„Gut, dann sollten wir versuchen, erneut mit dem Anführer in Kontakt zu treten.“

„Die rufen uns gleich an, dann können Sie das Gespräch sofort übernehmen. Wir haben mitbekommen, dass sie eine andere Forderung stellen wollen. Es wird um ihre Flucht gehen. Allem Anschein nach wollen sie die Geiseln mitnehmen. Der Fluchtwagen ist dafür nicht geeignet.“

„Wenn wir ihnen entgegenkommen und auf ihre Bedingungen eingehen, müssen sie uns auch etwas bieten. Vielleicht können wir einige der Geiseln freibekommen.“

„Daran habe ich auch schon gedacht, ich bin gespannt, ob und wie Sie das hinbekommen.“

„Ich auch!“

Keine fünf Minuten später rief der Beamte aus dem Überwachungswagen Quinnec zu sich. Die Geiselnehmer waren am Telefon.

Quinnec und Le Gripp beeilten sich, zum Wagen zu kommen. Der Psychologe setzte sich ein Headset auf, und der Beamte verband ihn mit dem Mann, der sich Denis nannte.

„Mit wem spreche ich?“, fragte Elouan seinen Gesprächspartner.

„Wer bist du jetzt? Ich will sofort mit dem Einsatzleiter sprechen, aber dalli.“

„Ja, dann haben wir ein Problem. Der Mann musste gerade dringend weg. Keine Ahnung wohin er gegangen ist. Er hat mir nur gesagt, dass ich alle Befugnisse habe, mit Ihnen zu sprechen. Und da bin ich jetzt, mein Name ist Le Gripp, Elouan Le Gripp. Was kann ich also für Sie tun, und mit wem habe ich die Ehre?“

„Hör auf mit dem schwülstigen Gerede. Mein Name spielt keine Rolle. Ich bin derjenige, der hier sagt wo es langgeht. Hast du mich verstanden? Ich brauche einen größeren Fluchtwagen. Am besten einen Kleinbus. Der Bus muss Platz für mindestens neun Leute haben.“

„Einen Bus? Aber warum wollen Sie einen Bus haben. Sind Sie neun Leute in dem Laden?“

„Du bist ja ein Schnellmerker. Wir sind hier neun Personen. Wir haben fünf Geiseln, und die gehen mit uns.“

„Also nur für mein Verständnis, Sie sind zu viert und haben fünf Geiseln. Sie brauchen also einen Bus für mindestens zehn Personen.“

„Warum zehn Personen? Ich sagte doch neun. Wir werden vier sein und die Geiseln.“

„Aber Sie brauchen doch einen Chauffeur. Es sei denn, dass Sie einen Busführerschein besitzen. Für einen Bus benötigen Sie unbedingt einen Führerschein, der das Befördern von Menschen erlaubt. Ansonsten bekommen wir den Bus nicht gestattet.“

„Willst du mich verarschen? So blöd kann doch keiner sein.“

„Weit gefehlt, ich denke nicht einmal daran, Sie auf den Arm zu nehmen. Aber vielleicht verstehen Sie mich besser, wenn ich Ihnen erkläre, dass ein Bus nicht so einfach wie ein Personenwagen zu fahren ist. Da braucht man schon spezielle Kenntnisse. Ihre Flucht wäre deutlich sicherer, wenn Sie einen Chauffeur hätten. Denken Sie doch nur an die engen Gassen hier in Douarnenez. Das ist nicht so einfach, mit einem Bus da durchzukommen, zumal wenn rechts und links noch Autos parken. Also ich wüsste da eine bessere Lösung.“

„Eine bessere Lösung? Versuch mich nicht auszutricksen, das könnte einer Geisel das Leben kosten.“

„Ich will Sie bestimmt nicht austricksen. Aber warum wollen Sie unbedingt alle Geiseln mitnehmen? Die sind doch nur hinderlich bei der Flucht. Sie müssen davon ausgehen, dass die Gendarmen Sie verfolgen. Wenn Sie sich dann unterwegs von den Geiseln befreien wollen, dann ist das ein zusätzliches Risiko. Ich schlage Ihnen vor, dass ich mich um einen größeren Wagen kümmere, sagen wir für fünf Personen. Sie nehmen mich als Geisel und lassen die anderen frei, sobald der Wagen bereitsteht.“

„Was soll ich machen? Meine Geiseln freilassen, kommt überhaupt nicht in die Tüte. Du kümmerst dich um einen Bus und bringst mir meinen Kumpel Maurice her.“

„Maurice? Wer ist denn jetzt Maurice?“

„Hast du vorhin nicht gesagt, dass du die Verhandlungen führst? Maurice ist unser Kumpel, den ihr verhaftet habt. Der fährt mit uns mit.“

„Ach so, ihr seid gar nicht zu neunt in dem Laden. Ihr seid nur acht und der neunte ist Maurice.“

„Genau, Maurice ist der neunte. Jetzt beeil dich und besorg uns den Bus.“

„Da gibt es noch ein Problem. Wir brauchen etwas mehr Zeit, um den Bus zu besorgen. Die Forderungen davor waren einfacher zu erledigen. Aber einen Bus zu besorgen, das geht nicht so schnell. Ihr müsst uns wenigstens zwei Stunden mehr Zeit geben.“

Denis wurde langsam ungehalten. Jules hatte ihn bereits darauf hingewiesen, dass es bestimmt länger dauern würde, wenn er seine Forderungen änderte. Seine Verunsicherung ließ Aggressionen in ihm aufsteigen. Er kannte sich, wenn er wütend wurde, dann begann er Fehler zu machen. Beim letzten Mal führte das zu seiner Verhaftung. Er versuchte sich zu beherrschen, aber gleichzeitig wollte er Stärke zeigen. Er überlegte kurz und kam dann zu dem Ergebnis, etwas nachzugeben.

„Also, eine Stunde bekommt ihr zusätzlich, und dann sind alle Forderungen erfüllt. Ist das klar?“

„Absolut, wir arbeiten mit Hochdruck daran. Ich rufe Sie an, sobald ich Ihnen sagen kann, wie weit wir sind.“

Denis beendete das Gespräch. Serge Quinnec, der die ganze Zeit neben Elouan gestanden hatte, konnte ein leichtes Grinsen nicht unterbinden.

„Eine Stunde zusätzlich, also haben wir noch knapp zweieinhalb Stunden Zeit. Bis dahin kochen wir sie weich.“

Serge schien zufrieden zu sein. Seine Vorkehrungen zum Sturm des Juwelierladens wurden vorangetrieben. Er hoffte dennoch, dass die Bemühungen des Psychologen, die Geiselnehmer zur Aufgabe zu bewegen, noch eine Chance hatte. Jedes gewaltsame Eindringen war mit Risiken verbunden. Risiken für seine Leute, für die Geiseln und letztlich auch für die Geiselnehmer. Die Methode des Psychologen erschien ihm stümperhaft. Glaubte der wirklich, dass die Verbrecher sich mit solchen Spielereien hinhalten lassen würden? Die Fragen nach Chauffeur und Führerschein hatten einen Hauch von Unbeholfenheit des jungen Psychologen in ihm aufsteigen lassen. Andererseits hatte er eine weitere Stunde an Zeit gewonnen.