Das andere Volk Gottes

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Ergänzend hierzu ist anzumerken: Pluralität lebt insgesamt ebenfalls von Verbindlichkeiten, welche allerdings völlig anderen Regeln folgen als einschlägig (beispielsweise kirchlich) gewohnt. Verbindlichkeiten sind postmodern vielmehr radikal pluralisiert sowie transformiert und nicht aufgelöst: Eine ungeordnete bzw. unvereinbare Pluralisierung und lebenspraktische Fragmentierung wäre letztlich existenzbedrohlich. Fragmentierungen müssen hingegen durch das Individuum selber gestaltet, verantwortet, ausgehalten und überbrückt werden. Diese transformierte Weise dessen, wie etwas postmodern dann verbindlich ist, wird beispielhaft unten an der postmodernen Volkskirchlichkeit deutlich werden (vgl. besonders I 4), genauso wie an der Figur des Städters (vgl. III 3.2.1.2).

12 Denn es ist mit Stefan Gärtner für die gegenwärtige Pastoral davon auszugehen, dass „[…] das geistesgeschichtliche Problembewusstsein, das mit dem Begriff Postmoderne angezeigt ist, sich auch auf sozialem Niveau ausmünzt. Bewusstseinsprozesse korrelieren also mit sozialer Praxis und umgekehrt.“ [Gärtner, S., ‚Postmoderne‘ Pastoral? Exemplarische Reflexionen zu einem Kasus, in: LS 60 (2009), 151-155, 152.]

13 Vgl. Welsch, W., Unsere postmoderne Moderne.

14 Ebd., 66.

15 Unter anderem daher schlägt in der jüngeren praktisch-theologischen Diskussion Stefan Gärtner vor, den Postmoderne-Begriff für die philosophische Diskussion zu reservieren, für den sozialwissenschaftlichen Diskurs hingegen eher den Begriff der „Spätmoderne“ vorzuziehen. Vgl. Gärtner, S., Fremdheit und Differenz in der postmodernen Theologie. Die Replik von Stefan Gärtner auf Jürgen Bründl, in: LS 60 (2009), 158-159, 158. Vgl. ausführlicher zu dieser Präferenz die Habilitationsschrift Gärtners: Ders., Zeit, Macht und Sprache, Pastoraltheologische Studien zu Grunddimensionen der Seelsorge, Freiburg/Brsg. 2009. Diese Diskussion ist hier nicht aufzunehmen geschweige denn hinreichend fortzuführen. Generell lässt sich jedoch anzweifeln, dass das Präfix „spät“ rein sprachlich eine neutrale bzw. positive Konnotation haben kann.

16 So Edmund Husserl, zitiert bei Welsch, W., Unsere postmoderne Moderne, 71.

17 Vgl. ebd., 72.

18 Vgl. ebd., 75.

19 Vgl. ebd., 78.

20 Vgl. ebd., 79.

21 Vgl. Lyotard, J.-F., Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Graz 1986.

Daher kann wissenschaftstheoretisch der Übergang zur Postmoderne als Paradigmenwechsel eigener Art beschrieben werden. Vgl. hierzu: Widl, M., Pastorale Weltentheologie. Transversal entwickelt im Diskurs mit der Sozialpastoral, Stuttgart 2000, 84-103.

22 Welsch, Unsere postmoderne Moderne, 82.

23 Ebd., 83.

24 Ebd., 84.

25 Vgl. Welsch, W., Vernunft. Die zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept der transversalen Vernunft, Frankfurt am Main 1996, 559. Vgl. zu diesem Unterabschnitt insgesamt ebd., 541-610.

26 Vgl. Kuhn, T., Neue Überlegungen zum Begriff des Paradigmas, in: Ders., Die Entstehung des Neuen. Studien zur Struktur der Wissenschaftsgeschichte, Frankfurt am Main 1977, 389-420.

27 Vgl. Welsch, Vernunft, 545.

28 Ebd., 546.

29 Ebd., 547f.

30 Vgl. ebd., 555.

31 Vgl. ebd., 553.

32 Soziologisch übersetzt findet sich der Paradigmenbegriff und der Paradigmenpluralismus durch Maria Widl für praktisch-theologische Zusammenhänge: „Verschiedene Bereiche der Gesellschaft entwickeln ihre ganz eigene Logik, die von außen meist unverständlich bleibt: die Jugend, die Wirtschaft, die Religion, die Wissenschaften, die Politik. Diese verschiedenen Logiken sind als Paradigmen ausgebildet, also als in sich geschlossene, sich selbst vollständig genügende Verstehens- und Lebenswelten.“ [Widl, M., Transversalität. Eine inhaltliche Brücke zwischen Christentum und säkularer Welt gestalten, in: Dies., u. a., Folge dem Stern! Missionarische Projekte am Weihnachtsmarkt, Würzburg 2009, 40-53, 43f.]

33 Vgl. Welsch, Unsere postmoderne Moderne, 306.

34 Ebd.

35 Widl, Pastorale Weltentheologie, 126. Vgl. dazu umfassend: Welsch, Vernunft, 613-949.

36 Vgl. Welsch, Unsere postmoderne Moderne, 307.

37 Ebd., 308f.

38 Ebd., 310.

39 Ebd., 315.

40 Vgl. Widl, Pastorale Weltentheologie, 127. Vgl. auch Englert, R., Religiöse Erwachsenenbildung. Situation – Probleme – Handlungsorientierung, Stuttgart 1992.

41 Widl, Pastorale Weltentheologie, 154f.

Vgl. auch die Herleitung und Verbindung der transversalen Vernunft mit klassischen theologischen Methoden, in: Dies., Transversalität, 47-53. Hier wird Transversalität praktisch-theologisch in den fünf Schritten von Apologetik, Korrelation, Fremdprophetie, Prophetie und Katholizität rezipiert.

42 Am Rande bemerkt: In der bereits angeführten Replik Stefan Gärtners auf Jürgen Bründl in LS 60 (2009) empfiehlt Gärtner die Transversalität auch als Methodik für den innertheologischen Dialog: „Ein Sprachspiel lässt sich in der Postmoderne nicht mehr ohne weiteres in ein anderes überführen. Es entpuppt sich permanent als partikulär und kontingent. Es käme darauf an, mit transversal geschultem Verstand (Welsch) die Grenzen des eigenen Diskurses aufzusuchen und nach möglichen Übergängen zum fremden Anderen zu fragen. Dies gilt überraschender Weise auch für den innertheologischen Dialog.“ [Gärtner, S., Fremdheit und Differenz in der postmodernen Theologie, 159.]

43 Zulehner, P. M., Pastoraltheologie. Düsseldorf 1989, Fundamentalpastoral, Bd. I, 34.

44 Haslinger, H. / Bundschuh-Schramm, Ch., u.a., Ouvertüre: Zu Selbstverständnis und Konzept dieser Praktischen Theologie, in: Haslinger, H. (Hg.), Praktische Theologie. Grundlegungen, Mainz 1999, Bd. I, 19-36, 31f. Haslinger verschweigt nicht, dass diese Methode beispielsweise seitens der feministischen Theologie angefragt wird. Deren Einwände versuchen eine konsistentere Formulierung der praktisch-theologischen Methodologie, indem sie eine Weiterentwicklung des Dreischritts fordern. Sie dürften in diesem Sinne also als Verbesserungsoptionen und nicht als Negation dieser in den unterschiedlichen praktisch-theologischen Schulen gemeinhin akzeptierten Methodik verstanden werden. Vgl. ebd., 32f.

45 Vgl. Zulehner, Pastoraltheologie, 34-38.

46 Vgl. ebd., 36.

47 Vgl. ebd.

48 Vgl. ebd., 35.

49 Ebd.

50 Vorwegnehmend sei bereits hier gesagt, dass sicherlich die Konzilszeit nicht insgesamt als Paradigmenwechsel zu neuzeitlichen Idealen zu verstehen ist, wiewohl die Gemeindeidee als ‚Kind‘ dieser Zeit sehr deutlich auf solcherlei Ideen zurückzuführen ist (vgl. II 1). Joseph Ratzinger hat als Papst Benedikt XVI. in diesem Kontext die Unterscheidung zwischen einer Konzilshermeneutik der Reform und einer Hermeneutik der Diskontinuität eingeführt. Letztere entspricht dabei den neuzeitli-chen Ideen eines radikalen Neuanfangs wie der Universalität solchen Denkens. Vgl. hierzu: ANSPRACHE VON BENEDIKT XVI. AN DAS KARDINALSKOLLEGIUM UND DIE MITGLIEDER DER RÖMISCHEN KURIE BEIM WEIHNACHTSEMPFANG, von Donnerstag, dem 22. Dezember 2005.

Vgl. http://www.vatican.va/holy_father/benedict_xvi/speeches/2005/december/ documents/hf_ben_xvi_spe_20051222_roman-curia_ge.html; (Zugriff 6.10.2009).

TEIL I: KAIROLOGIE
DAS ANDERE VOLK GOTTES: DIE POSTMODERNE VOLKSKIRCHE
1. Vier Näherungsweisen an ein Phänomen
1.1 Kirche im Biographieverlauf: Die Studie „Die unbekannte Mehrheit“
1.1.1 Vorbemerkung: Anlage und Forschungsinteresse

Im Zeitraum der Jahre 2001-2003 wurde unter interdisziplinär ausgerichteter wissenschaftlicher Leitung von Joachim Kügler als Exeget und Christoph Bochinger, tätig am Institut für religiöse Gegenwartskultur der Universität Bayreuth, die Studie „Die unbekannte Mehrheit“ erhoben und in ersten Ansätzen ausgewertet. Die pastoraltheologische Leitung sowie die praktische Forschungsarbeit lagen bei Johannes Först, wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Pastoraltheologie der Universität Bamberg, die methodische und soziologische Begleitung bei dem Soziologen Martin Engelbrecht. Hinzu trat ein sogenannter Kleiner Arbeitskreis, der in seinen regelmäßigen Sitzungen die Interdisziplinarität des Projekts durch die erweiterte Teilnahme von verschiedenen Ethnologen sowie einem evangelischen Pfarrer stützte.

Als soziale Gruppe erfassen die Forscher jene katholischen Christen auf dem Territorium der Erzdiözese Bamberg, die der Messfeier am Sonntag weitgehend fernbleiben, verschwindend geringen Kontakt zum Leben einer Kirchengemeinde anstreben bzw. unterhalten und den pastoralen Dienst nahezu ausschließlich anlässlich der so genannten Kasualfeiern zu den Lebenswenden in Anspruch nehmen: Taufe, Erstkommunion, Firmung, Trauung und Bestattung.

 

Diese Kirchenmitglieder stellten für die beteiligten Wissenschaftler wie für alle in der Pastoral Tätigen letztlich eine von ihren inneren Bedürfnissen und Motivationen her „unbekannte Mehrheit“ dar. Zum einen eine Mehrheit, da einschlägige kirchensoziologische Daten (vgl. I 2.4) ebenso wie die praktische Erfahrung vieler in der Gemeindepastoral Mitarbeitenden diese Menschen eindeutig als die tatsächlich absolute Mehrheit der Kirchenmitglieder beider großen Konfessionen in Deutschland ausweisen. Zum anderen bilden diese ChristInnen eine Gruppe von Mitgliedern, die in ihrer Weise, Kirchenmitgliedschaft zu realisieren, bezüglich ihrer Beweggründe und Intentionen eine vielfach unbekannte Mehrheit sind. Bei dieser Unbekanntheit setzt die Studie an. Sie aufzuhellen ist ihr tiefes Interesse.

Denn

„[…] das Wissen um die eigene Mitgliedermehrheit sollte eigentlich für die Kirche von elementarem Interesse sein, und zwar nicht nur, weil diese Mehrheit bekanntlich mit ihrer Kirchensteuer die entscheidende materielle Basis für das gesamte kirchliche Leben legt. Vielmehr wäre auch zu fragen, wie denn Pastoralpläne, Strukturveränderungen zur Zusammenlegung von Seelsorgebereichen u.v.m. entwickelt werden sollen, wenn man die Menschen, um die es ja geht (oder gehen soll), gar nicht kennt? Und trotzdem ist das Wissen über diese Gruppe gering.“51

Die Autoren Först und Kügler sehen für diese Unbekanntheit vor allem zwei Motive als entscheidend: Ein innerkirchlicher Grund liegt darin, dass die Kirche von ihrer Grundstruktur keine demokratische Verfassung aufweist, folglich in ihr gar keine Gewohnheit besteht, nach Mehrheitsverhältnissen zu fragen und ihnen eigene theologische Relevanz einzuräumen. Dem folgt sodann ein wissenschaftlicher Grund, der zwar nach der Mehrheit fragt, sie allerdings mithilfe der quantitativen Sozialforschung eher als solche wahrnahm, ohne sie in ihren Absichten und individuellen Einstellungen näher kennen zu lernen, um diese Kenntnis schließlich pastoral urbar machen zu können. Eine solche, eher quantitativ-formale Sichtweise führt nach Auffassung der Autoren dazu, dass diese Weise der Wahrnehmung eher ins Plakative abgleitet und zu Undifferenziertheiten verleitet, die vorschnell von Säkularisierung, Entkirchlichung, oder konsumorientierter Nutzungsmentalität der Kirchenkunden sprechen lassen. Die Studie „Die unbekannte Mehheit“ möchte hingegen einen dezidiert anderen Weg einschlagen:

„Immer intensiver auf die Stimme derer zu hören, die als unbekannte Mehrheit auf ihre Art Kirche bilden.“52

Ansatzpunkt ist hierbei das im Vergleich zu Vorgängergenerationen wahrzunehmende Phänomen, dass die überwiegende Mehrheit der KatholikInnen einerseits ihre formale Mitgliedschaft in der Kirche – obwohl gesellschaftlich immer weniger sanktioniert – nicht in Form des Kirchenaustritts aufgibt, gleichzeitig aber mit Ausnahme lebensgeschichtlicher Übergänge nicht am kirchlichen Leben teilnimmt. An diesen Ausnahmesituationen im individualisierten Biographieverlauf muss sich also die Logik dieser neuen und anderen Weisen der Kirchenbindung ablesen lassen.

Weitere Fragen werden in diesem Zusammenhang virulent: Ist diese Weise der Zugehörigkeit lediglich eine Schwundstufe des Eigentlichen, einer also vorher, nachher oder kontinuierlich als wünschenswert angesehenen engeren Anbindung an die kirchliche Gemeinschaft? Oder bildet sich hier etwa ein eigener, für unsere Tage spezifischer Religiositätstypus heraus, der nach J.-P. Jossua ein Höchstmaß an Kirchenzugehörigkeit und alles andere als Gleichgültigkeit bedeutet?53 Vor allem aber: Welche Rolle kommt der Kirche und dem Begriff der Kirchlichkeit in diesen persönlichen Konzeptionen von Kirchenbindung zu? Rangiert die Kirche nach Ansicht der Kasualienfrommen im Bereich einer konkurrenzlosen Ritenanbieterin, die aus ihrem reichen rituellen Repertoire je Altes und Neues hervorholt, oder gilt sie eher als Wettstreiterin in Auseinandersetzung mit zunehmend außerkirchlichen rituellen Angeboten?

Es liegt nahe, dass weiterführende Antworten auf diese Fragen, die sich jedem einigermaßen reflektiert arbeitenden Seelsorger früher oder später als Anfragen an das eigene Kirchen- und Gemeindeverständnis stellen, nicht allein mit den Methoden quantitativer Sozialforschung gefunden werden können. Von daher sollten im Rahmen der Studie „Die unbekannte Mehrheit“ zunächst diejenigen zu Wort kommen, über deren Weise, als Christen zu leben, deskriptiv bereits an mehreren Stellen nachgedacht worden ist. Die Innenseite dessen allerdings, also das konkrete Innenleben und innere Empfinden dieser Menschen zu ihrer eigenen Weise in und mit der Kirche zu leben, kommt im gesamten deutschen Sprachraum mit dieser Studie erstmals zur Sprache. Hierfür steht die angewandte Methode der qualitativen Sozialforschung.

Für eine weitergehende Reflexion dieses bislang unbekannten und neuartigen Typus des Katholischseins ist die Kenntnis dieser inneren Einstellungen und Werte unerlässlich. Letztere sollen deshalb vor und zugleich neben anderen in diesem ersten Teil wahrzunehmenden Phänomenen neuartiger Kirchlichkeit näherhin dargestellt werden.

1.1.2 Forschungsfeld und Methoden

Als Methode bedient sich das Forschungsprojekt der qualitativen Sozialforschung. Hinsichtlich des Forschungsgegenstandes Religion folgt die Studie dem phänomenologisch arbeitenden Ansatz von Hubert Knoblauch, wie er von ihm für die Religionssoziologie geltend gemacht wurde.54 Hierbei werden die ermittelten Ergebnisse idealtypisch dargestellt.55

Das Zentrum der Erhebung bilden themenorientierte Interviews, während derer die Interviewpartner (weiterhin abgekürzt als IP) durch die Interviewer am Telefon gebeten werden, von ihrem zuletzt erlebten kirchlichen Kasualkontakt zu erzählen. Die Interviews waren insofern themenorientiert, als zu Beginn des Gesprächs vom Interviewer direkt das Frageinteresse mitgeteilt wurde. Neben standardisierten Fragen, die allen IP gleich gestellt wurden, ließ der Interviewer zugleich viel Raum für das freie Erzählen seiner IP, auch wenn dieses augenscheinlich zunächst von der Ausgangsfrage wegzuführen schien. Im Nachgang erwies sich nach Aussage der Forscher aber gerade dieser Freiraum für das Gesamtverständnis als außerordentlich wichtig, da hier Themen aufkamen, an die im Vorfeld der Untersuchung seitens ihrer Planer so nicht gedacht worden war.56

Als Orte wurden drei katholische Kirchengemeinden auf dem Territorium der Erzdiözese Bamberg ausgewählt, die sich in ihrer Siedlungsstruktur jeweils nach städtischem, kleinstädtischem und ländlichem Raum unterschieden. Eine Auswahl, deren regionale Unterschiedlichkeit sich allerdings nicht merklich in Gestalt eines Land-Stadt Gefälles in den Ergebnissen der Interviews niederschlug.57 Die verantwortlichen Seelsorger dieser Pfarreien wurden jeweils um Listen derjenigen Personen gebeten, die in der letzten Zeit dort eine Kasualfeier begangen hatten. Zu den Interviews wurde ohne Vorauswahl bezüglich der Gemeindenähe der jeweiligen Katholiken der Kontakt zu ihnen per Telefon hergestellt. Insgesamt wurden 27 Gespräche geführt, wobei sich durch die nicht gesteuerte Auswahl nur drei Personen darunter befanden, die als gemeindenahe Gesprächspartner einzustufen waren. Die Gespräche dauerten im Durchschnitt 60 Minuten.

Während der ersten Interviewphase wurden die IP zunächst gebeten, den Ablauf der zuletzt erlebten Kasualfeier zu schildern. Auf dieser Grundlage fragte der Interviewer dann sehr gezielt nach persönlichen Begründungsstrukturen und Motivlagen. Als dritte Interviewphase folgte die Nachfrage nach dem Verhältnis zur Kirche und insbesondere nach dessen Wandel im Laufe der persönlichen Biographie.

Das erste Ziel der Interviews bestand neben allem Weiteren darin, einen Zugang zu der Ebene weiter gefasster individueller Weltbilder und Kosmologien der Befragten zu bekommen, um von dort aus ein näheres Verstehen der jeweiligen religiösen Sinn- und Handlungsorientierungen eröffnen zu können.58

Durch die unterschiedlichen inhaltlichen Bezugspunkte der Gespräche teilten die Forscher ihre Gesprächspartner in zwei Kohorten ein: Kohorte A, die anlässlich von Taufe, Erstkommunion, Firmung und Hochzeit in Kontakt mit der Pfarrei gewesen waren (im Lebensalter von 20-40 Jahren) und Kohorte B, die in näherer Vergangenheit an einer Beerdigungsfeier teilgenommen hatten (60-70 Jahre). An manchen Stellen wurde dieses Muster durch die IP selber überstiegen, da sie das Erzählen des eigenen Erlebens mit der Schilderung einer anderen, nicht kohortenspezifischen Kasualie verbanden.

1.1.3 Ergebnisse

Die Autoren schicken als hermeneutischen Schlüssel ihrer Ergebnisse voraus, dass sich tatsächlich in der Studie nicht nur die eine bereits bekannte Außenseite des Phänomens der gemeindedistanzierten Katholiken spiegelt, sondern sich vor allem aus der Perspektive dieser Menschen eine vertieftere Wahrnehmung existentiell relevanter Deutungsmuster wahrnehmen lässt. Solche Deutungsmuster sind es, die über Gewohnheit oder Milieubindung hinaus eine deutliche Sinn- und Handlungsorientierung der IP erkennen lassen.

Um hierzu einen differenzierteren Einblick zu bieten und sich so den inneren Motiven der Kasualienfrommen weiter anzunähern, werden die einzelnen Ergebnisse im Folgenden nun näher dargestellt.

1.1.3.1 Ein typischer biographischer Verlauf

Befragte aus der Kohorte A beschreiben ihr Verhältnis zur Kirche im Laufe ihrer Biographie als wechselhaft. Auffällig und interessant ist jedoch eine Gemeinsamkeit in den Erzählungen: Obwohl lediglich im ersten Teil der Interviews nach der letzten erlebten Kasualhandlung gefragt wurde, erzählen die IP mehrheitlich von ihrer persönlichen Biographie und Geschichte mit der Kirche. Dabei fällt auf, dass nach einer Phase der intensiveren Beteiligung in Kindheit und Jugend hiernach eine Zeit der Distanzierung eingesetzt hat. Erst zu den selbstverantworteten Kasualfeiern (Trauung bzw. Taufe) erfolgte ein erneuter Erstkontakt.

Frühere Weisen der Beteiligung waren bei einer Mehrheit der regelmäßige, meistens erzwungene Kirchgang am Sonntag, der Ministrantendienst sowie die Praxis weiterer Elemente der Volksfrömmigkeit (Rosenkranz, Heiligen-, Morgen-und Abendgebete).

Die Bewertung dieser Praxis fällt für die meisten IP allerdings sehr ambivalent aus. Häufig werden alle mit Zwang verbundenen Formen und Personen (Pfarrer, Personen aus dem näheren Familienumfeld) heute negativ konnotiert. Zugleich erfolgt insgesamt eine positive Wertung dieser Lebensphase: Die Integration in das Leben der Gemeinde, die Ministrantenzeit oder die Teilnahme an kirchlichen Festen. Somit werden im Nachhinein die Tatsache der Beteiligung und des Kennenlernens dieser Formen an sich als gut, die Methode der erzwungenen Teilnahme bzw. Vermittlung insgesamt als eher negativ empfunden.

Die meisten IP verabschiedeten und emanzipierten sich mit zunehmendem Jugendalter von diesen als religiöse Zwänge erlebten Bindungen. Gleichwohl halten viele von ihnen danach eine gewisse religiöse Praxis aufrecht, die sich beispielsweise in einer spirituellen Gestaltung des Wohnraumes zeigt, sich jedoch deutlich von den Zeichen einer institutionalisierten Religion absetzt (wie etwa von einer sonntäglichen Gottesdienstteilnahme). Da diese Art der Religiosität viele Elemente kirchlich-christlicher Erziehung aufweist, ist zu vermuten, dass sie angemessen nur als kirchlich orientiert, zugleich aber als relativ befreit von jeglicher kirchlichen Religiosität zu beschreiben ist.

Zusammengefasst lässt sich daher sagen, dass katholische ChristInnen, die anlässlich einer Kasualfeier einen Kontakt zu ihrer Kirche suchen, dies meistens nach einer längeren Phase von recht radikaler Kirchen- und Gemeindeabstinenz tun, religiös aber während dieser Zeit alles andere als inaktiv waren, wobei die Wurzeln dieser religiösen Praxis eine deutlich kirchliche Herkunft aufweisen. Ihre für diese Art der Religiosität selbst gewählten Orte zeigen allerdings wenig Nähe zu kirchlichen Räumen und Formen. Festzuhalten ist an dieser Stelle zudem die Bedeutung, die von den meisten IP der persönlichen Biographie beigemessen wird. Insbesondere deshalb, da die überwiegende Mehrheit der IP auf die Eingangsfrage nach dem Verlauf ihrer letzten Kasualie ungefragt auch mit biographischen Schilderungen antworteten.