Evolution ohne uns

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Unter wachsamen Augen

Die Enthüllungen, die die Welt schockierten, wurden alle aus seinem Moskauer Versteck gesteuert, einem konspirativem Safe House, das von Geheimdienst-Gorillas des FSB überwacht wird. Auswärtige Besuche fanden immer unter ihren wachsamen Augen statt. Koordiniert wurden sie von einem Mann, den Snowden „mein Anwalt“ nennt.

Die Rede ist von Anatoli Kutscherena, profilierter Putin-Freund und Mitglied im Aufsichtsorgan des russischen Geheimdienstes FSB. Ohne seinen Segen, so berichten Besucher, läuft mit Snowden nichts.

In seiner Flüchtlingszeit bewies Snowden immer wieder einen ausgeprägten Sinn für Dramatik. Wenn er am Laptop tippte, zog er eine rote Kapuze über den Kopf, damit Überwachungskameras seine Passwörter nicht erfassen, wie er erklärte. Unter die Tür schob er ein Kissen, um Abhörmaßnahmen zu blockieren. Die Mobiltelefone von Besuchern packte er in den Kühlschrank, damit sie keine Signale abstrahlten.

Sicherheitsmaßnahmen waren auf jeden Fall erforderlich.

Der flüchtige amerikanische Spion war in akuter Gefahr.

Die Jagd nach Edward

Die US-Regierung wollte ihn haben.

Daran besteht kein Zweifel.

„Snowden hat mehr Schaden angerichtet als jeder andere Spion in der Geschichte unseres Landes“, so die Einschätzung des damaligen NSA-Chefs Keith Alexander. „Das wird unsere Arbeit die nächsten zwanzig bis dreißig Jahre beeinträchtigen.“10/11

Ein solcher Täter darf nicht unbehelligt davonkommen. Nicht aus Sicht der US-Dienste, die ihn im Verborgenen verfolgen. Und bereit sind, erhebliche Risiken einzugehen. Deutlich wurde das am 2. Juli 2013, als eine gewagte CIA-Operation fehlschlug.

An diesem Tag war Boliviens Präsident Evo Morales zu einem Staatsbesuch in Moskau. Es gab einen Geheimtipp: Snowden sollte an Bord des Präsidialjets heimlich aus dem Land geschmuggelt werden. So die Informationen. Daraufhin verweigerten mehrere EU-Länder den Überflug. Das Flugzeug des Präsidenten wurde zur unplanmäßigen Landung in Wien gezwungen.

Der Tipp entpuppte sich als Ente, die Aktion als Flop. Snowden war nicht an Bord. Diplomatisch war es ein Desaster. Aus ganz Europa folgte Kritik. Der österreichische Außenminister sah sich gezwungen, sich öffentlich zu entschuldigen.12

Für die ganze Welt wurde sichtbar, wie weit die Amerikaner gehen würden, um den abtrünnigen NSA-Spion zu schnappen.

Snowdens Schockwellen

Die Enthüllungen von Edward Snowden machten Schlagzeilen.

Rund um die Welt.

Monatelang.

Mit dramatischen Folgen.

Bürger waren schockiert, Politiker empört, Nachrichtendienste verunsichert. Die Washingtoner Regierung wollte Snowden schnellstmöglich ins Gefängnis befördern. Deutsche Datenschützer feierten ihn als Helden. Einige wollten ihm Asyl gewähren, andere sogar für den Friedensnobelpreis nominieren.

Wie auch immer man die Taten von Edward Snowden wertet, eines steht fest: Seine Veröffentlichungen haben für große Verunsicherung in der Bevölkerung gesorgt. Der Umfang der gespeicherten Informationen, das merkten alle, hat unsere Gesellschaft unwiderruflich verändert.

Die Debatte um Big Data hat begonnen.

Und da Big Data nur von Künstlicher Intelligenz gesteuert werden kann, wird die Debatte um Künstliche Intelligenz sehr bald folgen.

_____________

*Als Director of National Intelligence beaufsichtigt James Clapper u. a. Central Intelligence Agency (CIA), Defense Intelligence Agency (DIA), Federal Bureau of Investigation (FBI), National Geospacial-Intelligence Agency (NGA), National Reconnaissance Office (NRO), National Security Agency (NSA), Drug Enforcement Agency (DEA), Department of Energy (DOE) und das Department of Homeland Security (DHS).

Big Data, Big Danger

Big Data haben wir nicht kommen sehen. Mit einem Schlag war sie da, eine fast grenzenlose Speicherkapazität, fast grenzenlose Datenbestände, fast grenzenloses Überwachungspotenzial. Big Data ist das Ergebnis eines exponentiellen Wachstums in der Hardware-Industrie.

Wir sind heute erst dabei, die Konsequenzen zu verstehen.

Und das Wachstum setzt sich unaufhörlich fort.

Exponentiell.

Nach den Veröffentlichungen von Bradley „Chelsea“ Manning bei WikiLeaks und Edward Snowden in der Weltpresse wurde klar, dass die Menschheit am Ufer eines gigantischen Datenmeers steht. Wir schauen in die Ferne, können aber weder Weite noch Tiefe begreifen. Wir haben keine Übersicht, geschweige denn Kontrolle.

Der Speicherplatz, der hier entsteht, ist das Gedächtnis eines neuen Wesens, das der Menschheit bei Weitem überlegen sein wird. Das Gehirn kommt noch.

Solche Datenmassen sind nur durch Maschinen beherrschbar. Eine Erfassung, Verwaltung oder Auswertung durch Menschen ist undenkbar. Auch die Software, die Menschen schreiben, kann es nicht schaffen. Supercomputer mit Supersoftware sind die einzige Lösung. Big Data wird eines Tages das Gedächtnis einer neuen weltumspannenden Künstlichen Intelligenz (KI) werden.

Big Data hat das Potenzial, das Wissen der gesamten Menschheit zu erfassen, Informationsmassen, die unsere Vorstellungskraft sprengen. Es könnte Bücher, Brockhaus-Enzyklopädien und sogar sämtliche Bibliotheken der Welt zur Makulatur machen.

In den ersten vierzehn Jahren seiner Existenz ist der Datenumfang von Wikipedia allein in englischer Sprache auf über fünf Millionen Beiträge gewachsen. Weltweit enthält das Werk heute 28 Milliarden Wörter in 52 Millionen Artikeln in 309 Sprachen. Zwischen dem Schreiben dieses Manuskripts und der Veröffentlichung als Buch ist davon auszugehen, dass Wikipedia sich schon wieder verdoppeln wird.

Manning und Snowden haben geholfen, die Folgen von Big Data für die Weltöffentlichkeit anschaulich zu machen. Schockierende Schlagzeilen, düstere Leitartikel und polemisierende Politiker taten den Rest.

Die öffentliche Beunruhigung richtet sich fast ausschließlich auf staatliche Daten, insbesondere auf die US-Abhörbehörde National Security Agency, NSA. Sie ist keineswegs der einzige Datensammler, der unsere Intimsphäre verletzt, vielleicht auch nicht der gefährlichste.

Interessanterweise waren einige der sogenannten Enthüllungen von Edward Snowden inhaltlich nicht neu. Einige Presseberichte wurden aufgebauscht, einiges an Empörung geheuchelt.

Aber die Bevölkerung hat eines verstanden:

Big Data bedeutet Big Danger.

Mutti abgehört

Es war vor allem das Abhören des Handys von Bundeskanzlerin Angela Merkel, das Deutschland wachgerüttelt hat. Es war eine persönliche Attacke gegen seine Bundeskanzlerin. Wenn die Privatsphäre von „Mutti“ Merkel für die alliierten Freunde in Amerika nicht heilig ist, wie steht es mit dir und mir? Bundesbürger begannen zu begreifen, was Big Data in der Spionagewelt von heute bedeutet: Die Öffentlichkeit wird komplett beobachtet.

Seinerzeit war die Öffentlichkeit erschüttert.

Das Vertrauen in den transatlantischen Bündnispartner ebenso.

„Einen Angriff auf die Souveränität eines demokratischen Staates“ nannte das Thomas Oppermann (SPD), Vorsitzender der Parlamentarischen Kontrollkommission im deutschen Bundestag. „Wer so dreist ist, der hat auch keine Hemmung, die Mobiltelefone der Bürger abzuhören und ihre E-Mails zu lesen.“

Über „einen schweren Vertrauensbruch“ beschwerte sich der damalige Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU). „Nicht hinnehmbar“, schimpfte Belgiens Regierungschef Elio Di Rupo. Der damalige EU-Kommissionschef José Manuel Barroso warnte gar vor „Totalitarismus“. In der Presse gab es zahlreiche Vergleiche mit den Abhörpraktiken der DDR-Staatssicherheit.

Das persönliche Mobiltelefon der Bundeskanzlerin anzapfen, fragten viele, wie geht das technisch?

In der Presse kursierten die schrillsten Erklärungen. Stern-TV machte „den Abhörtest“13. In einer Sendung vom 30. Oktober 2013 stellten sich Redakteure auf dem Rasen vor dem Reichstag auf die Lauer. Aus einem geparkten Minibus demonstrierten sie, wie man mithilfe eines sogenannten IMSI-Catchers in der Nähe befindliche Mobiltelefone orten und identifizieren, abhören und die Daten abspeichern kann.

Witzbuch-Autor und „IT-Sicherheitsexperte“ Tobias Schrödel ergänzte: „Eine räumliche Nähe zu dem Abhörobjekt macht deswegen Sinn, weil ich mit entsprechenden Richtfunk-Antennen Daten abfangen und dann mit einem Rechner entschlüsseln könnte.“

Das Publikum war beeindruckt.

Beifall.

Absurdistan.

Tatsächlich ist ein IMSI-Catcher ein recht simples Gerät, das Amateur-Hacker für rund 150 Euro im Versandhandel erwerben können. Die Abhörmethodik, die Stern-TV als NSA-Enthüllung präsentierte, ist in Wirklichkeit nicht viel mehr als ein Wald-und-Wiesen-Trick für eine Dorf-Detektei. Die Vorstellung, dass amerikanische Hightech-Spezialisten in einem Kastenwagen vor dem Kanzleramt parken und Frau Merkel belauschen, ist abstrus. Westliche Geheimdienste – und zwar nicht nur die NSA – greifen ihre Daten von Unterwasserkabeln, Satellitenstationen, Mobilfunkmasten und zentralen Knotenpunkten ab. Lauernde Lauscher mit Kopfhörer im Kastenwagen oder Trenchcoat-Täter in dunklen Gassen gehören in die Geschichtsbücher des Kalten Krieges oder in Kinofilme über die DDR („Das Leben der Anderen“).

Der moderne Spion arbeitet mit Großrechnern.

 

Andere Redaktionen schickten Reporter zur US-Botschaft am Brandenburger Tor. Der Standort liegt knapp 800 Meter vom Bundeskanzleramt entfernt. Fotografen knipsten Infrarot-Bilder von dem Gebäude. Heiße Stellen unter dem Dach des Diplomaten-Hauses sollten als Beweis für die Abstrahlung von Abhöranlagen herhalten. Tatsächlich verfügt jede größere Botschaft in Berlin über Sendemasten und Satellitenschüsseln für diplomatische Depeschen. Bei der US-Botschaft stehen diese unter dem Dach. Sie strahlen Wärme ab.

Viele Enthüllungen von Edward Snowden, die in der deutschen Presse ein großes Echo auslösten, werden niemanden in deutschen Sicherheitskreisen wirklich schockiert haben. Unter informierten Politikern und sachkundigen Journalisten waren sie längst bekannt. Der Datenaustausch zwischen NSA und BND ist alltäglich. Und eng, sehr eng. Gemeinsam mit anderen befreundeten Diensten werten BND und NSA Lauschangriffe zusammen aus – Namen und Nummern, Staatsangehörigkeit und SMS-Texte, Mails und Mitschnitte.

Sie werden durchsucht und gefiltert, identifiziert und ausgewertet. Technisch geht das mit der Stimmerkennung. Die Stimmbänder eines jeden Menschen besitzen Merkmale, die genauso einmalig sind wie ein Fingerabdruck. Hinzu kommen Aussprache und Dialekt, Redewendungen und Rhythmus. Abhörspezialisten können daraus das Sprachprofil einer verdächtigen Person erstellen und es wieder in die Datenbestände einfüttern.

Diese riesigen Datenmassen bilden den Heuhaufen.

Sicherheitsbehörden suchen die Nadel.

Und manchmal finden sie die.

NSA auf dem Kanzlerschreibtisch

Das Ergebnis dieser Lauschangriffe wird an höchste Regierungsstellen weitergeleitet. Auf den Schreibtisch der Kanzlerin zum Beispiel werden jeden Morgen Geheimberichte gelegt, die Infos aus den weltweiten Abhöranlagen der NSA enthalten. Die Kooperation zwischen CIA und BND, FBI und Verfassungsschutz, NSA und dem Militärischen Abschirmdienst der Bundeswehr (MAD) ist selbstverständlich und – wie BND-Mitarbeiter unter der Hand berichten – unverzichtbar.

Dass ein Mobiltelefon der Kanzlerin darunterfällt, durfte niemanden sonderlich überraschen. Handy-Gespräche in der Bundesrepublik – wie anderswo in Europa auch – werden flächendeckend und lückenlos angezapft. Faktisch muss man davon ausgehen, dass alles, was dort gesprochen, getextet oder gesurft wird, von NSA-Lauschern in Fort Meade verfolgt werden kann.

Nach der großen Empörungswelle in der deutschen Öffentlichkeit sah sich US-Präsident Barack Obama genötigt, öffentlich zu versprechen, dass Angela Merkels Handy nicht mehr belauscht wird. Dies signalisierte allerdings keine grundlegende Veränderung der Abhörtaktik der USA. Das wissen Eingeweihte, auch im Kanzleramt. Die US-Lauschbehörde verfügt nach wie vor über die nötige Technologie. Sie kann jederzeit per Knopfdruck aktiviert werden. Es ist nur eine Frage von Zeit und Zweckmäßigkeit.

Das Versprechen aus dem Weißen Haus, das Gerät der Kanzlerin nicht mehr anzuzapfen, war eine diplomatische Geste. Wogen sollten geglättet, lädierte Beziehungen gekittet werden.

Die öffentlichen Wogen wurden aber nicht gleich geglättet, die lädierten Beziehungen nicht gekittet.

Kurz darauf platzte die nächste Bombe.

Diesmal kam die Enthüllung nicht von Edward Snowden. Sie wurde von der deutschen Spionageabwehr aufgedeckt. Am 2. Juli 2014 marschierten Beamte des Bundeskriminalamts in die neue Nachrichtendienstzentrale des BND in Berlin und verhafteten einen Mitarbeiter. Der 31-jährige Markus R. war Analytiker aus dem Stab EA („Einsatzgebiete/Auslandsbeziehungen“), zuständig für technische Unterstützung. Er war auch – wie er kurz nach der Verhaftung gestand – Spion für die CIA. Der nächste Skandal um amerikanische Geheimdienste in Deutschland war perfekt.

Der BND-Techniker hatte seine Dienste der US-Botschaft in Berlin per E-Mail angeboten und über einen Zeitraum von zwei Jahren Geheimpapiere an die Amerikaner geliefert. Für seine Dienste zahlten sie ihm rund 25.000 Euro.

Die Vorwürfe waren brisant.

Das Timing hätte nicht schlechter sein können.

Empörung kam aus ganz Europa.

Alliierte abhören

„Befreundete Länder kann man nicht einfach abhören, Daten absaugen, verarbeiten,“ ärgerte sich Österreichs Vizekanzler Michael Spindelegger. Er war eine von vielen Stimmen im In- und Ausland.

Dabei ist es die Aufgabe von Nachrichtendiensten, Politiker in befreundeten Ländern auszukundschaften. Das gilt für Skeptiker der US-Allianz wie auch für begeisterte US-Freunde wie Angela Merkel.

Für die USA ist die Bundesrepublik ein Partnerland, das Wirtschaftsbeziehungen zur aufstrebenden Atommacht Iran pflegt, enge Kontakte zu Russland unterhält und einen Ex-Kanzler hat, der auf der Gehaltsliste von Wladimir Putins Gazprom steht.

„Es gibt zwischen Staaten keine Freundschaften“, erklärte mir ein ehemaliger Präsident des Bundesnachrichtendienstes am Rande einer Sicherheitskonferenz. „Es gibt nur Interessen.“14

Da kann es niemanden ernsthaft überraschen, dass NSA und CIA ihre langen Ohren in Richtung Berlin ausstrecken. Spioniert wird überall und immer, auch unter Freunden. Das ist bekannt. Und wird abgestritten. Es ist der Beruf des Geheimdienstlers – lauschen, leugnen und – wenn es sein muss – lügen.

Die Empörung war scheinheilig.

Deutsche Dienste spionieren fleißig mit – auch gegen Freunde, auch gegen Amerika. Knapp einen Monat nach der Verhaftung des US-Spions flatterten Belege in die Redaktionen deutscher Zeitungen. Aufgetaucht – wahrscheinlich nicht zufällig – war das BND-Protokoll eines abgehörten Telefonats mit US-Außenministerin Hillary Clinton. Im Oktober 2011 hatte sie mit ihrem Handy aus einer amerikanischen Militärmaschine telefoniert. Dem BND liegt ein vollständiges Protokoll im Wortlaut vor.

Die Pressestellen der Regierung hatten gerade angefangen, die Dementi-Maschinen anzuwerfen, als kurz darauf ein weiteres Abhörprotokoll auftauchte. Clintons Nachfolger im Amt, John Kerry, wurde bei einem vertraulichen Nahost-Gespräch mit dem ehemaligen UN-Generalsekretär Kofi Annan belauscht.

Wie die Mitschnitte auf Festplatten des BND landeten, wurde nie geklärt. Der Regierungssprecher erklärte kleinlaut, es habe keine gezielten Abhörmaßnahmen gegen die amerikanischen Amtsträger gegeben. Die vertraulichen Mitschnitte waren im Rahmen anderer Operationen entstanden. „Beifang“ nannte man das beim BND.

„Idiotisch“ nannte es ein Regierungsbeamter. Eigentlich hätten alle Aufnahmen mit US-Politikern sofort gelöscht werden müssen. Sagte er. Dabei ist eines klar:

BND und CIA hatten beide die goldene Regel der Spionage gebrochen:

„Lass dich niemals erwischen.“15

Kurz nachdem die BND-Abhörprotokolle von Clinton und Kerry an die Öffentlichkeit gelangt waren, folgten Belege, dass die Bundesrepublik Deutschland auch andere NATO-Freunde belauscht. Ganz offiziell gehörte der NATO-Partner Türkei zu den erklärten Zielen der BND-Spionage. Seit vielen Jahren.

In einem geheimdienstlichen Grundsatzpapier aus dem Jahr 2009 wurde der Türkei eine hohe Priorität für den BND eingeräumt. Einige Tage später folgte die Enthüllung, dass der NATO-Partner Albanien ebenfalls langjähriges Spionageziel des BND war. Auch Maßnahmen gegen befreundete Länder wie Frankreich und Italien wurden ausdrücklich erwähnt.

Ja, Freunde spioniert man aus.

Das ist einfach so.

Enthüllungen, die keine waren

Edward Snowden hat seine Dokumente nicht gleichzeitig veröffentlicht. Wie ein guter PR-Manager wusste er, dass die Wirkung damit verpufft wäre. Er hat seine Pressemitteilungen in Paketen portioniert. Jeder Journalist sollte eine eigene Enthüllungsgeschichte bekommen – exklusiv für sein Heimatland, maßgeschneidert für seine Leserschaft. Die Veröffentlichungen erfolgten nach strengem strategischen Zeitplan, den Snowden mit seinem vertrauten Journalistenkumpel Glen Greenwald ausgearbeitet hat – mit Unterstützung der Wiki-Leaks-Anwältin Jesselyn Radack. Ungeklärt ist die Mitwirkung von russischen Ratgebern.

Auf jeden Fall hat Radack gern NSA-kritische Kommentare der russischen Presse angeboten. In einem Interview für Voice of Russia kritisierte sie massiv die Arbeit der US-Dienste. Russische Spionage erwähnte sie nicht.

Viele Dokumente, die Snowden groß ankündigte, waren kaum Enthüllungen. Aber Dokumente mit der Aufschrift „Top Secret“ kommen bei Journalisten immer gut an. Ihnen wird ein prominenter Platz und eine fette Schlagzeile eingeräumt. Dazu zählten PowerPoint-Präsentationen zur Orientierung von neuen Mitarbeitern. Sie trugen zwar die Überschrift Top Secret/NoForn (Geheim/für Ausländer gesperrt), beschrieben aber NSA-Programme nur in groben Zügen – ohne vertrauliche Namen, Gesprächsinhalte oder sensible Quellen.

Sie hatten die Brisanz eines Organogramms.

Mehrere Programme waren längst eingestellt.

Mauscheleien am Meeresboden

Für viele Bundesbürger waren die groß angelegten Lauschangriffe der NSA auf Unterseekabel schockierend. Für Eingeweihte nicht. Seit Jahrzehnten stehen sie in der Presse. Im Parlament und in der Politik hat man ausgiebig, langjährig und in aller Öffentlichkeit über die enge Zusammenarbeit zwischen NSA und der britischen Lauschbehörde Government Communications Headquarters (GCHQ) debattiert.

Bereits 1992 wurden Details der gemeinsamen Lauschangriffe in Anhörungen des US-Senats öffentlich. Seitdem ist bekannt, dass die gesamte Telekommunikation zwischen Nordamerika und Europa auf dem riesigen NSA-Stützpunkt Manwith Hill in North Yorkshire routinemäßig mitgeschnitten wird. Die Ergebnisse werten London und Washington gemeinsam aus. Supercomputer der NSA durchsuchen alle Gespräche nach Anschlüssen und Identitäten, Schlüsselwörtern und Stimmabdrücken, die aus Sicht der Spionagebehörde interessant sind.

Inzwischen sollen NSA und GCHQ über uneingeschränkten Zugang zu über 200 Unterseekabeln weltweit verfügen. Allein das NSA-Teilprogramm Tempora verdaut rund 21 Millionen Gigabyte am Tag. Rund 550 Analytiker von NSA und GCHQ sind mit der Auswertung beschäftigt.

Die größte Leistung bringt dabei Kollege Computer, der mit Künstlicher Intelligenz ihre Such- und Sortiersysteme immer weiter verfeinert.

Auch in deutschen Medien sind die groß angelegten Lauschprogramme der NSA seit Langem Thema. Im Jahr 2000 veröffentlichte zum Beispiel Der Spiegel geheime Details über das NSA-Programm Echelon:

„Dass die Vereinigten Staaten und Großbritannien mit ihrem Abhörsystem Echelon die eigenen Verbündeten ausschnüffeln, war ein offenes Geheimnis. Jetzt ist es keines mehr.“16