Elfenzeit 6: Zeiterbe

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Aus der Reihe: Elfenzeit #6
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Johnson ließ sich Zeit, goss sich Milch ein und rührte um. Dann erst zückte er eine kleine, in Leder gebundene Kladde aus der Tasche des über die Stuhllehne geschlagenen Mantels und lehnte sich mit einem Seufzen zurück. »Lassen Sie uns ganz von vorn beginnen.«

Edmond gab ihm Name, Anschrift, Berufsstand. Danach berichtete er, wo er den Abend verbracht und wie er heimgekommen war, bevor ihn die Schläger überfallen hatten.

»Haben die Angreifer etwas zu Ihnen gesagt?«, fragte Johnson.

»Sie meinen neben all den wüsten Beschimpfungen?«, erwiderte Edmond. Er fühlte die Wut zurückkehren, wie sie in seinem schmerzenden Magen brodelte und ihm die Kehle hinaufkriechen wollte.

»Sie äußerten die Vermutung, dass es sich …« Johnson leckte sich die Oberlippe. »… dass der Überfall mit Ihrer Arbeit zusammenhängen könnte.«

Offenbar war der Constable im Dienst nicht mehr so geradeheraus wie am Abend zuvor.

»Sie meinen, ob ich glaube, dass meine Vorausberechnung der Sonnenfinsternis etwas damit zu tun hat? Ja, ganz sicher. Sie doch auch.«

Johnson straffte sich und griff nach der Teetasse. »In der Tat. Also hat offenbar die Gemeinschaft Christi Sanguis et Aqua ihre Drohungen wahrgemacht.«

Diesmal war es keine Frage, sondern eine Feststellung. Da war er also wieder, der Mann ohne Schnörkel.

»Sekte. Diese fanatisch religiöse Vereinigung ist eine Ansammlung von Sektierern der schlimmsten Sorte«, bestätigte Edmond und trank von seinem Tee. Schwarz, stark und ohne irgendeine Süße, die seiner Meinung nach nur in Kuchen oder Obst gehörte.

»Haben Sie irgendwelche Beweise für diese Anschuldigung?«, fragte der Constable ruhig und routiniert. Keinerlei Anflug von Zweifel oder Unglaube in der Stimme. Er machte einfach nur seine Arbeit.

»Ich erhielt einen Drohbrief just am gestrigen Morgen«, gab Edmond ebenso sachlich zurück und nippte erneut an seiner Tasse. »Zwar nicht unterzeichnet, doch die Symbolik würde wohl selbst ein Hausmädchen verstehen. Nicht dass ich eines hätte, um das zu demonstrieren.« Er lächelte angedeutet.

Der Constable hob flüchtig die Mundwinkel. »Kann ich ihn sehen?«

Edmond legt ihm den Brief auf den noch leeren Teller. »Essen Sie etwas. Der Honig ist wirklich vorzüglich.«

Johnson griff nach dem Dokument und studierte es eingehend. »Ihnen ist klar, dass Sie außerhalb der Stadt sicherer aufgehoben wären, bis … nun, bis diese Angelegenheit vorüber ist?«

»Sie denken, auf dem Land gibt es keine Scheiterhaufen, die für mich bereitstehen? Dann sind Sie wohl ein Stadtkind«, konterte Edmond und diesmal konnte er die Spitze in seiner Bemerkung nicht gänzlich unterdrücken.

Er war die Dummheit der Menschen so leid. Dieser Samen des Fanatismus, der überall spross, wenn man den Bornierten etwas Neues und für sie Unbegreifliches präsentierte. Egal, wie sehr es mit Daten und Fakten belegbar war. Der Mob wollte am Ende jemand brennen sehen. Aus reiner Lust an der Jagd und dem Schauspiel.

»Es ist Sommer. Sie könnten an die Küste fahren«, schlug Johnson vor. »Nur für ein paar Tage.«

»Und diese eine Sonnenfinsternis, die ich in meinem Leben zu Gesicht bekomme, irgendwo zwischen Schafen auf der Weide bewundern? Dafür bin ich nicht Wissenschaftler geworden.«

»Um zu sterben oder sich totschlagen zu lassen, aber gewiss auch nicht.«

Edmond lächelte gequält. »Touché.«

Vielleicht würde ihm die Royal Society in dieser Angelegenheit zur Seite stehen. Immerhin kam es auch ihr zugute, wenn die Mitglieder Ruhm und Ehre einheimsten. Warum sollten sie also nicht auch ihren Anteil daran tragen, wenn jemand jenen nach dem Leben trachtete, die die Basis dieser exklusiven Gesellschaft bildeten?

Zugegeben, Edmond war kein großer Fisch im Becken der Wissenschaftler, Professoren und Doktoranden. Er war weder adlig noch ein zum Ritter geschlagener Gentleman. Mit seinen Entdeckungen hatte es bisher nur für einige weniger bedeutende Orden gereicht. Eher pro forma verliehen denn für besonders Herausragendes. Genau das hatte die Entdeckung zur Berechnung der Planetenbahnen ja ändern sollen!

Doch stattdessen hatte er nun die Hexenjäger und Fanatiker am Hals. Und er fürchtete, dass die hochgestellten Würdenträger wenig Lust haben würden, die Royal Society in das gleiche Licht zu rücken. Auch wenn zumindest ihnen klar war, dass Edmonds Berechnungen sicher nicht die Ausgeburt des Teufels waren.

Der Constable schien an seinem Gesichtsausdruck abzulesen, dass er nicht gewillt war, auf Reisen zu gehen. »Es ist mir in diesen Zeiten nicht möglich, Ihnen eine Leibgarde zu stellen. Das müssen Sie verstehen«, versuchte er es auf anderem Wege.

»Weil ich ja nur ein kleiner Sternengucker bin, nicht wahr?«, ergänzte Edmond und stellte die Tasse etwas zu kraftvoll auf dem Unterteller ab.

»Bitte, Sir. Halten Sie mich nicht für parteiisch oder gar politisch. Das bin ich nicht. Und nebenbei bemerkt, finde ich es außerordentlich spannend, was Sie an unserem Himmel abzulesen vermögen. Aber am Ende bin ich nur ein einfacher Parish Constable ohne höhere Befugnisse.«

Mit unzufriedener Miene griff Johnson nun doch noch nach einem Toast und schmierte sich Butter darauf. »Aber vielleicht könnte ich die Route der Patrouillen für die nächsten Tage ändern lassen. Damit sie öfter an ihrem Haus vorbeigehen«, sagte er, nachdem er den Toast zusammengeklappt und einmal davon abgebissen hatte.

»Das ist mehr als ich erwartet habe«, entgegnete Edmond ehrlich gerührt und beugte sich vor. »Ernsthaft, Constable Johnson. Ich weiß Ihre Haltung wirklich zu schätzen.«

»Und ich Ihren Mut für die Sache«, erwiderte der Constable.

Einen Moment lang sahen sich die Männer unbewegt an. Auge in Auge. Kein Kräftemessen, sondern die Offenbarung von Gefühlen, die man in ihren jeweiligen Positionen nicht zu zeigen hatte. In dieser Gesellschaft war kein Platz für solcherlei Weichheit und Mitgefühl. Und doch fand man diese seltene Art von Menschlichkeit und Seelenanmut, wenn man nur den eigenen Blick dafür öffnete. Wenn man den Kern eines Wesens anerkannte und nicht nur seine Hülle.

Schließlich rückte der Constable den Sessel ein Stück zurück und griff nach seinem Hut. »Ich werde Sie auf dem Laufenden halten, was die Ermittlungen angeht. Aber machen Sie sich keine allzu großen Hoffnungen, dass wir die Kerle stellen werden, da Sie keinen genauer beschreiben konnten.«

Ein paar kräftige Gestalten, die sich im Dunklen anschlichen. Dazu mit ungehobelten Umgangsformen. Ja, da kamen viele in London in Frage.

»Das Prinzip zählt hier mehr als der Erfolg«, antwortete Edmond und erhob sich ebenfalls.

Zum Abschied schüttelten sich die Männer die Hand. »Passen Sie auf sich auf, Mr Halley.«

Am Nachmittag entschied Edmond, dass er trotz des Vorfalls zur üblichen Tee-Versammlung der Royal Society gehen würde, um die Stimmung unter seinen Kollegen auszuloten.

Er wollte gerade Richtung Park abbiegen, als ihm eine schlanke Gestalt in grauer Kutte auffiel, die zwischen den ersten Bäumen stand. Die Kapuze war nach unten gezogen, das Gesicht nicht auszumachen. Die Person hielt die Hände in den weit fallenden Ärmeln verborgen. Ganz so, wie es die Mönche und Prediger gern taten.

Edmond presste die Lippen aufeinander und blieb stehen. Die Gestalt blicke direkt in seine Richtung. Unbewegt, wie ein grauer, drohender Schatten zwischen den reichbehängten Kastanienbäumen.

Panik stieg in Edmond auf. Bilder des vergangenen Abends flackerten vor seinem inneren Auge. Er glaubte, den Schmerz erneut in seiner Magengrube zu spüren. Es ist helllichter Tag, ermahnte er sich. Niemand wird es wagen, dich jetzt anzugreifen, wo alle es sehen können. Der Mann ist nur ein ganz normaler Geistlicher. Er sieht nur zufällig in meine Richtung. Mehr nicht.

Doch sein Körper wollte ihm nicht recht glauben, die Beine nicht gehorchen, als er versuchte weiterzugehen. Nicht, wenn er diese Richtung einschlagen wollte. Sollte er umkehren? Fliehen? Vor einem Hirngespinst?

Nein. Auf keinen Fall wollte er sich der Angst beugen. Er würde einfach den Umweg über die Straße wählen, statt den angenehmeren Weg durch den Park. Dann würde sich zeigen, dass er sich etwas einbildete.

Mit einem kurzen verlegenen Blick in den Himmel drehte Edmond sich nach links und marschierte möglichst unbekümmert den Fußweg entlang. Weg vom Eingang des Parks. Weg von seinem potentiellen Attentäter.

Er hatte bereits eine Straße hinter sich gelassen, als er Schritte zu hören meinte. Auffällig hektische Schritte. Solche, die ihn verfolgten. Edmond spannte die Kiefer an. Hirngespinste waren das. Angstgestalten. Reine Phantasie! Aber so gewaltig, dass sie sein Herz rasen ließen. Schweiß trat ihm auf die Stirn, seinen Atem wurde zusehends kürzer und abgehackter.

Näher und immer näher schienen die Schritte zu kommen. Ledersohlen auf dem Kopfsteinpflaster. Trugen Mönche Lederschuhe? Seine Logik versuchte durch das Wirrwarr seiner Gefühle emporzusteigen, dagegen anzukämpfen. Ohne Erfolg.

Edmond glaubte, den Atem seines Verfolgers bereits im Nacken zu spüren. Doch immer noch wagte er nicht, sich umzudrehen. Bloß nicht stehenbleiben. Ja nicht innehalten. So wenig wie möglich Angriffsfläche bieten. In der Menge verschwinden. Ja, er musste sich verstecken. Zwischen den Menschen. Irgendwo. In einem der Läden.

Edmond blickte hektisch die schmalen Eingänge der Geschäfte entlang. Beim Schuster war zu wenig los. In der Parfümerie für Damen würde er zu sehr auffallen. Als nächstes kamen mehrere kleine Fensterausschnitte aus Bleikristall in Sicht, die Auslagen eines Hofschneiders, der auch die Fertigung von Kleidung für den vermögenden eleganten Herrn anbot. Braune und weiße Allonge-Perücken, Justaucorps in Samt und Seide mit breiten Ärmelaufschlägen mit Spitzenbesatz, Westen, Culottes und Jabots.

 

Kurzerhand trat Edmond ein.

»Guten Tag, Sir«, wünschte ein hagerer Mann in adrettem Justaucorps. In der angrenzenden, offen einsehbaren Schneiderei wurde fleißig gewerkelt.

»Guten Tag«, sagte Edmond und merkte, dass in seiner Stimme etwas Gehetztes lag. Also atmete er gezwungen einmal durch und trat hin zu den Auslagen für weiße Spitzenhalstücher.

»Was kann ich für Sie tun? Wünschen Sie etwas zu Ihrem aktuellen Kleider-Ensemble?« Der Mann, der wohl für den Verkauf zuständig war, klang höflich-reserviert und deutete auf die verschiedenen Auslagen ringsum.

Edmond konnte nicht anders, er blickte über die Schulter hin zum Eingang. Und tatsächlich, auf der anderen Seite einer Scheibe stand jemand und schaute herein. Edmond konnte ihn zwischen zwei Perückenständern nicht genau erkennen.

Was jetzt? Seine innere Stimme schrie ihn an, sich zu verstecken. Sich zu verkriechen und den Atem anzuhalten, bis die Gefahr vorüber war. Sein Verstand protestierte. Hier in der Öffentlichkeit? Vor Zeugen? Unmöglich.

Doch die Angst quoll in ihm über. »Einen Rock. Ich benötige einen festlichen Rock für eine Festrede«, stammelte Edmond und stürmte weiter zum rückwärtig gelegenen Regal mit den Stoffen, aus denen maßgefertigte Kleider wurden.

Im Vorbeigehen sah er, dass der Verkäufer die Augenbrauen hob und den Blick an Edmond entlang wandern ließ. Abschätzend, wen er da vor sich hatte. Doch Edmond war es egal. Er deutete auf einige Stoffe. »Haben Sie wohl irgendwo einen Spiegel, vor dem ich mir ein paar Tücher hinhalten kann, ob mir die Farben und Muster überhaupt stehen? Und das ungestört, ich meine … ohne, dass mir jeder dabei zusieht?«

»Gewiss doch, Sir, dafür haben wir ein kleines Séparée«, sagte der Mann indigniert. Ihm war deutlich anzumerken, dass er Edmond für keineswegs zahlungskräftig genug hielt, war aber zu sehr Gentleman, um ihn sofort hinauszukomplimentieren. Er suchte Edmond ein paar Reststoffe heraus, die für diesen Zweck gedacht waren, und führte ihn in ein kleines, durch Vorhänge von Geschäft und Schneiderei getrenntes Abteil mit einem halbhohen Spiegel.

Das Herz hämmerte in seiner Brust. Und weiter? Allzu lange konnte er sich nicht aufhalten, bis er hinausgeworfen wurde.

Um seinen Atem zu beruhigen, dachte er an die Berechnungsformeln des Längenproblems, über das er in seinem Vortrag gesprochen hatte.

Eine Männerstimme erklang im Eingang. Ein scharfer, herrischer Bariton. Doch zu weit weg, um das Gesagte klar verstehen zu können. Edmond ging rückwärts, bis er sich im Vorhang verwickelte. Wie dumm er doch war. Hier drinnen saß er in der Falle!

Erneut waren Schritte zu hören. Jemand blieb auf der anderen Seite des Vorhangs stehen. Edmond konnte elegante Schuhspitzen durch den Spalt zwischen Vorhang und Boden sehen.

Doch bevor der Vorhang beiseite geschlagen werden konnte, hörte Edmond ein leises Poltern, gefolgt von einem Stolpern und Fluchen, und die Schuhspitzen verschwanden. »Verzeihung, das tut mir wirklich leid. So ein Missgeschick aber auch.«

Die neue Stimme war zu Edmonds Überraschung weiblich und gehörte ganz offensichtlich einer Französin, die bemüht war, gutes Englisch zu sprechen. Sehr ungewöhnlich für eine Nichtadlige.

Der Mann mit der Baritonstimme beschimpfte sie. »Was hat ein ungeschicktes Weibsbild hier überhaupt verloren?«

»Oh, das tut mir sehr leid, was für ein Unglück«, stammelte die Frau in fast schon übertrieben bedauerndem Tonfall. »Ich muss den edlen Herrn übersehen haben, als ich nach meinem Mann Ausschau gehalten habe. Ist er hier?«

Edmond blinzelte.

»Das kommt wohl darauf an, wer Ihr werter Herr Gemahl ist«, antwortete der Verkaufsmann hörbar pikiert.

»Er sagte, er wolle hier hereinschauen!«, gab die Französin ein wenig näselnd zurück. »Er hat einen furchtbaren Geschmack. Daher muss ich ihm bei der Auswahl helfen.«

»Madam, wir sind ein anständiges Geschäft! Ich weiß nicht, was für verlotterte Sitten in Frankreich Einzug gehalten haben, doch hier sind Sie als Frau fehl am Platze und ich muss Sie augenblicklich bitten zu gehen!«

»Sie haben ihn also nicht gesehen?«, wiederholte die Frau.

»Sie gehen jetzt!«, forderte der Gentleman sie erneut auf.

Der Mann mit dem Bariton pflichtete bei. »Sind wir hier in einer Hafenbar, dass verdorbenes Weibsvolk einfach reinmarschieren kann?«

Ein Schotte, da war sich Edmond sicher. Es lag an der Betonung der harten Konsonanten.

Unter Protest wurde die Frau aus dem Geschäft gedrängt, und der Schotte verschwand ebenfalls unter Flüchen.

Edmond wischte sich fahrig über das Gesicht, löste sich aus dem Vorhang und stürmte an dem Verkaufsmann vorbei, warf ihm die Stoffe in den Arm. »Gefällt mir alles nicht!«, rief er und rannte hinaus auf die Straße.

Im Moment war niemand in der Nähe. Hoffentlich versteckten sich der unheimliche Schotte und die seltsame Französin nicht irgendwo, um die Verfolgung wiederaufzunehmen. Immer noch wie betäubt, schlug Edmond erneut den Weg zur Royal Society ein. Eher ein Reflex, denn im Grunde war ihm viel mehr danach, sich in sein Bett zu verkriechen und die Welt dort draußen Welt sein zu lassen.

»Sir! Warten Sie!«, rief hinter ihm ein Junge. »Mister Halley! Bitte, Sir!«

Edmond zog die Brauen zusammen, blieb stehen und drehte sich um. Ein Junge mit schmuddligen Hosen kam ihm keuchend nach. Er hielt einen Ausschnitt des Zeitungsartikels in Händen, der vor einer Woche über Edmond und seine Berechnung der Sonnenfinsternis gedruckt worden war.

Vorgewarnt musterte er den Jungen mit prüfendem Blick. Doch der Knirps musste erstmal wieder zu Atem kommen. Schnaufend stand er vornübergebeugt da, während sich sein Rücken im schnellen Rhythmus hob und senkte.

»Was willst du, Junge?«, fragte Edmond barsch.

»Eine Nachricht, Sir. Ich soll eine Nachricht überbringen.«

Edmond schwante nichts Gutes.

»Die Lady hat mir den Artikel gegeben, damit ich Sie erkenne, Sir«, erklärte der Junge, nachdem er sich wieder aufgerichtet hatte.

»Welche Lady?«, fragte Edmond misstrauisch.

»Mistress Delainy. Weil es doch diesen Aufruhr gab und der Constable kommen musste. Sie sagte, ich soll Sie suchen.« Damit streckte er Edmond einen kleinen gefalteten Brief entgegen.

Es war tatsächlich Mistress Delainys Handschrift, das konnte Edmond sofort an den weiten Bögen der Anfangsbuchstaben erkennen.

Geehrter Mister Halley,

bitte kommen Sie umgehend nach Hause.

Es ist etwas Furchtbares geschehen!

Gezeichnet

Mistress Delainy

Das klang ernst, wenn auch ziemlich vage. »Seit wann suchst du mich?«, fragte Edmond.

»Ist schon ein Weilchen her, Sir. Hab mich aber wirklich beeilt, weil die Lady so aufgelöst schien. War erst im Park, weil’s hieß, da könnt ich Sie abfangen. Aber damit war’s nichts. Da bin ich hier entlang und zack, sind Sie mir ins Auge gesprungen. Ich hab nämlich gute Augen«, erklärte der Junge eifrig.

Edmond wusste, wieso. Er griff in die Hosentasche und reichte dem kleinen Boten eine Münze für seine Bemühungen. Dann eilte er den Weg zurück. Alles Weitere war vorerst nebensächlich.

7.
Nimues See

Paimpont

Rian belud ihren Frühstücksteller mit allem, was das Hotel-Büfett zu bieten hatte. Dampfende Croissants, knackig frisches Baguette mit einem großen Stück Butter und dazu Ei, Aufschnitt und eine Handvoll Beeren, die sie oben drüberstreute.

»Willst du den ganzen Ort durchfüttern?«, scherzte David.

»Ich sorge nur vor«, entgegnete Rian mit breitem Grinsen und setzte eine Erdbeere obenauf.

Ihr Bruder versuchte gute Laune zu verbreiten, doch sie sah die dunklen Ränder unter seinen Augen. Er wirkte mitgenommen. Ausgelaugt. Nadjas Entführung und seine Hilflosigkeit in dieser ganzen Angelegenheit setzten ihm sichtlich zu.

Aber es war, wie die Blaue Dame und auch Fabio es gesagt hatten. Sie mussten zusammenbleiben, sich gegenseitig unterstützen. Wenn die Herrin vom See nach einem verlangte, dann hatte man sich einzufinden. Und zwar auf schnellstem Wege. Oder, zumindest ohne größere Zwischenstopps. So lauteten die elfischen Regeln. Egal, ob sie in der Anderswelt bei den Sidhe Crain waren oder hier in der Menschenwelt.

Rian war versucht, David gut zuzureden. Aber sie wusste, es würde alles nur noch schlimmer machen. Schließlich hatte er jetzt ein Stück Seele und damit auch ein ganz neues Repertoire an Gefühlen, die sich wie Wildpferde gebärdeten, wenn man die falsche Bewegung machte.

Stattdessen genoss Rian ihr Mahl, holte sich ein weiteres Glas Orangensaft und blickte durch die Fensterfront hinaus auf die noch vom Morgentau feuchte Terrasse. Durch den gestrigen Regen war es vergleichsweise kühl für die Jahreszeit. Der Himmel spannte sich in einem klaren Blau über den Ort. Es würde ein schöner Tag werden. Viel zu schön, um ihn damit zu verbringen, in ein mystisches Schloss unter Wasser zu hinabzusteigen. Aber genau das war ihr Ziel.

»Wie wäre es, wenn wir uns auf Fahrrädern auf den Weg zum See machen?«, schlug Rian erneut vor. Pierre hatte schließlich erwähnt, dass es einen Verleih gleich um die Ecke gab.

David verzog das Gesicht, trank von seinem Kaffee und bequemte sich erst nach einer Weile zu einer Antwort. »Willst du nassgeschwitzt vor Nimue treten?«

»Ach was. Wir nehmen einfach diese elektronischen Dinger. Die, mit denen das Fahren nicht so anstrengend ist. Das wird wie Rollerfahren in Italien. Wind im Haar, Sonne im Gesicht und die Welt lächelt einem zu.«

Ihr Bruder verdrehte die Augen. »Wenn es sein muss. Aber du organisiert die Dinger.«

»Abgemacht!« Rian sprang auf, griff sich am Büfett noch einen Apfel für zwischendurch und winkte ihrem Bruder. »Komm endlich, dir wird schon kein Zacken aus dem Krönchen fallen, wenn du mal in die Pedale trittst. Wir haben einen Ausflug vor uns.«

Brocéliande Bike Tour war kaum zweihundert Schritte entfernt. Eher eine Lagerhalle als ein Laden. Dafür aber mit genug Rädern, um auch ohne Reservierung zwei passende für unwegsames Gelände herauszusuchen.

»Mit den dicken Profilen ist es zwar anstrengender zu fahren, aber dafür halten sie die vielen kleinen Kanten aus, die sich in die Reifen drücken, wenn ihr über die Schiefersteinwege fahrt«, erklärte Serge.

Ein junger, dunkelhäutiger Kerl mit wundervoll schwarzer Wuschelmähne. Seine Augen funkelten wie zwei geschliffene Tigeraugen-Gemmen. Die Blicke, die er Rian zuwarf und die Stimmlage machten deutlich, dass er durch und durch Franzose war.

Rian nutzte die Gelegenheit und ließ sich von ihm auf der kleinen Faltkarte aus dem Hotel die beste Strecke beschreiben, die sie zum See führen würde. Es gäbe natürlich auch die Möglichkeit einer App auf dem Smartphone, aber die Elfenprinzessin winkte ab.

»Wenn es schnell gehen soll, dann könnt ihr an der D773 entlang nach Norden fahren. Immer geradeaus, bis kurz vor La Loriette. Nach der kleinen Siedlung rechts ab zwischen den Feldern entlang. Der See de Comper und das Chateau mit dem Artus-Zentrum sind ausgeschildert.« Serge malte die Strecke mit seinem Finger nach und tippte dann ans obere Ende des Sees. »Da gibt es auch Souvenirs oder Führungen durch das Schloss. Ich würde euch ja selbst rumführen, wenn ich Zeit hätte. Gesehen und gehört hab ich das alles schon tausend mal.«

»Das wird nicht nötig sein«, unterbrach David ihn sichtlich ungeduldig. »Komm, Rian. Der Tag wartet nicht.«

Der Tag vielleicht nicht, aber Nimue, dachte Rian und setzte ein bedauerndes Gesicht auf. »Danke dir. Au revoir.« Dann warf sie ihm eine Kusshand zu und schwang sich in den Sattel.

Ein bisschen in die Pedale treten, um in Schwung zu kommen, dann schaltete sie den Motor dazu und es ging rasant raus aus dem Lagerhaus und rein ins nächste Abenteuer.

Sie brauchten kaum zwanzig Minuten, bis sie von der Hauptstraße abbiegen mussten. Wenige Augenblicke später tauchte der See zu ihrer Rechten auf. Selbst durch die zahlreichen Bäume ringsum konnte Rian die eigenwillig schimmernde Oberfläche erkennen.

Dem Rat folgend, fuhren sie bis ganz hoch zur Nordspitze. Dort war zwar mit den meisten Touristen zu rechnen, aber der Beschreibung nach würden sie von dort am besten Zugang zum See erhalten. Außerdem würde es weniger auffallen, wenn sie die Fahrräder am Schloss abstellten, statt mitten im Gestrüpp oder gar zwischen den Bäumen im Wäldchen.

 

Überraschenderweise glich das Chateau auf den ersten Blick eher einer wehrhaften Feste. Von weiteren Besuchern war noch keine Spur zu sehen. Auch sonst lief ihnen niemand entgegen, um etwas zu verkaufen oder sie zu einer Führung hinein zu lotsen.

»Ganz schön ruhig hier. Bist du sicher, dass wir richtig sind?«, fragte David, während er mit elegantem Beinschwung von seinem Fahrrad stieg.

Rian zuckte mit den Schultern, ließ das Rad ausrollen, bis sie in einem kleinen Hof ankam. Dort lehnte sie ihr Rad an die verwitterte Steinmauer und kramte die Karte aus der engen Hosentasche. »Das ist die Stelle, die der Verleiher uns markiert hat.«

Im Grunde war es völlig egal, ob das hier ein Publikumsmagnet war oder nicht. Sie brauchten keine Führung. Zumindest keine, die sich so einfach buchen ließ. Vielleicht war David das kleine Problem noch nicht aufgefallen, ihr aber schon. Die Blaue Dame hatte ihnen gesagt, wohin sie kommen sollten, aber nicht, wie sie das tun konnten. Denn natürlich gab es keinen offensichtlichen Pfad zu Nimues Palast. Und auch kein sichtbares Gebäude. Das alles lag unter Wasser. Magisch geschützt und seit Jahrhunderten im See verborgen.

»Lass uns am Ufer entlanggehen und die ungestörte Zeit ausnutzen«, schlug Rian vor.

Ihr Bruder gab einen leidlich begeisterten Laut von sich, stellte sein Fahrrad ebenfalls ab und marschierte ohne weitere Worte voraus, einen schmalen Trampelpfad entlang. Die Bäume standen auf der westlichen Seite in einer losen Doppelreihe, während es am östlichen Ufer weite Freiflächen und eine kleine Einmündung gab. Genau darauf steuerte ihr Bruder instinktsicher zu.

Der Nachteil des Geländes war, dass sie keinerlei Deckung hatten. Was auch immer sie versuchen würden, um den Durchgang in Nimues Welt zu öffnen, jeder ankommende Tourist würde sie dabei beobachten können.

Doch Rian hatte sich zu früh Sorgen gemacht, denn ihr Bruder lief an der Stelle vorbei, weiter über das teils sandige, teils grasbewachsene Ufer, bis sie eine spitz zulaufende Bucht fanden, die tief genug in den angrenzenden Wald reichte, dass sie vor den Blicken anreisender Gäste des Chateaus geschützt waren.

Soweit, so gut, dachte Rian.

David blieb weiterhin wortkarg. Statt mit ihr zu reden, suchte er das Wasser ab. Aber da war nichts. Kein Schloss. Kein Weg. Nicht einmal Enten oder auch nur eine einzige Wellenbewegung.

Je länger Rian auf den See blickte, umso mehr bekam sie Zweifel, ob er wirklich aus Wasser bestand. Die Oberfläche wirkte zu glatt. Zu homogen. Sie glänzte beinahe metallisch und doch gab es kaum Reflexionen der Umgebung darin. Als würde das Licht und alles, was es mit sich trug, darin absorbiert und in flüssiges Quecksilber umgewandelt.

An diesem Ort lag unverkennbar Magie in der Luft. Alte Magie. Elementarkräfte. Archaische Zaubernetze, die alles überlagerten. Im See. In der Erde. In den Bäumen. Selbst die Insekten und Vögel hatten an diesem Ort den Hauch der Anderswelt an sich.

Nur mit Mühe konnte sie den Blick losreißen. Ihr Bruder hingegen wirkte weitgehend unbeeindruckt. Statt zu glotzen, bewegte er seine Hände und versuchte es mit dem klassischen elfischen Öffnungszauber. Einfach so, aufs Geratewohl auf den See gesendet. Doch die Welt blieb, wie sie war. Verschlossen.

Nachdem David erfolglos einige weitere Zauber gewirkt hatte, versuchte Rian ihr Glück. Sie sammelte Energie, bis violetter Nebel um ihre Hände waberte. Dann rief sie nach den Geistern des Wassers, der Erde und der Luft. Doch nichts davon brachte sie ans Ziel.

»O Herrin, Ihr habt nach uns verlangt! Dann lasst uns auch ein!«, rief David und warf eine Handvoll Uferkiesel auf die makellose Wasseroberfläche.

Ein mehrstimmiges Blubb ertönte, als die Steine eintauchten. Doch etwas fehlte. Die Ringe!, erkannte Rian. Die Kiesel verursachten keinerlei Wellen, die sich ansonsten üblicherweise in größer werdenden Kreisen vom Zentrum des Eintauchens ausbreiteten.

Vielleicht stimmte ihr erster Eindruck. Vielleicht war der See gar keiner, sondern ein einziges großes Trugbild. So wie es in manchen Legenden über das Heim der Herrin vom See gesagt wurde. Angeblich hatte Merlin selbst diesen Ort erschaffen. Eine perfekte Illusion, so hieß es, mit allerlei magischen Barrieren versehen, um allein den Bewohnern den Zutritt oder das Verlassen zu ermöglichen.

Doch bereits seit Jahrhunderten hatte niemand Nimue mehr gesehen. Niemand hatte Einlass erhalten und die Herrin vom See tatsächlich gesprochen. Sie war eine Fee von unerforschlicher Macht, und wie Morgana den Elementargeistern zugehörig.

»Du solltest vielleicht höflich darum bitten!«, ermahnte Rian ihren Bruder.

Doch sie fühlte, dass die Ermahnung zu spät gekommen war. Ihre Gedanken verlangsamten sich, wie von Watte gebremst. Über dem Wasserspiegel zog Nebel auf. Wie weiße Flammen, die in den sonst klaren Himmel emporstiegen. Flackernd und züngelnd, sich gegenseitig verschlingend.

»Ich werde so müde, David«, murmelte Rian. Ihre Lider wollten sich schließen. Waren so unglaublich schwer.

»Bleib wach! Das ist der Ort!«, hörte sie ihren Bruder rufen. Doch der Sinn seiner Worte wollte sich ihr nicht mehr erschließen. Ein wohlig warmes Dunkel breitete sich um sie aus, umfing sie, hob sie auf und bettete sie in einen wunderbaren Schlaf.

Jemand schüttelte sie. Sie fühlte Kiesel gegen ihr Gesicht drücken. »Es ist ein Abwehrzauber. Hörst du, Rian?« Davids Stimme klang wie ein fernes Echo. Etwas zog an ihr. Schlang sich um sie und holte sie langsam ein, wie einen Fisch an der Angel. »Weil ich Magie gegen den See gewirkt habe.«

Abwehrzauber. Wie ein Verteidigungsreflex. Langsam begannen sich Rians Gedanken wieder zu sortieren. Aber warum war David verschont geblieben?

Weil er mittlerweile eine Seele in sich hat, blitzte die Erkenntnis in ihr auf. Die Magie schien nur gegen Elfen gerichtet zu sein.

David kniete neben ihr. Vorsichtig schob er eine Hand unter ihren Kopf und legte die andere über ihren Arm. Rian lag auf der Seite, so als hätte sie sich zum Schlafen direkt an Ort und Stelle zusammengerollt.

Mühsam versuchte Rian sich mit der Hilfe ihres Bruders aufzurichten. »Bist du in Ordnung?«, fragte sie, während sie sein Gesicht gegen den strahlend blauen Himmel zu fokussieren versuchte.

Sein blondes Haar umrahmte Augen, Nase und Mund wie ein seidiger Vorhang und tauchte seine Züge in Dunkelheit. Doch in seiner Brust strahle sein Seelenherz so hellviolett, wie sie es noch nie gesehen hatte. Wie hypnotisiert starrte Rian auf das Licht und streckte eine Hand danach aus.

»Träumst du von einem zweiten Frühstück?«, sagte David und hob schelmisch grinsend eine Augenbraue.

»Ich bin nur ausgerutscht. Also hilf mir auf«, gab sie trotzig zurück, packte seine Schulter und zog sich an ihm hoch. »Bestimmt sollte der Zauber eigentlich dich treffen. Als Strafe für dein ungehobeltes Verhalten.«

»Dann ist Nimue entgegen der Legenden offenbar doch alt und blind geworden«, entgegnete ihr Bruder und grinste noch ein bisschen breiter.

»David! Das ist kein Spaß!« Rian wollte ihn umstoßen, doch ihr Bruder war schneller, machte in der Hocke einen Satz zurück und erhob sich dann lässig.

Als sie nachsetzen wollte, hob er beschwichtigend die Hände. »Immerhin wissen wir jetzt, dass wir richtig sind.«

»Eine Frage, die wir nicht gestellt hatten. Natürlich sind wir hier richtig. Es gibt nur diesen einen See, in dem Lancelot der Legende nach aufgezogen wurde. Das Gewässer, aus dem Artus sein Schwert erhielt.« Rian klang schon fast so wie Nadja, wenn sie wieder einmal etwas von ihrem gesammelten Wissen über die Mythen und Mysterien der Menschheit preisgab.

Auch David schien diese Assoziation zu haben, denn sein Lächeln wurde mit einem Mal sanfter, fast wehmütig, bevor er die Brauen zusammenzog. »Nimue treibt ihre Spielchen mit uns, während Nadja irgendwo eingesperrt auf ihre Rettung hofft. Es ist so typisch für unser Volk. Typisch für all die Wesen, die in den Tag hineinleben, als gäbe es kein Morgen. Immer noch! Obwohl auch uns die Zeit in einen Wettlauf mit dem Tod eingereiht hat.«