Das andere Volk Gottes

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1.3.1 Weihnachten und die Religiosität der Moderne

Die moderne Religiosität wendet sich, so die These Morgenroths, vom Kreuz als dem historischen Kern und Anfang des christlichen Glaubens dem Gedanken der Menschwerdung und damit einem ihr am meisten entsprechenden theologischen Entwurf zu.94 Mit dem Slogan „Es gibt ein Leben vor dem Tod“ lässt sich diese Affinität treffend zusammenfassen.95 Auf der Suche nach Antworten auf solcherart Richtungswechsel verweist er auf den Wandel der Religion im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts, der sich auf den Begriff der Individualisierung von Religion bringen ließe. Religion, so fasst er die Rede Thomas Luckmanns von der „unsichtbaren Religion“ zusammen, habe ihre Sozialform verändert, indem sie aus den Formen der kirchlichen Institution auswanderte und zum Begleiter des Individuums geworden ist.96 Säkularisierung meine entsprechend lediglich den Bedeutungsverlust der Kirchen, nicht aber das Verschwinden einer privaten Religiosität. Neben Thomas Luckmann führt er auch Alfred Schütz und Peter L. Berger an, um Religion im Rahmen der neueren Religionssoziologie als anthropologische Konstante zu definieren, die allerdings unterschiedliche Gestalten annehmen kann.97 Die Religion ist nach Aufklärung und Säkularisierung also zweifelsohne vorhanden, wiewohl sie sich außerhalb institutioneller Bindungen verflüssigt hat. Den Grund sieht Morgenroth in einem vielfältigen und strukturellen Wandel der Moderne selbst. Neben Schlagworten wie Rationalisierung, Globalisierung und Technisierung sind die Entwicklungen der Moderne insbesondere als Individualisierung und Pluralisierung treffend zu beschreiben. Es lässt sich so ein „Bruch in der Moderne“ diagnostizieren:98

„Wir sind angekommen in einer „Post“-, „Spät“- oder „Nach“- Moderne, in einer „zweiten“ Moderne, die sich abhebt gegen eine Epoche, die brüchig geworden ist, gerade weil sie die ihr eigentümlichen Denkbewegungen auf sich selbst angewandt hat.“99

Die Moderne hat ihre eigenen Antriebskräfte und Voraussetzungen also selbst überwunden. Ihre Metaerzählungen von der Emanzipation der Menschheit in der Aufklärung, der Teleologie des Geistes im Idealismus oder eine Hermeneutik des Sinns in Gestalt des Historismus, die je auf ihre Weise den Fortschritt als höchsten Wert legitimierten, sind beendet. Der moderne Fortschritt, welcher seinerzeit Pest, Hunger und Kriege zu beenden half, ist insofern gebrochen, als er nunmehr nicht die menschliche Lebensqualität bis ins Unermessliche steigert, sondern seinerseits neue Unverfügbarkeiten hervorbringt: Hiroshima, die Ölkrise oder Tschernobyl sind nur prominente Beispiele einer Bewegung, die ihre Spuren in Denken und Empfinden vieler Menschen hinterlassen hat. Hier werden Parallelen zu den einführenden Definitionen im Rahmen der verschiedenen Moderne-Konzeptionen sichtbar (vgl. 0 2).

Der zerbrochene ganze Sinn zeitigt nun Individualisierung und Pluralisierung, die ihrerseits das Individuum vor den Zwang der Wahl stellen. Menschen werden auf diese Weise in die Pflicht genommen, ihrem Leben selber einen Sinn zu geben und ihren Lebensentwurf fernab von Herkunft oder Schicksal zu wählen bzw. zu bestimmen:

„Wer ich bin, was mein Lebenssinn ist, warum ich so und nicht anders bin, warum ich überhaupt bin, was mein Leben zusammenhält, das sind die religiösen Fragen, die jeder Einzelne individuell beantworten muss, ohne auf Pauschalantworten zurückgreifen zu können. Und im Angesicht der eigenen Unverfügbarkeit gilt es, den integralen Sinn des je eigenen Lebens zu erheben. […] ‚Religion‘ erscheint also heute vor allem als ein lebensbegleitendes Gefühl, als der Kitt der persönlichen Erfahrungen, als der Stoff, der die biographischen Stationen sinnhaft zusammenhält.“100

Morgenroth zieht dabei für den Zusammenhang unserer Ausarbeitung folgende Schlussfolgerungen:

„So verwundert es auch nicht, dass im Mittelpunkt dieser individualitätsspezifischen Religiosität das Bedürfnis steht, ‚Fixpunkte für die individuelle Lebensgeschichte zu schaffen, rituell begangene Lebenshöhepunkte, die widerständige Begrenzungen im Projekt des eigenen Lebens bieten, soziale Anerkennung erfahren lassen.‘“101

Dieses „Projekt des eigenen Lebens“ und darin jene neue Art von Religiosität werden nun nicht mehr vorwiegend innerhalb der bekannten Institutionen gelebt und gefunden: Individualisierung heißt hier in erster Linie Privatisierung, die ihrerseits ihren vornehmsten Raum, also die Familie für ihre Religionsausübung wählt. Also gehört die Familie zu den entsprechend ersten Orten, an denen Individuen Rechenschaft über ihre Identität ablegen. So wird die familiäre Kasualpraxis ebenfalls durch andere individualisierte Passageriten, als rituell begangene Fixpunkte für die individuelle Lebensgeschichte wie runde Geburts- bzw. Hochzeitstage oder schulische Übergänge ergänzt. Falls jedoch die Kompetenz dazu den familiaren Rahmen übersteigt, kommt man auf die professionellen Helfer – ähnlich der üblichen Praxis in anderen Lebensbereichen – zurück:

„Denn niemand fängt bei Null an, wenn es darum geht, das eigene Leben zu begreifen. Wie selbstverständlich wird man sich zunächst an die „Fachleute“ wenden, an die Institutionen der Religion. Wie in vergangenen Zeiten bleibt die Konstruktion eines Weltbildes und einer persönlichen Wertehierarchie eines als sinnvoll begriffenen Lebens eine notwendig soziale Handlung.“102

An dieser Stelle zeigen sich bereits bemerkenswerte Parallelen zu oben referierten Studien „Die unbekannte Mehrheit“ und „Was Menschen in der Kirche hält“. Denn einerseits erscheint hier die je individuelle Biographie mit ihren Wendepunkten und Unverfügbarkeiten deutlich in den Mittelpunkt der Religionsausübung gerückt. Die Identitätsarbeit, die eigene Biographie bzw. Existenz spielt folglich auch hier eine nicht unwesentliche Rolle. Sie erinnern somit an den christlichen Berufungsbegriff als einen bereits oben eröffneten Anknüpfungspunkt. Zum anderen wird eine Art „Kundenmentalität“ ablesbar, die bereits im Rahmen der Studie „Was Menschen in der Kirche hält“ während eines Interviews in Metaphern wie „Kirche als Supermarkt“ oder „Verein“ benannt wurde (vgl. I 1.2).

An den Wende- und Feierpunkten der menschlichen Biographie, so ließe sich der Befund weiterhin bündeln, wird also die unsichtbare Religiosität anlässlich der Notwendigkeit von absichernden Passageriten sichtbar. Diese Erkenntnisse machen bis hierher die Perspektive auf den Feierwunsch im Rahmen kirchlich bestimmter Riten transparent und helfen, ihn im weiteren Verlauf der anschließenden Überlegungen besser zu verstehen.

Im Folgenden soll nun der Rahmen dieses Feierwunsches näher ausgeleuchtet werden. Bei den für das Weihnachts-Christentum wichtigen Stichworten Familie und Fest wird dies konkret auf unseren Wahrnehmungszusammenhang hin geschehen.

1.3.2 Die Familie

Morgenroth weist auf die familienhafte Inszenierung des Weihnachtsfestes hin: Von überall her kommen die Kinder, soweit sie noch keine eigenen Nachkommen haben, um der in jedem Jahr ähnlichen bzw. gleichen Familienliturgie beizuwohnen, die sich überall unterscheidet und sich doch idealtypisch verdichten lässt: Verschließen des Weihnachtszimmers, Schmücken des Weihnachtsbaums, Kaffeetrinken, gemeinsamer Kirchgang, Anzünden der Kerzen, während die Kinder draußen auf das Glöckchenklingeln warten, Betreten des festlich geschmückten Weihnachtszimmers, Weihnachtswünsche, Weihnachtsgeschichten lesen, musizieren, singen, Bescherung, gemeinsames Weihnachtsessen und gegebenenfalls der Besuch der Christmette. Die Vorbereitungen dieser durchorganisierten Festlichkeit beginnen allerdings schon weitaus früher und sind nach Generationen getrennt: Wunschzettel schreiben, Weitergeben durch die Eltern an Christkind bzw. Weihnachtsmann. Kinder dürfen alles glauben, aber nicht alles wissen und tragen durch Gedichte oder musikalische Vorträge und ihr ‚Bravsein‘ zur Metamorphose der Familie in eine ‚heilige Familie‘ bei. Diese feiert sich selbst und zieht den Kreis der ihr Zugehörigen anders als im Verlauf des übrigen Jahres: Alle anderen, selbst die besten Freunde haben außen vor zu bleiben. Denn

„[…] an Weihnachten feiert sich die soziale Einheit der Familie selbst und inszeniert ihren eigenen Ursprungsmythos, indem sie zusammenkommt, ihre eigene Familientradition pflegt und auf eine Familie blickt, die die „heilige“ Familie genannt wird.“103

Umso schmerzlicher erfahren diejenigen, deren Familie selbst zu Weihnachten aufgrund familialer Zerklüftungen oder Trennungen nicht imstande ist, sich anlässlich des Festes in dieser oder ähnlicher Art zu erleben, das Fehlen dieser Bezüge.104

Neben all den Wandlungsformen, die die Familie während der letzten Jahrzehnte durchlebte, erfreut sie sich in unseren Tagen einer erstaunlicherweise hohen Beliebtheit. Trotz der bekannt hohen Scheidungszahlen und den neuen Formen der zusammengewürfelten Patchwork-Familien bleibt die Sehnsucht nach Familie und dauerhaften Beziehungen erhalten. Das Scheitern mancher Ehe und manchen Familienlebens scheint die Kindergeneration umso mehr anzuspornen, es zu ihrer Zeit als neue Familie besser zu machen.105 Dabei sind die bürgerliche Familie und das Weihnachtsfest der Moderne gleichursprüngliche Produkte der Romantik und zielen insofern passgenau aufeinander ab.106 An diesen Stellen kommt es bekanntermaßen häufig zu innerfamiliären Konflikten: Manchen Familienmitgliedern erscheinen die Gestaltungserwartungen anderer als zu traditionell oder vorgestrig, woran sich die Weiterentwicklung der Familie und ihrer innerlich diversen Lebensund Organisationsformen nicht selten konfliktgeladen konkretisiert.

 

Dennoch bleibt es dabei: Weihnachten ist das Fest der Familie, welche Struktur und Form sie bisweilen auch immer angenommen hat. Die Familie ist insbesondere zu Weihnachten unersetzlich. Sie wird bewusst gewollt, ihre internen Abläufe sind streng ritualisiert und werden in der Berührung mit kirchlich-liturgischen Formen angereichert bzw. stabilisiert. Auch hier scheint man den professionellen Helfer der kirchlichen Liturgie zu benötigen, um über die eigene Inszenierungskraft hinaus wirklich das Gefühl von Weihnachten zu erleben bzw. in die Gewissheit der Sphäre einer ‚heiligen Familie‘ vordringen zu können.

Morgenroth geht jedoch innerhalb dieser Konzeption noch weiter, indem er zeigt, wie sehr sich Weihnachten als das Fest der Liebe und die partnerschaftliche bzw. familiäre Liebe zueinander kompatibel verhalten. Der Religionsbegriff hat sich – wie gezeigt – seit der Aufklärung in ein zumeist unsichtbares Lebensgefühl jenseits von Dogmen, Sätzen und Institutionen transformiert. Hinter der Epoche der Romantik steht eine neue Geisteswelt, ein neues Menschen- und Weltbild, ein neues Religionsverständnis, das uns bis heute prägt.107 Von hierher motiviert wird partnerschaftliche Liebe zu einer exemplarischen Brücke zwischen diesem ‚Lebensgefühl Religion‘ und gegenwärtiger menschlicher Sehnsucht:

„Wir Modernen bauen unser Lebensglück ganz besonders auf die partnerschaftliche Liebe. […] Die Hochzeit soll immer noch der schönste Tag im Leben sein, und auch hier gibt es keinen Grund, den Wunsch nach einer Traumhochzeit zu belächeln. Denn wer die gemeinsame Liebe nicht nur im Alltag erleben, sondern auch einmal ganz gezielt in den Mittelpunkt rücken will, der sagt: Ich lebe aus der Liebe. Ich erfahre die Liebe aber zugleich als etwas, das ich nicht in der Hand habe. Das ich geschenkt bekomme. Nicht nur von meinem Partner. Sondern irgendwie auch von Gott.“108

Hier nimmt Morgenroth interessanterweise in einem Seitenblick die Kasualfeier Hochzeit mit auf und erkennt darin dieselbe Religiosität, die auch zu Weihnachten aufkommt. Diese verbindet die Sehnsucht nach Liebe mit dem Eingeständnis der Unverfügbarkeit und Begrenztheit der persönlichen Lebensplanung und ihren Entscheidungen. Für die Liebe wird nicht allein der Partner verantwortlich gemacht. Wiederum auf Weihnachten hin gewendet bedeutet dies:

„Was an Weihnachten gefeiert wird, was in Literatur, Musik und Film aufgesogen wird, was schließlich im Wunsch nach einer Traumhochzeit sich widerspiegelt – das ist auch für viele ein Herzstück des christlichen Glaubens geworden. Gott ist die Liebe. Das heißt, durch unsere Liebe spüren wir Gott hindurch, lassen wir uns von ihm ergreifen.“109

Familie und Partnerschaft finden also ihre Verdichtungen bzw. ihren öffentlichen und zugleich religiösen Ausdruck einmalig in einer Traumhochzeit und alljährlich an Weihnachten. Diese Weisen religiösen Verhaltens sieht Morgenroth als miteinander existentiell verbunden sowie notwendig, damit die seit der Romantik andere und neue Religiosität fruchtbar und identitätsstiftend gelebt werden kann. In ihr wird Liebe zu einer geradezu transzendenten Wirklichkeit. Sie ist der Ort, an dem Gott zu den entsprechenden Anlässen – hier insbesondere an Weihnachten und zur Trauung – sichtbar und erfahrbar wird. Religiosität für sich, als Erlebnis der transzendenten Wirklichkeit Liebe im familialen Kontext zu leben, ist nach Auffassung Morgenroths für viele folglich zu einem „Herzstück des christlichen Glaubens geworden“.110

Auch hier zeigt sich, wie wenig diese vielen Zeitgenossen unreligiös oder gar unchristlich sind. Die Religiosität ist lediglich anders, weil autonom bestimmt und führt nicht in dauerhaft institutionell greifbare Gemeindeintegration. Das, was persönlich hilft und den entsprechenden Bedürfnissen und Traditionen entspricht, passt und gehört dazu. Insofern decken sich die Analysen Morgenroths bis hierher mit den empirischen Ergebnissen der beiden Studien „Die unbekannte Mehrheit“ und „Was Menschen in der Kirche hält“.

1.3.3 Das Fest

Die oben bereits beschriebene Inszenierung der Weihnachtstage als Fest stellt die Frage nach Sinn und Zweck solchen Tuns. Morgenroth findet eine Antwort:

„Um die Welt zu verzaubern. Denn Feste sind nicht von dieser Welt. […] Die Zeit, die abläuft, vertickt, altert, die gilt nicht, wenn wirklich gefeiert wird.“111

Dieses Anders-Sein der Feste ermöglicht den Menschen, sich auf das zu besinnen, was ihnen wichtig ist, was ihrer Kultur eigen und ihnen heilig ist. Es ist also ein Herausgehobensein aus den raumzeitlichen Kategorien des Alltags, die das Fest ausmacht. Insofern werden Menschen innerhalb dieser Zeit selbstbezüglich, treten aus ihrer Lebenswelt heraus und schauen sich bzw. ihr Leben mit einigem Abstand an.

Ähnlichkeiten erweisen sich hier zu den Überlegungen des Ritualtheoretikers Victor Turner zur liminalen Phase, die die alltägliche Wirklichkeit zu transzendieren vermag.112 Dies zeigt sich in der Folge als das eigentliche Erlebnis bzw. die großartige Möglichkeit der menschlichen Freiheit: Menschen können sich zu sich selbst verhalten, Lebensmuster und Sinnzusammenhänge erkennen. Dabei sind sie nahezu befähigt wie gezwungen, ein Verhältnis zu den Urkonstanten des menschlichen Lebens zu entwickeln: Leben, Tod, Liebe, Geburt, Sinn, Unsinn, Glück und Unglück. Dies kann gezwungenermaßen – wie bei einem Todesfall – oder aber frei gewählt und gewünscht – während der Urlaubszeiten – geschehen. Menschen können hier das Ganze in den Blick nehmen und wollen so ihr Leben verstehen.

Eben das kann der Ort für religiöse Fragen und ihre Antworten werden. Dann wird Religion zum Inhalt einer Weise des Weltabstandes, wie er sich innerhalb dieser Festzeiten bietet:

„Jede und jeder wird sich von Zeit zu Zeit religiös verhalten müssen, gezwungen von den Lebensumständen selbst. Glücks- und Unglücksfälle verlangen danach innezuhalten, Abstand zu nehmen, nach Sinn zu fragen, nach dem Heiligen, nach Gott. Das äußert sich natürlich nicht nur in Festen, doch Feste sind sozusagen institutionalisierte Auszeiten, Angebote zum Welt-Abstand und damit implizit immer „religiös“. (Das heißt noch nicht, dass sie christlich oder gar kirchlich sind, sondern dass sie weltabstandsfähig sind, sozusagen einladen, über Sinn und Unsinn, Gott und die Welt nachzudenken, mehr noch: zu erspüren, dass der Alltag nicht alles ist).“113

Das den Festen innewohnende Geheimnis ist jedoch letztlich die unbedingte Bejahung trotz der bisweilen übermächtigen Unverfügbarkeiten des Lebens. Sie bejahen es mit all ihren Symbolen und Feierbausteinen, die in sich Teil des Inszenierten sind. Die Inszenierung dient mitunter nur dazu, diese positiv-verheißungsvolle Zusage, die jedem Festgeheimnis integral ist, weitestgehend nicht zu gefährden. Insbesondere bei Beerdigungen, also jenen Anlässen, die solch positive Aspekte dem Augenschein nach am wenigsten transportieren, zeigt sich dieser Zusammenhang zumindest durch die Sitte des Leichenschmauses oder Beerdigungskaffees als ein auch in unserem Kulturraum überlieferter Inhalt der Lebenszustimmung während solcher Zeiten des Weltabstandes.

Es sind die „unverfügbaren Risse“ im Leben und in der Welt, die prinzipiell festproduktiv sind und den Menschen geradezu zum Abstandnehmen zu sich selbst und seiner Existenz zwingen.114 Sie nötigen so verstanden zum Fest bzw. Feiern. Dabei kann alles, was während des Feierns als Zustimmung oder Auflehnung erfahren wird, in den Alltag wirksam hinüberreichen. Letztlich geht es darum, die Bejahung der eigenen, als fragmentiert erlebten Existenz zu erleben: Wiederum werden Anklänge an eine christliche Berufungswirklichkeit sichtbar. Dies macht gerade den existentiellen Ritualcharakter des Festes als liminaler Phase, von der Turner spricht, unverwechselbar wichtig.

Die Orte der Feste haben sich allerdings gewandelt. Neben den dezidiert religiösen Tempeln bieten mittlerweile auch die Kulturtempel dafür Raum. Feste im alltäglichen Wochenschema werden im Kino oder Theater, im Museum, in einer packenden Lektüre oder sogar im Internet gefeiert.115 Die Konkurrenz zu klassischen kirchlichen Feierformen und -räumen liegt auf der Hand, doch:

„Die großen Feste werden immer noch gemeinsam mit den Kirchen gefeiert. Da gibt es die Feste im Jahreslauf, im Kirchenjahr. Auch zu ihnen gehen die Menschen regelmäßig, alle Jahre wieder, natürlich besonders zu Weihnachten. Und dann gibt es die anderen, die Feste des Lebens: Taufe, Konfirmation und Firmung, Trauung, Beerdigung, um nur die wichtigsten Stationen zu nennen, daneben noch Schulanfang und -abschluss, Berufsbeginn, silberne und goldene Hochzeiten und sonst noch allerhand. Da werden Bruchstellen des Lebens gefeiert, bejaht, integriert. Da wird nach dem Segen Gottes gefragt, nach dem integrierenden Sinn, nach Gott.“116

Gott wird so in erster Linie als Bejahung verstanden, als integrierender Sinn, als derjenige, der die zerbrechliche Menschlichkeit bzw. Biographie segnend auffängt und dem Leben damit Sinn verleiht. Dies mag als Kurzform dafür gelten, warum Menschen ihre entscheidenden, weil übergängigen liminalen Phasen – eben auch jene am Jahresende – im Rahmen der von ihnen jeweils religiös-professionell aufgefassten Kirche feiert. Dabei besteht nach Auffassung Morgenroths bei den Festen, die „noch gemeinsam mit den Kirchen gefeiert“ werden, eine enorme Chance des Gemeinsamen.117 Und es geht – wie im obigen Zitat ausgeführt – offenbar primär um Segen, dem zugetraut wird, die als nicht bruchstellenfrei erlebte persönliche Existenz umfangen zu können. Also, wenn man es theologisch gutwillig versteht, geht es um einen Segen, welcher als Zusage von außen die eigene Berufungswirklichkeit als solche umfängt und sie spirituell stabilisiert.

Zu denken wäre hier über Morgenroth hinaus auch an die vielfältigen TV-Jahresrückblickshows ab Anfang Dezember. Waren diese etwa während der 1980er Jahre noch für den Silvestertag reserviert, zieht eine postmoderne Kulturlogik diese in den Advent als Zeit des Jahresabschlusses und der Vorbereitung des ‚Jahresabschlussevents Weihnachten‘. Gleiches gilt für Betriebsfeiern als Weihnachtsfeiern, die einerseits gegenseitige Dankbarkeit, Identität und Zusammenhalt innerhalb der Belegschaft fördern sollen, synergetisch aber das erreichte Etappenziel des Jahresendes als Projektabschluss markieren. In Zeiten neuer, großer Unübersichtlichkeit ermöglicht ein solch vielfältig inszeniertes Innehalten einen besonders gestalteten Rückblick und damit strukturierte Orientierung: Das Kalenderjahr wird als Teil einer Projektlogik identifizierbar und Weihnachten bzw. die Zeit „zwischen den Jahren“ erhalten darin als Erlebnis einer liminalen Phase geradezu existentielle Relevanz. In Analogie zu katechetischen Prozessen vor Lebenswendesakramenten wird vor diesem Hintergrund Weihnachten als zyklisch wiederkehrende ‚Jahresabschlusskasualie‘ mit deutlich biographisch-familiärer Note begreifbar: Das Leben und seine Zeiten bekommen in einer Epoche radikaler Ungleichzeitigkeiten mit der Advents- und Weihnachtszeit die Illusion einer alles und jeden verbindenden Gleichzeitigkeit für ein paar Tage zurückgeschenkt. Dann ist idealerweise jeder dort, wo er hingehört (vgl. den Songtitel „Driving home for Christmas“) und Entfremdungen werden aufgehoben (was besonders gut am Gegenteil zu verdeutlichen ist: Menschen, die zum Erhalt der sozialen Sicherungssysteme arbeiten, wird auf geradezu außergewöhnliche Weise besonderer Dank und Anerkennung gezollt).

Zu Weihnachten schaut man zurück, denkt an Menschen, mit denen man vergangene Weihnachtsfeste gefeiert hat („Letztes Jahr zu Weihnachten lebte Vater noch“) oder erinnert sich an einschneidende persönliche Ereignisse, die mit dem Fest der Liebe zu tun hatten (vgl. den beliebten Song „Last Christmas I gave you my hard“; vgl. auch oben I 1.3.2). So kann für solche Übergänge auch das Erlebnis oder zumindest die Ahnung transzendenten Gehaltenseins in Form eines Segens durch den Besuch eines Weihnachtsgottesdienstes nur dienlich sein.

In der Zusammenschau mit den Ergebnissen der Studie „Die unbekannte Mehrheit“ unter I 1.1.3.2 „Gegenwärtige Sinn- und Handlungsorientierung“, wo die Topoi „Schutz und Segen“ als von den IP sehr häufig genannte Antworten referiert werden, ergibt sich daher folgende Schlussfolgerung: Offensichtlich verbindet sich in der Perspektive des Großteils heutiger Christen außerhalb der Logik der Gemeindekirchlichkeit eine Art ‚Festtagschristentum‘ mit einem ‚Segenschristentum‘. Damit zeigt sich eine Perspektive, die zunächst gewiss theologisch und pastoralpraktisch auf Widerstand stoßen wird. Dies voraussehend, fragt Morgenroth diejenigen, die sich kirchlicherseits mit dieser anderen Art von Kirchlichkeit schwer tun:

 

„Warum nicht ernst nehmen, dass die explizit kirchlichen Feste heute nicht im Sonntagsrhythmus stattfinden, sondern im Lebens- und Jahresrhythmus?“118

Und Morgenroth führt seine Gedanken zur Konkurrenzsituation innerhalb dieses Festbedürfnisses noch weiter: Weil viele kirchliche Vertreter dieses Festtags- bzw. Lebenswendechristsein nicht als legitimes religiöses Bedürfnis ernst nehmen, entwickelt sich eine Konkurrenz durch theologisch gebildete, aber selbsternannte außerkirchliche Anbieter. Jene ermöglichen beispielsweise muslimisch-christliche Mischrituale oder bringen einfach nur die Zeit mit – für die dann eine hohe Bereitschaft besteht, diese auch angemessen zu entlohnen –, um gemeinsam mit kirchlich Enttäuschten ihre Lebensstationen zu feiern. Für Morgenroth steht jedoch insgesamt fest:

„Modernes öffentliches Christsein ist vor allem ein festliches Christsein im Jahreslauf und Lebenslauf.“119

Entsprechend kommt dieser Logik eine nicht unwesentliche Bedeutung zu, wenn es um Fragen der zukünftigen Gestalt des Christentums und der Kirche in unserem Kulturraum geht. Die biographischen Feier- und Heiligen Zeiten erweisen sich folglich als Orte, an denen solche Fragen mit entschieden werden.

Die Biographie und damit Fragen nach Identität bzw. Berufung werden auch hier zum Anlass für kirchliche Seelsorgekontakte, die aus ihrer Perspektive keine weitere Gemeindebindung brauchen. Dabei wird unter anderem der Segen als gleichsam transzendente Klammer eines – auch im Jahreslauf – als fragmentiert erlebten Existenzentwurfs wichtig.

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