Lesen in Antike und frühem Christentum

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4.1 P. Saengers These zum Lesen von scriptio continua vor dem Hintergrund der modernen kognitions- und neurowissenschaftlichen Leseforschung

SaengersKognitionswissenschaften These einerLese-forschung Verbreitung der nicht-vokalisierendenStimmeinsatznicht-vokalisierend Lektüre im Mittelalter basiert weniger auf Beobachtungen an repräsentativen Quellen als auf grundlegenden Beobachtungen zur Textorganisation in mittelalterlichen Manuskripten. So geht Saenger davon aus, dass maßgeblich die Einführung von WorttrennungenWort-trennungen (s. Schrift) die Voraussetzung für die Verbreitung der nicht-vokalisierendenStimmeinsatzvokalisierend Lektüre bildete. Diese Innovation findet sich lautLautstärkelaut Saenger erstmals belegt in den Manuskripten iroschottischer Mönche aus dem 7./8. Jh., die unter dem Einfluss syrischer Manuskripte, aber vor allem aus der Schwierigkeit heraus, lateinische (und griechische) Texte, also Texte in einer Fremdsprache, lesen zu müssen, die Worttrennungen in ihre Manuskripte einführten.1 Zudem sei die Zeilenlänge etwa in Evangelienmanuskripten seit dem 9. Jh. auf 10–15 BuchstabenBuch-stabe gesunken, was er als Zeichen des Wechsels von der Kopie durch DiktatDiktat zur „leisenLautstärkeleise“ visuellenvisuell Kopie deutet.2 Die Innovationen in der Gestaltung von Manuskripten seit dem 7. Jh. seien die Voraussetzung dafür gewesen, dass Texte und deren Sinn nun rein visuell mit dem AugeAugen erfasst worden sein könnten, ohne den „Umweg“ über die orale Realisation gehen zu müssen.

Die Grundthese von Saenger ist in mehrfacherLektüreMehrfach- Hinsicht zu hinterfragen: a) So ist der handschriftliche Befund in einer breiteren diachronen Perspektive keinesfalls so eindeutig, als dass einem Sinken der durchschnittlichen Zeilenlänge im 9. Jh. eine Signifikanz zukommen könnte, wie Saenger sie postuliert.3 b) Außerdem finden sich schon in antiken Hss.Handschrift/Manuskript WorttrennungenWort-trennungen (s. Schrift), wie unten ausführlich zu zeigen sein wird. Schon jetzt ist darauf hinzuweisen, dass insbesondere antike bilinguale Texte durchaus Worttrennungen kannten. Daher schlussfolgert Deckey, die diese HandschriftenHandschrift/Manuskript untersucht hat, m. E. vollkommen zu Recht: „The ancients were fully aware of the possibility of word divisions and, on the whole, chose not to use it.“4 b) Saengers Überlegungen zur Signifikanz von Worttrennungen und Überlegenheit für die Ökonomie des Leseprozesses basieren auf älteren, mittlerweile überholten kognitionspsychologischen Lesemodellen, in denen die unmittelbare Wahrnehmung von Wortgrenzen anhand der äußeren Umrisse (Bouma-shape) eine entscheidende Rolle für die WorterkennungWort-erkennung gespielt hat („Wortüberlegenheitstheorien“).5 Zudem geht Saenger d) im Anschluss an das sog. Zwei-Wege-Modell zur Konzeptualisierung der Worterkennung davon aus, dass verschiedene SchriftsystemeSchrift-system mit unterschiedlichen kognitivenkognitiv Verarbeitungsprozessen verbunden sind: Die Dekodierung von Schriftzeichen funktionierte über einen visuellenvisuell oder lexikalischen Weg, der einen direkten Zugang zu den im mentalen Lexikon gespeicherten Wörtern ermögliche. Bei Alphabet- und Silbenschriften hingegen müssten die Wörter zunächst unter Anwendung von Phonem-Graphem-Korrespondenzregeln phonologischPhonologie realisiert werden, damit das Gehirn die Bedeutung eines Wortes erkennen könne. Der visuelle Weg gilt dabei als effizienterer Weg, während der nicht-lexikalische Weg über das phonologische System als Umweg interpretiert wird, den vor allem ungeübte Leserinnen und LeserLeser bzw. Lernende einsetzten.6

Zwei-Wege-Modelle sind zwar in der empirischen Lese-Lern-Forschung und vor allem in der Dyslexieforschung sehr einflussreich und vor allem für das Englische, an denen die Zwei-Wege-Modelle entwickelt worden, heuristischHeuristik hilfreich.7 Allerdings enthalten die Zwei-Wege-Modelle auch gravierende Schwächen, die insbesondere ihre Übertragbarkeit auf andere Sprach- und SchriftsystemeSchrift-system – und damit auf die hier besprochene Problematik – in Frage stellen: Neben a) der fehlenden Generalisierbarkeit des an der englischen Sprache – einer Sprache mit vielen unregelmäßig ausgesprochenen Wörtern – entwickelten Modells, die wohl das größte methodische Problem für die Anwendung auf das Lesen antiker Sprachen darstellt, kann es b) den sog. Konsistenzeffekt8 nicht erklären, arbeitet c) mit einer begrenzten Anzahl von Phonem-Graphem-Korrespondenzregeln und unterstellt d) eine zu langsame GeschwindigkeitLese-geschwindigkeit der Arbeit des phonologischenPhonologie Systems.9 Für das Chinesische, das Saenger als Beispiel einer Nicht-Alphabet/SilbenschriftSilbe für den lexikalischen Weg heranzieht, ist sogar experimentell ausführlich gezeigt worden, dass beide Wege zusammenarbeiten.10 Für Alphabetschriften konnte darüber hinaus gezeigt werden, dass auch beim nicht-vokalisierendenStimmeinsatznicht-vokalisierend Lesen ein phonologischer Dekodierungsprozess ablaufe (s. u. die Überlegungen zur inner reading voiceStimmeinnere (inner reading voice)), obwohl lautLautstärkelaut des Zwei-Wege-Modells lediglich auf Phonem-Graphem-Korrespondenzregeln zurückgegriffen werden dürfte.11

Die „Wortüberlegenheitstheorien“ wurden sogar schon in den 1980er Jahren experimentell als insuffizient zur Erklärung der kognitivenkognitiv Prozesse der Erkennung von Wörtern im Leseprozess herausgestellt:12

„These results [i.e., of the cited experimental studies] also point to the inadequacy of template theories in dealing with the written word recognition since they indicate that overall word shape plays no important role in visual word recognition“.13Wort-erkennung

Auch in jüngeren Untersuchungen ist diese Sichtweise bestätigt worden.14 Anstelle von „Wortüberlegenheitstheorien“ und „Zwei-Wege-Modellen“ sind in der modernen kognitionspsychologischKognitionswissenschaften und neurowissenschaftlich ausgerichteten LeseforschungLese-forschung komplexere Modelle entwickelt worden, die die Identifikation von BuchstabenBuch-stabe und den lexikalischen Zugriff im Leseprozess als ein Zusammenspiel von phonologischemPhonologie, morphologischem und semantischem Verarbeitungssystem im Gehirn konzeptualisieren.15 Daher wird in der Forschung zu Recht konstatiert, dass die Thesen Saengers zum Zusammengang zwischen WorttrennungenWort-trennungen (s. Schrift) und der Entstehung des nicht-vokalisierendenStimmeinsatznicht-vokalisierend Lesens aus kognitions- und neurowissenschaftlicher Sicht zu relativieren sind.16

„In conclusion, in all graphic systems, both alphabetic and logographic, lexical (visual/orthographic) and non-lexical (phonological) processes interact in word recognition, with the lexical route leading the way. Things are not as clear-cut as Saenger believes.”17

Eine besonders profilierte und innovative Gegenposition nimmt A. Vatri in einem 2012 erschienenen Aufsatz ein, der auf der Grundlage aktueller und schriftsystemvergleichender Blickbewegungsmessungen überzeugend zeigen kann, dass die WorterkennungWort-erkennung altgriechischer scriptio continuaSchriftscriptio continua analog zum ThailändischenSchriftThailändisch durch bestimmte Häufungen von Wortkombinationen funktioniert haben muss und gerade nicht auf die phonologischePhonologie Realisierung angewiesen war. Wegen der besonderen Relevanz für die hier diskutierte Frage, beziehe ich mich im Folgenden ausführlich auf seine Argumentation. Zuvor sind allerdings noch einige grundsätzliche Bemerkungen zu den physiologischen und kognitionspsychologischen Grundlagen des Lesens notwendig.

Die BlickbewegungBlickbewegung (s. auch Auge) des Auges beim Lesen ist nicht kontinuierlich, sondern strukturiert sich aus einer abwechselnden Abfolge von schnellenLese-geschwindigkeit Vorwärtsbewegungen (SakkadenSakkade; Ø ca. 200–250 ms) und Momenten des Anhaltens (FixationenFixation; Ø ca. 20–40ms) an einem bestimmten Punkt, der preferred viewing location (PVL)preferred viewing location (PVL) genannt wird, wobei dieser Prozess durch schnelle Rückwärtsbewegungen (RegressionenRegression; etwa 10–15 % der Sakkaden) unterbrochenLese-pausen/-unterbrechung wird und durchschnittlich etwa 30 % der Wörter überhaupt nicht fixiert werden (skipping).18 Daher kann man den Leseprozess auf der visuellvisuell-kognitivenkognitiv Ebene zwar als unstetig charakterisieren, „diese Unstetigkeiten des Leseprozesses werden zeitlich integriert und bleiben beim Lesen und- bzw. vorbewußt.“19 Die hohe FrequenzFrequenz der Sakkaden hängt u. a. mit den physiologischen Limitationen des Blickfeldes zusammen,20 wobei das Konzept der perceptual spanperceptual span den Bereich beschreibt, aus dem ein LeserLeser/eine Leserin während der Fixation Informationen verarbeiten kann. Die Größe der perceptual span steht insbesondere in einem Zusammenhang mit der Lesekompetenz (so können etwa Leserinnen und Leser mit einer großen perceptual span schneller lesen);21 für geübte Leserinnen und Leser des Englischen gelten 3–4 BuchstabenBuch-stabe links und bis zu 14–15 Buchstaben rechts der Fixation als durchschnittliche Größe für die perceptual span.22 Die PVL liegt üblicherweise links neben der Wortmitte. Die Blickbewegung wird durch Wortgrenzen geleitet, die parafovealparafoveal preview wahrgenommen werden. Parafoveal meint einen Bereich des visuellen Feldes, der bis zu 5° um das Zentrum der visuellen Wahrnehmung (foveale Wahrnehmung durch Lichtreize, die auf die fovea centralis treffen) liegt und von der peripheren Wahrnehmung zu unterscheiden ist.23 Dabei beschreibt der sog. parafoveal preview das Phänomen, dass beim Lesen nicht nur das gerade fixierte Wort wahrgenommen und kognitiv verarbeitet wird, sondern auch Buchstaben und Wörter rechts der Fixation. Die aus der parafovealen Wahrnehmung erhaltenen Informationen steuern die AugenbewegungAugen-bewegung – insbesondere die Fixationspunkte.24 Das bedeutet, beim Lesen wird nicht nur das gerade fixierte Wort wahrgenommen und verarbeitet, sondern auch schon die vorausliegenden Worte. Dabei wird in der Kognitionsforschung allerdings kontrovers diskutiert, wie viele Informationen ein Leser aus der parafovealen Wahrnehmung extrahieren kann und ob WorterkennungWort-erkennung im Leseprozess seriell oder parallel funktioniert.25

 

Bei modernen „westlichen“ SchriftsystemenSchrift-system geht die gängige Schulmeinung davon aus, dass Leserinnen und LeserLeser die Wortgrenzen anhand der WortzwischenräumeWort-zwischenraum identifizieren: Dies wird daraus geschlossen, dass englische Texte in scriptio continuaSchriftscriptio continua nicht nur langsamer gelesen werden, sondern sich die PVLpreferred viewing location (PVL) auch von der Wortmitte auf den Anfang des Wortes verlagert.26 Interessant ist nun aber die Frage, inwiefern sich dieses Phänomen durch ausgiebiges Lesen von deutschen oder englischen Texten in scriptio continua verändern würde, also ob man das Lesen von scriptio continua üben und zu welchen LesegeschwindigkeitenLese-geschwindigkeit man gelangen kann. Mit diesen Fragen ist das methodische Problem verbunden, dass empirische Vergleichsuntersuchungen von Texten in „westlichen“ Schriftsystemen (also z.B. dem Englischen) a) mit Probanden gearbeitet haben, die nicht geübt waren im Lesen von Texten ohne Wortzwischenräume,27 und b) nur mit Probanden arbeiten können, deren LesesozialisationLese-sozialisation (s. auch Schriftspracherwerb) von einem Schriftsystem mit Wortzwischenräumen bestimmt ist; die Simulation des Lesens dieser Schriftsysteme ohne Wortzwischenräume also notwendigerweise defizitär bleiben muss. Zu solchen Fragen liegenHaltungliegen m. W. keine umfassenden Studien vor.

Allerdings deuten Studien von J. Epelboim u. a. zumindest in die Richtung, dass das Lesen von Texten in scriptio continua möglicherweise „antrainiert“ werden kann. Sie haben schon in den 1990er Jahren die Mehrheitsmeinung hinterfragt und aus ihren experimentellen Daten geschlossen, dass Wortzwischenräume die SakkadenSakkade gerade nicht steuern, sondern dass das Wiedererkennen von Worten die entscheidende Rolle spiele.28 Bezüglich der Frage, wie die WorterkennungWort-erkennung dann aber genau funktioniert, bleiben die Studien jedoch vage. Neuere Studien deuten darauf hin, dass die unbewusste Sensibilität für die FrequenzFrequenz bestimmter Buchstabenkombinationen am Anfang und am Ende von Worten eine entscheidende Funktion bei der Worterkennung habe29 (s. dazu unten mehr), wobei entsprechend der oben skizzierten Modelldiskussion komplexe kognitivekognitiv Prozesse vorauszusetzen sind.

Aufschlussreich sind bezüglich der hier verhandelten Fragen Studien zu SchriftsystemenSchrift-system, die keine WortzwischenräumeWort-zwischenraum aufweisen, die – wie vor allem die Sprachen Südostasiens – erst in der letzten Zeit verstärkt in den Fokus der LeseforschungLese-forschung gerückt worden sind.30 Bei Schriftsystemen ohne Wortzwischenräumen wirkt die Hinzufügung von Wortzwischenräumen redundant und hat keinen positiven Einfluss auf die Effizienz des Leseprozesses. Die Hinzufügung von WorttrennungenWort-trennungen (s. Schrift) bei einem Schriftsystem ohne Wortzwischenräume kann sogar zu einer Unterbrechung des flüssigen Leseprozesses führen.31 Es ist zu vermuten, dass durch die Einfügung von Wortzwischenräumen in einem Schriftsystem, das eigentlich keine Wortzwischenräume kennt, die gewohnte Sakkadenlänge gestört wird. So formuliert Vatri m. E. völlig zu Recht: „The readers’ deep-rooted habits play a major role, and this must also have applied to the ancient readers of scripturascriptura continua.”32

Als Vergleichsbasis für das klassische altgriechische SchriftsystemSchrift-system bezieht sich Vatri auf die ThailändischeSchriftThailändisch Schrift, die, als alphasyllabische Schrift ohne WortzwischenräumeWort-zwischenraum geschriebenSchriftGeschriebenes, den antiken Gegebenheiten viel näherkomme als die von Saenger33 herangezogene westafrikanische VaiSchriftVai-Schrift (eine reine SilbenschriftSilbe). Aufschlussreich ist nun der empirisch anhand von Blickbewegungsuntersuchungen gewonnene Befund der LesepraxisLese-praxis thailändischer Leserinnen und LeserLeser, dass diese sich trotz fehlender Wortzwischenräume im nicht-vokalisierendenStimmeinsatznicht-vokalisierend Lesemodus nicht von der Praxis englischer Leserinnen und Leser unterscheidet. Thailändische Leserinnen und Leser können genauso schnellLese-geschwindigkeit lesen wie englisch-sprachig; die BlickbewegungBlickbewegung (s. auch Auge) ist deckungsgleich; die SakkadenSakkade landen analog zu englisch-sprachigen Leserinnen und Lesern auf den gängigen PVLpreferred viewing location (PVL) (links von der Mitte des Wortzentrums).34 Daraus schlussfolgert Vatri: „[T]here is no reason to assume that reading unspaced text is a particular demanding cognitive task in itself, and Saenger’s model must be rejected.”35

Statt durch die WortzwischenräumeWort-zwischenraum erkennen Leserinnen und LeserLeser der ThailändischenSchriftThailändisch Schrift die einzelnen Wörter wahrscheinlich anhand bestimmter Buchstabenkombinationen am Beginn und am Ende der Worte, wie eine statistische Erhebung der Häufigkeitsverteilung in einem KorpusKorpus von 2.300 Wörtern nahelegt: „10 out of 74 characters occur at 76,4% of word endings and at 54,2 of word beginnings.“36 Basierend auf diesem methodischen Ansatz untersucht Vatri anhand eines Korpus altgriechischer Texte aus dem TLG (Thuk.Thukydides; Isokr.Isokrates; Plat.Platon apol.), ob sich hier ähnliche statistische Häufigkeitsphänomene finden lassen. Und tatsächlich zeigt seine quantitative Analyse von 278.000 altgriechischen Wörtern, dass sich eine Auswahl an Kombinationen extrapolieren lässt, welche bei der WorterkennungWort-erkennung eine wichtige Rolle gespielt haben könnten.37 Daraus lässt sich ableiten, dass gerade die übersichtliche Anzahl an relativ häufig vorkommenden, markanten Wortendungen im System der griechischen Grammatik bei der Worterkennung in der scriptio continuaSchriftscriptio continua eine wichtige Rolle gespielt hat. Der relativ regelmäßige Gebrauch von Partikeln wie δέ, γάρ usw. könnte eine Markierungsfunktion von Satzanfängen gehabt haben. Insgesamt resümiert Vatri gerichtet gegen das vielfach zu findende Postulat, scriptio continua sei schwerer zu lesen und hätte daher phonologischPhonologie realisiert werden müssen, m. E. völlig zu Recht: „No physiological constraints prevent the Greeks from reading silently.“38

Die These, scriptio continuaSchriftscriptio continua könne nur adäquat dekodiert werden, wenn sie vokalisierendStimmeinsatzvokalisierend realisiert würde, ist mit zwei weiteren Schwierigkeiten verbunden: a) mit einem reduktionistischen Verständnis der kognitivenkognitiv Herausforderungen des lautenLautstärkelaut Vortragslesens, das in den antiken Quellen reflektiert wird (s. u.); b) mit einer falschen Vorstellung der kognitiven Prozesse beim nicht-vokalisierendenStimmeinsatznicht-vokalisierend Lesen.39 Und zwar wird insbesondere die in der neueren kognitionspsychologischen LeseforschungLese-forschung „wiederentdeckte“ inner reading voiceStimmeinnere (inner reading voice)40 übersehen. Die Unterschiede zwischen vokalisierendem und nicht-vokalisierendem Lesen sollten also nicht zu grundsätzlich konstruiert werden.

Auch wenn die aktuellen Studien, die die kognitivenkognitiv Prozesse beim vokalisierendenStimmeinsatzvokalisierend VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt und nicht-vokalisierendenStimmeinsatznicht-vokalisierend Lesen vergleichen, an modernen SchriftsystemenSchrift-system gewonnen worden sind und eine Übertragbarkeit auf die Antike unter einem methodologischen Vorbehalt steht, so sind die Ergebnisse trotzdem aufschlussreich: So zeigen diese Studien, dass die Muster beim vokalisierenden und nicht-vokalisierenden Lesen generell sehr ähnlich aussehen, sich aber in Nuancen, die durchaus bedeutsam sind, unterscheiden.41 So ist das nicht-vokalisierende Lesen etwa schneller und verbunden mit einem effektiveren parafovealparafoveal preview preprocessing des noch nicht fixierten, folgenden Wortes. Der GeschwindigkeitsvorteilLese-geschwindigkeit des nicht-vokalisierenden Lesens resultiert vor allem daraus, dass beim vokalisierenden Vorlesen jedes Wort ausartikuliert werden muss, während die inner reading voiceStimmeinnere (inner reading voice) nicht durch die physiologischen Grenzen des menschlichen Artikulationsapparates beeinträchtigt wird und nicht zwingend jede SilbeSilbe eines Wortes vollständigUmfangvollständig artikulieren muss. Einige der empirisch festgestellten Unterschiede deuten darauf hin, dass die kognitiven Anforderungen der Verarbeitungsprozesse beim Vorlesen etwas größer sind: So ist a) die durchschnittliche Fixationsdauer beim vokalisierendenLautstärkevokalisierend Lesen länger, b) die durchschnittliche Länge der SakkadenSakkade kürzer, c) die Größe der perceptual spanperceptual span kleiner, außerdem sind d) häufigere RegressionenRegression beim vokalisierenden Lesen feststellbar.42 Letzteres könnte mit der Notwendigkeit zusammenhängen, beim vokalisierenden Lesen einzelne Phrasen, Satzteile und Sätze überblicken zu müssen, um diese verstehensfördernd und zusammenhängend lautlich zu realisieren. Zudem zeigt sich, e) dass die Informationen aus der parafovealen Wahrnehmung später verarbeitet werden,43 so dass J. Laubrock und R. Kliegl resümieren: „Thus although more time is available due to the longer fixations in oralMündlichkeit reading, apparently this time is not used in the same way for parafoveal preprocessing.”44 Insbesondere beim Vorlesen in performativen Kontexten ergeben sich mutmaßlich zusätzliche kognitive Anforderungen, die aus der fortlaufend notwendigen Reflexion und der Notwendigkeit der Beobachtung von Raumwirkung, Wirkung auf das PublikumPublikum (s. auch Lesepublikum) etc. resultieren. Diese Parameter werden in den während der Forschungsarbeit konsultierten Studien nicht einbezogen, da die Versuche gleichsam unter „Laborbedingungen“ durchgeführt werden. In jedem Fall deutet aber nichts darauf hin, dass vokalisierende Lektüre einen generellen Verstehensvorteil bietet; so kann nicht zuletzt die GeschwindigkeitLese-geschwindigkeit des nicht-vokalisierenden Lesens variabel angepasst werden, wenn ein Text oder Textteile kognitiv besonders herausfordernd sind.

Es kann also festgehalten werden, dass aus kognitionspsychologischerKognitionswissenschaften und neurowissenschaftlicher Sicht das Lesen von antiker scriptio continuaSchriftscriptio continua nicht auf die phonologischePhonologie Realisierung durch die Lesestimme angewiesen war, sondern potentiell eine Realisation durch die inner reading voiceStimmeinnere (inner reading voice) völlig ausreichend gewesen sein muss.45 Im Umkehrschluss könnte man sogar vermuten, dass die scriptio continua einen Effizienzvorteil gegenüber SchriftsystemenSchrift-system mit SpatienWort-zwischenraum hat, insofern sie Lesern potentiell eine größere perceptual spanperceptual span ermöglicht, da mehr BuchstabenBuch-stabe parafovealparafoveal preview wahrgenommen werden können. Diese Hypothese müsste freilich empirisch erst überprüft werden.