Helden und andere Probleme

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Es gibt eine Fernsehserie des Mitteldeutschen Rundfunks – eine der erfolgreichsten Serien des Deutschen Fernsehens überhaupt – mit dem Titel In aller Freundschaft. Das Rezept dieser Serie ist einfach: In jeder Folge wird wenigstens ein mehr oder weniger komplizierter Fall in ein Krankenhaus in Leipzig (die »Sachsenklinik«) eingeliefert, um den sich das Serienpersonal, Ärzte und Ärztinnen, Schwestern und Pfleger, zu kümmern hat, und meist geht es gut aus. Nebenbei (in manchen Folgen nicht nur nebenbei) geht das Privatleben der Protagonisten mit Ehekrisen, Liebschaften (zeitweise glücklichen, manchmal notorisch unglücklichen) weiter, und das ist es, was uns bei der Stange hält wie bei jeder Serie: Wir wollen wissen, wie es weitergeht. Hält es diesmal? Wie kommt das Ehepaar Heilmann (Heilmann heißt der Chefarzt – just think of that!) über den Tod ihrer Tochter und ihres Schwiegersohns hinweg? Wird Frau Dr. Globisch endlich den Richtigen finden? Wird Frau Dr. Eichhorn ewig die Melancholikerin vom Dienst bleiben müssen? Kommen der Assistenzarzt Dr. Brentano und Schwester Arzu wieder zusammen? Ich nenne die Titel immer mit, weil die Ärzte sich auch untereinander stets mit ihren Titeln anreden: »Könnten Sie sich das mal ansehen, Dr. Kreuzer?« »Gerne, Dr. Brentano!« Dabei ist es doch ein akademischer Fauxpas, wenn Gleichbetitelte einander mit Titeln versehen – jedenfalls heutzutage, Groddeck nannte Freud »Herr Professor«, und Freud replizierte: »Herr Doktor«, nun, er war aus Wien.

Dieser liebenswerte Unsinn der Serie mag uns aber auf die richtige Spur führen. Die Konflikte, mit denen uns die Serie heimsucht, sind im Kern fast immer Konflikte um den Narzißmus der medizinischen Protagonisten. Dr. Kreuzer ist ehrgeizig und hält sich für den besten und modernsten Arzt der Klinik und gefährdet dauernd die Freundschaft mit seinen Kollegen; Dr. Brentano muß für seine Prüfungen lernen, und Schwester Arzu bleibt allein zu Hause und schmollt: Sie sei ja nur »eine kleine Krankenschwester«; die Ehe der Heilmanns steht dauernd unter Streß, weil er Verabredungen, Hochzeitstage etc. vergißt, weil er in der Klinik aufgehalten wird. Er müsse schließlich Leben retten, sagt er; er wolle ihr damit wohl sagen, sie sei bloß Friseurin, antwortet sie darauf und dreht sich zur Wand. Es ist aber so, daß diejenigen, die die »Sachsenklink« nach strapaziösen und komplizierten Operationen (»Ich kann ihn nicht mehr halten, Blutdruck sinkt! Er wird tachykard!« »Defi, schnell! Weg vom Bett!« »Wir haben ihn wieder. Das war knapp.«) gesund wieder verlassen (das ist jedenfalls die Regel), dies der Tatsache, daß die Ärzte ihrem Beruf mehr Aufmerksamkeit schenken als ihren Lebenspartnern, verdanken (das gilt nicht nur für die männlichen Ärzte, bei den männlichen entspricht es nur mehr dem Klischee, weshalb es dort mehr ausgewalzt wird).

Interessant ist, daß es in dieser Serie ab und zu (und häufiger, wie mir scheint, als die Wahrscheinlichkeitsrechnung erlaubt) vorkommt, daß Chirurgen und Chirurginnen ihre eigenen Verwandten oder Partner auf dem Operationsplan vorfinden. In der Regel wollen sie – gegen alle Professionalität – selbst operieren, worauf dann der Klinikchef einschreiten muß (»Sie wissen doch …«). Klar: dem betroffenen Operateur könnte die Hand zittern, wenn er seine eigene Frau aufschneiden soll und wenn es an ihm hängt, ob er ihr Leben retten kann oder nicht. Wäre die Serie etwas weniger sentimental, könnte auch die Ambivalenz gegenüber dem geliebten Objekt zur Sprache kommen sowie der Umstand, daß nur der ein guter Chirurg ist, der gerne Körper aufschneidet (ich jedenfalls würde mich keinem Chirurgen anvertrauen, der kein Vergnügen an seinem Beruf hätte). Wichtiger aber scheint mir, daß durch den Verwandten auf dem Tisch die narzißtische Steuerung der Berufsausübung gestört wird – die Objektbeziehung (wie immer sie auch beschaffen sein mag) kommt ihr in die Quere. Der Chirurg muß sich vor zu großer Identifizierung – in Liebe oder Haß – mit seinem Patienten hüten. Er muß stolz auf die Präzision seiner Arbeit sein – und damit auf sich. Das Signal dafür ist in der Serie, daß die Chirurgen und Chirurginnen einander dauernd wechselseitig bestätigen (auch wenn sie einander zuvor in den Haaren gelegen haben), wie gut sie sind (»Ausgezeichnete Arbeit, Frau Kollegin!«).

Aus dem Nähkästchen geplaudert: Ich habe einmal ein kleines Buch geschrieben, das in die öffentliche Debatte, ob unter bestimmten Umständen die Wiedereinführung der Folter legitimierbar und mit dem Grundgesetz-Artikel I,1 vereinbar sei, eingreifen sollte. Das Buch wurde, obwohl zu Teilen rein juristisch argumentierend (was sich Juristen von einem, der nicht vom Fach ist, selten gefallen lassen), positiv angenommen. Nun ergab es sich, daß ein führender Jurist dieses Landes, mit dessen Ausführungen ich mich kritisch beschäftigt hatte, irgendwann einen Aufsatz schrieb, der mir eine Korrektur seiner früheren Ansichten auszudrücken schien. Ich merkte nun, daß mich das nicht nur von der Sache her interessierte, sondern daß mir die Phantasie – mehr war das nicht –, diese Veränderung sei auf Grund der Lektüre meines Büchleins erfolgt, außerordentlich gefiel. Nicht nur: die Situation hat sich verbessert, sondern: ich habe sie verbessert. Ohne solche Phantasien – die ich mir natürlich nicht immer bewußt gemacht habe, die man sich generell nicht immer bewußt macht – hätte ich das Buch gar nicht geschrieben. An einer Sache, die man für gut hält, bloß mitzuwirken, ist in der Regel kein zureichender Grund zum Handeln, sondern man will einen entscheidenden Beitrag leisten. (Und die Wirklichkeit kommt dem narzißtischen Antrieb entgegen: Da man, handelnd, keinen großen Überblick hat, sondern nur den Ausschnitt der Welt sieht, in dem man gerade tätig ist, vergrößert sich das eigene Tun notwendigerweise. In der Notaufnahme kann so – bei aller nervtötenden Routine – jeder angelegte Verband zu einem Beitrag zur Rettung der Welt werden. Und für den, der den Verband bekommt, ist das auch so.)

Worauf das hinausläuft, ist das Folgende: Der Held ist jemand, der seinen Narzißmus in einem Maße lebt, das der Alltag normalerweise nicht zuläßt (und vor allem: uns nicht gestattet, und das von uns im Alltag selten anderen gestattet wird). Der Held ist jemand, der dennoch Anerkennung, Bewunderung, Liebe erhält, ja zum Übermenschen (»Heros«) verklärt wird. Nicht trotz, sondern wegen seines Narzißmus, dessen Ausleben wir in unschuldiger Bewunderung ansehen können und der in uns die besagte Saite zum Klingen bringt, weil er einen a-sozialen Trieb als Antrieb für Handlungen nützt, die sozialen Tugenden entsprechen. Man könnte von einem »schuldlosen Narzißmus« sprechen, aber es ist wohl eher unsere Bewunderung, die uns schuldlos vorkommt, weil wir meinen, die sozial produktiven Tugenden zu bewundern, wo wir doch sein wollen wie der, der sich über die Welt der anderen erhebt. Wäre das anders, wir würden eben die Resultate schätzen, nicht die Taten und den, der sie vollbracht hat, bewundern. Die Resultate repräsentieren das gemeinschaftliche Gute (wenn wir uns – kulturell – einig sind, was das ist, was, siehe oben, oft nicht der Fall ist), Helden das über die Gemeinschaft sich Erhebende, die extrem gesteigerte, also seltene Form des Handelns für das Allgemeine – und so gibt es immer eine Kluft zwischen dem, was wir schätzen, weil es dem Allgemeinen zugute kommt, und der Bewunderung für den Helden.

Susan Neiman hat in ihrem Kapitel über die »Heroes of Enlightenment« Sätze zitiert, die das sozial Produktive der narzißtischen Antriebe dokumentiert. Sarah Chayes: »I sometimes feel I’m laying my body down as a bridge over the chasm that Bush and Bin Laden are trying to open.« Der nächste Satz lautet: »Not that I suppose my efforts are large enough to make a difference.«[24] Wäre dieser zweite Satz nicht, der erste wäre purer Größenwahn. Aber wäre der erste nicht, der zweite wäre pure Resignation. Es braucht das Realitätsprinzip des zweiten Satzes kombiniert mit der narzißtischen Phantasie des ersten, um etwas auszurichten – und um unsere Bewunderung zu erzeugen. – »I don’t want to act for the record!« schreit Shulman einen Mitarbeiter an und dementiert expressis verbis den Helden-Status (oder das Bedürfnis, nach ihm zu streben). Doch dann folgt nicht etwa: »This misery has to come to an end«, oder: »We have to help to end this misery«, sondern: »I just want this misery to end.«[25] Es braucht solche Gedanken, solche Sätze. »You are not going down there to try to be heroes […] You have a job to do«,[26] sagt Bob Moses zu den weißen Freiwilligen, die bei der Kampagne in Mississippi mitmarschieren wollen. Das war nötig, um die Aktionsbereitschaft einzuhegen. Gleichzeitig wird berichtet, daß Moses ein hinreißender Redner war, dem es gelang, Martin Luther King als Redner zu deklassieren. Niemand ist ein guter Redner, der sich nicht als Redner genießt.

Ohne unsere Sehnsucht, unseren Narzißmus bewundern zu lassen (und dieses in der Identifikation zu phantasieren), gäbe es keine Helden. »Es erscheint«, schreibt Freud, »[…] daß der Narzißmus einer Person eine große Anziehung auf diejenigen anderen entfaltet, welche sich des vollen Ausmaßes ihres eigenen Narzißmus begeben haben […] der Reiz des Kindes beruht zum guten Teil auf dessen Narzißmus, seiner Selbstgenügsamkeit und Unzugänglichkeit, ebenso der Reiz gewisser Tiere, die sich um uns nicht zu kümmern scheinen, wie der Katzen und großen Raubtiere, ja selbst der große Verbrecher und der Humorist zwingen in der poetischen Darstellung unser Interesse durch die narzißtische Konsequenz, mit welcher sie alles ihr Ich Verkleinernde von ihm fernzuhalten wissen.«[27] – Man bedenke, wie diese Charakteristik des Narzißmus – Selbstgenügsamkeit, Gleichgültigkeit – der klassischen Definition des »Erhabenen« entspricht.

 

Wäre das anders, könnten wir keine Helden bewundern, die Dinge tun, die uns moralisch eigentlich nicht in den Kram passen oder die wir wenigstens selber nicht tun würden. In den Rocky-Filmen muß der Protagonist von seinem Trainer (und ganz zuletzt, als letzter Anstoß, von seiner Frau) narzißtisch aufgerüstet werden, er muß nur noch den Kampf und den Triumph am Ende sehen, nicht mehr die Familie oder was auch immer. In Rocky IV kommt es dahin, daß sein Gegner, ein linientreuer Sowjetbürger, der für die Glorie des Vaterlands der Werktätigen in den Ring steigt, am Ende seinem Publikum zuruft: »Ich kämpfe für mich! – für mich!«, was den oberflächlichen politischen Sinn hat, daß der im Kollektiv Großgezogene endlich erkennt, daß jeder seines eigenen Glückes Schmied ist, aber vor allem bedeutet, daß er ohne Mobilisierung seiner narzißtischen Energien nicht durchhalten kann. Rockys Ecke rüstet dessen Grandiosität mit Appellen an seine Aggressivität auf: »Schlag den russischen Affen tot!« Nach dem Kampf folgt, natürlich, ein Appell für Frieden und Völkerverständigung, und Gorbatschow applaudiert, aber das ist Zugabe.

Nun aber zu Achill, der nie fehlen darf, wenn es um Helden geht, und zu einem Film, der mit einem gewissen Recht keine guten Kritiken bekam, der aber in zwei Szenen sehr genau das wiedergibt, was der griechische Inbegriff des Helden ist, Wolfgang Petersens Troja mit Brad Pitt als Achill. In der ersten dieser zwei Szenen wird Achill (die Sache spielt vor dem Feldzug nach Troja, aber Achill ist schon als, wenn das Oxymoron erlaubt ist, freiwilliger Held vom Dienst für Agamemnon tätig) von einem Knaben aus seinem Zelt, wo er dekorativ nackt unter einer Felldecke mit einer namenlosen Frau in postkoitalen Träumen versunken ist, geholt: Er solle gegen den besten Krieger des gegnerischen Heeres antreten, alle warteten auf ihn und so weiter. Achill eilt aus dem Zelt, rüstet sich, steigt aufs Pferd, der Knabe sagt, der ihn erwarte, sei der größte Mann, den er je gesehen habe, »ich würde nicht gegen ihn kämpfen wollen.« Achills Antwort: »Darum wird sich auch niemand an deinen Namen erinnern.«

Darum geht es, daß man sich an seinen Namen erinnert, koste es, was es wolle. Der zweite Ausschnitt zeigt die Landung der Griechen an der Küste Trojas mit optischen Anspielungen auf den Film The Longest Day, aber sonst archaisch-griechisch. Der riesigen griechischen Flotte voraus eilt ein Schiff mit schwarzem Segel, es ist das Achills und seiner Krieger, der Myrmidonen. Der Strand ist wohlbewehrt, Hindernisse, angespitzte Pfähle und so weiter, vor allem voller kampfbereiter trojanischer Krieger.

Kamera auf Brad Pitt, der mit dem Schwert auf den Strand weist: »Wißt ihr, was euch da erwartet?«, und wir Zuschauer, die wir Kriegsfilme gewohnt sind, erwarten etwas wie »Die Hölle!« und »Haltet durch, Männer!«, aber das wäre nicht griechisch, Achill ruft: »Die Unsterblichkeit! Holt sie euch!« Hier hat man den Narzißmus eines mörderischen Helden, der einer Kriegerkultur entstammt. Auch den eines todesbereiten Helden, denn er weiß, daß er vor Troja fallen wird, nur nicht wann. Solchen kriegerischen Narzißmus kann nur der Pazifist ganz zurückweisen. In Kriegen – ungerechtfertigten wie gerechtfertigten – braucht es solche Leute wie Winkelried, der die Lanzen der Gegner packt und sich das Bündel in die Brust stößt, um eine Gasse zu brechen, wie diejenigen, die als erste die Festungsmauer ersteigen – mit meist letalem Ausgang, und wenn nicht, mit einer der höchsten Auszeichnungen bedacht, die Rom zu vergeben hatte. Spielberg widmete dem D-Day ein Heldenepos (Saving Private Ryan).

Im Falle Achills nun zeigen sich die Risiken eines narzißtisch übersteuerten Helden der Gewalt. Seine in der Ilias geschilderte Zeit vor Troja ist ein Wechselbad von narzißtischen Kränkungen und destruktiver Raserei. Zunächst zieht er sich vom Kampf zurück, weil er nicht standesgemäß behandelt wird. Der Heerführer Agamemnon nötigt ihm seine Kriegsbeute, die schöne Briseis, ab, dann wird sein Liebhaber und minor-size-hero Patroklos von Hektor mit ihm verwechselt, dann kämpft Achill wieder, wütet unter den Trojanern, doch kurz bevor er Aeneas erschlagen kann, wird dieser von den Göttern vom Schlachtfeld entrückt, er wütet umso mehr, und nach allerlei kämpferischen Großszenarien stellt er Hektor, tötet ihn, sagt dem Sterbenden, er werde dessen Leichnam die konventionellen Ehren nicht erweisen, und statt mit den übrigen Griechen die Stadt zu erstürmen, kehrt er ins Lager zurück, um dem Leichnam des Patroklos ebenjene dem Hektor verweigerten Ehren zu erweisen, und schleift die Leiche Hektors hinter seinem Streitwagen her. Er hat damit – ich sagte es schon – den Komment des Gentleman-Kriegers verlassen. Homer macht deutlich, daß für ihn das Gemetzel an den Trojanern ebensowenig schrecklich oder gar verwerflich ist (man denke: ein Mann gegen Hunderte!) wie der Sieg über Hektor – erst bei der Behandlung des Leichnams beginnt der Abstieg aus den Sphären des Heldentums.

Daß Achill sich zuvor vom Kriege zurückgezogen hatte, ist wie sein Wiedereintritt in den Kampf das Thema der Ilias: »Singe, Göttin, den Zorn des Peleiaden Achilleus« (Latacz hat für Zorn »Groll«), und zwar ist die Behandlung, die ihm vom Heerführer Agamemnon zuteil wird, geeignet, den aristokratischen Krieger zu kränken – aber geht er in seiner Kränkung nicht zu weit, wenn er den Griechen Niederlagen wünscht, damit sie wissen, was sie an ihm haben? Nun, jedenfalls ist diese Bitte aus dem Geiste narzißtischer Übersteuerung zu verstehen, und wie um diese zu strafen, fällt ihr ja auch Patroklos zum Opfer, was zum Wiedereintritt Achills in den Kampf und zu seinem endlichen Aus-der-Rolle-Fallen nach Hektors Tod führt.

Eigentlich ist Achill ja kein Held, wie wir heute meinen, daß er im Buche stehe. Zunächst versucht er, dem Krieg zu entgehen, indem er sich auf den Rat seiner Mutter hin als Frau verkleidet unter Frauen versteckt und erst durch eine List des Odysseus entlarvt wird, dann beschwert er sich permanent bei seiner Mutter, der Meergöttin Thetis, über die Kränkungen, die er über sich ergehen lassen muß.

Mutter, weil du mich nur zu kurzem Leben gebarest,

Schuldete mir der Olympier wohl besondere Ehre,

Zeus mit donnernder Macht! Doch jetzt gewährt er mir gar nichts!

Siehe, des Atreus Sohn, der gewaltige Fürst Agamemnon,

Hat mich entehrt und behält mein Geschenk, das er selbst mir entrissen!

Also sprach er mit Tränen; ihn hörte die herrliche Mutter

– er klagt nämlich so laut, daß man es bis auf den Meeresgrund hört.

Eilend tauchte sie auf aus den schäumenden Fluten wie Nebel,

Setzte sich dann dem bitterlich weinenden Sohn gegenüber,

Streichelte ihn mit der Hand und sprach ihm zu mit den Worten:

Liebes Kind, was weinst du, und was betrübt dir die Seele?

Er erzählt seiner Mutter, was vorgefallen ist, und sie sagt:

Wehe mein Kind […]

Jetzt aber stirbst du so bald und mußt noch leiden wie niemand!

Sie ist es, die dem Sohn empfiehlt, sich vom Kampf fernzuhalten. Als Patroklos fällt, jammert Achill so, daß man fürchtet, er werde Selbstmord begehen, und wieder so laut, daß man es bis auf den Grund des Meeres hört. Thetis eilt zu ihrem Sohn und wiederholt die schon bekannten Worte:

téknon, ti klaíeis …

Liebes Kind, was weinst du, und was betrübt dir die Seele?

Weder das Weinen und Klagen noch die Anrede »Mein Kind« müssen uns befremden. »Mein Kind« (téknon) ist die Anrede der Eltern ihren Kindern gegenüber, auch wenn sie erwachsen sind. Und das Weinen?: Nun, die griechischen Heroen reagierten durch die Bank primärprozeßhaft und nicht nach unserem heutigen Rollenverständnis.

Thetis ist es, die für die Rüstung sorgt, in der Achill später Hektor besiegt. Das alles ist, griechisch, nicht befremdlich. Eher befremden könnte uns, daß die Ehrverletzung schwerer wiegt als der baldige Tod, aber das zeigt uns nur, daß wir von einer aristokratischen Kultur lesen – auch bei uns hat sich der Brauch des Duells, wo ebenfalls das Leben wenigstens riskiert wurde, um eine Kränkung aus der Welt zu schaffen, lange gehalten. – Nun bewahren aber die Mythen und die Hypostasierungen aristokratischer Gesellschaften zu heroischen Zeitaltern in Geschichten, die man Pseudo-Erinnerungen nennen könnte, allerlei psychologische Wahrheiten – direkt und indirekt. Direkt: Freud deutete nicht den Ödipus-Mythos, sondern wies darauf hin, daß in Sophokles’ König Ödipus der ödipale Konflikt im Medium der Traumdeutung bereits erwähnt wird. Indirekt: In der Konstellation Achill / Thetis wird die Ambivalenz der Mutterliebe dargestellt. Einerseits die Liebe, die so weit geht, daß der Sohn sich lächerlich machen soll, wenn er nur der Mutter erhalten bleibt (seine Verkleidung als Frau unter Frauen, aus der ihn Odysseus erlöst, indem er ihm Waffen zeigt, zu denen Achill sofort greift); auch die Anteilnahme an der Kränkung des Sohnes hat, durch den Rat, sich des Kampfes zu enthalten, diesen Zug, aber eben auch, daß die Kränkung des durch die Mutter wenigstens halb-göttlichen Sohnes mehr wiegt als der gesamte Krieg, der ohne ihn, so das Orakel, nicht gewonnen werden kann. So oder so – er ist unentbehrlich, und es ist nicht zuletzt die Mutter, die ihm das unermüdlich sagt.

Daß Achill Briseis nicht bekommt, stört ihn nicht wegen des verlorenen Objekts, sondern wegen der Kränkung. In Patroklos liebt er den Achill-Look-alike. Die Mutter stabilisiert ihn, indem sie ihn tröstet und indem sie seinen Narzißmus anheizt – auf mütterlich ambivalente Weise: Sie möchte einen Helden-Sohn und gleichzeitig einen, der sich nicht in Gefahr begibt. Am Ende führt Achill nicht zu Ende, was er begonnen hat. Er kämpft nach dem Sieg über Hektor den Kampf nicht bis zum Sieg über die Stadt, die er doch entscheidend geschwächt hat, er erobert nicht Troja an der Spitze des griechischen Heeres, sondern wendet sich ab, um Patroklos, seinem Alter ego, eine Zeremonie der Verklärung zu widmen und um den Leichnam des Hektor zu schänden. Aus dem latent a-sozialen Helden wird ein anti-sozialer Berserker.

Helden kann es nicht geben, ohne daß ihr Ich in ungewöhnlichem Maße ihre Person bestimmt. Daß man sich an seinen Namen erinnern werde, sagt Achill in dem Film Troja, und Susan Neiman sagt über David Shulman und die anderen Friedensaktivisten, die palästinensischen Familien helfen, ihre agrarische Subsistenz aufrechtzuerhalten: »they will remember who helped them stay«.[28] Helden kann es nicht geben, wo sie nicht als Personen bewundert werden. Und Helden kann es nur geben, wenn sie jene narzißtische Saite in uns zum Klingen bringen, die kräftig anzuschlagen wir normalerweise nicht die Gelegenheit haben oder eben allenfalls in der Phantasie, »something outside the usual routine« zu tun.

Ich habe zu Beginn den Begriff des Helden aus einer Parodie des Nibelungenliedes zu gewinnen gesucht – nun endlich zu John Lennon. »Working Class Hero« beginnt mit der eingangs zitierten Zeile:

As soon as you’re born they make you feel small

und geht weiter mit:

By giving you no time instead of it all

Till the pain is so big you feel nothing at all

und dann folgt der Refrain, der durch den Sound und den Vortrag so klingt, als wäre tatsächlich nichts plausibler als das:

A working class hero is something to be.

Das ganze Lied ist eine Aufzählung von Demütigungen, Schmerzen und die Schilderung einer Abrichtung hin zu einem funktionierenden, ja auch durchaus erfolgreichen Gesellschaftsmitglied –

When they tortured and scared you for twenty-odd years

Then they expect you to pick a career

When you can’t really function you’re so full of fear

A working class hero is something to be.

Was ist das? Der Held der Arbeiterklasse als Ausweg aus einer demütigenden Kleinbürgerkarriere? Redet so ein Held der Arbeiterklasse, vielleicht im Rückblick? Redet so ein Held? Nein, so reden Helden nicht, die einen nicht wie die andern. So reden die, die Helden sein wollen und denen die Phantasie so weit durchgeht, daß sie meinen, sie wären wirklich welche. John Lennon war ein wunderbarer Musiker (einer der besten Rock’n’Roll-Sänger, die es gegeben hat, hören Sie sich noch einmal »Twist and Shout« an), der allerlei erfreuliche und unerfreuliche Streiche in der Öffentlichkeit gespielt hat, aber »a working class hero«? Wollte er selbst das auch sein? »Just follow me« – man stelle sich das eingangs beschriebene Bild vor Augen: gereckter Arm, geballte Faust, Ballonmütze – ein Working-class-hero-look-alike. Kein Achill, nicht einmal ein Patroklos. Aber ein zeit seines Lebens narzißtisch Übersteuerter, bis hin zu seiner Selbstabschließung im New Yorker »Dakota«, gewiß in der Meinung, die Welt drehe sich ohne ihn wenigstens anders – »singe, Göttin, den Zorn …« –, einer Selbstabschließung, aus der er (wie Montaigne aus seiner Exklusion mit den Essais, in denen er »Ich« sagte wie keiner vor ihm) mit einigen betörend schönen Liedern, besser aussehend denn je, wieder auftauchte und in seinem letzten Interview seinen früheren Allüren den Laufpaß gab – und dann wurde er erschossen, und der gewaltsame Tod der großen Narzißten verklärt sie immer, er mag so banal sein wie der Autounfall von Albert Camus.

 

Doch einen Augenblick noch. Der Song vom »Working Class Hero« ist doch eigentlich eine deprimierte Selbstauskunft. Von der Pose mit Ballonmütze und geballter Faust bleibt nur das Eingeständnis, woher es kommt. Das Geständnis, daß auf der Couch des Analytikers gemacht werden könnte, Lennon aber der ganzen Welt macht, das Geständnis, daß da einer so klein gemacht worden ist, daß er sich selbst verloren hätte, hätte ihn nicht eine Phantasie aufgefangen. Er habe sich immer gewundert, hat er später erzählt, daß niemand bemerkt habe, daß er ein Genie sei. Lennon hat übrigens Auskunft gegeben, wie das alles anfing. Seine Mutter hatte ihn früh bei seiner Tante in Pflege gegeben, von deren Haus er auf das Waisenhaus, das den Namen »Strawberry Fields« trug, blickte, und als sich die Mutter wieder um den Halbwüchsigen kümmern wollte, wurde sie von einem betrunkenen Polizisten totgefahren. Das Lied »Mother« mit seiner Refrain »Mother don’t go / Daddy come home!«, gesteigert bis zu einem heiseren Schrei, gibt deutlicher Auskunft über frühen und schrecklichen Objektverlust (wie man so sagt) als viele Texte anderer Leute, die auch von so etwas handeln.

»Mother don’t go / Daddy come home!« – der Stoff, aus dem die Helden sind? Der Stoff, mit dem unsere Helden-Phantasien befeuert werden? Manche Helden gewiß, manche Phantasien auch. Bei manchen wird die Unmöglichkeit, die Leere zu füllen, das Scheitern der Kompensation zu mörderischer Wut. Das sind vielleicht die, von denen die großen Geschichten erzählen. Das muß aber so nicht sein. Entscheidend ist, was die Helden – mit solchem Hintergrund oder ohne ihn – aus sich machen. Und was sie uns bedeuten, hängt an unseren narzißtischen Bedürfnissen – und unseren zivilisatorischen Präferenzen.