Wie ich Betti nach drei Monaten im Schrank wiederfand

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5. Wohnzimmer Hofer

Die Kiesauffahrt wirkt gepflegt. Unter der Klingel neben dem Gartentor blinkt die Linse einer Kamera. Auf dem Messingschild ist der Name Hofer in der schwer lesbaren Schriftart Old English eingraviert. Er hatte sich zwar angekündigt, trotzdem dauert es drei Minuten, bevor das Tor elektrisch geöffnet wird. Entweder lieben die beiden Gartenarbeit oder sie haben einen Gärtner angestellt. Die Blumenbeete wirken gepflegt, der Rasen wurde frisch gemäht. Neben der Eingangstür stehen zwei Terrakottakübel mit blühenden Margeriten.

»Guten Tag. Ich bin Kriminaloberkommissar Muckel und ermittle im Fall Ihrer vermissten Tochter Bettina Hofer-Rohwinkel. Darf ich Ihnen dazu einige Fragen stellen?«

»Ach, die arme Betti. Kommen Sie doch herein. Natürlich wollen wir der Polizei helfen, sie schnell zu finden.«

Sie setzt ihm ohne Nachfrage eine Tasse Tee vor, der nach frisch gepflückter Minze schmeckt. Auf dem Tellerrand liegen zwei Kekse; die erinnern ihn an den Hundekuchen, den seine Verlobte für ihre Daisy kauft. Die Hofers sitzen nebeneinander auf dem Sofa. Sie lächelt und er zieht ein griesgrämiges Gesicht.

»Sie sind Hildegard und Christian Hofer und arbeiten in der Stadt in Ihrem eigenen Buchgeschäft ›Hofer’sche Schätzchen‹. Ihre Töchter Bettina und Judit sind beide verheiratet und Sie besuchen sie wöchentlich. Ist das alles korrekt?«

Während Herr Hofer missmutig bleibt, überrascht sie mit einem Wortschwall.

»Besonders auf die Töchter muss man aufpassen. Auch wenn sie volljährig sind, heißt das bei Weitem nicht, dass sie vernünftig geworden sind. Und glauben Sie etwa, eine von den Mädels hätte uns vorher gefragt, ob sie den richtigen Mann heiratet? Pah. Beide haben immer das gemacht, was ihnen in den jungen Jahren gerade in den Sinn kam. Und wir können es wieder ausbügeln. Und wer leidet drunter? Die kleine Miriam. Ja, Judit könnte auch schon Kinder haben. Wir würden uns ja so gerne noch einen Enkelsohn wünschen. Aber Lars ist immer so lange in der Klinik. Danach ist er total erledigt und kommt nicht mehr zum Enkelzeugen. Es ist eine Schande, wie das Personal in den Krankenhäusern heute ausgebeutet wird.«

Muckel nimmt das jungfräuliche Notizbuch im DIN-A5-Format in die Hand. Auf der Vorderseite ist es mit einem Aufkleber Vermisstenfall Bettina Hofer-Rohwinkel versehen. Er schlägt bedeutungsvoll die erste Seite auf. Dann startet er die Eintragungen mit einer Schlangenlinie, die sich über die gesamte oberste Zeile erstreckt.

»Ein Arzt als Ehemann geht ja in Ordnung, aber ich habe nicht den Eindruck, dass er besonders gut zu unserer kleinen Judit ist. Und Bettina mit ihrem Jens? Wenn Sie mich dazu fragen, dann …«

»Frau Hofer, Herr Hofer, haben Sie irgendeinen Verdacht, wer Ihre Tochter entführt haben könnte? Hatte sie merkwürdigen Umgang? Entschuldigung, das muss ich Sie jetzt fragen, gab es da jemanden? Freund, einen Bekannten oder sogar einen Geliebten?«

Christian Hofer ist aus seiner passiven Haltung erwacht und setzt den gezeigten Missmut problemlos verbal um.

»Wir verbitten uns derartige Unterstellungen. Beide Töchter haben eine strenge und vorbildliche Erziehung genossen. Die Treue in der Ehe wird bei uns als höchstes Gut geschätzt. Nach solchen Anschuldigungen sollten wir das Gespräch besser beenden.«

Über die zweite Zeile des Notizbuchs generiert Muckel eine Zickzacklinie mit scharfen Kanten. Dann kramt er umständlich in der Aktentasche nach dem Blatt mit den aufgeklebten Fotoschnipseln.

»Können Sie mir sagen, ob Sie eine der Personen auf dem Foto erkennen?«

»Ach du meine Güte, welchen Schund müssen wir uns denn noch ansehen. Christian, mach doch endlich was!«

Der zieht die Brille auf die Nasenspitze und hält sich das Bild nahe vor das Gesicht.

»Mit derart gottlosem Schmutz belästigen Sie uns? Das ist eine Schande, was wir uns von Ihnen gefallen lassen müssen.«

Muckel sieht sich das Foto an und überlegt, ob die Bezeichnung angebracht ist.

»Das ist nicht gottlos, das ist ein Coitus a Tergo. Ich kenne in der Bibel keine Stelle, in der …«

Christian Hofer unterbricht seine Ausführungen mit einem kräftigen »Gottlos!« Irritiert blickt Muckel zuerst ihn an, dann die zwei Linien auf der ansonsten leeren Seite.

»Nun gut, vertagen wir die Antwort auf diesen religiösen Aspekt. Meine Frage war, ob Sie von den beiden jemanden erkennen?«

Er hält das Foto noch einmal hoch. Frau Hofer wendet entrüstet ihren Blick ab, nur ihr Mann sieht hin.

»Die Dame kennen wir nicht, aber den Jungen schon. Das ist Tobias Kramp. Er gibt unserer Enkelin Miriam Nachhilfe in Mathematik.«

Seine Frau fuchtelt mit den Armen.

»Waas? Der junge Mann dreht jetzt auch noch Pornos? Ich habe es meiner Betti immer schon gesagt. Betti, sag ich, hol dir einen richtigen Lehrer. Besser einen Professor von der Universität. So ein Maschinenbaustudent hat doch von Mathematik keine Ahnung. Wahrscheinlich finanziert er mit dem Schmutz sein Studium. Es ist schlimm, zu welchen Strohhalmen die jungen Leute heute greifen müssen.«

Mitten auf der ersten Seite des Notizbuches erscheinen zwei Buchstaben und ordnen sich zu TK. Sie werden von stilistisch missratenen Fragezeichen flankiert.

»Haben Sie weitere Hinweise für uns? Selbst Kleinigkeiten können hilfreich sein.«

Frau Hofer hebt bedeutungsvoll den Zeigefinger.

»Kleinigkeiten? Ich habe die entscheidenden Beweise für Sie. Wenn die Giftspritze von Nachbarin meine Familie schlechtreden will und falsche Behauptungen in die Welt setzt, sollten Sie da mal nachhaken. Ich sage nur Tilman. Ihr guter Ehemann hat bei uns im Buchgeschäft oft Autorenlesungen abgehalten. Ein sehr netter und intelligenter Autor ist er, oder besser … war er. Eine neue Beziehung in Berlin? Lachhaft. Wissen Sie, was er uns verraten hat? Er wollte sich scheiden lassen. Jawohl. Der Sohn, dieser haschrauchende Lukas, der ist niemals von ihm. Den guten Tilman hat sie nach Strich und Faden betrogen und bei Jens hat sie es auch versucht. Aber da hat sie auf Granit gebissen, der war meiner Betti immer treu. Als Kathi erfahren hat, dass Tilman sie verlassen wollte, sie dann ohne Geld dasteht, hat sie ihn vergiftet. Prophylaktisch sozusagen. So war das. Wenn er bei uns war, hat er ständig über Bauchschmerzen geklagt. Bei Arsen ist das so. Die Leiche hat sie später im Garten vergraben. Wir haben selbst gesehen, wie sie ein tiefes Loch gebuddelt hat. Untergetaucht? Von wegen. Verschwindet ein Autor, ohne seine geliebten Bücher mitzunehmen? Niemals. Nein, Tilman liegt verscharrt im Rosenbeet. Mit Arsen vergiftet. Da sollten Sie besser nachgraben, nicht in unserer Familie.«

Der Bleistift bleibt zitternd über dem leeren Teil des Blattes stehen. Seine Lippen formen schwer verständliche Wörter.

Betrogen, Bauchschmerzen, Arsen, verbuddelt, Rosenbeet. TK. Wer war TK noch mal? Sie hat gesagt, ich darf nur einer Spur nachgehen. Rosenbeet? TK?

Muckel bedankt sich artig für den Tee und die wertvollen Informationen. Die Kekse bleiben auf dem Tellerrand liegen. Befriedigt nickt er der ersten Seite seines Heftchens zu. Hier runden drei Linien sowie ein TK, das von zwei Fragezeichen unterschiedlicher Größe flankiert wird, das Ermittlungsergebnis ab.

»Rosenbeet. Klingt wie aus einem Pilcher-Schmalzroman. So etwas gibt es im wirklichen Leben nicht.«

6. Kellerraum, 17. März

Anfangs wirkte es wie ein Nebelfleck, der in der Mitte gelblich und an den Seiten grau leuchtete. Nach endlosen Minuten wurde er zur Scheibe, etwa so groß wie ein Frisbee, nur heller. Das Licht schmerzte und sie musste die Augen fester zudrücken. Überhaupt tat so einiges weh, der Rücken, die Beine, aber absolut unerträglich erschienen die Kopfschmerzen. Sie nahm sich vor, mindestens zwei Aspirin zu schlucken, wenn sie dazu wieder in der Lage sein sollte.

Lider geschlossen halten, nachdenken. Wann war sie abends nach Hause gekommen? Oder war es schon morgens? Doch da war nichts als eine Erinnerungslücke. Was ebenfalls fehlte, war ein Schluck Wasser. Besser zwanzig. Ihre Kehle fühlte sich staubtrocken und kratzig an. Beim Gedanken an ein Riesenglas Sprudelwasser mit einer Zitronenscheibe machte sich die Blase bemerkbar.

Doch was hing da oben? Das war nicht ihre Designer-Schlafzimmerlampe, sondern eine nackte Glühbirne.

Wer zum Teufel hat in meinem Schlafzimmer eine nackte Glühbirne aufgehängt?

Zur Beruhigung musste sie wieder die Augen schließen und mit der rechten Hand auf den Nachttisch greifen. Da sollte die Flasche Wasser stehen. Für Aspirin oder sonst was. Aber da stand nichts. Es gab auch keinen Nachttisch. In dem Moment stieg die erste Panik in ihr hoch. Ruckartig setze sie sich im Bett senkrecht, was dazu führte, dass ihr Magen rebellierte.

Ins Bad, ich muss in zwei Sekunden im Bad sein.

In der Speiseröhre schob sich bereits etwas Säuerliches empor, als ihr in höchster Not die Kloschüssel ins Auge sprang. Nicht ihre eigene, die mit dem Softclose-WC-Deckel in Hochglanzweiß, sondern eine ziemlich schmutzige ohne Deckel und Klobrille. Aufgrund der akuten Notlage verdrängte sie alle hygienischen Bedenken und kniete sich mehr ergeben als überzeugt vor das Unding. Die anschließenden Geräusche und den Geruch fand sie so widerwärtig, dass sie der Schüssel drei Bonuszulagen spendierte.

Das Kratzen im Hals ersetzte ein Brennen, das die Atmung erschwerte. Sie negierte den hygienisch erbärmlichen Zustand des Waschbeckens links neben dem Klo und hielt ohne Rücksicht auf Frisur und Schminke den Kopf unter den Wasserhahn. Sie ließ gefühlte zwei Liter in sich hineinlaufen, bevor ihr der Gedanke kam, dass zu viel Chlor mittelfristig ihrem Teint schaden könnte.

 

Das ungute Gefühl wurde rasch durch den zunehmenden Druck der Blase überspielt, der zu einer zweiminütigen Pinkelorgie auf der brillenlosen Schüssel führte.

Da anschließend wieder die Kopfschmerzen Oberhand gewannen, startete sie den erneuten Versuch, mit geschlossenen Augen auf der Pritsche die Erinnerungen zurückzurufen. Langsam dämmerte es ihr, dass dies nicht ihr Zuhause war. Auch kein Krankenhaus. Hatte die Bahnhofsmission sie aufgegriffen? Aber selbst die verfügen sicherlich über gastlichere Quartiere. Polizei? Zelle? Haben die Innenzellen ohne Fenster? Und überhaupt, wer hatte sie umgezogen? Das war nicht ihr eigener türkisfarbener Jogginganzug. Den hier hatte sie noch nie gesehen und er entsprach auch nicht ihrem Kleidungsstil. Zusätzlich zierten ihre Füße zwei rosafarbene Plüschpantoffeln mit einem Katzengesicht. Schrecklich.

Wo waren ihre Michael-Kors-Pumps geblieben? Das Vierhundert-Euro-Armani-Kleid und der Neunhundert-Euro-Etro-Mantel? Ein Blick unter den Baumwollanzug bestätigte, dass sowohl der La-Perla-Push-up als auch der String fehlten. Ihre eigenen Kleider, die sie in stundenlanger Shoppingtour zusammengestellt hatte, konnte sie nirgends entdecken.

Aber vielleicht war das hier eine Notunterkunft. Empört rannte sie zur Tür und schlug sich in den ersten drei Minuten die Handflächen rot.

»Hallo! Hilfe! Aufmachen. Ich bin hier drin. Hiiilfe!«

Aber die graue Metalltür gab bei jedem Schlag lediglich ein moderates Wumm von sich. Ansonsten zeigte die sich durch ihre Attacken unbeeindruckt. Auch die Klappe an der Unterseite der Tür ließ sich keinen Millimeter bewegen.

Deshalb fand sie es angemessen, sich zunächst weitere zehn Minuten auf der Pritsche liegend den Kopfschmerzen und den neu hinzugekommenen Prellungen an den Handflächen zu widmen. Tränen hatten ihr bislang oft geholfen, ihren Willen durchzusetzen. Diesmal schienen selbst die niemanden zu interessieren.

Denk nach! Denk nach! Du bist doch nicht blöd! Los erinnere dich! Wie bist du hier hingeraten? Was machst du hier? Wer hat dich gebracht? Wo sind deine Tabletten? Wie überlebst du die nächsten zehn Stunden ohne Aspirin und weißes Pulver? Hat Miriam heute Morgen ihr Müsli bekommen?

Sie bemühte sich, in den weiteren dreißig Minuten die Fragen zu beantworten und gleichzeitig ihre schmerzende Hand zu massieren. Beides blieb ohne erkennbare Ergebnisse. Stattdessen machte sich wieder ihr trockener Hals bemerkbar und sie spendete ihm aus dem mit Infektion drohendem Hahn einen weiteren Liter Chlorwasser.

Wo ist mein Handy? Gibt es hier kein Telefon? Eine Sprechanlage?

Ihr flatternder Blick glitt an den Wänden entlang, doch außer der Installation der Sanitäranlagen und einem zwanzig Zentimeter runden Lüftungsgitter erkannte sie keine Besonderheiten. Bei dem Bett handelte es sich um eine aufklappbare Besucherliege ohne Bezug, jedoch mit einer beigen Fleecedecke. In der Mitte des Raumes stand ein Campingtisch mit einem stoffbespannten Anglerstuhl. Lag dort etwas? Tatsächlich, ein Zettel und ein Bleistift. Das Blatt war weiß im Format DIN-A4 und trug die mit einem Drucker erzeugte Überschrift.

Wie alles im Jahre 2012 begann.

Daraufhin entschloss sie sich zu einem erneuten Schreikrampf.

»Was meint ihr mit ›Wie alles begann‹? Was soll das mit dem Jahr 2012? Macht auf, ihr Arschlöcher, ich will nach Hause.«

Da es darauf weder Antworten gab noch sonst eine Reaktion erfolgte, versuchte sie es mit einem zweiten Weinkrampf. Erfolglose zwanzig Minuten lang. Danach startete sie den Versuch, sich an das Jahr 2012 zu erinnern.

7. Wohnzimmer Rohwinkel

Zehn Bücher liegen auf dem Boden verstreut, und drei Grünpflanzen warten darauf, wieder in die Töpfe und an das Fenster gesetzt zu werden. Alle Schranktüren stehen offen. Entgeistert sehe ich Kommissar Muckel an. Dem fällt nichts Besseres ein, als mit den Schultern zu zucken.

»Entschuldigen Sie, dass wir Ihnen so große Unannehmlichkeiten bereiten. Aber Sie tragen ja zum größten Teil dazu bei. Als Zeuge sind Sie verpflichtet, uns die Wahrheit zu sagen. Es sei denn, Sie belasten sich damit selbst.«

»Sie … Sie haben mein Haus verwüstet. Ihre sogenannte Spurensicherung hat rein gar nichts gebracht, nur die komplette Wohnung zerstört. Es sieht aus wie nach einem Überfall mit Erdbeben. Das ist unerhört. Betti ist ja nicht da, deswegen muss die Polizei alles wieder einräumen.«

Ein derartiger Gefühlssturm scheint Kommissar Muckel nicht aus der Ruhe zu bringen.

»Aufräumen? Ja, hier ist es tatsächlich furchtbar durcheinander. Ich werde mit der Spurensicherung sprechen, ob sie das mentalverträglicher gestalten kann. Das ist nur, weil …

Sie haben mir verschwiegen, dass Sie den jungen Mann auf dem Foto kennen. Es handelt sich um den Nachhilfelehrer Ihrer Tochter und er hat auf dem Bild Sex mit Ihrer Frau. Der Tatort ist Ihr Schlafzimmer. Die Bildanalyse mit den biometrischen Daten und dem Vergleich der Betten und Tapeten haben das eindeutig ergeben.«

Das zieht er jetzt aus dem Hut, will mich verunsichern. Aber nicht mit mir.

»Sie müssen sich irren. Auf den Schnipseln sah das völlig anders aus. Miriam hat ihn ja auch nicht erkannt. Wie gesagt, meiner Betti vertraue ich absolut. Niemals würde sie …«

Weshalb droht er mit dem Finger?

»Ach, und wieso haben Sie dann das Foto zerrissen und in den Mülleimer geworfen?«

»Wie gesagt, ich war das nicht. Das Bild habe ich vorher noch nie gesehen. Wie es in die Tonne gekommen ist, weiß ich auch nicht.«

Kommissar Muckel ist so viel Ehrlichkeit nicht gewohnt, deshalb sieht er mich erstaunt an.

»Das kann nicht sein. Irgendetwas ist dann falsch gelaufen. Auf dem Blatt befinden sich Ihr Blut und Ihre Fingerabdrücke. Ihre Tochter hat das auch angefasst. Und eine dritte Person. Wer die ist, wissen wir noch nicht. Haben Sie etwa das Foto versehentlich aufgehoben und können sich nicht mehr daran erinnern?«

Will er mich jetzt verarschen? Aber Fingerabdrücke? Blutspuren? Wie war das noch mal?

»Das muss alles ein großer Irrtum sein. Na gut, ich hab das Blatt gefunden und für einen Scherz gehalten. Aber meine Frau würde niemals …«

»Niemals mit ihm? Dieser Student Tobias Kramp sieht doch sympathisch und attraktiv aus? Da verstehe ich Ihr ›niemals‹ nicht. Und jetzt kann sie es auch nicht mehr. Sie ist ja verschwunden und er hier. Das heißt, er war hier. Haben Sie eventuell eine so starke Abneigung gegen Herrn Kramp entwickelt, dass Sie ihm was angetan haben? Er liegt nämlich schwer verletzt auf der Intensivstation. Es war ein Verkehrsunfall.«

»Das ist … das sind unverschämte Unterstellungen. Wir sind friedliche Bürger. Wir betrügen nicht, entführen nicht die Ehefrau und fahren keine Leute über den Haufen. Hier in der Straße sind wir mit Sicherheit die anständigste und gesetzestreueste Familie.«

»Ah, jetzt, wo Sie das Wort ›Gesetz‹ angesprochen haben, fällt es mir wieder ein. Im Schlafzimmerschrank haben wir siebzig Gramm Kokain und über zweihundert Pillen Amphetamin und Methamphetamin gefunden. Das ist verboten. Mindestens ein Mitglied Ihrer anständigen Familie ist ein krimineller Drogendealer. Ich weiß nur noch nicht, wie das mit der Entführung zusammenhängt. Merkwürdige Vorkommnisse sind das in diesem Haus. Wenn ich in Ihr Gesicht sehe, erkenne ich darin den Satz ›Davon hatte ich keine Ahnung‹. Höre ich jetzt eine ähnliche Phrase?«

»Das ist, das ist … von Drogen hatte ich keinen blassen Schimmer. Ich schwöre. Das muss uns jemand untergeschoben haben. Ja, genauso ist das. Die Entführer haben Betti mitgenommen, und um eine falsche Fährte zu legen, haben sie das Zeug hier versteckt. Ha! So, Herr Kriminaloberkommissar, jetzt sind Sie dran. Finden Sie gefälligst meine Frau und buchten Sie diese Verbrecher ein.«

Das scheint er nicht zu planen, sondern er sieht mich weiterhin scharf an.

»Wo wir gerade bei Verbrechern sind, Ihre Nachbarin hat das Protokoll unterschrieben. Sie haben Todesdrohungen gegen Ihre Frau und deren Liebhaber Tobias Kramp aus dem Fenster geschrien. Ich zitiere: ›Ich bring die Schlampe um, ich erwürg sie, ich knall sie ab! Und ihn leg ich gleich mit um. Ihr seid beide tot. Geschichte, Abfall, Sondermüll!‹ Das wurde von zwei Zeugen bestätigt.«

»Ach ja? So genau weiß ich das nicht mehr. Vielleicht meinte ich damit denjenigen, der mir das Pornofoto untergeschoben hat. Aber ich bringe doch deswegen niemanden um. Wie gesagt, zwischen Betti und mir herrscht ein außerordentlich harmonisches …«

Bisher war ich der Ansicht, der Kommissar hätte Verständnis für meine verfahrene Situation. Da habe ich mich wohl geirrt, denn er blickt hinterhältig. Und fragt auch so. »Und Ihre Nachbarin haben Sie nicht mit der Kettensäge bedroht?«

Als Angeklagter darf man lügen und das mit der Kettensäge braucht er nicht zu wissen. Allerdings, wenn die blöde Kuh damals neben mir gestanden hätte, dann …?

»Niemals. Ich war in meine Arbeit an den Sträuchern vertieft. Da hat sie irgendetwas geschrien, das ich nicht verstehen konnte. Der Motor ist ja auch ziemlich laut. Es kann sein, dass ich das Ding versehentlich hochgehalten habe. Aber damit gedroht? Ich doch nicht.«

»Sie sind also nicht gewalttätig?«

Jetzt will er mich aufs Glatteis führen. Beweise, Herr Kommissar. Kettensäge reicht da nicht, die hat hier jeder in der Straße.

»Iwo. Ich bin der friedfertigste Mensch, den Sie sich vorstellen können. Durch und durch Pazifist. Ich verabscheue alle Formen der Gewalt.«

Muckel nickt mir zu. Also habe ich mein überzeugendes Reden immer noch voll drauf. Wieso hebt er dann den Zeigefinger?

»Im Keller haben wir mehrere Videokassetten entdeckt. Ich lese Ihnen mal die Titel vor. Einmal haben wir hier das Video ›Bloody Killermaniac‹. Das nächste Exemplar nennt sich ›Zerstückelt im Wald verscharrt‹. Dann erkenne ich auf der dritten Kassette ›Bei ihr hilft nur die Kettensäge‹. Für mich klingt das nicht besonders friedfertig. Und Kettensäge? Irgendwann habe ich das Wort in Zusammenhang mit Ihnen schon mal gehört. Haben Sie uns zu den Titeln etwas zu sagen?«

»Hahaha, die uralten VHS-Kassetten. Da werden Sie es schwer haben, dafür noch einen Rekorder zu finden. Sie glauben doch wohl nicht …? Das ist ja geradezu lachhaft. Nein, die Bänder sind aus meiner Studienzeit. Damals fanden wir solche Filme toll. Das war weit vor Betti und ich weiß nicht, wieso die noch im Keller liegen. Aber hallo? Das sind keine brutalen Videos, die sind zum Lachen. Splatter-Humor haben wir das genannt.«

Wow, als Dank für meine Erklärungen bekomme ich ein dickes Ausrufezeichen in seine Schmierkladde.

»Gruselhumor? Sie finden es also witzig, eine Frau mit der Kettensäge zu zerstückeln und die Leichenteile dann im Wald zu verscharren?«

Ups, da war ich wohl etwas zu mitteilsam.

»Nein, nein, so ist das nicht. Die Filme sind ganz anders. Wenn er noch da ist, leihe ich Ihnen gerne den VHS-Rekorder aus.«

»Wir gehen bei der Spurensuche gründlich vor. Wir haben im Wäschebehälter ein Herrenhemd mit Blutflecken gefunden. Wenn das Blut von Ihrer Frau stammt, brauche ich mir die Videos nicht anzusehen. Und wir werden sicherlich noch mehr Beweise finden.«

Er klappt sein Heft zu. Dann ist er wohl mit mir fertig. Und ich mit ihm.

»Hier in meinem Haus? Lachhaft. Ich sage Ihnen, Sie suchen an der komplett falschen Stelle.«

Ich erkenne eine gewisse Befriedigung in seinem Gesicht. Freut sich ein Kommissar, wenn aus einem Vermisstenfall ein Mordfall werden könnte? Für meine vorher superaufgeräumte Wohnung habe ich nicht viel Hoffnung. Er spornt die Männer in den weißen Overalls jetzt zusätzlich an.

»Jeden Zentimeter, ihr dreht alles von oben nach unten. Und Luminol. Ich will wissen, ob es hier Blutspuren gibt. Und weitere Drogen. Besorgt Drogenhunde.«

»Hallo? Bitte keine Hunde. Bettina reagiert allergisch auf Hundehaare.«

Mist, niemand hört auf mich.