Lesen in Antike und frühem Christentum

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7.2.2 Die Lektüre des Königs – Philons Interpretation von Dtn 17,18 f

Im viertenKönig Buch seiner Schrift De specialibus legibus findet sich eine aufschlussreiche Auslegung von Dtn 17,18 fDtn 17,8 f. Dort wird der KönigKönig dazu aufgefordert, sich eine AbschriftAbschrift der ToraTora anzufertigen und täglich darin zu lesen (s. o. 7.1.1). Diese Stelle (PhiloPhilon von Alexandria spec. 4,160–167) ist insofern von Relevanz, als davon auszugehen ist, dass Philon zeitgenössische, ihm geläufige Formen von LesepraxisLese-praxis und seine eigenen Erfahrungen in den Text hineinprojiziert. So formuliert auch A. J. Dewey, dass nach Philon die Utopie des PhilosophenPhilosophie-KönigsKönig „becomes realizable by anyone who would truly read and internalize the Jewish laws“;1 d. h. die dargestellte Lesepraxis des Königs dient als Projektionsfläche für die ideale Toralektüre, die Philon für seine LeserLeser vorschwebt. Als geistesgeschichtlicher Kontext für die von Philon beschriebene Lesepraxis können psychagogische Übungen zur „Verinnerlichung […] und bleibende[n] Präsenz der wahren Lehren und Vorstellungen im Bewußtsein […] durch ständige Wiederholung und Übung“2 gelten, die in philosophischen Texten der Kaiserzeit belegt sind, bei Philon mehrfach hindurchscheinen und bei denen u. a. dem SchreibenSchreiben und dem Lesen3 eine wichtige Bedeutung zugekommen ist.4

Zunächst nennt PhilonPhilon von Alexandria als Ziel der Regelung in Dtn 17,8 fDtn 17,8 f, dass sich die Regelungen der ToraTora fest in die ψυχήψυχή des KönigsKönig einprägten (Philo spec. 4,160; vgl. dazu auch oben Philo opif. 6). Dabei begründet Philon eindrücklich, warum der König das griechische BuchBuch Deuteronomium (Ἐπινομίς)5 eigenhändig (αὐτοχειρία) abschreiben6 müsse, folgendermaßen:

„Denn beim Lesen gehen die Gedanken unvermerkt verloren und werden, so wie sie kommen, schon wieder weggerissen (τοῦ μὲν γὰρ ἀναγινώσκοντος ὑπορρεῖ τὰ νοήματα τῇ φορᾷ παρασυρόμενα), beim gemächlichen SchreibenSchreiben dagegen prägen sie sich ein und bleiben haften, da das Denkvermögen/der Verstand (διάνοια) bei jedem Gedanken verweilt (ἐνευκαιρέω), sich selbst stützt (ἐπερείδω) und nicht eher zu einem andern übergeht, als bis er den vorhergehenden sicher erfasst hat (πρὶν ἢ περιδράξασθαι τοῦ προτέρου βεβαίως)“ (PhiloPhilon von Alexandria spec. 4,160; Üb. HEINEMANN, modifiziert JH).

Im Hintergrund dieser Begründung scheint die Erfahrung zu stehen, dass die kognitivekognitiv Aufnahmekapazität beim bloßen Lesen eines Textes relativ gering ist – heute gleichsam ein didaktischer Allgemeinplatz.7 Die Bewegungsmetaphorik (ὑπορρέω – φορά – ὑπορρέω) zeigt, dass PhilonPhilon von Alexandria Lesen als einen kognitiven Verarbeitungsprozess versteht. Beim Lesen kommen Gedanken (τὰ νοήματα), die sich aber nicht festsetzen können, sondern durch das schnelle Fortschreiten des Leseprozesses wieder weggerissen werden.Lese-geschwindigkeit Die Gegenüberstellung zum SchreibenSchreiben zeigt, dass Philon auf individuell-direkteLektüreindividuell-direkt Lektüre rekurriert. Über die Frage des StimmeinsatzesStimmeinsatz macht die Quelle keine Angaben, da der Fokus aber auf der kognitiven Verarbeitung liegt und da insbesondere die kognitiven Aufnahmedefizite im Blick sind, ist es durchaus plausibel, sich eine nicht-vokalisierendeStimmeinsatznicht-vokalisierend Lektüre vorzustellen, die rein über den visuellenvisuell Kanal abläuft.8

Selbst zu schreibenSchreiben, ist dagegen nach PhilonPhilon von Alexandria der kognitivkognitiv geeignetere Weg, um sich einen Text anzueignen. Daraus leitet sich ab, dass Philon im Abschreiben eines Textes eine Form von Textrezeption, gleichsam eine Lektürestrategie sieht, die mit einem ganz bestimmten Ziel verbunden ist; nämlich der Steigerung der BehaltensleistungAuswendiglernen. Damit formuliert Philon wiederum eine Einsicht, die sich auch so in der modernen Didaktik findet, in der die Kombination aus SehenSehen und eigenem Handeln mit einer hohen Behaltensleistung korreliert wird.9 Aufschlussreich ist nun die, wiederum vor allem auf den Bildspendebereich der BewegungBewegung (hier der Wechsel aus Dynamik und Statik) bezogene, Metaphorik, mit der Philon diese Einsicht formuliert. Beim Schreiben kann die διάνοια bei jedem Gedanken verweilen (ἐνευκαιρέω). Die Rolle der διάνοια beim Lesen thematisiert Philon noch an anderer Stelle.10 Weil sie sich selbst stützt (ἐπερείδω), geht (μέτειμι) sie erst zum nächsten Gedanken, wenn der vorhergehende sicher erfasst wurde. Das Schreiben verlangsamt und intensiviertAufmerksamkeitvertieft also den Leseprozess und kontrolliert gleichsam den kognitiven Verarbeitungsprozess. Das schreibende Lesen zielt nach Philon auf ein möglichst vollständigesUmfangvollständig Erfassen des im Text Dargelegten. Dabei kann aber nicht die Langsamkeit eines Abschreibens BuchstabeBuch-stabe für Buchstabe oder Wort für Wort gemeint sein, denn das Erfassen eines Textes bedarf der Erfassung größerer syntaktischer Zusammenhänge. Dass dies auch bei einem SchriftsystemSchrift-system, das scriptio continuaSchriftscriptio continua nutzt, und ohne den Umweg über die Vokalisierung möglich ist, ist oben ausführlich dargelegt worden (vgl. 4). Dass sich außerdem die Bewegungsmetapher für Philon anbietet, um seine Gedanken darzulegen, könnte auch damit zusammenhängen, dass Lesen und Schreiben in der Antike metonymischMetonymie als Bewegung verstanden und konzeptualisiert wurde (s. o. 3.7).

Die von Dtn 17,19Dtn 17,19 vorgeschriebene tägliche Lektüre der selbst geschriebenen ToraTora reformuliert PhilonPhilon von Alexandria sodann in spec. 4,161 mit den beiden gängigsten Verben zur Bezeichnung von LeseaktenLese-akt, ἐντυγχάνω und ἀναγιγνώσκω, wobei ersteres den physischen Kontakt zum LesemediumLese-medium hervorhebt (s. o. 3.4) und letzteres den Leseakt an sich benennt. Ziel dieser täglichen Lektüre sei die kontinuierliche und ununterbrochene ErinnerungErinnerung (μνήμη) an das, was er sich durch das SchreibenSchreiben eingeprägt habe, also der Anordnungen (διατάγματα), die in der Tora zu finden sind. Die tägliche Lektüre unterrichte (διδάσκω) beständig die ψυχήψυχή und gewöhne sie daran, sich mit den heiligen Gesetzen zu beschäftigen; dabei führe die langjährige Praxis zu einer „puren und reinen Liebe nicht nur zu Menschen, sondern auch zu begehrenswerten Arten von Schriften (πρὸς ἰδέας ἀξιεράστους γραμμάτων)“ (Philo spec. 4,161). Philon konzeptualisiert hier das Verhältnis des LesersLeser zu seinem iterativLektüreMehrfach-Frequenziterativ gelesenen, in schriftlicher Form vorliegenden Text als Beziehungsverhältnis, das durch Freundschaft/Liebe geprägt sei. Zudem implizieren die Ausführungen ein mnemotechnischesAuswendiglernen Konzept, das nicht auf der Repetition von Gehörtem basiert – wie z.B. von einigen Vertreterinnen und Vertretern der PerformanzkritikBiblical Performance Criticism gleichsam allgemeingültig angenommen (s. o.) –, sondern auf Konsultation des Lesemediums angewiesen ist.11

Dass ἐντυγχάνω in PhiloPhilon von Alexandria spec. 4,161 die Dimension des physischen Kontakts mit dem LesemediumLese-medium andeutet, zeigen zum einen die Tatsache, dass die selbst geschriebeneSchriftGeschriebenes ToraTora für den HerrscherHerrscher das sein soll, was andere KönigeKönig als Zepter führen (Philo spec. 4,164); zum anderen die Verwendung dieses Verbes in spec. 4,162. Philon begründet hier, warum es besser sei, „wenn der Herrscher nicht die Schrift und Aufzeichnung eines andern liest, sondern was er selbst geschrieben; denn Eigenes ist für jeden leichter zu lesen und bequemer zu erfassen“ (Üb. HEINEMANN). Mit dieser Begründung sagt er deutlich, dass ein selbst geschriebener Text visuellvisuell besser lesbarLesbarkeit ist, wodurch das im Text Niedergeschriebene kognitivkognitiv besser erfasst werden kann. Der Gesamtzusammenhang impliziert zudem, dass der LeserLeser mit seinem eigenhändig geschriebenen Text eine andere emotionale Verbindung aufbauen kann, was wiederum dem Leseprozess und der BehaltensleistungAuswendiglernen zuträglich erscheint.

Zuletzt formuliert PhilonPhilon von Alexandria, der HerrscherHerrscher solle, während er liest (ἀναγιγνώσκω), zur gleichen Zeit bestimmte Überlegungen (λογισμός)12 im Kopf anstellen (Philo spec. 4,163). Er fordert ihn also gleichsam zu einer durchaus anspruchsvollen metakognitivenmetakognitiv Reflexion des Leseprozesses auf. Dies zeigt erneut, dass auch bei antiken, in scriptio continuaSchriftscriptio continua geschriebenen Texten komplexe kognitivekognitiv Prozesse während des Lesens möglich gewesen sind. Es erscheint mir zudem plausibler anzunehmen, dass die hier vorausgesetzten metakognitiven Prozesse bei der nicht-vokalisierendenStimmeinsatznicht-vokalisierend Lektüre, die ja für die Antike ohnehin breit bezeugt ist (s. o. passim), besser realisierbar gewesen sein muss, als sich zusätzlich auf den Einsatz der Stimmerzeugungsorgane zu konzentrieren.

 

7.2.3 Individuell-direkte Lektüre der Therapeuten vs. communal reading

Einencommunal reading ungewöhnlichTherapeuten tiefen Einblick in die LesepraxisLese-praxis einer spezifischen Gruppe bietet Philons Beschreibung der TherapeutenTherapeuten in seiner Schrift De vita contemplativa,1 die in der Forschung in den letzten Jahren v. a. wegen der Darstellung ihrer Mahlpraxis untersucht wurde.2 Zwei umfangreiche Abschnitte sind hier von Relevanz (PhiloPhilon von Alexandria cont. 27–37; 75–89), an denen Philon die tägliche Praxis und das GemeinschaftsmahlGemeinschaftsmahl der Therapeuten detailreich charakterisiert und die im Folgenden nacheinander näher zu betrachten sind.

Die Ausführungen im ersten der beiden genannten Abschnitte (cont. 27–37) gliedert PhilonPhilon von Alexandria zeitlich und thematisch:

 Die Paragraphen cont. 27–30(a) enthalten die Beschreibung der Aktivitäten der einzelnen Mitglieder an sechs Wochentagen, die jeweils durch zwei Gebete am Morgen und Abend gerahmt sind (PhiloPhilon von Alexandria cont. 27).

 Die Paragraphen cont. 30–34(b) behandeln das gemeinschaftliche Zusammenkommen (συνέρχονται καθάπερ εἰς κοινὸν σύλλογον; PhiloPhilon von Alexandria cont. 30) am siebten Tag der Woche, bei dem ein Vortrag vom Ältesten und Kundigsten gehalten wird (cont. 31); in den Paragraphen cont. 32f beschreibt Philon den Versammlungsraum, den er als Heiligtum (κοινὸν σεμνεῖον) charakterisiert.

 In den Paragraphen cont. 34–37 finden sich Ausführungen zur Essenspraxis der TherapeutenTherapeuten, wobei – wiederum entlang der Unterscheidung Individuum vs. Gruppe – die asketische Praxis der einzelnen Mitglieder an sechs Tagen der Woche (cont. 33–35) dem GemeinschaftsmahlGemeinschaftsmahl am siebten Tag der Woche (cont. 36f) gegenübergestellt wird.

Der zweite Abschnitt (75–89) beschreibt den Ablauf eines besonderen GemeinschaftsmahlsGemeinschaftsmahl der TherapeutenTherapeuten, das sie an jedem siebten SabbatSabbat begehen.3

 Vor dem eigentlichen Essen4 gibt es einen Vortragsteil, den PhilonPhilon von Alexandria in den Paragraphen cont. 75–79 beschreibt. Er charakterisiert den Vortrag als LehreLehre (διδασκαλία) der Symposiasten (συμπόται), die sich schon zum MahlGemeinschaftsmahl niedergelegt haben (vgl. κατακλίνω in cont. 75), und zwar durch den Vorsitzenden (πρόεδρος). Mehrfach betont Philon dabei das Schweigen und die besondere Aufmerksamkeit der ZuhörerHörer (vgl. cont. 75.77).

 Das MahlGemeinschaftsmahl (δεῖπνον) selbst schildert PhilonPhilon von Alexandria in den Paragraphen cont. 79–82, das durch Hymnengesang (eine Analogie zu dem auch sonst für antike Mähler bezeugten Skoliengesang)5 eingeleitet wird; danach werden die Speisen auf einem Tisch hereingebracht, das Essen selbst wird nicht explizit geschildert.

 Nach dem MahlGemeinschaftsmahl (μετὰ τὸ δεῖπνον) folgt das in den Paragraphen cont. 83–89 beschriebene SymposionSymposion, das PhilonPhilon von Alexandria als „heilige Nachtfeier“ (ἱερὰ παννυχίς) bezeichnet, bei der gesungen, aber nicht gelesen wird.

Die Ausführungen Philons sind nun insofern aufschlussreich in Bezug auf die Fragestellung der Studie, als sie gegen die Forschungsmeinung, dass in der Antike vor allem kollektiv gelesen wurde (communal readingcommunal readings), genau auf das Gegenteil hindeuten. Denn die TherapeutenTherapeuten lesen die heiligen SchriftHeilige Schrift(en)en (ἐντυγχάνοντες γὰρ τοῖς ἱεροῖς γράμμασι; PhiloPhilon von Alexandria cont. 28) an den sechs Tagen der Woche, an denen jeder für sich in sogenannten Monasterien6 bleibt (τὰς μὲν οὖν ἓξ ἡμέρας χωρὶς ἕκαστοι μονούμενοι παρ᾽ ἑαυτοῖς ἐν τοῖς λεχθεῖσι μοναστηρίοις; Philo cont. 30).7 Die Darstellung von Philo cont. 30f lässt nicht erkennen, dass sie im Rahmen ihrer Versammlung am siebten Tag gemeinschaftlich gelesen hätten; vielmehr hält der Älteste und Kundigste eine RedeRede (διαλέγω), die sich im Stil von der RhetorikRhetorik der Zeit absetzt und sich durch besondere Ruhe, Vernunft, Überlegung und Genauigkeit auszeichnet (Philo cont. 30f).

Ausführlichere Einblicke in die Redepraxis im Rahmen der Versammlung beim Symposium an jedem siebten SabbatSabbat, die M. R. Niehoff als strikt hierarchisch strukturiertes sympotisches Tischgespräch wertet, für das sich Analogien im römischen conviviumGemeinschaftsmahl finden,8 erhalten die LeserLeser Philons in cont. 75–79. Hier wird deutlich, dass die „Heiligen Schriften“ Gegenstand dieser Redepraxis sind. M. D. Larsen meint daher, ohne dies näher am Text zu begründen, dass hier eine Form gemeinschaftlicher, performativer Lektüre biblischer Schriften vorauszusetzen ist.9 Doch lässt sich dies am Text halten? Die Formulierung, die zur Diskussion steht, ist die folgende:

„Er [i. e. der Vorsitzende]10 untersucht etwas in den Heiligen Schriften (ζητεῖ τι τῶν ἐν τοῖς ἱεροῖς γράμμασιν) oder er erläutert etwas, das von jemandem anders vorgegeben wurde“ (PhiloPhilon von Alexandria cont. 75).

Anders als einige Stellen, an denen ζητέω als LeseterminusLese-terminus gebraucht wird und die Konsultation des Schriftmediums voraussetzt (s.o. 3.6), impliziert die Formulierung „etwas (τι) in den Heiligen Schriften“ untersuchen nicht zwingend, dass der Vorsitzende die allegorisch auszulegenden11 Textpassage auch vorliest. Es ist genauso möglich, dass er auf die Kenntnis der betreffenden Stelle bei seinen Zuhörern setzt, die ja den Rest der Woche darin lesen (s. o.), er die Stelle frei aus dem GedächtnisGedächtnis rezitiert oder mit einigen zusammenfassenden Hinweisen auskommt. In jedem Fall implizieren der Kontext und vor allem der alternativ genannte Vortragsgegenstand, nämlich ein Problem, das von jemandem der Anwesenden aufgeworfen wird, dass der Hauptfokus auf den eigenen Ausführungen des Vortragenden liegt. Es handelt sich nicht um eine Szene performativer Lektüre mit dem Ziel kollektiver Textrezeption, sondern um eine Lehrszene (διδασκαλία) – wenn der Gegenstand des Vortrages ein Problem aus den heiligen SchriftHeilige Schrift(en)en ist, um eine exegetischeExegese Lehrszene –, bei der das VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt, wenn überhaupt, eine SupplementfunktionSupplementfunktion hatte. Die Reaktion des Publikums, das ausschließlich mit der Mimik auf den Vortragenden respondiert (PhiloPhilon von Alexandria cont. 77), am Ende aber die Stille aufgibt und Beifall spendet (Philo cont. 79), bezieht sich nicht auf einen Vorleseakt, sondern auf die Inhalte des Vortrags; insofern ist es methodisch nicht gestattet, diese Quelle in eine vermeintliche performative LesekulturLese-kultur der Antike einzuzeichnen.12

7.2.4 Zwischenfazit

Die TherapeutenTherapeuten haben also nicht bei ihrer Versammlung gelesen,1 sondern individuell-direktLektüreindividuell-direkt und in Abgeschiedenheit von den anderen. Dies ist insofern von besonderer Relevanz, als Philons Beschreibung der Therapeuten freilich stark idealisierte Züge aufweist, aber diese Idealisierung gerade eine „allegory for ideal congregations of Jews“2 darstellt, also einen Aussagewert über die besprochene Gruppe hinaus hat. Außerdem bleibt festzuhalten, dass die bei PhilonPhilon von Alexandria eindrücklich bezeugte Reflexion des Prozesses des SchriftspracherwerbsSchrift-spracherwerb sowie der kognitivenkognitiv Verarbeitung, v. a. im Hinblick auf die der Aufmerksamkeit die Aufnahmekapazitäten sowie der variierenden Geschwindigkeiten beim Lesen, die Verbreitung individuell-direkter Lektüre im JudentumJudentum des 1. Jh. v./n. Chr. voraussetzt. Wichtig ist außerdem das mnemotechnische Konzept, das nicht auf „MündlichkeitMündlichkeit“ oder das Wiederholen im Kopf setzt, sondern die Konsultation des LesemediumsLese-medium erfordert. In keinem Fall findet sich bei Philon eine Form liturgischen Lesens oder ein bestimmter LesezyklusLese-zyklus.

7.3 Qumran

In den Texten, die in den Höhlen am Toten Meer gefunden wurden, gibt es im Hinblick auf die Fragestellung dieser Studie einige wenige Stellen, an denen LesepraktikenLese-praxis reflektiert werden, die aber wegen ihres fragmentarischen Zustandes nur mit Schwierigkeiten auszuwerten sind. Hinzu kommt die Kontroverse um die Interpretation der archäologischen Befunde in Khirbet Qumran,1 die eine eindeutige Zuordnung der bezeugten Lesepraktiken zu einer spezifischen und eindeutig lokalisierbaren, gleichsam „monastischen“ Gruppe anfechtbar macht. Aus pragmatischenPragmatik Gründen wird diese Frage hier ausgeklammert und die Schriften werden als allgemeine Zeugnisse für die Lesepraxis von Gruppen im antiken JudentumJudentum gelesen,2 wobei im Rahmen der hier vorgelegten Fallstudien keine ausführliche Auseinandersetzung möglich ist. Vorab ist noch auf die interessante These von D. Stökl Ben Ezra hinzuweisen, der auf die Fund von Texten hinweist, die in einer Geheimschrift geschriebenSchriftGeschriebenes sind, bei denen aber TitelTitel oder Incipit z. T. in hebräischer Schrift geschrieben sind, vermutlich, damit sie von jedem zumindest identifiziert werden können. Er interpretiert die Geheimschrift als Zugangsbeschränkung innerhalb einer Gruppe und leitet daraus ab, dass in den hinter den Schriften stehenden Gruppen ein hoher Literalitätsgrad vermutet werden kann.3 In der Forschungsliteratur findet sich eine breite Diskussion um das Thema Lesen in Qumran, die insbesondere durch die Aussagen in 1QS 6,6–81QS 6,6–8 angeregt wurde.

6 Und nicht soll an dem Ort, wo zehn Männer sind, einer fehlen, der in der ToraTora forscht (דורש בתורה), Tag und Nacht, 7a beständig, einer nach dem anderen. b Und die Vielen (הרבים) sollen gemeinsam wachen den dritten Teil aller Nächte des Jahres, um im BuchBuch (בספר) zu lesen (לקרוא) und nach Recht zu forschen (לדרוש) 8 und gemeinsam (ביחד) Lobsprüche zu sagen (Üb. LOHSE; mod. JH).

Der erste Teil dieses Abschnitts besagt, so die Mehrheit der Forschung, „dass bei Gruppen von mindestens zehn Männern zu jeder Zeit tagsüber und nachts abwechselnd mindestens einer von ihnen die ToraTora studieren soll.“4 Die Formulierung impliziert, dass jeweils einer individuell-direktLektüreindividuell-direkt in der Tora zu Studienzwecken liest,5 wobei die anderen etwas anderes machen können/müssen. Dafür spricht außerdem, dass nur in einem Drittel der Nächte gemeinsam gewacht werden soll, wie in 7b1QS 6,7–8 bestimmt ist. Möglicherweise ist diese Forderung in Zusammenhang mit dem Folgenden als Umsetzung der idealisierten Forderung von Jos 1,8Jos 1,8 und Ps 1,2Ps 1,2 zu verstehen.6 Sehr wahrscheinlich hat man sich eine subvokalisierendeStimmeinsatzsubvokalisierend Form des Lesen vorzustellen, worauf in der Forschung mehrfach hingewiesen wurde;7 so findet sich zumindest an anderer Stelle in den Schriften vom Toten Meer Ableitungen von הגה (s. o. 7.1.2) als LeseterminusLese-terminus verwendet (vgl. z.B. 4Q417 1 1,16–184Q417 1 1,16–18; 4Q418 434Q418 43).8 Nichts deutet hingegen darauf hin, dass eine Situation gemeinschaftlichen Studiums vorauszusetzen wäre.

 

Schwieriger zu verstehen sind die Bestimmungen im zweiten Teil des zitierten Abschnitts (1QS 6,7b–81QS 6,7–8). Es ist zwar richtig, dass hier den „Vielen“, also einem Kollektiv, „Studierpflichten“ auferlegt werden;9 nicht klar ist jedoch, ob das nächtliche Lesen im BuchBuch und das Forschen nach Recht,10 das durchaus eine Analogie zur griechisch-römischen Institution der lucubratiolucubratio bildet, hier tatsächlich kollektiv-indirektRezeptionkollektiv-indirekt geschieht11 oder man sich eine Gruppe individuell lesender Personen vorstellen muss (nächtliches StudiumStudium ist ferner auch in 4Q418 43 44Q418 43 belegt). So ist es auffällig, dass die RezitationRezitation von Segenssprüchen in Z. 81QS 6,7 f erneut durch ביחד („gemeinsam“) spezifiziert wird.12 Ginge man davon aus, dass auch Lesen und Forschen eine gemeinschaftlich durchgeführte Tätigkeit bezeichnete, dann wäre diese erneute Spezifikation redundant, da in Z. 7b schon das Wachsein in einem Drittel der Nächte des Jahres durch ביחד spezifiziert wird. Außerdem weist Stökl Ben Ezra zu Recht darauf hin, dass לקרוא offen lasse, „ob gelesen oder vorgelesen wurde“;13 auch sei offen „ob eine oder mehrere Kopien des gleichen Buches gleichzeitig benutzt wurden.“14 M. E. ist es noch nicht einmal eindeutig, dass zwingend das gleiche Buch, also derselbe LesestoffLese-stoff gemeint sein muss. Denn בספר muss nicht, wie häufig vorausgesetzt, basefer („das Buch“) vokalisiert und als definiter Singular aufgefasst werden, sondern kann auch indefinit vokalisiert werden: besefer („ein Buch“).15 Es wäre sogar zu erwägen, ob קרא בספר hier nicht gleichsam als lexikalisierte Wendung „in der beschriebenen BuchrolleRolle (scroll)/in dem Dokument ‚sagen‘/lesen“16 individuell-direkteLektüreindividuell-direkt Lektüre konzeptualisiert,17 wobei der semantische Gehalt stimmlicherStimme RealisierungStimmestimmliche Realisierung der Wurzel קרא, die im ATAT/HB/LXX eindeutig auch individuell-direkte Lektüre bezeichnen kann, verblasst ist (s. dazu die Ausführungen unter 7.1.1), wie es bei HauptleseverbenHauptleseverb einer Sprache häufig beobachtet werden kann (s. o. 3.1 u. 3.3). Dafür könnte sprechen, dass einerseits das VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt vor anderen an anderer Stelle durch die Formulierung („in ihre OhrenOhr lesen“) vereindeutigt wird,18 dass an anderer Stelle, wo es mutmaßlich um das Vorlesen geht, ohne Präposition לקרוא ספר formuliert wird (vgl. z.B. 4Q421 84Q421 8)19 und dass andererseits ספר merkwürdig unterdeterminiert ist. Mit diesem Verständnis erübrigte sich auch die Kontroverse bezüglich der Frage, welches Buch hier gemeint wäre;20 wenn es sich nämlich um eine lexikalisierte Wendung handelt, bezieht sich ספר bloß allgemein auf das LesemediumLese-medium Buchrolle und nicht auf ein spezifisches Buch. In jedem Fall handelt es sich nicht um den Kontext eines Gebetsgottesdienst, sondern um „Studiensitzungen,Studium in denen auch Lobsprüche gesagt werden“,21 bzw. um abendliche und nächtliche Studiensitzungen, die mutmaßlich in einem Gemeinschaftsmahlkontext (vgl. 1QS 6,2ff1QS 6,2ff) stehen, d. h. in Analogie an den sympotischenSymposion Teil antiker Mahlkultur zu verstehen sind.22

Ein Großteil weiterer Texte, die mutmaßlich Lesen thematisieren oder LesepraktikenLese-praxis reflektieren, ist zu fragmentarisch, als dass sie sinnvoll ausgewertet werden können.23 Zwei dieser Texte verknüpfen Lesen mit dem SabbatSabbat und sind trotz ihres fragmentarischen Charakters aufschlussreich, auch unabhängig von der kontroversen Beurteilung in der Forschung.

]לו לדרוש ולקרא בספר ב[שב]ת[…]

„[…].. zu forschen und zu lesen im BuchBuch am [Sabba]t“ (2Q251 1–2 52Q251 1–2 5).24

In der Forschung wird diskutiert, ob ein (auch rabbinischrabbinisch bezeugtes) Verbot individueller Studienlektüre25 am SabbatSabbat oder nicht vielmehr ein Gebot26 vorauszusetzen ist. Das erste Verständnis hängt von der Ergänzung לו[אף, das zweite davon ab, dass man לו als Endung eines Verbs in der 3. Person Plural versteht.27 Dann wäre möglicherweise eine Situation wie in 1QS 6,7 (s. o.) vorausgesetzt und das dort Gesagte gilt auch hier. Wenn die Stelle aber ein Verbot voraussetzte, wäre ein Regelungsbedarf vorhanden, der im Umkehrschluss eindeutig belegt, dass individuelle Studienlektüre am Sabbat praktiziert wurde und dies möglicherweise das Gruppenleben beeinträchtigte.

„[… eine Roll]e eines BuchesBuch, zu le[sen] sein GeschriebenesSchriftGeschriebenes (?) am Tag [des Sabbats] (5) […] sie sollen lesen [und] in ihnen lernenLernen“ (4Q264a I [Frg. 1] 4–54Q264a I [Frg. 1] 4–5 par 4Q421 13+2+8 2–34Q421 13+2+8 2–3 [?]).28

Eine plausible Deutung dieses Abschnitts, die aber wegen er Abhängigkeit von einer unsicheren Ergänzung hypothetisch bleibt, bietet der Herausgeber J. Baumgarten. Er vermutet, dass der erste Teil der Bestimmung das KorrekturlesenKorrektur (s. auch Evaluation) am SabbatSabbat, das mit Schreibtätigkeit verbunden ist, (vor dem Hintergrund des Arbeitsverbotes) verbietet; die zweite Bestimmung dagegen das Schriftstudium sowie Lehren und LernenLernen am Sabbat erlaubt.29 Auf der Grundlage einer anderen Ergänzung des Textes und in Analogie zu ihrer Deutung von 2Q251 1–2 52Q251 1–2 5 gehen dagegen V. Noam and E. Qimron davon aus, dass die erste Bestimmung das individuelle Lesen am Sabbat verbietet und Lesen und Studieren nur in Gemeinschaft gestattet.30 Unabhängig von der Unsicherheit der Rekonstruktionen und damit verbundenen Deutungen, belegt der Text die Existenz individuell-direkteLektüreindividuell-direktr Studienlektüre am Sabbat; ein gottesdienstlicher Rahmen für die zweite Bestimmung anzunehmen, ist jedoch auch hier nicht naheliegend.31 Insgesamt warnen diese Überlegungen vor generalisierenden Aussagen über den „oralen“ Charakter der Texte von Toten Meer und einer eindimensionalen Verknüpfung mit kollektiv-indirektenRezeptionkollektiv-indirekt Formen der Rezeption.32