Das Mädchen mit dem Flammenhaar

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Die Bowmen

Als ich aufwachte, tat mir alles weh. Mir war kalt und dennoch glühte mein Körper wie unter Feuer. Ich hatte Fieber, fühlte mich völlig entkräftet und mir war speiübel. Irgendetwas steckte in meinem Mund. Als ich einen Brechreiz verspürte, glaubte ich daran ersticken zu müssen und zappelte wie wild.

„Die hier ist wach“, vernahm ich eine raue, männliche Stimme.

Mein Kopf wollte in die Richtung rucken, aus der die Stimme kam. Sogleich durchfuhr mich ein stechender Schmerz im Nacken. Nur mit Mühe konnte ich mich bewegen. Arme und Beine waren gefesselt und meine Augen verbunden. Unter mir bewegte sich etwas, blieb dann aber abrupt stehen.

„Was sollen wir mit ihnen anstellen?“

Offensichtlich lebte Charise auch noch. Sie sprachen in der Mehrzahl, stellte ich erleichtert fest.

„Ich hätte da schon eine gewisse Verwendung für sie.“ Eine andere Stimme jetzt. Sie klang anzüglich.

„Doch nicht in dem Zustand, Rhett.“

Gelächter erklang. Vor Angst war ich wie gelähmt.

„Nein. Wir nehmen sie mit.“ Ein herrischer Ton diesmal.

„Die Dinger sind doch halb verhungert. Vielleicht sind sie auch krank. Wir sollten sie …“

„Eben hattest du noch etwas anderes mit ihnen im Sinn.“ Wieder diese energische Stimme.

„Ich dachte ja nur.“

„Lasst uns weiterreiten. Wir werden später entscheiden, was mit ihnen zu tun ist.“

Mürrisches Stimmengewirr, dann setzten wir uns wieder in Bewegung. Das Ding unter mir ebenfalls. Mir war immer noch übel. Ein gurgelndes Geräusch entwich meiner Kehle, ich konnte es nicht mehr zurückhalten, wand mich in Panik.

„Halt! Mit der stimmt was nicht.“

Es war die gebieterische Stimme von soeben. Hoffnung keimte in mir auf. Ob ich ihm wohl vertrauen konnte? Wir stoppten. Ich hörte etwas schnaufen, wie von einem Tier und roch dessen Ausdünstungen. Dann zerrten mich zwei starke Arme grob nach unten. Meine Arme brannten wie Feuer. Ich wollte Schreien aber …

„Ein Ton von dir, und ich schneide dir deine dreckige Kehle durch, Rotschopf“, klang die Stimme nun ganz dicht an meinem Ohr. Jegliche Freundlichkeit war daraus verschwunden. Er riss den Knebel fort, die Augenbinde blieb. Augenblicklich erbrach ich mich. Ein zweiter Mann trat neben ihn.

„Wir sollten sie hierlassen, Woodrow. Sieh sie dir doch an. Sie ist krank.“

„Schweig, Gore. Wenn ich dich auf ein Pferd mit dem Kopf nach unten binden würde, müsstest du auch kotzen.“

Die anderen lachten schallend, diesmal nicht über mich. Also war es ein Pferd, auf das sie mich gepackt hatten.

„Ich habe Durst“, krächzte ich. Es dauerte eine Weile bis ich Gehör fand. Dann spürte ich, wie mir ein Wasserschlauch an den Mund gedrückt wurde.

„Trink!“

In gierigen Schlucken leistete ich der Aufforderung Folge.

„Gebt der anderen auch was. Dann müssen wir weiter.“

Abermals wurde ich über den Pferderücken festgegurtet, dann setzte sich der Tross wieder in Bewegung. Der Knebel blieb mir diesmal erspart.

Allmählich versank ich wieder in einen Dämmerzustand, irgendwo zwischen Realität und Traum. Gelbe Wesen tanzten darin um mich herum und spielten mit Karten. Meinen Karten. Als sie diese umdrehten, sah ich auf jeder einzelnen das Gesicht eines Verstorbenen aus Gullorway. Onkel, Tanten, Nachbarn und – Miles. Ein Feuer. Es verbrannte die Karten und mich.

Wieder wurde ich vom Pferd gehoben, sanfter diesmal. Eine Hand strich mir vorsichtig über den Kopf, befühlte meine schweißnasse Stirn.

„Gib Acht, Woodrow. Sie könnte das Fieber haben.“

„Sie hat Fieber, weil sie verletzt ist“, brummte dieser.

„Wir hätten diesen Weg nicht nehmen sollen. Ich habe euch gleich gesagt …"

„Schweig, Gore. Wir können von Glück sagen, dass sie uns in die Falle gegangen sind.“

Ich zuckte zusammen.

„Mir wäre es jedenfalls lieber gewesen, einen fetten Murlor, anstatt zwei halb verhungerte Dschellas im Netz zu haben. Skyler wird rasen vor Zorn.“

Ich hörte einen dumpfen Schlag und dann einen unterdrückten Fluch. Offensichtlich hatte der, den sie Woodrow nannten, ihn zum Schweigen gebracht.

„Wenn du dich nicht zurücknimmst, werde ich dir zeigen, was mir lieber ist.“ Er klang drohend. „Du bist ein Dummkopf, Gore. Wir haben nicht mehr genug Frauen. Vielleicht können uns diese hier dienlich sein.“

Was hatte das jetzt wieder zu bedeuten? Doch bevor ich diesen beängstigenden Gedanken zu Ende verfolgen konnte, verfiel ich wieder in einen fiebrigen Schlaf.

Als ich diesmal erwachte, befand ich mich in einem Raum ohne Fenster, mit nur einer Türöffnung. Trotz des wenigen Lichtes konnte ich erkennen, dass der Boden aus einer geflochtenen Grasmatte bestand. Ich lag auf einer schmalen, für meine langen Beine viel zu kurzen Pritsche.

„Hallo, wen haben wir denn da?“

Obwohl seine Stimme freundlich klang, zuckte ich ängstlich zurück.

„Ich dachte schon, du wachst überhaupt nicht mehr auf.“

Ich glaubte diese Stimme schon einmal gehört zu haben, in einem Traum.

Er hockte ein gutes Stück von mir entfernt auf den Fußballen. Dennoch konnte ich eine Art Waffe in seiner Hand ausmachen. Sie war wie ein Bogen geschwungen. Lauernd sah er mich an. Es fiel mir schwer, die Augen offen zu halten. Erschöpft schloss ich sie daher wieder.

„Oh nein. Du wirst nicht wieder einschlafen, Dschella!“

Mit einem Satz sprang er auf, war plötzlich neben mir.

Entsetzt riss ich die Augen auf und schnappte nach Luft.

„Du hast lange genug geschlafen. Steh auf“, zischte er.

Drohend baute er sich vor meiner Pritsche auf. Sein muskulöser Oberkörper spannte die lederne Weste, die er trug und dehnte die überkreuzten Schnüre, die sie zusammenhielt. Braune Augen blitzen mich aus einem bartlosen Gesicht an, das jünger zu sein schien, als es die harsche Stimme vermuten ließ. Ich schätzte ihn auf neunzehn, zwanzig Jahre. Er trug bequem aussehende Ledermokassins. Seine langen Beine verloren sich in einer weiten Hose, deren Bund von einem reich verzierten Gürtel gehalten wurde, in dem mein Dolch steckte.

„Meiner“, krächzte ich.

Was, deiner?“ Ich wies mit dem Kinn auf den Dolch, da meine Hände gefesselt waren. „Der Dolch.“ Spöttisch blickte er auf mich herab. Argwöhnisch nahm ich meinen Bewacher weiter in Augenschein. Seine Haut war leicht gebräunt, wie bei jemandem, der sich viel an frischer Luft bewegte. Sein rechtes Ohrläppchen schmückten kleine goldene Kreolen, Stecker und dornenartige Stifte. Die pechschwarzen, glatten Haare wurden von einem ledernen Stirnband gehalten. Während sie ihm links in langen Strähnen bis weit über die Schulter fielen, waren sie rechts kurz geschoren, was seinen Ohrschmuck besonders zur Geltung brachte und seinem Äußeren etwas Wildes verlieh. Seine Unterlippe zierte ebenfalls ein kleiner Ring, den er spielerisch mit der Zunge hin und her tanzen ließ. Meine Angst sichtlich genießend, beugte er sich gefährlich nah zu mir herunter. Dabei löste sich eine Haarsträhne aus dem Stirnband und streifte mein glühend heißes Gesicht. Alarmiert stellten sie meine Nackenhaare bei dieser Berührung auf. Ich fühlte mich erbärmlich, wehrlos. „Nichts gehört dir, Dschella, außer deinem armseligen Leben.“ Wenn er seine Macht hatte demonstrieren wollen, so war ihm das gelungen. Er trat zurück und verließ mit großen Schritten die Hütte. Draußen vernahm ich Stimmengewirr, das in eine Auseinandersetzung überging. Kurz darauf kam er mit einer Frau zurück. „Bring sie ins Bäderhaus, Ella.“ „Sie ist halb verhungert, Rhett.“ Dann war er also derjenige, der mich vom Pferd gehoben hatte. „Sie müsste eigentlich was essen“, wagte Ella vorsichtig einzuwenden. „Siehst du nicht, dass sie nur noch Haut und Knochen ist?“, fügte sie dann mutiger hinzu. „Dann füttere sie, Ella!“ Rhett, fast einen Kopf größer als die zierliche Frau, neigte seinen Kopf leicht zu ihr herunter und spie ihr die Worte förmlich ins Gesicht, bevor er gebieterisch die Hütte verließ. Eine Frage, wichtiger als Hunger oder Durst, plagte mich. Ich musste sie einfach stellen. „Wo ist Charise, meine Schwester?“ „Ah, sie ist deine Schwester. Bei all dem Dreck ist die Ähnlichkeit schwer zu erkennen. Jedoch das rote Haar …“ Abschätzend glitt ihr Blick über meine zerrissene Kleidung und meine geschundene Haut. Eine Antwort bekam ich jedoch nicht. Sie hielt mir einen schmalen Streifen Trockenfleisch vor den Mund, das sie zuvor aus einem handtellergroßen Pflanzenblatt gewickelt hatte. „Langsam, langsam. Du beißt mir ja die Finger ab“, schnauzte sie mich an. Kurz darauf hielt sie mir eine sichelförmige, gelbe Frucht hin, die erst aus einer Umhüllung geschält werden musste. Sie schmeckte zuckersüß. Wahrscheinlich war es eine Banane. Während sie mich wie ein Kind fütterte, beobachtete ich sie voller Neugier. Sie schien etwas älter zu sein als Rhett. An ihr sah ich keinerlei Waffen. Ihre blauschwarzen Haare fielen ihr in seidigen Strähnen auf die schmalen Schultern. Zu einer ärmellosen, knielangen Tunika trug sie eine schmal geschnittene leichte Hose mit einem kunstvoll bestickten Gürtel um die schlanke Taille. Zwei schlangenförmige, goldene Armreifen zierten ihre Unterarme, durch die ihre bronzefarbene Haut hindurch schimmerte, als hätte sie meinen Schlammpunsch aufgetragen. Ihre Handrücken waren mit filigranen rötlichen Mustern bemalt. Eine etwa zehn Zentimeter lange Narbe an ihrem rechten Oberarm zerstörte das ansonsten makellose Erscheinungsbild. Als ich genauer hinsah erkannte ich Pfeil und Bogen daraus. Ein Brandmal. „Was glotzt du mich so an, Dreckling?“ Ihre dunkelbraunen, leicht schräg stehenden Augen, blitzen mich feindselig an. Beschämt war ich mir plötzlich meines dreckverkrusteten Körpers bewusst und senkte den Blick. Sie hielt mir einen Trinkbecher an die Lippen, bei dem der Henkel abgeschlagen war. Gierig nahm ich einen tiefen Schluck und spie ihn gleich wieder aus, als ich bemerkte, dass es kein Wasser war. „Spinnst du? Das ist Ananassaft. Aber wenn du lieber verdursten möchtest …“ „Was ist denn da bei euch los?“ Rhett steckte mürrisch seinen Kopf durch die Türöffnung. „Diese Wilde spuckt das Beste aus, was wir hier zu bieten haben.“ Drohend trat er näher. Und sie nannte mich eine Wilde? Dann sollte sie sich diesen Rhett mal genauer ansehen. „Trink, Dschella!“ Und an Ella gewandt: „Sieh zu, dass ihr fertig werdet!“ Dann stapfte er wieder hinaus. Meine Güte, war der unruhig. „Also, zweiter Versuch.“ Sie sprach mit mir, als wäre ich schwachsinnig. „Wieso wächst hier Ananas?“ Sie lachte aufgesetzt. „Wo kommst du her – Dschella? Vom grauen Stein?“ „Ich komme jedenfalls nicht vom Mond.“ „Mond? Hältst dich wohl für schlau, was?“ Hass loderte auf einmal in ihren Augen auf. Ich wusste nicht, womit ich ihren Zorn erregt hatte. Vor der Türöffnung hörte ich Rhett lachen. Wütend verließ sie die Behausung und stürmte an ihm vorbei. „Stopp, Ella! Falsche Richtung.“ Seine Worte klangen wie das Knurren eines Raubtieres. Es war mir schleierhaft, wie er von einer Sekunde auf die andere so die Stimmung wechseln konnte. Vor ihm würde ich mich besonders in Acht nehmen müssen. „Zum Bäderhaus geht es nach links.“ „Soll ich sie auch noch waschen, oder was?“ „Dein Ton gefällt mir nicht, Ella.“ Die beiden standen in der Türöffnung und fochten mit Blicken einen stummen Kampf aus, den Ella verlor. Mit gesenktem Kopf kam sie wieder zu mir zurück und blaffte mich an: „Steh auf! Mitkommen!“ Dann ging sie einfach los. Keuchend erhob ich mich. Mir wurde schwindelig. Ich konnte kaum stehen, wollte mir aber nicht die Blöße geben, vor Rhetts Augen zusammenzubrechen, der betont lässig am Türrahmen lehnte. Als ich schwankend an ihm vorbeischlurfte achtete ich darauf, ihn nur ja nicht zu berühren. Angewidert rümpfte er die Nase und wich einen Schritt zurück. „Bäh, also du trägst ein Aroma mit dir herum, Dschella." „Ich heiße Avery.“ Mit dem letzten Funken Würde, der mir geblieben war, schlurfte ich weiter in die Richtung, in die ich Ella verschwinden sehen glaubte und blieb jäh stehen. Der Boden war plötzlich zu Ende und ich starrte vom Rand eines Baumhauses in die Tiefe. Wie hoch mochte das sein? Ich hatte noch nie so hohe Bäume, geschweige denn ein Baumhaus gesehen. Hinter mir hörte ich Rhetts schallendes Lachen. Dann stand er neben mir. „Du kannst dich glücklich schätzen für deine Reflexe. So manch einer ist weitergelaufen.“ Er griff nach meinem Dolch, der nun ihm gehörte und durchtrennte meine Fesseln. Dann ging er mit donnerndem Lachen endgültig davon. „Willst du da drüben festwachsen oder was?“ Ella stand am anderen Ende einer Hängebrücke, auf der Plattform eines weiteren Baumhauses. Hinter ihr befand sich eine Art Käfig aus Bambusrohren. Sie hielt ein dickes Seil aus Lianen in den Händen. Schweißgebadet ging ich über die Brücke, ohne den Blick auch nur ein einziges Mal in die Tiefe zu werfen. Seltsame Geräusche umfingen mich, die ich bisher gar nicht wahrgenommen hatte. Ein vibrierendes Zirpen, Gekreische und durchdringende Vogelstimmen dröhnten laut in meinen Ohren. „Willkommen im Dschungel. Keine Angst, wenn wir fallen, fallen wir gemeinsam.“ Ein Lächeln stahl sich auf ihre Lippen und ließ sie fast sympathisch aussehen. Der Käfig, in den wir stiegen, bot Platz für mehrere Menschen oder Lasten. Ohne großen Kraftaufwand ließ Ella das Seil durch ihre Hände gleiten und wir bewegten uns lautlos nach unten. Weil ich vor Schwäche kaum noch stehen konnte, sank ich einfach auf den Boden. Blätter unbekannter Art zogen an uns vorbei. Ebenso weitere gewundene Seile, die geradezu aus den Bäumen heraus zu wachsen schienen. Relativ sanft kam der Kasten auf dem Boden zum Stehen. Dennoch kippte ich zur Seite und scheuerte dabei an der Bambuswand entlang. Es war ein Gefühl, als würde jemand auf meine eh schon geschwollenen Arme einschlagen. Die feuchtwarme Luft der Wildnis umgab mich wie ein heißer Atem. Fast schien es, dass Ella mir aufhelfen wollte, dann zuckte sie jedoch zurück. Zu groß schien ihre Angst, sich irgendeine Krankheit von mir einzufangen. Beschämt versuchte ich mich aufzurichten. „Danke“, zischte ich sie an, als ich wieder stand. Mit wackeligen Beinen trottete ich hinter ihr her über einen Platz mit mehreren Langhäusern, die auf Baumstämmen errichtet waren. Ein Palisadenzaun umgab das gesamte Areal. Ich sah ein großes Doppeltor, dass in sich eine weitere kleinere Tür barg. Zwei mürrisch wirkende Männer patrouillierten davor. Als sie uns bemerkten, machten sie ein paar anzügliche Bemerkungen und wandten sich dann lachend ab. „Wenn wir Glück haben, ist um diese Tageszeit noch nicht viel los im Bäderhaus.“ Sie sah mich skeptisch an und schritt voraus. Vor einem dieser lang gezogenen Häuser mit einer kleinen Leiter davor stiegen wir nach oben. „Ist das hier das Bäderhaus?“ „Habe ich doch eben gesagt, oder?“ Wieder diese Feindseligkeit in ihrer Stimme. Hier schienen wohl alle unter diesen Stimmungsschwankungen zu leiden. Vielleicht waren die schwüle Hitze und die alles überlagernden Geräusche des Dschungels schuld daran. Ella führte mich zu einem großen Trog, der bereits zur Hälfte mit Wasser gefüllt war. Über ein paar Stufen gelangte man hinein. Fragend sah ich sie an. Genervt rollte sie mit den Augen. „Deine Lumpen. Hast du gedacht, du kannst mit ihnen baden? Los, zieh sie aus und steige endlich in das Fass. Du wirst schon nicht darin ertrinken.“ „Gut, dass ich schwimmen kann“, murmelte ich. „Was hast du gesagt?“ „Gibt es was, womit ich mich waschen kann?“ „Mit der Pumpe da kannst du dir frisches Wasser dazu nehmen. Links davon findest du Seife. Na los!“ Doch ich bewegte mich nicht von der Stelle. „Was ist denn jetzt noch?“, blaffte sie. „Ich müsste mal …“ „Hättest du das nicht vorher sagen können?“ Mürrisch griff sie hinter sich nach einem rauen Stoff, den sie mir zuwarf. Ein einfach geschnittenes weites Kleid, mit seltsamen Taschen darauf. Ich streifte es hastig über und folgte Ella. „Da hinten. Aber sieh zu, dass die Trittflächen sauber bleiben.“ Wir gingen an zwei nicht wesentlich älteren Frauen vorbei. Eine von ihnen trug einen kleinen Jungen auf dem Arm. Ihre neugierigen Blicke folgten uns. Der Abort lag hinter einer Tür und bestand aus einem bloßen Loch im Boden, umgeben von derben Holzlatten. Stehend musste ich meine Notdurft verrichten, während Moskitos die Latrine umschwirrten. Ich blickte mich um nach etwas, womit ich mich säubern konnte. Eine kleine Schale und ein paar große Blätter sollten wohl diesen Zweck erfüllen. Besser als nichts. Danach kletterte ich vorsichtig in den Trog und – es war göttlich. Das Wasser umspülte mich mit angenehmer Kühle. Balsam für meinen geschundenen Körper und meine erhitzte Haut. Ein unverhofft blumiger Duft entstieg dem Wasser. Ewig hätte ich darin zubringen können. „Na, wenigstens bist du nicht wasserscheu. Hier.“ Ella reichte mir eine Bürste, doch über die angegriffene Haut konnte ich damit nicht fahren. Nachdem sich der Dreck zu lösen begann, konnte ich sehen, dass die Wundränder rot und schwammig waren. Ich brauchte unbedingt … „Bist du bald soweit? Wir haben nicht ewig Zeit.“ Ungeduldig hielt sie mir ein Tuch hin, mit dem ich mich abtrocknen sollte. Aber ich wollte diesen Trog noch nicht verlassen. Irrsinniger Weise fühlte ich mich hier sicher. Ich sank tiefer. Hielt meinen Kopf noch einmal unter Wasser und seifte mir die Haare ein. Ein zarter Hauch nach Zitrone umgab mich wie eine duftende Wolke. Ich spülte die Seife so gut es ging aus und folgte Ella mit triefend nassen Haaren in meinem sackähnlichen Kleid. „Wo sind wir hier eigentlich?“ „Was meinst du?“ Sie blickte starr geradeaus. „Der Ort hier.“ „Greenerdoor, Dschella. Du bist in Greenerdoor. Was dachtest du denn?“ Also gab es sie wirklich. Die Bowmen. In Gullorway wussten die Ältesten haarsträubende Geschichten über diese Wilden zu berichten. Und ausgerechnet ihnen mussten Charise und ich in die Hände fallen. Ella lenkte mich in die entgegengesetzte Richtung, zu einem Langhaus, das um ein Vielfaches größer als das Bäderhaus war. Es hatte ein Dach aus Palmblättern. Die Seitenwände waren aus geflochtenen Grasmatten und mit Bambusrohren verstärkt. Kleine quadratische Öffnungen dienten als Fenster. Der Boden bestand aus stabilen Baumstämmen. Neben der geöffneten Tür waren zahlreiche Tongefäße abgestellt. Ella schob mich ins Innere des Haues. Mit Schrecken registrierte ich, dass dieses bis auf den letzten Platz voll besetzt mit Leuten war. Düster dreinblickende Männer saßen rechts und links an reich gedeckten Tischen. Die Gespräche verstummten. Doch als Ella mich durch eine Gasse zum Ende des Raumes führte, ging ein Raunen durch die Menge und ihre Blicke folgten uns. Weit vorne entdeckte ich das rote Haar meiner Schwester, die mit gefesselten Händen auf dem Boden vor einem kleinen Podest kniete. Ella stieß mich neben Charise und verschwand durch eine Seitentür. Während ich zu dem Podest hochstierte wurden mir abermals die Hände hinter dem Rücken gefesselt. Als könnte ich vor versammelter Mannschaft einen Fluchtversuch in Erwägung ziehen. Rasch sah ich zu meiner Schwester herüber. „Geht es dir gut?“ „Schweig, Gefangene“, ertönte eine harsche Stimme hinter mir. Charise sah mich flehentlich an. Ihre Augen schienen sagen zu wollen, dass ich nicht ungefragt weitersprechen sollte. Starr blickte ich wieder geradeaus. Obwohl mir der grobe Stoff über die entzündete Haut scheuerte, versuchte ich mich so aufrecht wie irgend möglich zu halten. Der Schweiß stand mir auf der Stirn, lief mir in die Augen und den Hals hinunter. Der kurze Moment von Frische war verflogen. Vor uns auf dem Podest saßen fünf Männer auf kunstvoll geschnitzten, schweren Holzstühlen. Ich blickte von einem zum anderen und erhielt für meine Neugier sofort einen Stoß in den Rücken. Fünf furchteinflößende Augenpaare fokussierten uns. „Sieh erst auf, wenn du dazu aufgefordert wirst“, hörte ich eine barsche Stimme. Du meine Güte. Was war das hier? „Nun. Sind wir also endlich vollzählig?“ Die Stimme glaubte ich als die von Woodrow zu erkennen. „Du. Wie lautet dein Name?“ Wir schauten beide auf. Gemeint war meine Schwester. „Charise.“ „Lauter, damit auch die hinteren Reihen dich hören.“ Während er Charise nach Alter, Herkunft und dem Grund unseres Eindringens in ihr Hoheitsgebiet ausfragte, beobachtete ich verstohlen die Männer vor uns. Woodrows rechtes Ohrläppchen war genau wie das von Rhett, gespickt mit Ringen und Stiften. Seine rechte Augenbraue wurde von einer rosa schimmernden Narbe unterbrochen, die sich im Ansatz seines dichten, dunkelbraun gewellten Haares verlor. Sein Blick war hart und unergründlich, wohingegen die fein geschwungenen Lippen ihm etwas Sanftes verliehen. Er trug eine rostbraune Lederweste und eine ähnliche Hose wie Rhett, die ihm aus den Stiefeln gerutscht war. Aufmerksam lauschte er den Ausführungen meiner Schwester und ließ sie dabei nicht aus den Augen. Rechts von ihm saß Rhett. Als mein Blick weiter zu dem Platz in der Mitte wanderte, erstarrte ich. Leuchtend grüne Augen waren abschätzend auf mich geheftet, nicht auf Charise. Mit einer Intensität, die mich erschaudern ließ. „Dein Name, Rotlocke!“ Woodrows Aufforderung war nun eindeutig an mich gerichtet. Errötend sah ich zu ihm auf. Aus unerfindlichen Gründen konnte ich vor Aufregung kaum sprechen. Dicke Schweißperlen tropften mir von der Stirn zum Kinn. „Avery. Charise ist meine Schwester.“ „Alter?“ „Sechzehn.“ „Hm. Und wie lautet deine Geschichte?“ „Genauso. Wir waren zusammen unterwegs.“ „Wir wollen sie aber von dir hören.“ „Wir, wir waren zu dritt angeln. Als wir uns auf dem Heimweg machten, gab es Gullorway nicht mehr.“ Mir versagte die Stimme. Alles begann sich vor meinen Augen zu drehen. Ich konnte einfach nicht mehr weitersprechen. Alle Schreckensbilder waren auf einmal wieder präsent. „Wie habt ihr zu uns gefunden? Was ist mit der dritten Person?“ Woodrow ließ nicht locker. Ein Zittern durchfuhr mich, meine Haut brannte wie Feuer, dann spürte ich den Boden näherkommen und verlor das Bewusstsein.

 
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