Elisa

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war. „Das klingt schön. Diese Schreckgestalt, wer war es?“ “Ein Geist, der kam , um Rache zu

üben.“ „Erzählen Sie mir mehr davon und lassen Sie uns nach unten gehen. Als wir über diese

Brücke gingen, die ein Ende des Tunnels war, stolperte sie und fiel beinahe über. „Wie dumm,

dass ich mir den Fuß verletzt habe.“ Sie lehnte sich kurz an mich, wobei ihr Haar mein Gesicht

streifte. „Ich ziehe auch den zweiten Schuh aus und schnappe mir einfach ihren Arm zum Halt.“

Ich hatte eine Gelegenheit, sie zu stützen, nachdem sie sich den zweiten Schuh ausgezogen

hatte und auf Perlonstrümpfen weiterlief. „Oh, die Pfuscher!“ schimpfte sie, als sie den Absatz

in der Hand hielt, der von ihrem Schuh abgebrochen war, der Schuh sah billig und brüchig aus.

„Ich werde mich beschweren gehen.“ Dann hakte sie bei mir ein und ging leichtfüßig den Weg

an meiner Seite, ohne zu klagen, wehleidig zu wimmern. Dort war am Schlossgraben ein See

mit Schwänen. Kurzweilig stoppte sie mich, um ihnen nachzusehen und atmete tief. Ich meine,

dass Passanten auf der anderen Seite nicht merkten, dass sie auf Strümpfen war. Eine Straße

führte in hundert Metern zu meinem Auto auf einem Kiesweg. Ich hielt ihr die Tür auf, während

sie sich auf den Beifahrersitz fallen ließ. „Jetzt haben Sie die schöne Aufgabe, mir diese Steine

von den Füßen abzulesen, David“, sagte sie und hielt mir ihr bestrumpftes Bein hoch entgegen.

Als ich es tat und ihren Fuß unter dem zerrissenen Strumpf untersuchte, zuckte sie zum ersten

Mal zusammen, dass sie quiekte: „Hu, das kitzelt.“ Dabei zog sie schnell ihr Bein an sich, dass

ich es fast ins Gesicht bekommen hätte. „Oh, dies tut mir leid, David! Kommen Sie, ich mache

es wieder gut.“ Sie strich mit ihrem Fuß über meine Wange, wobei ihr Perlonstrumpf knisterte.

Es war zwar kein Drei-Tage-Bart, doch hätte ich mich trotzdem vorher rasieren sollen. Bei der

Untersuchung des zweiten Fußes stellte ich eine tiefe, blutige Wunde fest. „Tut das nicht weh?“

„Nein.“ Sie schenkte dem keine Bedeutung, machte sich nicht einmal die Mühe, sie überhaupt

anzusehen. „Die Wunde muss gesäubert werden.“ Kein Wasser weit und breit, der Kanister in

dem Kofferraum war leer, den ich vergessen hatte zu füllen, weil ich hier in einer Fremde war.

„Finger anlecken!“ Ich zögerte. „Na los!“ So reinigte ich die blutende Wunde mit Spucke, wie

sie es sich im Sinne des umsorgt Werdens gern gefallen ließ, als hätte sie dies zuvor nie erlebt.

Ich fuhr danach in die Apotheke, um Verbandszeug zu kaufen. Sie amüsierte sich fast darüber.

„Das ist wirklich sehr freundlich von Ihnen, David!-Aber das wäre nicht wirklich nötig gewesen.

Trotzdem ist es ein wunderbares Gefühl, wenn sich einer sehr um einen kümmert und bemüht.“

Ich wollte sie erst einmal nach Hause fahren, bevor wir neue Unternehmungen starteten, doch

lehnte sie es strikt ab. „Wir können nach Kopenhagen fahren zu einem Schuhgeschäft, in dem

ich mir neue Schuhe kaufe. Dann kann ich von da aus nach Hause gehen. „Elisa, ich fahre Sie

dann nach Hause.“ „Nein, es ist nicht nötig, ich komme allein nach Hause.“ Sie schüttelte den

Kopf. Ich war verwundert. „Ja, soll ich Sie dann später abholen?“ „Heute Abend geht das nicht.“

„Sie meinen, Sie können heute Abend nicht mit mir essen gehen?“ „Ich denke, nein, es geht

nicht, so schön das hier wäre.“ Ich lenkte den Wagen rechts ein. „Und morgen vielleicht zum

Abendessen?“ „Morgen? Nein, morgen habe ich außerhalb von Kopenhagen zu tun, es geht

morgen nicht, so leid mir dies tut, wie schade!“ Sie lächelte, und ich schwieg. „Ich meine, ich

muss am Montag wieder abreisen!“ „Ich weiß, es geht jedoch wirklich nicht, heute Abend und

morgen, wenn das bestimmt wunderschön gewesen wäre.“ Ich war sehr verwundert,- dachte,

so ein Mädchen muss viele Verehrer haben. Ich wusste schon gar nicht mehr, warum ich das

machte. Ich war in dem Thema kein Profi. Wie es aussieht, will sie mich nicht wiedersehen.

Verdammt,- wenn ich das überhaupt beurteilen kann, hörte sich ihre Absage nicht glücklich

an. Heute morgen war sie noch übermütig und aufgekratzt, nun klang sie niedergeschlagen.

Es blieb nicht mehr viel Zeit. Das war das Dumme. Ich wusste nicht, was ich nun tun sollte.

Vielleicht musste sie die kranke Mutter pflegen oder den invaliden Vater versorgen, wovon

ich nichts wusste. Ach,- viel wahrscheinlicher war es, dass sie sich mit ihrem festen Freund

traf. Sie hatte Spaß gehabt an dem Ausflug und gerne mit mir geflirtet,- doch war vergeben!

Es könnte mir egal sein, schließlich wollte ich mit ihr nicht ins Bett. Ich war sehr enttäuscht,

was mich selbst am meisten wunderte, nur zu gern hätte ich sie noch einmal wiedergesehen.

Als wir Kopenhagen erreicht hatten, schlug ich ihr zwei Schuhgeschäfte vor und bat sie, ihr

ein Paar neue Schuhe kaufen zu dürfen. „Nein,- dies ist sehr freundlich von Ihnen. Ich weiß

genau, wohin ich will. Dort setzen Sie mich bitte ab, und ich sage Ihnen „Auf Wiedersehen!“

Würden Sie bitte an der nächsten Ampel links abbiegen, weiter geradeaus.“ Sie hatte wenig

Spielraum, dachte ich mir. Ohne Schuhe konnte sie nicht nach Hause laufen und auch nicht

den Immer-Bus nehmen. Sie musste sich von mir chauffieren lassen und dirigierte mich ins

aufregend öde Einkaufs-Center, das unheimlich überladen war mit billigen Ramsch-Sachen.

Auf einer Schaufensterscheibe stand in Leuchtziffern: „Heute 30% Rabatt auf alles Weiße!“

Ich stieg aus, als sie meinte: „Lachen Sie nicht, David, ich habe hier schon schön Tragbares

ergattert, wenn es auf den ersten Blick nicht so aussieht.“ Sie lächelte mich verlegen an, wie

es mir schien. „Ich lache gar nicht. Solch Center ist bestimmt eine gute Quelle und hat auch

Schuhgeschäfte, insbesondere für jene, die Ihnen abgebrochen sind.“ Dies war ganz ätzend.

Ich schämte mich ein wenig. „Das war die Enttäuschung und Wut, weil Sie so gefallen sind.

Ich fand die Schuhe hübsch. Ich war war nur denen böse, die Sie hereingelegt haben, das

ist alles.“ „Ich werde mich beschweren gehen.“ „Dafür fehlt jetzt Zeit. Außerdem hat dieser

Laden dicht.“ „Ich habe da schon viele schöne Sachen gekauft“, sagte sie entschuldigend.

Erst einmal war Elisa mit ihrem Latein am Ende. Als wir wieder in mein Auto stiegen, kam

es zu einer kurzen, unbeabsichtigten Berührung. „Ich bin auf eine Idee gekommen, Hippie!

Ich gehe barfuß nach Hause, ganz modern!“ sagte sie fröhlich. Ich war nah am Verzweifeln.

Zuerst dachte ich, ich höre nicht richtig.- „Elisa, mit der offenen Schnittwunde auf dreckigen

Bürgersteigen, nur ein Pflaster! Machen Sie bitte keine weiteren Einwände, wenn ich Ihnen

neue Schuhe kaufen möchte.“ Sie zögerte einen kleinen Moment, dann gab sie nach. „Es ist

reizend von Ihnen, David. Das ist wirklich äußerst nett von Ihnen.“ Dann fuhr ich sie zu Illum,

einem bekannten Schuhgeschäft in Kopenhagen, in dem Sie gewiss zwei Dutzende Schuhe

ausprobierte zum sichtbaren Verdruss einer schwer beladenen Verkäuferin. Sie lief stets im

Wandspiegel auf und ab, mit Entzücken über die Eleganz ihrer Füße, die sie zur Schau trug.

Nach einer Stunde entschied sie sich endlich für die hochhackigen, marineblauen Sandalen,

die ich mit Kredit-Karte bezahlte. Darin durfte ich sie bis zur Immer-Bushaltestelle begleiten.

Inzwischen wusste ich, dass es sinnlos war, sie umzustimmen. Sie wirkte traurig in Bedacht

auf Körperhaltung und Selbstkontrolle. Ihre Stimme bebte, als sie in Trivialitäten schwatzte,

mit der Selbstsicherheit, die ihr anscheinend nie abhanden kam, wie ich feststellen konnte.

Sie war betrübt. Ich hatte keine Lust zu Smalltalk. Ich sagte ihr traurig, wie sehr ich erhoffe,

dass wir uns wiedersehen, wenn ich nächstes Mal in Kopenhagen bin, ich wünschte es mir.

Ich dankte ihr für ihre Briefe und drehte mich kurz um zum Winken.- Dann fuhr der Bus los.

Ich sah ihm nicht nach, sondern verschwand wie rasch aus der Affäre in einer Seitenstraße.

Jani und Lotte hatte ich gesagt, dass ich am heutigen Abend nicht da sei. Obwohl es nichts

ausgemacht hätte, widerstrebte es mir, das nicht einzuhalten. Ich entschloss mich für einen

Kinofilm. Worum es dabei ging, kann ich beim bestem Willen nicht mehr sagen. Das Gute

daran war, dass mir eine Kinogesellschaft Beistand gewährte in dieser trostlosen Situation.

MEINE ENTSCHEIDUNG

Als ich Sonntagmorgen in der Badewanne lag, beschloss ich, dass ich Montag noch bleibe.

Kopenhagen würde ich zwei Tage später verlassen. Jani und Lotta flogen ins Ausland zum

Baden und Entspannen am Meer, sie machten in Spanien Urlaub. Ich müsste mir ein Hotel

suchen für die nächste Zeit. In Wahrheit wusste ich selbst nicht genau, wie dies weiterging.

Der Umtauschkurs der dänischen Kronen zu den englischen Pfund war teuer, die Hotels in

Kopenhagen auch. Ich verschwieg es Lotta und Jani, obwohl sie es verstanden hätten, aber

Glaube hinderte mich daran. Ich hatte Vertrauen zu ihnen und Bedenken ihres zu verlieren,

wenn sie meinen verlängerten Aufenthalt in Kopenhagen erfuhren und es nicht verstanden,

 

warum ich ihn geheim gehalten hatte. Kopenhagen wäre die letzte Stadt gewesen, in der es

verwunderlich wäre, wenn man einfach sagte, dass man sich in ein Mädchen verliebt hätte.

Dass man sich zu ihm hingezogen fühlt und nicht, weil man ihm Schuhe neu gekauft hätte.

Unser Ausflug war vorgestern. Meine Entscheidung entsprang aus reiner Phantasie heraus.

Nachdem ich Lotta und Jani zum Flughafen gefahren, ihnen gewinkt hatte, suchte ich nach

einem soliden Hotel. Ich stornierte meinen Flug, der eine Stunde später wäre, aß zu Mittag

und fuhr zurück nach Kopenhagen zum Krone-Hotel, in dem ich ein kleines Zimmer buchte.

„Spreche ich mit Elisa?“ „Oh, David, Sie sind nicht schon im Flugzeug nach London?“ Ich

wunderte mich über ihre aufgeschlossene Haltung, die keinerlei Teilnahmslosigkeit zeigte.

„Nein,- äh, ich habe hier noch Geschäftliches zu erledigen, ich bleibe noch kurze Zeit hier.

Wie geht es Ihrem Fuß?“ „Meinem Fuß? Oh, meinen Fuß hatte ich schon ganz vergessen,-

dem geht es gut.“ „Schön, Elisa, können Sie heute Abend mit mir essen gehen?“ „Nein, es

geht leider nicht heute Abend. Es tut mir leid, David. Doch bitte bedrängen Sie mich nicht.“

„Und morgen Abend, geht es morgen?“ Pause - „Moment, lassen Sie mich nachdenken. Ja,

morgen müsste es sich einrichten lassen. Ich denke schon, am besten, ich rufe nochmals an

im Krone-Hotel. Heute Abend melde ich mich zwischen sieben und acht Uhr abends. Aber

jetzt muss ich unser Telefonat beenden. Hier ist jede Menge los. Ich muss an meine Arbeit.“

„Gut, dann warte ich. Ich nehme den Hörer ab, bevor Sie zum zweiten Mal klingeln, Elisa.“

„David?“ „Ja? Machen Sie sich keine Bedenken. Ich glaube schon, dass das klappen wird.

Also dann, auf Wiedersehen, für heute Abend auf Wiederhören, ich freue mich schon sehr.“

Dreißig Stunden, die ich ohne sie durchhalten musste. Dreißig Stunden, in denen ich lieber

als Siebenschläfer überwintert hätte, als Motte im Schrank und als Raupe bis zu der letzten

Entpuppung, meiner endgültigen Entfaltung, die mich als Schmetterling davon fliegen ließ.

Dreißig Stunden, die ich gern als geschnürtes Paket in den See geworfen hätte. Ohne Elisa,

meinen Neuwagen und ohne positive Gesellschaft hatte ich keine Lust, irgendetwas zu tun.

Auch nicht auf Zerstreuung, ich konnte nicht den ganzen Tag durch viele Geschäfte laufen

oder mir Filme ansehen, die mich nicht interessierten. Gewiss hätte ich die dreißig Stunden

sinnvoll nutzen und mir Fachbücher ansehen können, die ich vor meiner Reise ins Gepäck

gesteckt hatte: Über königliche Porzellan-Manufaktur der Dänen und Engländer, Meißener

Porzellan-Malerei, die KPM in Berlin. Nein, das Fatale war, dass ich mich nicht einmal an

meinem beruflichen Interesse erfreuen konnte. Ein Dauerzustand durfte es nicht werden in

Anbetracht meiner Selbständigkeit. Im frühen Zustand bereitete mir das noch keine Sorgen.

Konnte ich überhaupt etwas tun, dann fiel mir genau das ein, was ich mit ihr gemacht hatte.

Ich fuhr nochmals zum See, ließ mir frischen Wind um die Nase wehen und ging spazieren.

Wie ein Eremit saß ich an einer ruhigen Stelle des Seeufers und versuchte meine Gedanken

zu sammeln. Auf einem langen Grashalm neben mir ließ sich ein gelber Zitronenfalter nieder,

der mich auf die richtige Idee brachte. „Oh, schau‘ nur, was für ein bildschöner Schmetterling!

Wie nennt man ihn auf englisch? Sie sind ein Mann, der immer etwas ganz Bestimmtes vorhat

und alles plant.“ Genauso war es. Bald würde ich im asiatischen Imbiss zu Mittag essen gehen.

Dieser schüchterne Einzelgänger, der keine Liebeserfahrung hat, war dem brillant schillernden

Schmetterling ins Netz gegangen? Nein, hinterher gesprungen auf einer Frühlingswiese bunter

Blumen, wie er sich von einer Blüte zur anderen schwang. Wenn dies Herr Larson auch nicht so

erkannt hatte, war das Mädchen eine phantastische Schönheit, was andere Männer auch sahen.

Meine Vermutung, dass sie haben konnte, wen sie wollte, war einfach klar. Dass ausgerechnet

ich, jener unerfahrene Liebhaber und geschäftstüchtige Junggeselle von ihr auserwählt werden

würde, war unwahrscheinlich. War ich wirklich verliebt? Wie konnte ich in ein mir völlig fremdes

Mädchen, von dem ich nichts wusste, das ich vor einer Woche zum ersten Male gesehen hatte,

verliebt sein? Ich war hier Ausländer und kannte mich in vielen Dingen nicht aus. Dies konnte

ein Reiz für sie sein. Vielleicht spielte sie einfach nur mit meiner Unwissenheit in jenem Land,

das sie kannte in all seinen Gebräuchen, aber ich nicht. Vielleicht machte das ihre Vorliebe für

mich aus? Die anderen könnte sie jederzeit haben. Doch nur einmal angenommen, ich war nun

wirklich verliebt, machte ich eine Narrenkappe aus mir, könnte man diesen Fortgang als reinste

Selbstquälerei bezeichnen. Was hatte ich bei Herrn Larson gesagt? Selbst, wenn ich mich zum

größten Narren Dänemarks machen würde, müsste ich unbedingt dieses Mädchen wiedersehen.

Doch wozu? Ich war kein Schmetterling-Experte .Warum hier bleiben und sich selbst weh tun?

Wäre es nicht besser, nach dem morgigen Treffen Kopenhagen zu verlassen und nach England

abzureisen? Noch bevor sie sagen konnte: „Lieber David, das war alles wunderschön! Sie sind

ein wahrhaftiger Gentleman. So schrecklich leid es mir auch tut, muss ich Ihnen sagen, dass es

kein weiteres Treffen mehr geben darf. Ich danke Ihnen ganz herzlich und wünsche Ihnen alles

Gute!“ Sie konnte bestimmt sein, das hatte sie bereits gezeigt. Dann wäre es zu spät für mich in

der Entscheidung, die ich nun treffen sollte. Ich warf Stöckchen ins Wasser, die kein Hündchen

zurück holte. Ich trat gegen gefällte Baumstämme, was ich bei lebenden Bäumen nicht gemacht

hätte. Da wurde es mir bewusst. Wir hatten auch manches gemeinsam, unsere Liebe zur Natur.

Als ich so nach 16 Uhr zurückfuhr, kam ich unerwartet in dichten Berufsverkehr mit zusätzlicher

Schwierigkeit,- auf der Gegenfahrbahn links zu lenken. Rechtsverkehr war für mich ungewohnt.

Das ließ mich eine Nebenstraße verpassen, in die ich einbiegen musste. Ich lenkte nach rechts

und machte die Dreipunkt-Wendung. An der nächsten Kreuzung nahm ich die erste Ausfahrt in

die Parkstraße. Es war der Park in der Nähe des Hotels, als ich plötzlich zwei junge Frauen auf

einer Bank nebeneinander sitzen sah, nur kurz, schon war ich dran vorbei. Eine der Frauen war

nach meinem vagen Gefühl Elisa, für einen flüchtigen Augenblick, der durch Sträucher auf eine

Grünfläche fiel, auf dem zwei kleine Mädchen spielten. Ein so schöner, milder Abend, die Kinder

streunten, Spaziergänger zwischen den Blumenbeeten, dann wieder eine Bank, auf der sich die

Parkbesucher erholten und plauderten. An jener Bank hatte eine Linde gestanden, was für mich

ein unumstößliches Erkennungsmerkmal war. Ich rannte durch den Park, dass es beinah auffiel.

Doch als ich endlich an der Linde angekommen war, war keiner mehr dort. In weiter Entfernung,

fast aus der Sichtweite, sah ich verschwommen die Silhouette der beiden Frauen. Ich legte jetzt

nochmal zu einem Endspurt an, was vor einem Abendessen nicht zum Nachteil war. Als ich bei

der Hecke angekommen war, hinter der ich zwei Mädchen verschwinden sah, konnte ich außer

einem Parkwächter niemanden mehr entdecken. Ich fragte ihn, ob er junge Damen, die hier vor

kurzem vorbeigelaufen seien, gesehen hätte. Er lächelte mich durch die gespreizten Finger der

Hand an und sagte: „Sehr viele junge Damen sind hier heute im Park vorbeigelaufen.“ Ich gab

endlich auf und ging zu meinem Wagen zurück. Wenigstens fand ich keinen Strafzettel auf der

Frontscheibe wegen dreißig Minuten unerlaubten Parkens im uneingeschränkten Halte-Verbot.

DAS KLAVIERKONZERT - 6. KAPITEL -

„David?“ „Elisa, hatten Sie einen erfolgreichen Tag?“ „Kennen Sie einen Trick, den Montag in einen

erfolgreichen Tag zu verzaubern?“ „Aber ja, ich kann ihn jetzt rüber senden, falls Sie es wünschen.“

„Oh, das wäre sagenhaft. Ich glaube, das geht nicht. Ich habe heute schon mal früher versucht, Sie

zu erreichen. Sie waren leider nicht da.“ „Das hätte ich wissen sollen. Ich war in Soreg.“ „In Soreg,

wie schön!“ „Mit Ihnen zusammen wäre es noch schöner gewesen.“ „Sie sind ein Glückspilz. Ich war

nur im Büro, nicht mehr. David, hören Sie, ich kann morgen Abend. Im Jiol gibt es ein Klavierkonzert.

Wäre das nicht schön?“ „Es wäre wunderbar. Ob ich dafür noch Karten bekomme?“ „Vielleicht über

das Hotel?“ „Da gibt es sicher jemanden, der für Ausländer die Tickets besorgt. Sie hängen sich eine

Kamera um, spielen amerikanisch.“ „Vielleicht bekomme ich es auch auch ohne dieser Verkleidung.“

„Also zehn Minuten vor acht Uhr im Foyer.- Bis dann!“ „Kein Essen vorher?“ „Nein, lieber danach.

David, ich muss mich beeilen. Die Sprechzeit läuft ab.“ „Sie rufen aus einer Telefonzelle an?“ „Jah.“

„Wenn Sie keine Karten mehr bekommen, melden Sie sich bitte im Büro für die neue Verabredung.“

„Natürlich, Elisa, ich habe Sie heute schon mal gesehen.“ „Mich? Wo?“ „Im Park auf einer Bank an

der Linde. Ich wollte zu Ihnen. Doch ich fand so schnell keinen Parkplatz. Plötzlich waren Sie weg.“

Ich hatte sie verpasst und war sehr enttäuscht.“ „Oh!“ Kurzes Schweigen. „Dann müssen Sie auch -

piiep – gesehen haben. Piiep, piiep, piiep, piiep. Als es aufhörte, sagte Elisa noch: „Morgen Abend!“

Dann war die Leitung tot.

Elisa kam grade rechtzeitig, dass wir unsere Plätze finden konnten, bevor das Orchester einstimmte.

Die Ouvertüre in ihren ersten Klängen, als wir vorn im Parkett Platz nahmen, wo sie sich umschaute.

Die Atmosphäre nahm sie in sich auf wie der Garten Eden den Regen. Im Foyer war sie noch in Eile.

Glücklich suchte sie meinen Blick, der mir sagte, dass es wunderbar sei, was sie beobachten könne.

Ihre Hand lag auf meiner und mit seichtem Druck flüsterte sie: „David, ich danke Ihnen von Herzen!“

Als der Dirigent seinen tosenden Applaus bekam, während er auf sein Podium stieg, half ich ihr aus

dem Cape. Sie legte es sorgsam gefaltet über die Lehne des Sitzes, wo sie sich in Freuden-Seufzer

nieder ließ. Die kleine Tasche, die sie im Kopje-Restaurant trug, nahm sie auf ihren Schoß. Darunter

legte sie das Programmheft, das ich ihr hinreichte, ohne einen Blick hinein zu werfen. „Himmelwärts“,

jubelte sie leise, da endloses Applaudieren den Dirigenten mit Orchester daran hinderte zu beginnen.

Während Cello und Kontrabass in tiefer Brandung anhoben, merkte ich, wie sich Musik neben dieser

Frau erleben lässt, die darin gänzlich aufgeht ohne Worte und einer Bewegung, als nur dem Symbol,

dass sie mir gleich davon schwimmen würde, darin untertauchen, um an ein neues Ufer zu stranden.

Zum Ende des ersten Musikstücks klatschte sie mit dem Publikum laut Beifall und neigte sich mir zu:

„Ist das nicht schön? Man meint, man könnte drin schwimmen.“ „Das wäre Norden, ganz schön kalt!“

„Haben Sie denn gar kein Blut in den Adern?“ Der Dirigent ersparte mir meine Antwort mit C-Moll für

Mozart‘ s Tutto, das noble, erste Thema einer Tragödie, es prophezeite die bessere Welt im Jenseits.

Vielleicht war es der Auftakt zum jüngsten Gericht. Diese Vervollkommnung in seinen Kompositionen

hätten Komponist und ausführendes Konzert nicht besser darbieten können. Manchmal stehen wir in

der geheimnisvollen Macht, die Nähe Gottes zu spüren. Als würden wir wie Vögel gegen diese blick-

durchsichtige Scheibe fliegen und könnten kurz ins Himmelsreich schauen, wobei wir gleichzeitig in

Anbetracht der Fensterscheibe daran abprallen. Wir haben ein Licht wahrgenommen, das dann auch

bleibt, wenn wir wieder zurückgefallen sind. Nicht aus einem Leid, aus einer Freude erschien das hell.

 

Seit Beginn des Konzerts war ich auf diese Musik eingestellt. Elisa war eingetreten in die andere Welt

wie ein Taucher am Algengrund. Meine Aufmerksamkeit wurde neben ihr höher, schweifte niemals ab,

manchmal hörte ich drei bis vier Dinge gleichzeitig, was mich Mozart gewiss auch hören lassen wollte.

Seine Musik und ich waren deckungsgleich. Dort gab es einen Stern, der tanzte, darunter war ich mal

geboren. Damit ging die spontane Gefühlsreaktion des Kindes einher. Darunter sind wir alle geborgen.

Als das Larghetto in strahlender Schlichtheit ausgeklungen war und eindringliche Moll-Variationen des

letzten Satzes begannen, merkte ich die körperliche Veränderung. Im Augenwinkel warf ich Elisa einen

Blick zu, sie weinte lautlos ohne Regung. Ich berührte sanft ihren Arm. Sie blinzelte selbst verleugnend

durch ein leises Lächeln und flüsterte mir zu: „Er sagt, es geht zu Ende. Es muss sein und geschehen!“

Nachdem der Dirigent gebührend den verdienten Applaus mit Bravo-Rufen entgegengenommen hatte

und auch die Hand der ersten Geige und den übrigen, die in ein Blickfeld gerieten, vernahm, fragte ich

Elisa, ob sie in der Pause zur Erholung oder zum Drink hinausgehen möchte. Sie schüttelte ihren Kopf,

legte sich zurück in die Stuhllehne und rieb sich daran die Schultern. „Müssen wir irgendwo hingehen?“

Wir unterhielten uns über die Musik in England. Ich erzählte von der Festspielhalle. „Man kann da den

Zug nicht hören, obwohl er draußen nur fünfzig Meter entfernt ist, da vorbeifährt an der Festspielhalle?“

„Nein, aber drinnen hört man das leiseste Geräusch. Die Proportionen der schwarz-weißen Logen sind

so aufgeteilt, dass sie aussehen wie die Berg- und Talfahrt auf dem Jahrmarkt. Wie bei einer Kommode,

bei der alle Schubladen offen stehen.“ „Es ist lustig. Dann können große Menschen oben sitzen und die,

die bald heiraten, unten.“ Ich musste unwillkürlich lachen, was ich nicht zurückhalten konnte in meinem Erstaunen. „Elisa,- so schnell können Sie einheimische Gewohnheiten in fremder Sprache verstehen?“

Ich war total verblüfft. „Bei uns heißt dies: „Wenn scheint die helle Sonne, dann ist mein Leben Wonne.

Können Sie übersetzen?“ “Auf englisch heißt das: „When the bright sun is shining, then life is delight. Is

pure delight.“ „Na, es ist meine Wonne, Albernheiten zu sagen, wenn sie mir erscheinen. Aber gibt es in

England nicht noch eine zweite sehr berühmte Konzerthalle?“ fragte sie, ehe ich auf das Erste reagieren

konnte. “Ich habe in einer Illustrierten darüber gelesen.“ „Benjamin Britten Snape.“ „Richtig, ich hatte den

Namen vergessen.“ „Das ist die beste Halle, die es überhaupt geben kann! Bei jedem Festival verfällt die gesamte Umgebung der Musik von den Kirchen über Gemeinden bis zu den Kindergärten. Alle lösen sich

auf in Tanz mit Gesang. Berühmte Künstler aus der ganzen Welt kommen. Sollten Sie bald nach England kommen,“ Ich unterbrach plötzlich meinen Satz und hielt inne. „ Ja, David?“ Lachend gab sie ihrer Tasche

mit den Knien einen kleinen Schubs und fing sie wieder auf. „Na ja, ich wollte nur sagen, wenn Sie jemals

nach drüben kämen, werde ich mit Ihnen hinfahren, wie ich es mit den anderen Freunden gemacht habe.“

„Das wäre schön“, erwiderte sie ernst. „Ich würde sehr gern zu euch und eurer Musik kommen.“ Nach der

Pause folgte jene Suite von Mendelssohns. Ich interpretierte diese bekannte, italienische Symphonie, die gediegener war als die vorherige Sonate, wie für den fürstlichen Salon gemacht. Seit jener Pause blieben

die Plätze neben Elisa frei, dass sie ihr Cape darüber legte. Sie hatte jetzt mehr Platz, ihr Entzücken über Kompositionen mit ihrer Gestik auszudrücken sowie eine natürliche Erscheinung. Klang etwas beschwingt, wippte sie leicht, bei dem langsamen Rhythmus wog sie sich sowie Ähren seicht im Wind, neigte den Kopf

und schloss die Augen. Die nächste Komposition hätte mein Vater betitelt als „Balzruf der Amsel“, als hätte

sich eine Amsel ihre Kehle herausjubiliert. Daraufhin folgte eine Art Pilger-Prozession auf dem Jakobsweg.

Die Musikauswahl war so abwechslungsreich, dass für jeden Geschmack etwas dabei war und endete mit

einer Blechbläser-Suite, die in strahlenden Klängen eine Wärme und Wonne heraus posaunten, die sogar

mich in Euphorie versetzten, ein überraschendes Konzertende, das für mich den ganzen Abend über blieb.

Ich beteiligte mich an diesem endlosen Applaus, der auf ein Dakapo hoffte und seinen lauten Bravo-Rufen.

Elisa ließ unzählige Gäste an sich vorbeigehen, um sich dann wieder zu setzen und zu seufzen: „Und jetzt müssen wir wieder auf die Erde zurück.“ „Ja, doch mit vollster Zufriedenheit! Es war eine wundervolle Idee,

in dieses Konzert zu gehen.“ „Was hat Ihnen am besten gefallen davon?“ „Das sage ich nicht, weil man so

etwas auch nicht fragen sollte. Wie kann man das Beste fallen lassen aus dem Besten? Es heißt, wenn ich

Ihre Frage beantworte, wird davon etwas einbüßen. Was machen wir jetzt?“ „Wir könnten etwas essen und trinken gehen.“ „Etwas? Wir sollten uns ernähren, David. Nur ein wenig? Wir gehen ein ganzes Abendmahl essen. Etwas reicht nicht aus.“ „Und wir brauchen neue Gespräche. Sie haben heute noch gar nichts von

sich erzählen können.“ „Bin ich eine Plaudertasche oder ein Plapper-Kasten?“ „Ein süßer Pralinen-Kasten!“

„Süßer Kasten voll Konfekt“, wie der Dichter sagt. Ich sage, dass ich Ihnen heute nicht mal zuhören konnte,

da ich dem Konzert gelauscht habe.“ „Dann muss ich Ihnen etwas vorsingen beim Abendbrot“, jauchzte sie

in ihrer warmen, weichen Stimme. Während des Essens, das mir im Sinne eines Kontostandes so langsam Kopfzerbrechen bereitete, sprach sie von nichts anderem als über Freundinnen, Stricken und Aquaristik an

langen Abenden im Zusammenhang der letzten Ferien in Amsterdam, vom Kochen, der fremden Rezepten.

Es hörte sich an wie der Gesang eines Vogels. Als Mensch musste sie Wörter dazu benutzen, doch war es unwichtig. Ich, ihr Zuhörer konnte nicht genug davon bekommen. Ich hörte ihr gerne zu. Plötzlich sagte sie:

„Sie haben mich gestern im Park in der Nähe des Hotels gesehen?“ „Ja, unter einer Linde.“ „Dann müssen

Sie auch Anne gesehen haben und das kleine Mädchen.“ „Mag sein, ich habe eine junge Frau neben Ihnen sitzen gesehen. Es wird dann Anne gewesen sein, da sie sich mir nicht vorgestellt hat, kann ich nicht sagen,

ob sie es war. Kleine Kinder habe ich gesehen, aber ein besonderes kleines Mädchen war nicht erkennbar.“

„Ach so, nun gut, wir sind mit ihr in den Park gegangen.“ „Wie alt ist Annes kleine Tochter?“ „Drei Jahre, fast vier.“ „Ich sollte es ganz genau wissen. Anne ist vielleicht ihre Freundin?“ „Sie wohnt im Erdgeschoss.“ „Und,

sie ist verheiratet?“ „Nein.“ „Ach.“ Ich lächelte. „Dann hat sie nur dieses kleines Mädchen?“ „Ja.“ Sie wandte sich um und rief den Kellner: „Tjener!“ Als er gekommen war, bat sie ihn um ein neues Kännchen Kaffee mit

Milch und Zucker. Sie schenkte mir und sich ein, gab Milch und Zucker zu, rührte um, kostete ab, gab mehr Milch dazu, sprach weiter. „Doch gibt es da jemanden, der sie heiraten möchte, und sie glaubt, dass sie ihn nehmen würde.“ „Wie schön für Anne, wollen Sie damit sagen, dass er nicht der Vater jenes Mädchens ist?“

„Nein, ein anderer.“ „Er hat nichts dagegen, das kleine Mädchen zu übernehmen?“ „Sollte er?“ „Ja, natürlich nicht. Nein, wobei ich nicht glaube, dass es mir besonders gefallen würde. Vermutlich könnte es mich sogar völlig aus der Fassung bringen. Ich denke, neue Umstände können manches ändern, ich kenne weder Anne noch den Mann oder dieses kleine Mädchen. Ich hoffe, sie werden alle glücklich. Lassen Sie es mich wissen, wann die Hochzeit stattfindet. Sie werden doch schreiben? Ja? Ich wollte Sie fragen, ob ich Ihnen schreiben darf? Wenn ja, ob Sie es mir auch beantworten, Elisa?“ „Vielleicht!“ Sie schwieg eine kurze Zeit. „Oh, es war

ein schöner Abend. So schade, dass er zu Ende gehen muss. Er kommt zurück, er kommt immer zurück. Ja,

ob ich zur Hochzeit gehe, weiß ich noch nicht. Aber jetzt muss ich nach Hause.“ „Aber warum, so spät ist es doch gar nicht. Bleiben Sie noch. Ich fahre Sie nach Hause, keine Sorge.“ „Nein, ich muss jetzt gehen, doch

Sie können mitkommen zum Immer-Bus.“ Als ich ihr ins Cape half, trafen sich unsere Blicke im Garderoben-Spiegel. „David, warum die Stirnfalten? Sie sehen ernst aus. Was ist?“ „Entschuldigung, ich war gedanklich

beim Mozart-Konzert. In gewisser Weise ist das eine ziemlich schwierige Sonate.“ „Wirklich? Warum?“ „Der

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