Das Grab in der Ville-Close

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Das Grab in der Ville-Close
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Jean-Pierre Kermanchec

Das Grab in der Ville-Close

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Epilog

Vorankündigung:

Impressum neobooks

Prolog

Es war ein wunderschöner Wintertag ohne Schnee oder Eiseskälte, eben ein Wintertag, wie er in der Bretagne üblich ist. Die Temperaturen lagen bei 7°C, die Sonne strahlte aus einem stahlblauen Himmel, nur vereinzelt waren kleinere Wolkengrüppchen auszumachen. Wie in jedem Jahr schmückten die Lichtergirlanden die Straßen und die Weihnachtsmänner die Fassaden.

Die Stadt Quimper erwachte an diesem Morgen zu neuem Leben, die Lieferwagen standen vor den Geschäften, blockierten die rechte Fahrspur des Boulevard Amiral de Kerguélen und verursachten einen größeren Stau, der bis ins Bahnhofsviertel zurückreichte. Der 14. Dezember 2001 rückte immer näher und mit ihm der Tag, an dem die Banken die ersten Tütchen mit der neuen Währung ausgeben würden. Aber noch war es nicht soweit. Der Euro war zwar in aller Munde, aber die Einwohner von Quimper bezahlten ihre Baguette, ihren Fisch, den Wein oder das Gemüse noch mit dem nouveau Franc. Die Bretonen rechneten den Franc sogar noch in den ancienne Franc um. Wie sollten sie einen Preisvergleich vornehmen, wenn jetzt noch eine dritte Größe dazukäme? Sie waren skeptisch gegenüber den Beschlüssen in Paris. Die Bevölkerung sorgte sich, um die Vergleichbarkeit der Preise und über die sicherlich steigenden Lebenshaltungskosten nach der Einführung des Euro. In der Markthalle drehten sich viele Gespräche nur um diesen Punkt. Der Fischhändler, gleich am Eingang der Halle, war besonders erbost. Er hatte bereits die Information erhalten, dass er seine Kasse so umstellen musste, dass auf den Kassenbelegen nicht nur der Betrag in der neuen Währung ausgewiesen wurde, sondern auch die Umrechnung zum nouveau Franc aufgedruckt war. Er brauchte ab dem 1. Januar eine neue Registrierkasse. Seine alte war dazu nicht in der Lage.

„Hoffentlich kommt das Geld, das ich für die neue Kasse ausgeben muss, auch wieder rein. Die in Paris machen uns das Leben unnötig schwer. Die basteln an neuen Gesetzen und Initiativen und wir Bretonen müssen die Suppe auslöffeln. Es wird Zeit, dass wir unsere Unabhängigkeit erlangen. Den Fischen dürfte es gleich sein, ob ich sie für Franc oder Euro verkaufe“, meinte er zu einer Kundin. Die ältere Frau nickte, nahm einen 100 Francschein aus ihrem Portemonnaie und bezahlte die erstandene Dorade.

In der nur 25 Kilometer entfernten Kleinstadt Concarneau saßen an diesem Tag drei Männer zusammen und schmiedeten einen Plan.

Jean Botlan, Marcel Jacq und Heneg Bolloc´h gehörten eher zu den Verlierern der Gesellschaft. Der älteste unter ihnen war Heneg Bolloc´h. Er war 65 Jahre alt, hatte seine Arbeit als Schweißer auf der Werft in Lorient verloren und lebte seit einigen Monaten von seiner bescheidenen Rente. Sein Alter sah man ihm nicht an, sein braugebrannter Teint und seine sportliche Erscheinung gaben ihm das Aussehen eines 50-jährigen Mannes. Die beiden anderen Männer hatten die 50 ebenfalls überschritten. Die beiden gingen schon seit längerer Zeit keiner geregelten Arbeit mehr nach. Mit Einbrüchen und kleineren Überfällen auf Tankstellen und Juwelierläden hielten sie sich über Wasser. Doch jetzt würden sie den größten Coup ihrer Laufbahn landen. Dafür hatten sie einen dritten Mann benötigt, den sie in Heneg Bolloc´h gefunden hatten.

Die Banken in der Bretagne und im restlichen Frankreich wurden mit der neuen Währung beliefert. Ab dem 1. Januar 2002 sollten die Franzosen, wie auch die anderen Teilnehmer der Eurozone, mit dem Euro bezahlen.

Ein Angestellter der BNP Paribas von Quimper witterte seine Chance an das große Geld zu kommen. Die streng geheimen Lieferungen des neuen Geldes, das die Banque de France an die Geschäftsbanken lieferte, bot die Gelegenheit zu einem großen Coup. Der Mann war bereit, für eine Beteiligung von 10% an der erbeuteten Summe, die genauen Daten für die Anlieferung und die exakten Zeiten zu verraten. In Jean Botlan und Marcel Jacq fand er die Männer, die sich bereit erklärten den Überfall durchzuführen. Die Bank würde bei der Lieferung 6 Millionen Euro erhalten.

Heneg Bolloc´h war als Fahrer des Fluchtwagens eingeteilt, während die beiden anderen den eigentlichen Überfall durchführen wollten. Der Geldtransporter würde am frühen Morgen mit der Öffnung der Bank eintreffen, so hatte der Angestellte ihnen gesagt. Um diese Zeit waren erfahrungsgemäß nur wenige Besucher in der Schalterhalle. In der Schalterhalle würde sich auch nur ein einziger Wachmann aufhalten, ein schon in die Jahre gekommener Herr. Um diese Zeit erwartete niemand einen Überfall. Der Plan, den die drei sich zurechtgelegt hatten, war etwas naiv und dilettantisch. Sie wollten, nachdem die Geldboten die Bank betreten hatten, in die Halle stürmen, den Geldkoffer an sich reißen und mit der Beute verschwinden. Ein jeder von ihnen würde 1,8 Million von der Beute erhalten, die restlichen 600.000 gingen an den Tippgeber aus der Bank.

„Lasst uns lange warten, bevor wir das Geld ausgeben“, warnte Heneg die beiden Komplizen im Vorfeld.

„Es fällt auf, wenn wir nach dem Raub mit einem Leben auf großem Fuß beginnen. Wir lenken die police judiciaire sonst sofort auf uns“, meinte Heneg weiter.

„So dumm sind wir auch nicht, Heneg“, erwiderte Marcel und grinste Heneg an.

„Keine Sorge, wir machen so etwas nicht zum ersten Mal“, meinte Jean Botlan und schlug Heneg freundschaftlich auf die Schulter.

Der Überfall sollte am nächsten Tag stattfinden. Sie verabredeten sich für acht Uhr vor der Wohnung von Marcel. Dann ging es nach Quimper, um das Geld abzuholen, wie Marcel sich ausdrückte.

 

Pünktlich am nächsten Morgen starteten sie in Concarneau und erreichten nach einer knappen halben Stunde den Bahnhofsvorplatz in Quimper. Aber von dort kamen sie nur noch im Schneckentempo weiter.

„Verdammt, mit so einem Stau haben wir nicht gerechnet. Hoffentlich schaffen wir es pünktlich zur Bank“, meinte Heneg und versuchte sich auf dem zweispurigen Boulevard Amiral de Kerguélen an dem einen oder anderen Wagen vorbeizumogeln. Es war inzwischen fünf vor neun, und sie hatten noch mindestens dreihundert Meter bis zur Bank zurückzulegen.

„Du kannst dich beruhigen, Heneg, schau nur, der Geldtransporter steckt auch fest.“ Jean deutete auf das Fahrzeug, das auf der rechten Spur stand und auch nicht schneller vorankam als sie.

„Wir müssen versuchen einen Parkplatz zu finden, auf dem du auf uns warten kannst, Heneg“, meinte Marcel.

„Wenn ihr nur für kurze Zeit im Gebäude seid, dann bleibe ich mit eingeschalteter Warnblinkanlage einfach vorne an der Ampel stehen. Der Eingang zur Bank ist doch genau dort. Und sobald ihr mit dem Geld aus der Bank kommt fahre ich los. Wir verlassen die Stadt über die Allée de Locmaria, da ist um diese Zeit kein Verkehr. Bis die Flics eintreffen sind wir weg. Ein Problem kann das Nummernschild sein. Wenn sich das einer merkt, kommen sie uns schnell auf die Spur.“

Marcel sah Jean an und verzog sein Gesicht zu einer grinsenden Fratze, zum Ausdruck, dass Heneg ein absoluter Anfänger war.

„Heneg!“, redete Jean ihn an und sah gleichzeitig zu seinem Kumpanen.

„Wir haben ein falsches Nummernschild angebracht. Das richtige ist im Kofferraum. Sobald wir die Stadt verlassen haben, tauschen wir die Schilder aus.“

Der Geldtransporter hatte die Bank inzwischen erreicht und war halb auf den Bürgersteig gefahren. Die beiden Geldboten stiegen aus und gingen mit zwei Alukoffern auf die Eingangstür zu. Heneg stand jetzt genau an der Ampel, den Fahrer des Geldtransporters konnte er in seinem Rückspiegel sehen. Marcel und Jean zogen sich ihre Sturmhauben über, nahmen ihre Waffen in die Hand und stürmten hinter den beiden in die Bank. Heneg drückte den Knopf der Warnblinkanlage und blieb vor der grünen Ampel stehen. Sofort setzte ein Hupkonzert ein. Heneg achtete nicht darauf, er beobachtete den Fahrer des Geldtransporters und sah sich nach Polizeifahrzeugen um. Das wäre jetzt die größte Gefahr, eine Polizeibesatzung die zufällig an der Bank vorbeifuhr. Nach wenigen Minuten hörte Heneg einen Schuss, der sogar das Hupkonzert der Fahrzeuge übertönte. Kurz darauf stürmten seine beiden Komplizen aus der Bank und warfen zwei Geldkoffer auf den Rücksitz, setzten sich in den Wagen und Heneg gab Gas, obgleich die Ampel auf Rot stand, und die ersten Fußgänger schon auf die Straße treten wollten. Mit quietschenden Reifen fuhr er an, missachtete auch die nächste rote Ampel, so dass mehrere Fahrzeuge eine Notbremsung hinlegen mussten und überquerte die Odet-Brücke.

„Wir haben es geschafft, wir haben das Ding durchgezogen“, schrie Jean und zog sich die Sturmhaube vom Kopf.

„Was war das für ein Schuss?“, fragte Heneg als sie bereits mit deutlich überhörter Geschwindigkeit auf der Allée de Locmaria fuhren.

„Der Wachmann wollte unbedingt ein Held werden und hat seine Waffe gezogen. Da musste Marcel schießen.“

„Und? Ist der Mann tot?“

„Kann ich nicht sagen, wir haben nur zugesehen, dass wir schnell wegkommen“, antwortete Marcel.

„Wenn er tot ist bekommen wir lebenslänglich, ist euch das klar? Wir haben doch ausgemacht, dass niemand verletzt wird.“

„Halts Maul, Heneg, sieh lieber zu, dass du uns aus der Stadt rausbringst. Mit deinem Anteil von 1,8 Millionen kannst du dir ein gutes ruhiges Leben finanzieren. Was schert dich der Wachmann!“

Heneg Bolloc´h drosselte die Geschwindigkeit etwas als sie ein gutes Stück aus der Stadt waren.

„Such eine Möglichkeit, etwas versteckt zu parken, dann können wir die Kennzeichen ändern“, meinte Jean und sah durch das Heckfenster, ob sie verfolgt wurden. Die Straße hinter ihnen war zwar nicht leer aber es schien, dass ihnen niemand folgte. Sie fuhren inzwischen auf der Rue de Bénodet, durchfuhren den Rond-Point du Frugy und bogen auf die D 34 ab. Am Einkaufszentrum vom Géant fuhren sie auf den großen Parkplatz. Heneg stellte den Wagen am äußersten Ende des Parkplatzes zwischen zwei Fahrzeugen ab und ließ Jean aussteigen. Der machte sich sofort an die Arbeit die beiden Nummernschilder auszutauschen. Der Tausch der vorderen Plakette war kein Problem, der Parkplatz war hier von Bäumen umgeben und gab keine Sicht auf ihn frei. Die Rückseite war etwas schwieriger, beständig fuhren Fahrzeuge vorbei.

„Heneg, kannst du den Wagen wenden, dann kann man mich nicht beobachten“, fragte er.

Heneg startete den Motor, fuhr aus der Lücke heraus und parkte den Wagen rückwärts ein. Nachdem das hintere Kennzeichen auch getauscht war verließen sie den Parkplatz und fuhren nach Concarneau zurück.

Mit ihnen fuhren sechs Millionen Euro, die Ungewissheit über den Zustand des Wachmanns und die Angst gefasst zu werden.

Kapitel 1

Die Entscheidung, die alte Stadtbefestigung zu reparieren und das Begehen der Mauerkrone an der seit Jahren fürs Publikum geschlossenen Stelle wieder zu ermöglichen, fiel im Stadtrat von Concarneau einstimmig. Die ehrwürdige Ville Close war die Hauptattraktion der Stadt und der Publikumsmagnet. Mehr als 1,5 Millionen Besucher kamen pro Jahr, um die von Vauban befestigte kleine Insel im Hafenbecken der Stadt kennenzulernen. Die Entscheidung, Geld in die Restaurierung zu investieren, war in den letzten Jahren immer wieder hinausgezögert geworden. Mal brauchte man das Geld für die Schule beim Sables Blancs, mal musste ein neuer Eisturm für die Fischer gebaut werden, ein anderes Mal brauchten die Straßen einen neuen Belag. Gründe für eine Verzögerung oder ein Hinausschieben der notwendigen Arbeiten in der Ville Close hatte es auch diesmal gegeben. Dennoch hatten sich jetzt diejenigen Vertreter durchgesetzt, die der Geschäftswelt der Stadt und dem Office de Tourisme nahestanden. Die Arbeiten sollten sofort beginnen und möglichst noch vor dem Start in die neue Saison beendet sein.

Der logistische Aufwand war enorm, und vielen Vertretern der Stadtverwaltung waren die angesetzten Kosten für die Instandsetzung anfangs nicht verständlich gewesen. Ebbe und Flut brachten es mit sich, dass auch der Wasserstand erheblichen Einfluss auf die Kosten hatte. Man musste den Arbeitern entsprechenden Zuschlag zahlen, wenn sie nachts arbeiten sollten, um das Material mit dem Schiff auf die Insel zu bringen. Dennoch starteten die Arbeiten pünktlich und die Fortschritte waren bald sichtbar.

Die letzten Besucher der Saison schlenderten noch durch die engen Gassen als die ersten Arbeiten bereits einsetzten. Die Gerüste wurden aufgebaut, die beschädigten Steine aus der Mauer entfernt und durch neue ersetzt. Die Fundamente an der Stadtmauer, die unmittelbar an den Yachthafen grenzt, sollten überprüft und die Spazierwege erneuert werden. Der dazu benötigte Maschinenpark musste in die Stadt gebracht werden. Die schmale Zufahrt ließ das Befahren mit großem Gerät nicht zu, so war klar, dass nur kleine Bagger oder Fahrzeuge zum Einsatz kommen konnten. Soweit es möglich war, wurde ein Teil des Materials auf dem Wasserweg zur Baustelle transportiert.

Dem Ouest France waren die Arbeiten eine halbe Seite Berichterstattung wert. Es gab auch Gegner in der Bevölkerung, die die Arbeiten als Geldverschwendung bezeichneten. Geld, das man besser in den Aufbau von bretonischen Schulen hätte stecken sollen und nicht in altes Gemäuer.

Aber im großen Ganzen war man zufrieden, dass die Ville Close einer Instandsetzung und der Wiederherstellung des früheren Zustandes unterzogen wurde. Viele Bewohner der Stadt und der näheren Umgebung waren von der Tourismusindustrie abhängig. Angefangen von den zahlreichen Verkäuferinnen in den kleinen Boutiquen der Altstadt, über die Köche und das Bedienungspersonal der Restaurants, bis hin zu den Angestellten und Arbeitern in den Fabriken, die die hier verkauften Waren herstellten. Die Nachfrage nach den Ohrenbols mit dem Namenszug, den Tellern und Schüsseln aus den Faïencerien, den Fischkonserven, den Galettes bretonnes, den Keksen und den Produkten der Chocolaterie, den gestreiften T-Shirts, Pullovern von Saint-James oder Armor-lux und den in Deutschland unter dem Namen Friesennerz bekannten Segeljacken aus dem Hause Guy Cotten, der seine Fabrikation nur wenige Kilometer von der Ville Close entfernt hatte, riss nicht ab. Alle Beteiligten in und um die Stadt herum profitierten von dem Touristenstrom, der sich jährlich über die Ville Close ergoss.

„Wie weit sind wir mit den Grabungen am Fundament?“, fragte Yann Goarec seinen Vorarbeiter.

„Gestern haben wir begonnen, es zieht sich etwas, wir haben nur einen kleinen Bagger zur Verfügung.“

„Ich habe für die Arbeiten eine Woche eingeplant, schaffen wir es in der Zeit?“

„Das wird schwierig, aber ich versuche es. Vielleicht müssen wir Überstunden einplanen.“

„Aber nicht zu viele, sonst laufen uns die Kosten aus dem Ruder. Du weißt, dass wir der Stadt ein Festangebot unterbreitet haben?“

„Ja Chef, ich versuche mit meinen Leuten den Zeitplan einzuhalten.“

Yann Goarec wusste, dass er sich auf seinen Vorarbeiter verlassen konnte. Tanguy Trébaul arbeitete schon seit mehr als zwanzig Jahren für ihn. Manchmal konnte man den Eindruck haben, dass er der Chef war, wenn zum Beispiel die Gewerkschaft zu einem Streik aufgerufen hatte, und er die Arbeiter dazu ermutigte weiterzuarbeiten, um einen wichtigen Auftrag zum Abschluss zu bringen. Er kam dann zu ihm und verhandelte die Gehaltssteigerungen anstelle der Gewerkschaft aus. Und dabei hatte er sowohl seine Kollegen als auch die Firma im Auge. Bei manchen Verhandlungen holte er mehr für die Leute raus als die Gewerkschaft ursprünglich gefordert hatte, bei anderen gaben sich die Arbeiter mit einem geringeren Zuschlag zufrieden. Für dieses Entgegenkommen hatte Yann Goarec sich erkenntlich gezeigt und noch nie einen Arbeiter entlassen. Yann gehörte zu den wenigen Unternehmern, dem das Wohl der Mitarbeiter und der Firma gleichermaßen am Herzen lagen. Seine Baufirma gehörte nicht zu den großen der Branche, aber sie war solide. Sein Vater hatte die Firma vor über sechzig Jahren in Trégunc gegründet. Er hatte sie nach dem Tod des Vaters übernommen und weitergeführt. Seine Auftraggeber wussten, dass sie sich auf seine Angebote verlassen konnten. Bei Ausschreibungen erhielt Yann Goarec selten einen Zuschlag. Er war nicht billig. Aber er hielt sich an seine Kostenvoranschläge. Es kam bei ihm nur ausnahmsweise vor, dass er während der Arbeiten von unerwarteten Kosten sprechen musste, die sein Angebot nicht berücksichtigt hatte.

Yann verließ die Baustelle und machte sich auf den Weg zur nächsten. Er durchschritt die fast menschenleere Rue Vauban zum Ausgang der Ville Close. Er hatte seinen Wagen außerhalb der Altstadt stehen gelassen, obwohl es eine Kleinigkeit gewesen wäre eine Zufahrtserlaubnis zu erhalten. Etwas Bewegung konnte ihm nicht schaden, zumal sein Blutzucker seit geraumer Zeit nicht mehr im Normbereich lag. Sein Arzt erinnerte ihn bei jedem Besuch daran, dass er sein Körpergewicht verringern und seine körperliche Aktivität erhöhen sollte. Aber seine Arbeit war nun einmal hauptsächlich eine sitzende Tätigkeit. Sitzen im Wagen, Sitzen am Schreibtisch, Sitzen bei Verhandlungen. Seit einigen Wochen versuchte er die Anzahl seiner Schritte zu erhöhen. Seine Frau hatte ihm einen Schrittzähler geschenkt, den er seither am Gürtel trug. Der erinnerte ihn jedes Mal, dass er weit von den empfohlenen zwanzigtausend Schritten pro Tag entfernt lag.

Er durchschritt den Torbogen am Ende der Rue Vauban, überquerte den kleinen Platz vor dem zweiten Torbogen, ging über die alte Brücke und kam an dem großen Anker vorbei, der vor einigen Jahren ins Hafenbecken geworfen worden war. Obwohl der Anker an die zwei Tonnen wog, hatten Jugendliche es geschafft ihn über die Mauer zu hieven.

Der Anker, einst von einem Fischkutter aus dem Meer vor der irischen Küste gefischt, hatte zu dem Schiff SS Great Eastern gehört, ein englischer Kabelleger, der im 19. Jahrhundert ein transatlantisches Kabel verlegt hatte. Der Anker bewachte seit über 50 Jahren den Eingang zur Ville Close und gehörte zu den meist fotografierten Motiven der Altstadt.

 

Yann mochte den Anker, den er seit seiner Kindheit kannte, ein Fixpunkt in seinem Leben. Die Zeit nagte ständig an diesem braunroten, schweren, verrosteten Stück Metall. Wie mochte er wohl ausgesehen haben als er noch an der Ankerkette an der Außenwand des Kabellegers gehangen hatte? War er schwarz? War er auch damals schon von Rost überzogen gewesen? Wie oft hatte er auf dem Grund des Meeres gelegen um das Schiff zu fixieren? Yann hätte zu gerne Antworten auf diese Fragen gehabt.

Er überquerte den Quai Peneroff und ging zu seinem Auto.