Lesen in Antike und frühem Christentum

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Bei Apuleius findet sich z.B. die folgende Formulierung: totam sodes epistulam cedo: sine omnia inspiciam, a principio ad finem perlegamperlego (Apul.Apuleius apol. 82). Diese Stelle ist insofern aufschlussreich, als das Durchlesen „vom Anfang bis zum Ende“ im Kontext dadurch spezifiziert wird, dass jemand den gesamten BriefBrief, dessen kompletter Inhalt ihm vorher vorenthalten wurde, inspizieren, d. h. (mit eigenen AugenAugen) einsehen möchte. Bestätigt vor dem Hintergrund der antiken Leserealien findet sich diese Bedeutungsdimension bei Martial in polemischer Zuspitzung: „Aufgerollt bis zu seinen Hörnern (ad sua cornua) und so, als ob es durchgelesen wäre (et quasi perlectum), bringst du mir das BuchBuch zurück, Septicianus“ (Mart.Martial 11,107; Üb. BARIÉ/SCHINDLER). In der praefatio von Vitruvs siebtem Buch seines Werkes über die Architektur findet sich ein aussagekräftiges Beispiel für den Lexemgebrauch von perlegoperlego: Im Kontext seiner Überlegungen zur Praxis andere AutorenAutor/Verfasser zu plagiieren (Vitr.Vitruv 7 praef. 3) erzählt Vitruv eine (freilich legendarisch ausgeschmückte) Geschichte, die sich in Alexandria zugetragen haben soll (Vitr. 7 praef. 4–7). Ptolemaois (Philopator) hat im Zusammenhang mit Spielen zu Ehren der Musen und Apollons einen LiteraturwettbewerbWettbewerb eingerichtet, für dessen Jury noch eine Person fehlt. Man empfiehlt ihm Aristophanes (von Byzanz), „der mit größtem Eifer und höchster Gründlichkeit Tag für Tag, ohne Pause alle Bücher durchlas“ (qui summo studio summaque diligentia cotidie omnes libros ex ordine perlegeret; Vitr. 7 praef. 5). Diese Stelle ist nun in Bezug auf die Semantik von perlego insofern aufschlussreich, als hier a) nicht der Vortrag, sondern die inhaltliche Qualität der Wettbewerbsbeiträge begutachtet werden soll, und b) die inhaltliche Tiefe der Auseinandersetzung der Bücher seitens Aristophanes betont wird. So ermöglicht es ihm nämlich seine genaue Kenntnis der Bibliotheksbestände, den Publikumsliebling des Plagiats zu überführen, was ihm lautLautstärkelaut Vitruv die Leitung der BibliothekBibliothek eingebracht habe.64 Perlego meint also hier eine besonders gründliche, individuelle Studienlektüre – vollständigUmfangvollständig sowohl im Hinblick auf den Umfang der einzelnen Werke als auch im Hinblick auf den Buchbestand einer Bibliothek. So betont auch Quintilian bezüglich der von ihm empfohlenen Lektüren, dass diese „nicht nur Teil für Teil zu durchforschen sind (per partes modo scrutanda omnia), sondern, ist ein Buch durchgelesen, so ist es unbedingt von neuem vorzunehmen (sed perlectus liberliber utique ex integroresumendus)“ (Quint.Quintilian inst. or. 10,1,20; Üb. RAHN), wobei er im Kontext außerdem betont, dass das Lesen hier der Sorgfalt (sollicitudo) beim SchreibenSchreiben entsprechen soll. Als Begründung für MehrfachlektüreLektüreMehrfach- führt er an, dass viele Texte sich wegen ihres rhetorischen Aufbaus erst vollständig erschließen, wenn man sie einmal komplett gelesen hat (vgl. Quint. inst. or. 10,1,21). Bei PetroniusPetronius Arbiter, T. (sat. 34,6) wird das Durchlesen des titulus auf dem Etikett (pittacium) eines Weingefäßes mit perlego beschrieben. Plinius verwendet das Verb als Gegenbegriff zum Hören (Plin. ep.Plinius der Jüngere 8,20,2). Eine Szene, in der ein Brief eindeutig nicht-vokalisierendStimmeinsatznicht-vokalisierend durchgelesen wird, findet sich bei Sall.Sallust Iug. 71: Der curator des numidischen Generals Nabdalsas findet auf dem Lager seines schlafenden Dienstherren einen achtlos liegengelassenen Brief mit einem Plan für ein Attentat auf KönigKönig Jugurtha. Die Szene impliziert, dass der curator den Brief nicht-vokalisierendStimmeinsatzvokalisierend durchliest, da eine vokalisierende Lektüre den schlafenden Nabdalsa geweckt hätte. Eine weitere aufschlussreiche Brieflektüreszene findet sich in Caesars comentarii zum Gallischen Krieg (Caes.Caesar gall. 5,48,8): Und zwar wird CiceroCicero, Marcus Tullius hier ein Brief gebracht, den Caesar ihm in griechischer Sprache geschriebenSchriftGeschriebenes hat. Diesen liest er erst für sich durch, wie das PartizipPartizip Perfekt Passiv zeigt (ille perlectam), und gibt den Inhalt dann rezitierend in conventu militum bekannt.65 Der hier beschriebene zweistufige Rezeptionsprozess deutet darauf hin, dass das zunächst individuelle Durchlesen des Briefes ohne lautliche Realisierung vorzustellen ist. Denn Cicero ging es wohl zunächst darum, den Inhalt des Briefes wahrzunehmen, um dann zu entscheiden, ob er auch für eine weitere ÖffentlichkeitÖffentlichkeit bestimmt war.66

Besonders hervorgehoben werden müssen drei weitere Belegstellen für definitiv nicht-vokalisierendeStimmeinsatznicht-vokalisierend Lektüre, die mit dem Verb perlegoperlego zusammengefasst werden;67 und zwar findet sich a) in einem Liebesgedicht von OvidOvidius, P. Naso (am. 1,11) die Aufforderung des lyrischen Ichs an Nape, eine Sklavin der geliebten Corinna, dieser von ihm beschriebene TäfelchenTafel/Täfelchen (tabellae) zu geben und ihr bei der Lektüre des Textes zuzusehen:

Während sie liest, betrachte – das sag ich dir! – AugenAugen und Stirne:

Auch aus der Miene, die schweigt, lässt sich ersehn, was dann kommt.

Las sie’s (perlectis), lasse sofort eine lange Antwort sie schreibenSchreiben.68

Bei PetroniusPetronius Arbiter, T. findet sich b) eine motivisch verwandte Szene. Chrysis gibt dem Ich-ErzählerErzähler einen BriefBrief von seiner Herrin zur Lektüre, der auf TafelnTafel/Täfelchen (codicilli) geschriebenSchriftGeschriebenes ist. Chrysis, der ja als AdressatAdressat des Briefes den Inhalt kennt, spricht zu dem Ich-Erzähler, nachdem er wahrgenommen(!) hat, dass jener den Brief komplett durchgelesen hat (ut intellexit Chrysis perlegisse me totum convicium … inquit …; Petron.Petronius Arbiter, T. sat. 129). c) Seneca bezeichnet mit dem Verb das Lesen/Wahrnehmen von Buchtiteln, die außen an den im Bücherregal lagernden RollenRolle (scroll) angebracht waren. Er kritisiert die Praxis, BücherBuch nur als Ausdruck kulturellen Kapitals im Speisezimmer oder an anderer exponierter Stelle und in Bücherwänden bis zur Decke zur Schau zu stellen und mit den Buchtiteln und gesammelten Gesamtausgaben Gelehrsamkeit vorzugaukeln und zu prahlen (vgl. Sen. tranq. 9).

Diese Belegstellen sind nicht nur für die Verwendung des Verbes perlegoperlego aufschlussreich, sondern zeigen auch, dass nicht-vokalisierendeStimmeinsatznicht-vokalisierends Lesen gerade nicht die große Ausnahme darstellte, wie in der Forschung gemeinhin angenommen wird. Vielmehr setzen die drei Stellen voraus, dass in einer alltäglichen LesesituationLese-situation die Lektüre eines Textes ohne stimmlicheStimme RealisierungStimmestimmliche Realisierung auskam.

3.4 Lesen als Begegnung und Kontakt mit dem Text

Die Semantik des Kompositums ἐντυγχάνωἐντυγχάνω ist noch stärker von der Dimension des physischen Aufeinandertreffens/-stoßens geprägt als die Semantik des Verbes τυγχάνω selbst.1 Es bedeutet auf etwas stoßen,2 auch im Sinne von „in die Hände fallen“ von Gegenständen3, es kann verwendet werden, um das „Aufeinandertreffen“ mit Steinen oder Wurfgeschossen,4 mit einem Blitz5 o. ä. zu bezeichnen, was letale Folgen nach sich zieht. Außerdem bezeichnet es häufig das physische Aufeinandertreffen, die Begegnung von Menschen in den unterschiedlichsten Kontexten.6 Besonders deutlich ist die Dimension des physischen Kontakts im kriegerischen Kontext7 oder wenn das Verb gebraucht wird, um sexuellen Kontakt8 zu beschreiben.9 Sodann wird ἐντυγχάνω im übertragenen Sinne gebraucht, dass einer Person oder einer Personengruppe Unheil u. ä. droht oder sie auf Schwierigkeiten trifft.10

Als LeseterminusLese-terminus11 verwendet ist das Objekt des Lesens zumeist im Dativ angegeben, wobei zumeist aus der Semantik des Leseobjekts oder dem Kontext deutlich hervorgeht, dass es um etwas geht, das auf einem Medium schriftlich fixiert ist.

Als LesemedienLese-medium werden etwa genannt:

ἀρχαιολογίαιἀρχαιολογίαι: Vgl. z.B. Ios.Josephus, Flavius c. Ap. 2,136.

βιβλίονβιβλίον: Vgl. z.B. Plat.Platon symp. 177b; Dion Chrys. or. 4,30; Plut.Plutarch de mul. vir. prooem. (mor. 243e); Plut. Art. 13,4; Athen.Athenaios deipn. 14,62 (650b); PhiloPhilon von Alexandria virt. 17 (Querverweis auf das Lesen früherer BücherBuch); Ios.Josephus, Flavius c. Ap. 1,205; 1,216f; 2,45 (… καὶ ταῖς τῶν ἱερῶν γραφῶν βίβλοις ἐντυχεῖν); mit Verweis auf den TitelTitel Athen deipn. 15,18: ἐνέτυχον ὀψέ ποτε Πολυχάρμου Ναυκρατίτου ἐπιγραφομένῳ βιβλίῳ Περὶ Ἀφροδίτης, ἐν ᾧ ταυτὶ γέγραπται …; Philostr.Philostratos, Flavius v. Apoll. 1,3: ἐνέτυχον δὲ καὶ Μαξίμου τοῦ Αἰγιέως βιβλίῳ ξυνειληφότι …; Cass. DioCassius Dio 58,11,7.

 

γράμματαγράμματα: Vgl. Ios.Josephus, Flavius c. Ap. 2,37; PhiloPhilon von Alexandria sacr. 79; legat. 253; Ach. Tat.Achilleus Tatios 5,19,5; Charit.Chariton von Aphrodisias Cal. 4,5,8; Orig.Origenes comm. in Ioh. 1,2,9; Iul.Iulianus, Flavius Claudius (Kaiser) ep. 29 (396c); Basil.Basilius der Große Caes.Caesar Ep. 194 u. ö.

γραφήγραφή: Vgl. z.B. PhiloPhilon von Alexandria Mos. 2,40; Tat.Tatian orat. 29. Vgl auch Eus.Eusebios von Caesarea h. e. 7,32,2, der von Kyrillos von Antiochia berichtet, er habe die hebräische Sprache gelernt, um die hebräischen Schriften lesen zu können: … ὡς καὶ αὐταῖς ταῖς Ἑβραϊκαῖς γραφαῖς ἐπιστημόνως ἐντυγχάνεινἐντυγχάνω; bzw. ὑπογραφή: Vgl. z.B. App.Appian Lib.Libanios 20,136.

ἱστορίαι: Vgl. z.B. Polyb.Polybios 12,25,2; Ios.Josephus, Flavius c. Ap. 1,220; vita 345; Dion. Hal.Dionysios von Halikarnassos ant. 4,6,1; Orig.Origenes Cels. 1,42; Ps.-Iust.Iunianus Iustinus Mart.Justin der Märtyrer cohort. 12b u. ö.; (Ps.?)-Basil.Basilius der Große Caes.Caesar enarr. 3,113.

λόγοςλόγος: Vgl. Plut.Plutarch symp. 3,5,1 (mor. 652a): Ἀριστοτέλους ἐντυχὼν οὐ νεωστὶ λόγῳ περὶ ….; Plut. de Pyth. or. 23 (mor. 406a), führt als Gegenargument an, die Akademie, Sokrates und Platon seien ἀνέραστος gewesen: … ὧν λόγοις μὲν ἐρωτικοῖς ἐντυχεῖν ἔστι … Eindeutig in hss. Form fixierte und vermutlich publizierte RedenRede sind bei Men.Menandros Rhet. epideikt. 2,386,29ff im Blick, der im 3./4. Jh. dazu auffordert, Reden u. a. von Aristides (2. Jh.) und Hadrian (1./2. Jh.) als VorlageVorlage zur Konzeption eigener Reden zu lesen. Vgl. ferner Dion Chrys. or. 18,16–18 (hier ist v. a. aufschlussreich, dass emotionale Reaktionen im Blick sind, die durch das Lesen ausgelöst werden); Plut. de animae 29 (mor. 1027b); Plut. Phil. 4,3.

πραγματείαπραγματεία: Vgl. z.B. Dion Chrys. or. 18,15, der damit Xenophons Anabasis bezeichnet. Vgl. außerdem Polyb.Polybios 4,1,4; 6,2,3.

στιχίδιαστιχίδια: Plut.Plutarch de E 1 (mor. 384d).

συγγράμματασυγγράμματα: Vgl. z.B. Plat.Platon min. 316c (συγγράμματι περὶ ὑγιείας τῶν καμνόντων); Plat. Lys.Lysias 214b (τοῖς τῶν σοφωτάτων συγγράμμασιν); Plut.Plutarch Phil. 4,3 (συγγράμμασι φιλοσόφων); mit Verweis auf den TitelTitel Athen.Athenaios deipn. 15,12 (672a): ἐγὼ δ᾽ ἐντυχὼν τῷ Μηνοδότου τοῦ Σαμίου συγγράμματι, ὅπερ ἐπιγράφεται Τῶν κατὰ τὴν Σάμον ἐνδόξων ἀναγραφή …; PhiloPhilon von Alexandria Aet. 12; Diog. Laert.Diogenes Laertios 9,1,11; Men.Menandros Rhet. epideikt. 2,393; Theon exp. rer. math. 1.

συντάγματασυντάγματα: Vgl. Plut.Plutarch adv. Col. 14 (mor. 1115a); der (fehlende) physische Kontakt von Kolotes mit den genannten Büchern wichtiger PhilosophenPhilosophie wird im nachfolgenden Satz deutlich hervorgehoben: μηδ᾽ ἀναλάβῃς εἰς χεῖρας Ἀριστοτέλους τὰ περὶ Οὐρανοῦ καὶ …

τραγῳδίαις: Dion Chrys. or. 52,1.

ὑπομνήματαὑπομνήματα: Vgl. z.B. Strab.Strabon 2,1,5; Plut.Plutarch Dem. 5,5; M. Aur.Mark Aurel 1,7; Ios.Josephus, Flavius c. Ap. 1,56; Plut. Marcellus 5,1, verwendet zusammen mit ἐντυγχάνωἐντυγχάνω außerdem εὑρίσκωεὑρίσκω (finden) als LeseterminusLese-terminus, der in einem weiten Sinne ebenfalls dem Bildbereich des physischen Kontakts zugeordnet werden kann: ἱερατικοῖς ὑπομνήμασιν ἐντυχὼν εὗρεν …; vgl. dazu z.B. ferner auch Cass. DioCassius Dio 39,15,2; Iren.Irenäus von Lyon adv. Haer. 1, prooem., 1; Eus.Eusebios von Caesarea h. e. 2,25,4 (s. u.); 7,25,21 (dort in einem BriefBrief von Dionysius von Korinth; s. u.).

Als Objekt des Lesens steht aber auch der TitelTitel eines Werkes12 bzw. der Name des Autors13. Der schriftliche Charakter des LeseobjektesLese-objekt wird z.B. sehr gut deutlich bei der Formulierung ε. οἷς xy γέγραφε περὶ … bei Plut.Plutarch Agis 15,2.14 Sehr selten steht das Objekt des Lesens hingegen im Genitiv.15 An dieser Stelle ist ferner darauf hinzuweisen, dass Athenaios semantisch analog zur LesemetapherMetapher ἐντυγχάνωἐντυγχάνω, aber vermutlich innovativ, das Verb ἀπαντάωἀπαντάω (treffen) als Lesemetapher im Sinne von „auf ein BuchBuch stoßen“ verwendet (vgl. Athen.Athenaios deipn. 4,54 [162e]: s. auch 8,15 [336d]).

Bei PlutarchPlutarch kommt das Verb ἐντυγχάνωἐντυγχάνω an der berühmten Stelle vor, an der er schildert, wie Octavian von Kleopatras Selbstmord erfährt, indem er auf einer WachstafelTafel/Täfelchen ihre Bitte liest, neben Antonius begraben zu werden: Καῖσαρ δὲ λύσας τὴν δέλτον, ὡς ἐνέτυχε λιταῖς καὶ ὀλοφυρμοῖς δεομένης αὐτὴν σὺν Ἀντωνίῳ θάψαι, ταχὺ συνῆκε τὸ πεπραγμένον (Plut. Ant. 85).16 Bei manchen Belegstellen kann zwischen dem Auffinden eines Textes o. ä. und dem Akt des LesensLese-akt nicht unterschieden werden; in der jeweiligen Darstellung wird beides mit dem Verb ἐντυγχάνω zusammengefasst.17 Vielfach, auch bei den schon oben genannten Belegstellen, kann jedoch deutlich zwischen dem Akt des Lesens (ausgedrückt durch ἐντυγχάνωἐντυγχάνω) und dem Auffinden unterschieden werden. Besonders eindrücklich ist in dieser Hinsicht eine Visionsstimme in einem bei Euseb (h. e. 7,7,3) überlieferten BriefBrief von Dionysius an den römischen Priester Philemon, die ihm, Dionysius, mit klaren Worten befohlen habe, er solle alles lesen, was er in die Hände nähme, da er in der Lage sei, alles zu prüfen und zu beurteilen: πᾶσιν ἐντύγχανε οἷς ἂν εἰς χεῖρας λάβοις· διευθύνειν γὰρ ἕκαστα καὶ δοκιμάζειν ἱκανὸς εἶ … KaiserKaiser/Princeps Iulian teilt dem PhilosophenPhilosophie Maximus in einem Brief (Iul.Iulianus, Flavius Claudius (Kaiser) ep 12 [383a/b]) mit, dass er analog zu Alexander d. Gr., der mit Homer unter dem Kopfkissen geschlafen haben soll, mit den Briefen von Maximus schlafe und diese immer wieder so lese, als hätte er sie zum ersten Mal in die Hand bekommen: … καὶ οὐ διαλείπομεν ἐντυγχάνοντες ἀεὶ καθάπερ νεαραῖς ἔτι καὶ πρῶτον εἰς χεῖρας ἡκούσαις.

Bei Platon wird das Verb auch verwendet, um das Betrachten von Bildern anzuzeigen.18 PlutarchPlutarch verwendet das Verb ebenfalls im Sinne von „wahrnehmen“, wenn er die individuellen Voraussetzungen und die Selektivität der Sinneswahrnehmung diskutiert.19 Dass ἐντυγχάνωἐντυγχάνω tatsächlich als lexikalisierte LesemetapherMetapher gebraucht wurde, also die ursprüngliche Bedeutung des Verbes im kommunikativen Akt nicht zwingend bewusst wahrgenommen werden musste, wird deutlich, wenn die bei Plutarch (symp. 5,2 [mor. 675b]) mit ἐντυγχάνω gekennzeichnete Lektüre von Polemons Beschreibung der Schatzhäuser in Delphi20 durch das Lexem ἐπιμελήςἐπιμελής (sorgsam, sorgfältig, intensiv) spezifiziert wird,21 das auch im Zusammenhang mit ἀναγιγνώσκωἀναγιγνώσκω eine sorgfältige, aufmerksame, intensiveAufmerksamkeitvertieft, individuell-direkteLektüreindividuell-direkt Lektüre bezeichnen kann.22 Dionysius von Korinth verwendet analog προσέχης (aufmerksam, sorgfältig, achtsam), wie Euseb bezeugt.23 Das damit verbundene raummetaphorische Konzept – προσέχης bedeutet eigentlich daran stoßend, nah, closely connected u. ä. – könnte dadurch entstanden sein und seinen sozialgeschichtlichenSozialgeschichte Ausdruck darin haben, dass jemand, der aufmerksam liest, auch in der Antike beim Lesen den Abstand zwischen AugenAugen und Text verringert, indem er sich dem Text durch Vorbeugen des Kopfes nähert, d. h. sich in ihn vertieftAufmerksamkeitvertieft. Auch der entgegengesetzte Lesemodus kann durch Spezifizierung von ἐντυγχάνω mit einem Adverb beschrieben werden. Dies bezeugt Dion Chrysostomos (or. 18,6), der rät, Menander und Euripides nicht nebenbei bzw. oberflächlichAufmerksamkeitoberflächlich/flüchtig zu lesen (… μὴ παρέργως ἐντυγχάνειν …). Die Gründlichkeit der Lektüre wird sodann häufig unter Verwendung des Lexems ἀκριβήςἀκριβής hervorgehoben. So sagt z.B. Plutarch über die Peripatetiker, sie hätten die Schriften von Aristoteles und Theophrast weder viel noch genau gelesen (… οὔτε πολλοῖς οὔτε ἀκριβῶς ἐντετυχηκότες … Plut. Sull. 26). Theodoret Theodoretbescheinigt ferner PorphyriosPorphyrios, er habe „die ProphetenProphet genau gelesen“ (Τοῖς προφήταις ἀκριβῶς ἐντυχὼν … [Theod. Gr. aff. cur. 7,36]).24

 

Justin bietet den postulierten Lesern seiner Apologie aus dem römischen Kaiserhaus (vgl. Iust.Iunianus Iustinus Mart.Justin der Märtyrer Apol. 1,1) an, ihnen eine Schrift gegen alle bisher entstandenen Häresien zu geben (σύνταγμα κατὰ πασῶν τῶν γεγενημένων αἱρέσεων …), wenn sie diese lesen wollten (… ᾧ εἰ βούλεσθε ἐντυχεῖν … Iust. Mart.Martial Apol. 1,26,8). Auch bei OrigenesOrigenes ist es eindeutig, dass individuell-direkteLektüreindividuell-direkt Lektüre bei der Verwendung des Verbes als LeseterminusLese-terminus vorausgesetzt ist (vgl. z.B. Orig. Cels. 4,52, wo er im Kontext die Lese-MetonymieMetonymie des „in-die-Hand-Nehmens“ verwendet).

Das metaphorischeMetapher Konzept der physischen Begegnung steht im Hintergrund, wenn bei PlutarchPlutarch περιπίπτωπεριπίπτω im Sinne von Lesen gebraucht wird; hier scheint er allerdings das Verb bewusst als Metapher zu verwenden. Plutarch verweist nämlich explizit auf die bei Epikur niedergeschriebenen Äußerungen (wörtl. Stimmen) von Sokrates: εἰ δὲ τοιαύταις, ὦ Κωλῶτα, Σωκράτους φωναῖς περιέπεσες, οἵας Ἐπίκουρος γράφει πρὸς Ἰδομενέα … (adv. Col. 18 [mor. 1117d]). Diese metaphorische Verwendung von περιπίπτω ist auch schon im 2. Jh. beim alexandrinischen Astronomen und Mathematiker Hypsikles belegt, der mitteilt, er sei in ein anderes BuchBuch von Apollonios gefallen, also darauf gestoßen: ἐγὼ δὲ ὕστερον περιέπεσον ἑτέρῳ βιβλίῳ ὑπὸ Ἀπολλωνίου … (Hyps.Hypsikles dodek. eikos. prooem. [=Eukl.Euklid elem. 14]). Euseb übersetzt die Aufforderung Tertullians, die Aufzeichnungen zu befragen (consulite commentarious vestros …), in denen man finden (reperioreperio), also lesen könne, dass Nero der erste Verfolger der Christen in Rom gewesen sei (Tert.Tertullianus, Quintus Septimius Florens Apol. 5), folgenermaßen: ἐντύχετεἐντυγχάνω τοῖς ὑπομνήμασιν ὑμῶν, ἐκεῖ εὑρήσετεεὑρίσκω … (Eus.Eusebios von Caesarea h. e. 2,25,4).

Das lateinische Verb consulo (befragen) ist als LeseterminusLese-terminus erst bei spätantiken christlichen AutorenAutor/Verfasser bezeugt. Bei Augustinus findet man das Konsultieren von Büchern (ego consulens libros; Aug.Augustinus von Hippo mus. 6,52) oder der apostolischen Schriften (scripturasscriptura apostolicas consulamus; Aug. ep. ad cath. 7,16). Orosius spricht von der Konsultation der sibyllinischen BücherBuch (vgl. Oros.Orosius hist. 3,22,5). Das dahinterliegende metaphorischeMetapher Konzept, Lesen als Dialog mit dem Text zu verstehen, findet sich allerdings schon bei den klassischen Autoren: CiceroCicero, Marcus Tullius schreibt in einem BriefBrief an Atticus, dass in der von ihm sehr geschätzten Einsamkeit (solitudo) sein einziges Gespräch mit Geschriebenem sei (in ea mihi omnis sermo est cum litteris; Cic. Att. 12,15). Ähnlich unterhält sich Plinius in seiner VillaVilla Laurentinum nur mit sich selbst und mit seinen Büchern (mecum tantum et cum libellis loquor; Plin. ep.Plinius der Jüngere 1,9,5). Aus diesen Stellen zu schließen, Cicero und Plinius hätten vokalisierendStimmeinsatzvokalisierend gelesen, wäre methodisch verfehlt, da es sich eindeutig um eine metaphorisch konzeptualisierte Beschreibung ihrer LesepraxisLese-praxis handelt. Zudem betont Plinius im Kontext gerade die Ruhe in seiner Villa, wo er nichts hören (nihil audioaudio; Plin. ep. 1,9,5) muss. Das Gespräch mit sich selbst muss ebenfalls nicht zwingend als Selbstgespräch unter Einsatz der StimmeStimme verstanden werden, sondern kann im Kontext durchaus allein auf das Denken bezogen sein.

Das durch hinzutretenden Artikel substantivierte PartizipPartizip von ἐντυγχάνωἐντυγχάνω dient als Sammelbezeichnung für LeserLeser/RezipientenRezipient25 und findet sich in dieser Bedeutung auch vielfach in den Schriften Philons und bei den KirchenväternKirche-nväter.26 Dass ein physischer Kontakt mit Büchern in vielen Fällen vorausgesetzt werden kann, zeigt eine Stelle bei PolybiosPolybios (3,9,1–3), der von den Lesern (Partizip von ἐντυγχάνωἐντυγχάνω) der Annalen von Fabius spricht und diejenigen, die seine BücherBuch in die Hand nehmen, davor warnt, nur auf den TitelTitel zu achten statt die Fakten zu beurteilen.27 Auffällig ist außerdem seine Konstruktion eines Gegensatzes zwischen den Lesern (τοὺς ἐντυγχάνοντας) bzw. Lernbegierigen (τοὺς φιλομαθοῦντας)28 eines Historikers (συγγραφεύς) und dem PublikumPublikum (s. auch Lesepublikum) bzw. den Zuhörern (τοὺς ἀκούονταςἀκούω) eines Tragödienschreibers (τραγῳδιογράφος).29 An einer bekannten Stelle bei Dion Chrysostomos wird deutlich, dass zumindest beim Infinitiv ἐντυγχάνειν nicht ausgeschlossen werden kann, dass auch die indirekte Rezeption durch Vorlesenlassen mit dem Verb bezeichnet werden kann.

„Bezüglich der Dichter würde ich dir raten, dass du auf Menander von den Komödiendichtern und Euripides von den Tragikern nicht nebenher triffst, und auf diese diese solltest du nicht so [treffen], sie selbst zu lesen, sondern durch einen Geübten, gut und angenehm, zumindest aber ohne Schmerzen, vorzutragen.“ (Dion Chrys. or. 18,6)

Die indirekte Form der Rezeption erscheint mir bei dem Verb aber nicht vorrangig zu sein. Denn hier bei Dion Chrysostomos steht das „Aufeinandertreffen“ mit dem Inhalt und der Schönheit der Sprache im Fokus. Der ästhetischeästhetischer Genuss/Vergnügen Genuss sei bei DramenDrama groß, wenn der RezipientRezipient von der Belastung der individuell-direkteLektüreindividuell-direktn Lektüre entlastet sei: πλείων γὰρ ἡ αἴσθησιςἀπαλλαγέντι τῆς περὶ τὸ ἀναγιγνώσκειν (Dion Chrys. or. 18,6). Für die Einschätzung des Quellenwertes für die Fragen der LesesituationLese-situation ist zudem entscheidend, dass es sich um eine normative Quelle handelt. Gerade dass Dion hier Regelungsbedarf sieht, zeigt, dass er das individuell-direkte StudiumStudium als Normalform der intensiven StudienlektüreAufmerksamkeitvertieft vor Augen hat. Dies wird auch in den folgenden Ausführungen zur Beschäftigung mit nicht-dramatischer Texte deutlich (vgl. Dion Chrys. or. 18,9–17), bezüglich derer er individuell-direkte Lektüre voraussetzt, wie insbesondere aus der retrospektiven Reflexion in Dion Chrys. or. 18,20f hervorgeht.

Das PartizipPartizip wird im Speziellen (häufig im Plural) auch dazu verwendet, den bzw. die LeserLeser direkt als solche anzusprechen. Von den vielen Belegstellen, die dies zeigen,30 ist eine Formulierung bei Vettius ValensVettius Valens besonders erhellend. Und zwar erklärt er leserlenkendLeserlenkung, dass die Beispiele, die er im Folgenden anführt, dem Verständnis des Lesers dienen: Ἔστω δὲ πάλιν ἐπὶ ὑποδείγματος, ἵνα σαφέστερον οἱ ἐντυγχάνοντεςἐντυγχάνω τὴν ἐπίγνωσιν λαμβάνωσιν … (Vett. Val. 1,21).31 Der technische und Zahlen lästige Inhalt32 dieses neunbändigen astrologischen Werkes Anthologiae aus dem 2. Jh. n. Chr. deutet darauf hin, dass es sich nicht um ein BuchBuch für das VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt handelt, οἱ ἐντυγχάνοντες hier also individuell-direktLektüreindividuell-direkt lesende AdressatenAdressat sind.

Interessant ist außerdem nicht zuletzt im Hinblick auf Lk 1,3fLk 1,3 f und Act 1,1 fAct 1,1 f, dass z.B. JosephusJosephus, Flavius in seinen Schriften Contra Apionem und Antiquitates samt der Vita, obwohl sie einem gewissen Epaphroditos gewidmet sind,33 die LeserLeser im Plural anspricht.34 An einer anderen Stelle verweist Josephus mit der Formulierung τοὺς πλέον ταῖς ἱστορίαις ἐντυγχάνοντας (Ios. c. Ap. 1,220) darüber hinaus auf einen gut gebildeten35 Rezipientenkreis, der schon viele historiographische Werke gelesen hat; mehrfach spricht er mit dem PartizipPartizip explizit solche Leser an, die auch seine Antiquitates gelesen haben: οἱ ταῖς ἡμετέραις ἀρχαιολογίαις ἐντυγχάνοντες (Ios. c. Ap. 2,136; siehe auch 1,1). Dass Josephus unter den mit dem Partizip von ἐντυγχάνωἐντυγχάνω bezeichneten RezipientenRezipient nicht ein Hörpublikum im Blick hat,36 sondern ein LesepublikumLese-publikum, zeigt die Formulierung in Ios. c. Ap. 2,147 – die Leser sind hier eindeutig das aktiv handelnde Subjekt des Betreibens der Lektüre und nicht die passiven ZuhörerHörer.37

Ferner findet man auch in OrigenesOrigenes’ Contra Celsum eindeutig die LeserLeser im Plural angesprochen, obwohl die BücherBuch an den reichen Hofbeamten AmbrosiusAmbrosius von Mailand von Alexandrien, der Mäzen und Freund von Origenes, an ein Individuum, adressiertAdressat sind (vgl. Orig. Cels. 8,76); z.B. wenn er am Ende des vierten Buches um Gnade bittet, das fünfte Buch zum Nutzen der Leser (ἐπ’ ὠφελείᾳ τῶν ἐντευξομένων) zu finalisieren (vgl. Orig. Cels. 4,99); aber auch im Schlusskapitel ist Ambrosius deutlich von „dem Leser“ unterschieden (vgl. Orig. Cels. 8,76).

Das Derivat ἐπιτυγχάνωἐπιτυγχάνω in seiner Verwendung als LeseterminusLese-terminus38 wurde im Rahmen dieser Arbeit nicht eingehender untersucht. Ferner sei auch darauf hingewiesen, dass im Lateinischen das Verb invenioinvenio (auf etwas kommen/stoßen, etwas finden, antreffen, entdecken) als LesemetapherMetapher des Kontakts verwendet wird (vgl. z.B. Plin. nat.Plinius der Ältere praef. 26, wo individuell-direkteLektüreindividuell-direkt Lektüre vorausgesetzt wird).39

Das stammverwandte Substantiv ἔντευξιςἔντευξις, das sowohl allgemein das Zusammentreffen40, die Zusammenkunft41, aber auch die Unterredung42 sowie im Speziellen die Audienz43 oder die Bitte/Anfrage44 bezeichnet, findet sich analog zum Befund von ἐντυγχάνωἐντυγχάνω in den Quellen ebenfalls als Bezeichnung für Geschlechtsverkehr45 und als MetapherMetapher für die Lektüre oder das StudiumStudium von Texten. So wirbt etwa PolybiosPolybios (1,1,4) am Beginn seiner Historien für sein Werk, indem er die Außerordentlichkeit der von ihm vorzustellenden Begebenheiten hervorhebt, die Jung und Alt zur Lektüre bzw. zum Studium der Abhandlung (πρὸς τὴν ἔντευξιν τῆς πραγματείας) anspornen. Eindeutig in diesem Sinne wird das Lexem auch von Clemens von Alexandria benutzt, wenn er die Praxis der Schriftlektüre der Gnostiker beschreibt (vgl. Clem. strom. 7,49,3 f). Euseb verwendet das Substantiv, um auf die Konsultation von Hss.Handschrift/Manuskript zu verweisen (vgl. Eus.Eusebios von Caesarea mart. pal. 11,4).46

Es wird in den Quellen aber nicht nur dazu verwendet, den LeseaktLese-akt zu bezeichnen, sondern kann auch auf etwas GeschriebenesSchriftGeschriebenes verweisen. So wirft CatoCato der Ältere, Marcus Porcius CaesarCaesar während einer Senatssitzung fälschlicherweise vor, Caesar erhalte ἐντεύξεις καὶ γράμματαγράμματα παρὰ τῶν πολεμίων (Plut.Plutarch Brut. 5), als dieser ein kleines Schriftstück, einen BriefBrief von Catos Schwester Servilia, zugesteckt bekommt. Justin bezeichnet seine Apologie als Anrede (προσφώνησις) und Bittschrift (ἔντευξιςἔντευξις).47