Das andere Volk Gottes

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0. EINLEITUNG
1. Problemanzeige und Fragestellung

Der Gegenstand dieser praktisch-theologischen Untersuchung verdankt sich in mehrfacher Hinsicht der gegenwärtigen gemeindepastoralen Realität.1

Zum einen hatte der Verfasser als Kaplan bis in die Abfassungszeit dieser Studie hinein immer wieder mit sympathischen (im Falle der Ehe- oder Taufvorbereitung zumeist gleichaltrigen) ChristInnen zu tun, die den Sakramenten und Sakramentalien der Kirche für ihr Leben eine hohe Bedeutung beimaßen. Diese Begegnungen in Kasualgesprächen bzw. Katechesen führten jedoch in den wenigsten Fällen in eine sichtbare Gemeindeintegration. Trotz der häufig anzutreffenden Kunden- oder Servicementalität war diesen Christen zugleich nur selten die ehrliche Wertschätzung ihrer Kirchenmitgliedschaft abzusprechen. Kurzum: Menschen, denen ihre Zugehörigkeit zur katholischen Kirche offenkundig nicht gleichgültig ist, lassen sich trotz intensiver Bemühung bzw. Werbung nicht zur Vertiefung ihrer Mitgliedschaft durch aktive Integration in eine Ortsgemeinde bewegen.2 Sie erscheinen daher aus gemeindeinterner Perspektive schlichtweg als irgendwie ‚anders’. Zeitgleich zeigt sich die Kirchenbindung als immer stärker kasualisiert: Hochfestliche Eucharistiefeiern (bis auf Weihnachten und abgeschwächter Ostern) oder die wöchentlichen Sonntagsfeiern werden in der Wahrnehmung des Verfassers lediglich noch von einem Gemisch aus volks- und gemeindekirchlichem (zunehmend älteren) Sockel an mitfeiernden ChristInnen getragen. Eucharistiefeiern an Werktagen erfreuen sich ebenso wie die wöchentliche Sonntagsfeier allerdings dann einer eigenen Attraktivität, wenn sich mit ihnen ein entsprechendes Totengedenken bzw. ein anderweitiger Anlass (beispielweise die Erstkommunionvorbereitung) verbindet. Das Festgeheimnis an sich ist also häufig nicht mehr Grund für eine Beteiligung; ein katechetischer Projektweg, ein ‚liturgisches Event’ und damit die Sehnsucht nach wie auch immer konturierten transzendenten Bezügen anlässlich bestimmter Lebensereignisse hingegen schon. Das Christentum in unseren Breiten tritt daher – so die Ursprungsbeobachtung – für den Großteil der getauften ChristInnen in erster Linie kasualisiert auf: Die Kirche wird mit ihrer Infrastruktur Gemeinde dann interessant, wenn sie aus der Perspektive der meisten ihrer Mitglieder etwas nach deren Maßstäben spezifisch Gutes zu bieten hat.

Diese Situation spitzt sich darin zu, dass man hilfreiche Zugänge zu diesem Phänomen – im Sinne einer inneren Kenntnis dieser anderen Weise von Kirchlichkeit – innerhalb der gemeindepastoralen Theorie und Praxis vergebens sucht: Entweder jemand gehört sichtbar zur Gemeinde, entsprechend der einschlägigen, nicht selten ungeschriebenen Regeln, oder man gilt als der Gemeinde und damit auch – wie scheinbar unbewusst generalisiert – dem Volke Gottes gegenüber als fernstehend. Offenbar ist es vor allem diese Gleichsetzung von messbarer Gemeindeintegration mit einer gleichzeitig gegebenen wirklichen oder eigentlichen Zugehörigkeit zum Volk Gottes, welche die Fernstehenden- bzw. Kasualpastoral zu Grauzonen werden lässt, für die kein rechtes pastorales Handwerkszeug zur Verfügung scheint. Hilflosigkeit, Resignation, oder einfach das enttäuschte Gefühl, lediglich um einer rituellen Dienstleistung willen kontaktiert zu werden, sind nur äußere Symptome einer solchen Leerstelle bei nicht wenigen SeelsorgerInnen oder KatechetInnen. Hinzukommt, dass diese pastoralen Aufgabenfelder, auf denen es zu tatsächlichen, aber zumeist punktuellen Begegnungen mit der Mehrheit des Volkes Gottes kommt, einen merklichen Teil des generellen pastoralen Arbeits- und Zeitaufwandes ausmachen. Zugleich wird faktisch der Hauptteil des kontinuierlich stattfindenden kirchlich-gemeindlichen Lebens unter hohem Zeit-, Personal- und Finanzaufwand meist unhinterfragt mit einer deutlichen Minderheit der Getauften gestaltet und ausschließlich für diese organisiert.3

Diese Aspekte zeigen die innere Beteiligungslogik dieser Mehrheit des Gottesvolkes als ein andersartiges, unbekanntes, geradezu vergessenes oder verdrängtes Terrain. Solche Vergessenheit bezieht sich überdies auf die pastoraltheologische Forschung, welche angesichts der beschriebenen Diskrepanzen bis auf wenige Ausnahmen über Jahrzehnte hinweg auszusetzen scheint. Ebenso beinhaltet sie die Beobachtung, dass die Frage nach einem adäquaten Umgang mit gemeindefremden ChristInnen auch während der Pastoralausbildung der Priester, Diakone oder hauptamtlich tätigen Laien nur selten bzw. allenfalls am Rande thematisiert wird.

In diesen Kontext gesellt sich eine weitere Aufmerksamkeit. Die derzeit allenthalben praktizierten Umstrukturierungen der Gemeindepastoral orientieren sich nach Auffassung des Verfassers häufig an einem Gemeindebild, das – wie unten nachgewiesen – dem Großteil der Getauften und ihrer Kulturlogik völlig fremd, sodann auf anderer Strukturebene mit neuem Leben erfüllt werden soll. Nicht nur, dass hier Kirche ebenfalls nur noch für eine Minderheit gedacht wird – bei folgenreicher Binnenorientierung. Vielmehr vermisst der Verfasser das deutliche Eingeständnis, dass mit solcherart unumgänglicher Strukturüberlegung auch faktisch ein Gemeindebegriff relativiert bzw. verabschiedet wird, der gegenwärtigen Determinanten einfachhin nicht mehr gerecht wird. Verstärkt findet sich dies durch den Befund, dass seitens der pastoraltheologischen Reflexionen nie befriedigend geklärt werden konnte, wer eigentlich praktisch die Gemeinde bildet: Die Kirchgänger, die ehrenamtlich Engagierten, die stillen Beter, weithin unbekannte SinnsucherInnen, die assoziierten Institutionen oder doch alle katholisch Getauften (und nicht aus der Kirche Ausgetretenen) eines Territoriums? Also: Wenn ein bereits in sich unspezifischer Gemeindebegriff (wie er sich auch beispielsweise in einem häufig anzutreffenden äquivalenten Gebrauch der Begriffe Gemeinde und Pfarrei zeigt) auf anderer Strukturebene und unter sich verändernden kulturellen Vorzeichen aufrecht erhalten wird, führt dies oftmals zu noch größerer Unsicherheit auf Seiten vieler Beteiligter. Nicht selten degeneriert daher eine derart diffuse und zunehmend wenig lebensweltkompatible Gemeindevorstellung zu altem Wein in neuen Schläuchen.

Die Mehrheit des Volkes Gottes allerdings, welche immer deutlicher in dezidierter Fremdheit gegenüber der faktisch-sozialen Lebenswelt Gemeinde und ihren Werten wie Regeln existiert, spielt innerhalb solch pastoraler Neuordnungen vielfach keine maßgebliche Rolle. Auch hier bedeutet die Wahrnehmung der Innenseite einer ganz anderen Weise von Kirchlichkeit kaum einen wirklichen Referenzpunkt, nach dem Kriterien für eine zukunftsfähige Pastoral entwickelt werden. So vergisst man schlichtweg den Großteil des Volkes Gottes. Und obwohl gegenwärtige soziokulturelle Veränderungen häufig als Begründungs- oder Argumentationshilfen für gemeindepastorale Neustrukturierungen angeführt werden – die innere Motivations- und Beteiligungsstruktur dieser anderen Kirchenlogik findet sich an fast keiner Stelle so reflektiert, dass sie konstruktiv-kreativ rezipierbar wäre.

Von daher motiviert, wird die Auseinandersetzung mit diesem Großteil des Volkes Gottes, wie sie nunmehr mittels qualitativ angelegter soziologischer Studien möglich ist (vgl. Teil I), zu einer spannenden Konfrontation mit den Erfordernissen eines anderen, erneuerten Ansatzes von Pastoral, welcher nicht auf die Gemeinde beschränkt bleibt.4 Die unten entwickelte „postmoderne Volkskirche“ erwies sich im Prozess solcher Überlegungen geradezu als passendes Paradigma (oder aus gemeindeinterner Perspektive: als adäquate Fremdprophetie), um erste Schritte auf dem Weg zu einem gegenwärtig eher kulturell kompatiblen Pastoralansatz zu gehen. Dass sich während des hier dokumentierten theologischen Fragens ausgewählte ekklesiologische Begrifflichkeiten des II. Vatikanums als äußerst konstruktiv, ja geradezu perspektivenreich erwiesen, gehört zu den theologischen wie geistlichen ‚Aha-Erlebnissen‘ dieser Arbeit. Diese Entdeckungen zeugen von dem Geist, welcher der Kirche und ihrer Pastoral offenbar immer erneuerbare Wirkung verheißt. Insofern wurden hier die vielzitierten „Zeichen der Zeit“ (GS 4; vgl. auch GS 11) zum Anlass, das II. Vatikanische Konzil in veränderter Perspektive für die Entwicklung der Kirche in der Gegenwart zu interpretieren. Daher versteht sich diese Studie als ein Beitrag zur Erkundung einer lebensweltrelevanten bzw. kulturell kompatiblen Pastoral auf Grundlage der ekklesiologischen Klärungen des II. Vatikanischen Konzils. Sie schickt sich darin an, die ersten beiden, häufig angeführten Artikel der Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“ auf die Gegenwart hin zu lesen. Dass sich damit eine hohe Zeitbedingtheit der entwickelten Ergebnisse ergibt, steht außer Frage. Sie ist der Eigenlogik eines Ansatzes geschuldet, den der selige Konzilspapst Johannes XXIII. der Kirche wie der theologischen Wissenschaft mit dem Begriff des Aggiornamento aufgegeben hat. Eine theologisch orientierte Pastoralplanung hat jedoch keine andere Wahl, als das Aggiornamento für jede Zeitepoche neu zu verwirklichen, wenn sie sich der Botschaft des letzten Konzils dauerhaft verpflichtet wissen möchte.5

Daher soll mit dieser Untersuchung der Versuch unternommen werden, derzeitige Pastoralentwicklung nicht allein soziologisch wahrzunehmen, sondern sie vielmehr (konzils-)theologisch zu untermauern bzw. zu denken. Die Konzilstheologie wird hier zum Anknüpfungspunkt nach einer freilich mehr als vierzigjährigen Rezeptionsgeschichte. Damit wird unter anderem der Nachweis geführt, dass diese Geschichte keinesfalls beendet ist, sondern nach der bislang erfolgten Rezeption nun in eine neue, das heißt postmodern geprägte Rezeptionsepoche eintritt. Damit wird ansatzweise ein neues Kapitel der Nachkonzilszeit nachvollzogen, wie es bereits die zweite Generation nachkonziliarer TheologInnen zu schreiben begonnen hat.

 

Darin ergibt sich ein tatsächlich spannender Prozess des Nachdenkens über unsere gegenwärtige Pastoral: Wenn man den Gemeindebegriff aus seiner Gleichsetzung mit dem Volk Gottes-Begriff herausnimmt – und das tun die postmodernen Volkschristen praktisch – werden neben der territorial organisierten Pastoral weitere Orte und Weisen des Christseins denkbar und notwendig. Damit wird nicht die Gemeinde in ihrer unaufhebbaren Dimension der Kirche am Ort abgelöst, wohl aber bleibt sie nicht alleiniger Ort kirchlicher Existenz und Identifikation.6

Im Zusammenhang dieses Diskurses zwischen Gemeinde- und postmoderner Volkskirche geht es daher an keiner Stelle darum, die postmoderne Volkskirche als eine unkritisch zu akzeptierende Weise des Christseins nachzuweisen. Vielmehr soll das Ziel dieser Studie darin bestehen, die Perspektive, Motivation, religiösspirituellen Ressourcen und damit die innere Kirchenlogik dieser ChristInnen so wahrzunehmen, dass darauf kirchlicherseits schließlich kreativ und angemessen in Gestalt einer evangelisierenden Pastoral reagiert werden kann (konkretisiert in Teil III). Dem muss jedoch ein möglichst unvoreingenommener Perspektivwechsel vorausgehen, durch den diesen Menschen innertheologisch bzw. pastoral eine Stimme gegeben wird, die sie sonst nicht haben (ganz auf der Linie von GS 1). Dabei ist vorausgesetzt, dass ohne eine wirklich innere und vorurteilsfreie Wahrnehmung dieser Form von Kirchlichkeit eine wirksame Evangelisierung bzw. Inkulturation des Evangeliums nicht gelingen kann (vgl. dazu die näheren Überlegungen zur Transversalität unter 0 2.3). Pluralität wird im Kontext des Frageinteresses dieser Studie daher nicht zur Bedrohung des Eigenen, sondern zur Herausforderung, eben dieses Eigene in den Diskurs einzubringen – gerade auf die Möglichkeit hin, daraus verändert hervor zu gehen.

Daher geht es dieser Studie und ihrem Forschungsinteresse weder um Abwertung, noch um kritiklose Würdigung oder gar Anpassung, sondern um ein inneres Verstehen und Lernen vom bzw. am Anderen. Denn:

„Die Katholische Kirche kommt nicht durch Anpassung an die Postmoderne weiter. Sie muss die Postmoderne verstehen, dann aber die spirituelle Kraft wachsen lassen, die Menschen zu einer tieferen Innerlichkeit, zu ihrem persönlichen Berufungsauftrag […] führen und ihnen Stand gegenüber den ständigen Wechseln der Trends und Moden ermöglicht [sic]“.7

Hatte man in der Epoche nach Ende des II. Vatikanums mit dem einheitlichen Konzept der Gemeindekirche auf sich anfänglich differenzierende, jedoch noch weitgehend homogene soziokulturelle Gegebenheiten zu reagieren versucht, so ist nun in der Postmoderne der (pastoral-)theologische Blick auch auf andere Weisen des Kircheseins im Volke Gottes zu richten, welche aus dem Raster der Gemeindekirche zunehmend herausfallen: beispielsweise die geistlichen Gemeinschaften, die Nur-Kirchgänger, soziale Netzwerke bzw. Communities im Internet oder eben auf die postmoderne Volkskirche. Im Rahmen dieser Studie soll die Reflexion der letztgenannten Kirchlichkeitsform geschehen.

Wesentlich wird – wie im obigen Zitat bereits angeklungen – in all diesen Fragezusammenhängen immer die Frage nach der Urgestalt des Christen zu stellen sein: Wofür ist er da, welche ist seine Berufung?8 Zugespitzt gefragt: Sollte ein Christ vornehmlich die Gemeinde kultivieren oder seine Sendung in dieser Welt und Zeit finden und leben, die dann ihrerseits auch eine ortsgemeindliche Existenz bedeuten kann – jedoch nicht zwingend muss? Solche Fragen werden, so lässt sich zeigen, im Rahmen postmoderner Reflexionen zunehmend kompatibel – und Antwortwege darauf ein spezifisches Desiderat der Gegenwart. Im Rahmen dieser Auseinandersetzung lassen sich zudem Grundlinien einer Praktischen Theologie des Volkes Gottes für unsere Zeit entwickeln.

Der systematische Theologe Hans-Joachim Höhn bringt dabei die Intention wie den Ansatzpunkt dieser Studie prägnant auf den Punkt:

„Die Vitalität des Christentums in einer „multireligiösen Kultur“ hängt ohnehin daran, dass Christen in der Lage sind, vergessene oder unentdeckte Wahrheiten ihres Glaubens auch außerhalb ihrer eigenen Reihen zu erkennen und umgekehrt der Welterfahrung der „Anderen“ mit dem Evangelium größere Tiefenschärfe geben zu können. Der Stoff für diese wechselseitige Übersetzungsarbeit wird vom sozialen oder politischen Alltag geliefert. Die Identität und Relevanz der Wahrnehmung einer spezifisch christlichen Zeitgenossenschaft hängt davon ab, daß sie tatsächlich einen nichttrivialen Beitrag zur Enttrivialisierung des Lebens leistet. Es geht nicht darum, […] Religion zur schnell konsumierbaren Ware zu machen […], sondern mit jenen, die sich darauf einlassen wollen, auf elementare Weise das zu erspüren, was Menschen am Leben hält.“9

Höhn beschreibt hier – ohne es explizit so zu nennen – Grunddaten eines transversalen Diskurses, wie er dieser Arbeit inhaltlich und methodisch zugrundeliegt. Dieser Ansatz findet sich im weiteren Verlauf dieser Einleitung genauerhin hergeleitet. Zuvor soll allerdings die Fragestellung der vorliegenden Studie – bereits transversal, also aus zweifacher Perspektive – vor dem Hintergrund der bisherigen Überlegungen wie folgt formuliert sein:

Hat der Großteil des Volkes Gottes, welcher sich nicht kontinuierlich in gemeindekirchliche Vollzüge einbindet, eine generelle Botschaft für gegenwärtige pastorale Neuorientierungen? Genauso umgekehrt: Welche theoretischen wie praktischen Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit eine gegenwartsorientierte Pastoral diesen Menschen etwas zu sagen bzw. evangelisierend anzubieten hat?

Denn – so ist dem Pastoraltheologen Rainer Bucher auf ganzer Linie zuzustimmen:

„Die Kirche braucht alle, die zu ihr gehören. Sie muss sie hören und respektieren. Sie muss ihnen Raum geben und Aufmerksamkeit. Sie braucht sie um ihres Lebens willen, das sie verkörpern, um ihres Glaubens willen, für den sie stehen, und um ihrer Liebe willen, zu der sie fähig sind. Die Kirche braucht sie, um zu entdecken, wo sie ist und was ihre Aufgabe als Kirche hier und heute ist. Sie braucht sie, um zu werden, was sie sein soll: Gottes Volk.“10

Zu diesen Entdeckungen und notwendigen Prozessen möchte diese Studie einen Beitrag leisten. Sie tritt dazu mit jenen ChristInnen in einen Diskurs, die im kirchlichen Leben nur selten zu Wort kommen – weil sie innerhalb des Gottesvolkes gemeindefremd leben und daher „das andere Volk Gottes“ bilden.

2. Definitionen und methodische Vorüberlegung
2.1 Die Postmoderne innerhalb der Moderne

Der Begriff der Postmoderne wird in verschiedenen Kontexten aufgegriffen und findet sich dort eher unspezifisch gebraucht. Konnotiert ist er zumeist mit den Stichworten Unübersichtlichkeit, Beliebigkeit oder mit dem vielzitierten „anything goes“.11

Um derartige Begriffsdiffusionen zu vermeiden, soll daher von vorneherein klar beschrieben werden, in welchem Sinn der Begriff der Postmoderne im Rahmen dieser Studie Verwendung findet. Dabei ist es weder möglich noch nötig, seine philosophische Diskussion umfassend zu referieren bzw. weiterzuführen, noch das praktische, vielseitige Bedeutungsspektrum dieses Begriffes zu diskutieren. Ebenfalls muss eine theologische Aufarbeitung andernorts geleistet werden. Praktisch-theologisch relevant werden philosophische Begriffe wie die Postmoderne allerdings, wenn sie eine gesellschaftliche Realität beschreiben bzw. zu erklären helfen.12

Der deutsche Postmoderne-Theoretiker Wolfgang Welsch bietet im Anschluss an den französischen Philosophen Jean-Francois Lyotard, der bereits 1979 den Begriff der Postmoderne in die Diskussion einführte, eine passende Einordnung.13 Dieser soll hier gefolgt werden.

Welsch definiert zunächst das Zueinander der verschiedenen Begriffe:

„[…] [D]ie Postmoderne setzt sich zwar entschieden von der Neuzeit, sehr viel weniger hingegen von der eigentlichen Moderne ab. Nach-neuzeitlich ist sie gewiß, nach-modern aber kaum, sondern eher radikal-modern. […] Es gilt, zwischen neuzeitlicher Moderne und radikaler Moderne zu unterscheiden. Die erstere setzt die Neuzeit fort, an die letztere knüpft die Postmoderne an.“14

Die Postmoderne ist also anders, als es der Begriff suggeriert, nicht eine Nachmoderne, sondern versteht sich als ausdrücklicher Teil der Moderne.15 Auch wenn dies in deutlicher Radikalisierung des Moderne-Ansatzes erfolgt.

Welsch macht im Folgenden anschaulich, in welchem Verhältnis die von ihm aufgegriffenen Begrifflichkeiten zueinander stehen. Dabei wird deren reflexe Wirkung auf gesellschaftliche Prozesse greifbar. Er beschreibt vier Konkretionsweisen der Moderne: Die Neuzeit, die neuzeitliche Moderne, die Moderne des 20. Jahrhunderts und die Postmoderne. Um seine Konzeption der postmodernen Moderne genauerhin zu verstehen, seien diese vier Formen in Gestalt kurzer Skizzen referiert.

Die Neuzeit beschreibt Welsch weniger mithilfe begriffsgeschichtlicher Einschnitte, als mit philosophischen Konzeptionen. Für ihn setzt die Neuzeit philosophisch dort ein, wo eine dezidierte Zäsur zu allem Vorausgegangenen gesehen und fortgeschrieben wird. Dies ist für Hegel evident mit Descartes gegeben: Für Hegel beginnt mit Descartes das Prinzip der Selbstgewissheit, ein Prinzip des von sich ausgehenden Denkens und damit eine Linie, die zielgerichtet zum hegelschen Idealismus führt. Aus heutiger Sicht beginnt zudem mit Descartes die exakte Wissenschaft, die mathesis universalis und damit die wissenschaftlich-technische Zivilisation. Insbesondere sind es jedoch zwei formale Charaktereigenschaften, die das neuzeitliche Denken identifizierbar machen: Einmal der Pathos des radikalen Neuanfangs und zugleich ein als absolut intendierter Anspruch auf Universalität. Ersteres wird in einer Mentalität greifbar, dass man Altes nicht verbessern, sondern nur radikal ersetzen, es also ausschließlich praktisch neu entwerfen kann. Das überlieferte Wissen ist daher im Ganzen falsch und nur durch einen radikalen Neuanfang zu überwinden. Später wird das Werk Descartes’ selber als „Neustiftung der Philosophie“ gerühmt, wenn es bei ihm auch nur um eine Neuerrichtung der Wissenschaft ging.16

Der Anspruch auf Universalität folgt nun logisch aus dem Pathos des radikalen Neuanfangs. Denn wenn nichts Altes mehr fortzuführen ist, muss konsequent alles von Neuem beginnen. So wird die mathesis universalis fortan zur universalen Grundlage des Wissenschaftskanons, welche gleichzeitig die alten fachlichen Besonderheiten anderer Wissensgebiete einebnet. Für den Fortgang dieses Prozesses lässt sich insgesamt zeigen, dass die Neuzeit ebenso, wie sie radikal neu ansetzt, auch „unerbittlich vereinheitlichend, universalisierend, totalisierend“ geprägt ist.17

Die neuzeitliche Moderne versteht Welsch in all jenen Bewegungen verwirklicht, welche in unterschiedlichen Konzeptionen als Infragestellungen dieses Konzeptes für eine Selbststeigerung des neuzeitlichen Modells stehen. Damit erweisen sich nach Welsch solche Oppositionsbewegungen allesamt selber als neuzeitlich. Denn sie reproduzieren nichts weniger als „die neuzeit-typischen Charakteristika des Neuanfangs, der Radikalität, der Ausschließlichkeit und Universalität.“18 Daher ist auch der neue, oppositionelle Weg stets der einzige und ausschließliche: Pluralität und Partikularität sind selbstredend solchen Bewegungen zutiefst fremd.

Ebendiese Werte der Pluralität und Partikularität werden jedoch innerhalb der Moderne des 20. Jahrhunderts denkbar und sogar verbindlich. Wissenschaftstheoretisch wird der Abschied von holistischen Konzepten praktiziert: es gibt keinen Zugriff mehr auf ein Ganzes und alle Erkenntnis erweist sich damit als begrenzt. Wirklichkeit folgt nicht mehr einem Modell, sondern vielen; sie ist daher konflikthaft geladen und zeigt ihre Einheitlichkeit lediglich noch in spezifischen Dimensionen. Dies führt zu einer „Mutation im Kern der Neuzeit“:19 Pluralität, Diskontinuität und Partikularität, vorher undenkbare Elemente des wissenschaftlichen Diskurses, halten nun Einzug in das wissenschaftlich-mentale Bewusstsein des 20.

Jahrhunderts. So wird Partikularität durch Pluralität abgelöst, und zeitgleich werden Monopolismus und Universalität aus der wissenschaftlichen Debatte als unbrauchbare Instrumente verabschiedet. Es kommt zu einem Bewusstsein einer Wissenschaft, die mithilfe verschiedener Schulen, Modelle und Methoden operiert. Hier schon scheint eine Konkurrenz der Paradigmen auf, welche jedoch noch keinen Ausschluss genereller, allgemein gültiger Theorien bedeutet. Diese haben es jetzt nur schwerer als früher, widersprechen der grundsätzlichen Pluralität jedoch nicht. Diese Vorgänge finden sich nun beispielsweise zeitgleich in der Kunst aufgegriffen, welche in Gestalt eines Stilpluralismus zur Kollage mehrerer heterogener Paradigmen innerhalb eines Kunstwerks fähig wird.

 

Die Philosophie hat diese Pluralismusfähigkeit der Moderne erst relativ spät wahrgenommen. Die postmoderne Philosophie versteht sich daher als die „entschiedene Praxis und theoretische Reflexion des Pluralismus, der die Grundverfassung unserer Moderne […] ausmacht.“20

Diese Postmoderne lässt sich nun im Anschluss daran mit Lyotard anschaulich erklären. Die Grundthese seines Werkes „Das Postmoderne Wissen“ ist als die Verabschiedung der Meta-Erzählungen zu beschreiben.21 Die großen Geschichtsphilosophien vom Leben des Geistes nach Hegel (also dezidiert neuzeitliche Konzepte) oder von der Emanzipation des Menschen nach Marx sind an ihr Ende gekommen. Ebenso die Erzählung der Neuzeit von einer mathesis universalis. Die neue Wissenschaft steht vor der Heterogenität einer Welt, deren Diskurse als schier unvereinbare Sprachspiele in ihrer Autonomie und Irreduzibilität anerkannt und befördert werden müssen. Der Postmodernismus verteidigt diese Heterogenität der Lebens-, Sinn- und Alltagswelten und tritt damit aller Totalisierung philosophischer, ökonomischer und technologischer Art entgegen. Die postmoderne Philosophie versteht sich als eine konsequente Philosophie der Pluralität.

Welsch resümiert:

„Postmoderne besagt gerade nicht Novismus, sondern Pluralismus. Und dieser Pluralismus hat gewiß seine antiken, mittelalterlichen und neuzeitlichen Vorformen. Neu ist nur erstens, daß er jetzt dominant und obligat wird – und das unterscheidet die Postmoderne noch von der Moderne des 20. Jahrhunderts, wo der Pluralismus erst sektoriell verbindlich geworden war, während er es jetzt in der ganzen Breite der Kultur und des Lebens wird. Und neu ist zweitens, daß die postmoderne Pluralität radikaler ist als jede vorherige, so radikal nämlich, daß sie nicht mehr durch Gegenmotive aufgefangen und überboten werden kann, sondern jetzt konsequenterweise zur Grundverfassung werden muß.“22

Universell gültig ist postmodern folglich die Pluralität, die ihr sektorielles Dasein aufgegeben hat und zum nunmehr prägenden Strukturmerkmal postmodernen Denkens geworden ist. In der Folge finden sich Motive, die zuvor längst unter anderen vorhanden waren, in der Postmoderne hingegen deutlich radikalisiert auftreten und auf diese Weise zu allgemein bestimmender Wirkung gelangen. Somit ist der Postmoderne ein völlig anderes Geschichts- bzw. Traditionsbewusstsein immanent, als es die vorangegangenen Moderne-Konzeptionen kannten:

„Sie [die Postmoderne] lebt nicht neuzeitlich-modernistisch-progressistisch, sondern sieht der gegenwärtigen Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen ins Auge und prüft und begrüßt Vorgängerschaft ohne Geschichtsscheu.“23

Damit ist also ein entscheidender Unterschied zwischen den vorherigen Moderne-Formen und der Postmoderne benannt: Sie entledigt sich dezidiert der Verbindung von Ausschließlichkeit und Überholung. Pluralität und Differenz werden zur Grundlage heterogener, also in sich völlig abgeschlossener Denksysteme, welche unten präziser als Paradigmen beschrieben werden.

Somit wird insgesamt verstehbar, dass sich die Postmoderne nicht als die Nachmoderne der Moderne des 20. Jahrhunderts versteht, sondern diese vielmehr in ihren bereits pluralen Ansätzen vertiefend radikalisiert. Post-modern ist sie jedoch sehr wohl bezüglich der beschriebenen Neuzeit. Nur in radikaler Absetzung von ihr und ihren Nachfolgeformen ist die Postmoderne zu definieren:

„Die Postmoderne ist eine Moderne, die nicht mehr den Auflagen der Neuzeit folgt, sondern die des 20. Jahrhunderts einlöst.“24

Diese Radikalisierungen der modernen Pluralitätsformen des 20. Jahrhunderts sollen den Postmoderne-Begriff charakterisieren, wie er dieser Studie zugrunde liegt. Konkret wird er durch die Vielzahl diverser Paradigmen. Diese charaktergebende Eigenschaft soll im Folgenden genauerhin erläutert und plastisch werden.