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Engelhart Ratgeber

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Er war der Stadt und ihrer Menschen müde, er sehnte sich nach Freiheit und nach der Welt; ganze Nachmittage lang lag er am Bahndamm und blickte die Gleise hinauf und hinab, an die unbekannte Ferne denkend. Aber die Zeit erfüllte sich. Als der Sommer kam, der letzte Sommer der Knechtschaft, wie er meinte, teilte ihm der Vater mit, daß Michael Herz in Wien sich entschlossen habe, den Neffen zu sich ins Geschäft zu nehmen. Es habe genug Schwierigkeiten gekostet, meinte Herr Ratgeber, den Mann so weit zu bringen, er selbst habe sich für den guten Willen und das ehrliche Streben Engelharts gleichsam verbürgen müssen; Engelhart beruhigte seinen Vater, er versprach alles, was man wollte, er dachte gar nicht an die Dinge, zu denen er sich verpflichtete, und daß er dem Vater wie dem Onkel gegenüber eine ernsthafte Verantwortung auf sich nahm, es drängte ihn hinaus, etwas andres überlegte er nicht. Aus den Briefen des Oheims spürte er heraus, daß dieser große Hoffnungen auf ihn setze, doch daß er nichts so sehr fürchte als enttäuscht zu werden. Michael Herz wollte Sicherheit und sichere Gewähr. Er war ein kinderloser Mann, hatte sich aus eigener Kraft aus dem Nichts zu Wohlhabenheit und einer angesehenen Stellung emporgearbeitet und gefiel sich in dem Gedanken, daß der Sohn seiner geliebtesten Schwester berufen sei, sein eignes Werk und Leben fortzusetzen. Aber vielleicht sagte ihm eine Ahnung, wie viel Schmerz und Kränkung ihm aus diesem Vorhaben erwachsen könne, deshalb konnte er lange Zeit keinen Entschluß fassen. Von alldem wandte Engelhart seine Gedanken ab; den guten Willen, den spürte er, aber es war ihm zumute wie einem Hungrigen, der für ein Stück Brot alle möglichen Dinge zu leisten verspricht; er weiß, daß sein Sinn sich wenden wird, wenn er das Stück Brot gegessen hat, aber daran will er nicht denken. Es kam die Zeit der Abgangsprüfung; Engelhart war stets ein mittelmäßiger Schüler gewesen, die Seinen zitterten zu Hause um den Erfolg, auch sie waren es müde, einen sechzehnjährigen Burschen, der Geld verdienen konnte, noch länger auf dem Hals sitzen zu haben, aber Engelhart war seiner Sache sicher, ohne sie doch zu besitzen, er schrieb und arbeitete wie aus dem Schlaf heraus und es gelang, das Widerwärtige ergab sich, es war irgend etwas Freudiges und Freudeerregendes in ihm, man begegnete ihm zarter, wohlwollender, heiterer als sonst und durchstrich das Konto seiner Schuld. Es war ein Aufwachen unbekannter Kräfte, und hätte sich Engelhart anstatt in einem leuchtenden Taumel ihnen wissender, frömmer, forschender hingegeben, so wären sie vielleicht in seinem Dienst verblieben und hätten ihm Wege gebahnt.

Als alles glücklich abgelaufen war, wurde seine Ausrüstung notdürftig instand gesetzt und Frau Ratgeber entdeckte auf einmal ein besorgliches Herz für den Stiefsohn. Es war zu guter Letzt noch eine gute Zeit. An einem Septembertag wanderte Engelhart mit dem Vater nach Altenberg, um vom Großvater Abschied zu nehmen. Dort war es auch längst nicht mehr, wie es vordem gewesen. Der Greis hatte, da seine zweite Frau gestorben, um seiner Einsamkeit abzuhelfen, den Schwiegersohn mit seiner Familie von einer kleinen, doch sicheren Stellung in einem badischen Dorf zu sich ins Haus gerufen. Es waren sechs Kinder da, die Frau, Herrn Ratgebers Schwester, war unheilbar krank, der Mann war ein Frömmler und verstand nicht zu arbeiten, der älteste Sohn war ein Taugenichts, zwei Kinder lagen noch in der Wiege, das ganze Wesen verwandelte sich in Elend und Sorge. Der alte Ratgeber zog sich in eine Kammer zurück und betrauerte seine Jahre. Dort sah Engelhart den sehr verfallenen Mann, er saß in einem schmutzigen Ledersessel und reichte ihm die kalte Hand. Engelhart fühlte drückend und fast beschämt seine prahlerische Jugend, die mit dem Glanz ihrer herausfordernden Hoffnungen vor diesem Ende eines Lebens stand. Nachdem beide lange geschwiegen und einander bloß angeschaut hatten, holte der Alte aus einer Schublade ein kleines schwarzes Gebetbuch hervor und schenkte es dem Enkel. Dieser zögerte, es zu nehmen, denn es war ihm wertlos, dann sagte der Greis unvermittelt: »Deine Mutter war eine feine Frau, Engelhart, eine feine Frau, hat mir arg leid getan um die Frau. Dein Vater hat kein Glück mehr, seit sie tot ist.«

Es vergingen noch zwei Wochen, dann stand Engelhart eines Abends mit seinem Vater im Regen vor der Bahnhofshalle, und sie warteten auf den Zug. Immer von neuem wiederholte Herr Ratgeber: »Sei ein braver Mensch, werde ein braver Mann.« Er ließ sich keine Rührung anmerken, und als Engelhart schon im Coupé saß und aus dem erleuchteten Fenster blickte, lächelte Herr Ratgeber sein seltsames, verlegenes, zuckendes Lächeln. Dann rollte der Zug davon, Herr Ratgeber schaute der roten Laterne des letzten Wagens so lange nach, bis die Finsternis und die Ferne das Licht verschlungen hatten, darauf seufzte er, spannte seinen Regenschirm auf und ging in tiefem Sinnen nach Hause. Er setzte sich zur Lampe, machte Auszüge und schrieb Fakturen bis gegen zwei Uhr nachts, und als er fertig war, sah er, daß es aus war mit seinen stolzen Plänen und Hoffnungen. Der Zusammenbruch war unvermeidlich. Da er das Schlafzimmer betrat, erwachte seine Frau, und er teilte ihr alles mit. Sie lag stumm da, Bitterkeit und Wut verschlossen ihr den Mund. Sie hatte einst von einem schwarzen Seidenkleid geträumt, ferner von einem Hut mit echten Straußfedern. Damit war es nichts; sie knirschte mit den Zähnen, legte sich auf die andre Seite und schlief mit bösem Gesicht wieder ein.

Achtes Kapitel

Mit seinem kleinen Köfferchen stand Engelhart vor der hohen Tür im weißen, erleuchteten Treppenhaus und suchte ziemlich lange nach dem Glockenzug; den elektrischen Knopf übersah er. Schließlich klopfte er mit dem Finger zaghaft an, das Stubenmädchen öffnete, sah ihn lächelnd stehen und meldete seine Ankunft der Herrschaft. Herr und Frau Herz kamen heraus, begrüßten ihn und musterten ebenfalls lächelnd seinen Anzug und sein linkisches Wesen. Er verlor unter ihren Blicken die vertrauensvolle Ruhe des Sichselbstbesitzens.

Der erste Gang durch die Straßen; was er sah, schien ihm begehrenswert, alles war Erscheinung. Mit Gier starrte er in die Gesichter fremder Menschen, glaubte ihre Gefühle und Wünsche zu erraten; der Lärm der Fuhrwerke machte ihn trunken vor Glück, das Glockenläuten von den Kirchen versetzte ihn in eine wogende, atembeklemmende Erregung. Zu den Häusern, zur Luft, zu all dem Unbekannten in der großen Stadt knüpfte er stärkere Beziehungen, als zu den beiden Menschen, mit denen er lebte und auf die er angewiesen war. Seine abgekehrte Haltung erregte Befremden. Nur bei den Mahlzeiten war er verständlich, weil er Portionen vertilgte wie ein ausgehungerter Sträfling. Mit dem Zustand seines Gemüts beschäftigte man sich nicht, es war nicht üblich; daß er sich glücklich fühlen müsse, wurde vorausgesetzt. Herr Ratgeber richtete einen Brief an Michael Herz, worin er bat, jeden Fehltritt Engelharts mit unerbittlicher Strenge zu ahnden. Solche Worte waren nicht im Sinne von Michael Herz; leider bemerkte er bei Engelhart wenig Lust und Liebe zur Sache, er schien nicht einmal die allgemeine Richtung wahrzunehmen, wohin das vielartige Treiben ziele, es war nichts Eigentätiges an ihm.

Der Packraum der Fabrik befand sich in einer Art von überdecktem Schacht, dort mußten den ganzen Tag die Gasflammen brennen. Eine gewundene Holztreppe führte zu den Werkstätten empor. Der Oberpacker glossierte den Inhalt eines Theaterstücks, das er gestern gesehen; als er fertig war, kramte ein andrer seine Erinnerungen an den Ringtheaterbrand aus. Sie redeten zumeist vom Theater und von Schauspielern. Engelhart saß träge auf den Sprossen einer Leiter. Als dem Verwandten des Chefs wurden ihm gewisse Rücksichten entgegengebracht, und die bezahlten Leute, von denen niemand eine wirkliche Pflicht erfüllte, sahen seine Versäumnisse nicht ungern. Sie wußten aber nichts mit ihm anzufangen, er war und blieb ein Fremdling.

Auf der Holztreppe erschien jetzt ein großes schlankes Fabrikmädchen und richtete den lauernden Blick auf Engelhart. Er erblaßte. Das Mädchen ging absichtlich nahe und langsam an ihm vorüber und ihr Rock streifte seine Knie. Er stand auf, schlich in den halbdunkeln Nebenraum und warf sich seufzend auf eine schmale Kiste. Plötzlich sah er empor, Michael Herz stand vor ihm und schaute ihn mit einem tiefen Blick des Vorwurfs schweigend an. Dieser innerliche Blick der blauen Augen erinnerte Engelhart an den Blick der Mutter. Er hatte eine unüberwindliche Scheu vor dem Oheim, er sah in ihm das Ideal eines Mannes und Menschen, auch äußerlich; Gestalt, Gesicht, Haltung und Betragen waren die eines Aristokraten aus altem Geschlecht. Er war kein Geschäftsmann in gewöhnlichem Sinn; er arbeitete mit dem bohrenden, zur Tiefe gerichteten Ernst eines Künstlers. Zu Hause war er aufgeräumt, ja übermütig und am glücklichsten dann, wenn er Gäste hatte, die sich bei ihm wohl fühlten.

Kurz vor Weihnachten kam Engelhart in die Buchhalterei, wo er mehr unter Aufsicht und Arbeitszwang stand. Um ihn anzufeuern, setzte ihm der Oheim zwanzig Gulden Gehalt aus. Sein Platz war vor einem hohen Pult am Fenster. Neben ihm saß Herr Patkul, der eine Schnapsflasche in seinem Pult hatte und alle Viertelstunden einen Schluck nahm. Am Abend, wenn andre anfingen, sich zu betrinken, war er schon so voll, daß er den Hut nicht mehr auf den Kopf brachte. Herr Hallwachs, der Korrespondent, behandelte Engelhart mit spöttischem Hochmut. Er sagte: »In Franken muß es recht merkwürdige Charaktere geben,« wenn Engelhart einen Tintenklecks auf einen Brief machte.

»Sie haben diesen Posten auf Soll geschrieben anstatt auf Haben, wie ich Ihnen ausdrücklich gesagt habe, Herr Ratgeber,« rief der Buchhalter mit schmerzlichem Augenaufschlag. Er war ein würdiger, gelassener Mann, ein treuer Diener der Firma. Herr Patkul knurrte bedeutungsvoll; es hieß so viel als: mich hätte man längst hinausgeworfen bei solcher Unfähigkeit.

 

Ein breiter Sonnenstreifen fiel auf die liniierten Blätter des Buches vor Engelhart. Er erzitterte wie bei einer elektrischen Berührung. »Woran denken Sie denn?« fragte Herr Hallwachs mit sanftem Tadel; »an das selige Franken? Dort scheint man freilich von Soll und Haben wenig zu wissen.« Herr Patkul rief Bravo und klatschte in die Hände, der Buchhalter ließ ein vorsichtiges Lachen hören.

Ja, woran dachte Engelhart? An einen Traum der letzten Nacht. Die Träume waren es, die ihn so schlaff machten. Hin und wieder versuchte er es, sie seinem neuen Bekannten Emil Oesterle zu erzählen, sah jedoch, daß von ihrem Duft und Grauen nichts an den Worten haften blieb. Die Tintenluft lastete bleiern auf seinem Kopf. Die Zahlenreihen, die er addieren sollte, glichen einem Haufen dünnfüßiger Käfer, sie krabbelten davon, während er sie mit der Bleistiftspitze verfolgte; unmöglich, die bewegliche, dünnbeinige Masse zum Stillstand zu bringen. Dann klang ein Leierkasten von einem nachbarlichen Hof herüber und sein Herz krampfte sich zusammen vor Sehnsucht nach der Freiheit.

»Gib mir einen Rat, lieber Freund, ich ertrage nicht dies Dasein,« schrieb er abends, als die Verwandten im Theater waren, an den Studenten Benedikt Knoll in München. Vor ihm auf dem Tisch stand die gefüllte Teekanne, und das heiße Getränk erhitzte vollends sein Blut. Er schrieb und schrieb, zwölf, fünfzehn, zwanzig Seiten. Am Ende machte die Überschwenglichkeit seine Handschrift unleserlich. Nach langer Pause war der Briefwechsel von beiden wieder aufgenommen worden; Knoll übernahm die Rolle des Erziehers. Er blinzelte in seinen Briefen über Engelhart hinweg Herrn Michael Herz zu. Engelhart merkte es kaum. Die Person Benedikts war ihm nicht so wichtig wie die Stunde, in der er an ihn schrieb, und die Gelegenheit, sich mitzuteilen.

Um elf Uhr kam Tante Esmee unerwartet ins Zimmer. »Ich habe dir doch verboten, bis in die Nacht hinein zu schreiben,« rief sie aus. Ihr Gesicht war weiß vor Ärger. Sie drehte ihm das Licht vor der Nase ab. Sie haßte ihn, seit sie wußte, daß ihr Mann sich des Knaben wegen sorgte und kümmerte. Sie verstand sich darauf, zu hassen. In Engelharts Gegenwart war jede ihrer Bewegungen von Verachtung und Widerwillen getränkt. Seine Neigung, von Dingen außerhalb des praktischen Lebens zu reden, fertigte sie mit höhnischer Gelassenheit ab. Eine zufahrende, heftige und trockene Natur, entbehrte sie wie die meisten kinderlosen Frauen des Gleichgewichts. Sie liebte abgöttisch ihren Gatten, war zugleich seine Magd und seine Herrin; wenn sie allein war, war sie verdrießlich und zerquält und wußte kein Mittel, der Langeweile zu entgehen, die sie folterte.

Zwei bis drei Stunden lag Engelhart wach im Bett und seine Sinne waren so erregt, daß ihm die Finsternis als ein purpurner Rauch erschien, der sich zu Gestalten ballte.

Am Sonntag zeigte ihm Emil Oesterle die Stadt, sie gingen im Prater spazieren, und wenn sie nach Hause kamen, tranken sie Tee und spielten Schach. Oesterle war ein sanfter Bursche, aber es mißfiel Engelhart, daß er vor Michael Herz ein kriechendes Benehmen zur Schau trug. Er sollte Engelharts Interesse an kaufmännischen Gegenständen wecken und französische Konversation mit ihm treiben, doch Engelhart sah ihn dann so spöttisch an, daß er verstummte. Sie waren schon ziemlich vertraut und duzten einander; an einem Feiertag nach Tisch holte Engelhart den Gefährten von seiner Wohnung ab. Beiläufig fragte Oesterle, ob Engelhart des Morgens im Bureau gearbeitet habe, und dieser bejahte. Am folgenden Tag erfuhr Oesterle jedoch, daß Engelhart keineswegs in der Fabrik gewesen sei, sondern sich in den Straßen herumgetrieben habe; blaß und aufgeregt kam er und stellte Engelhart, der nun als Lügner dastand, zur Rede. Warum er nicht die Wahrheit gesagt, er wußte es kaum, ein Nein, ein Ja, es entflog oft den Lippen, ehe er nur dachte, und manchmal wünschte er geradezu zu lügen. Oesterle gab seinen Abscheu gegen die Lüge mit Entrüstung kund und sagte: »Wenn du mich noch ein einziges Mal belügst, Engelhart, werde ich aufhören, dein Freund zu sein.«

Tückische Fäden spinnt das Schicksal; wenige Jahre später endete Oesterle im Zuchthaus, weil er in dem Geschäft, wo er angestellt war, große Geldunterschlagungen begangen hatte.

Als der Winter um war, wurde es klar, daß es auf diese Weise mit Engelhart nicht weiterging. Er hielt es keine Stunde hintereinander in dem Schreibzimmer aus. Wenn Michael Herz hereinkam, fragte er mit leiser Stimme, wo sein Neffe sei; der Buchhalter zuckte die Achseln, Herr Hallwachs lächelte vielsagend, Herr Patkul knurrte. Eines Tages fühlte sich der Buchhalter verpflichtet, seinem Chef die volle Wahrheit über den jungen Ratgeber zu sagen.

Um zwölf Uhr ging Engelhart mit Onkel Michael zusammen nach Hause. Es herrschte ein beklommenes Schweigen zwischen ihnen. Auch bei Tische schwieg Michael Herz; Frau Esmee bemerkte, daß er einen starken Kummer in sich hineindränge. Plötzlich schien es, als ob eine Gebärde, ein Blick Engelharts seinen offenen Zorn furchtbar entfesselte. Er schleuderte Messer und Gabel von sich, sein Gesicht wurde dunkelrot und er stieß maßlose Drohungen und Vorwürfe gegen Engelhart aus, der wie gelähmt dasaß. Frau Esmee umhalste den erregten Mann und suchte ihm Ruhe und Fassung zurückzuschmeicheln, zugleich winkte sie Engelhart gebieterisch zu, er solle das Zimmer verlassen.

Er suchte Emil Oesterle auf, um das Vorgefallene mit ihm zu besprechen. Aber der furchtsame Mensch hütete sich, etwas zu sagen, was Michael Herz hätte mißbilligen können. Den größten Teil des Nachmittags verwandte Engelhart dazu, um einen dringlichen Brief an Benedikt Knoll zu schreiben. Es war sein verderblicher Wahn, stets von den andern Menschen Billigung, Verständnis, Hilfe zu erwarten.

Er spürte irgendeine unfaßbare Kraft in sich, sein Blut wirbelte in den Adern, Beglücktheit und tiefste Trauer wechselten von einer Minute zur andern. Lauer Frühlingswind strich durch den Park, in dem er ging, durch die hohen Fenster des Konzertsaals fiel das Licht auf die schwarzen Bäume. Es war, als würde der Walzer drinnen von Geistern gespielt, die Menschheit lag im Todesschlaf, er allein war der Lebende, für ihn allein war die Welt entstanden.

Benedikt Knoll schrieb: »Wenn Du ernsten Willen hast und Notabene Geld, so komm. Ich werde Dich bald so weit haben, daß Du Vorlesungen besuchen kannst. Es sind nicht lauter erleuchtete Geister, die sich am Busen der Alma mater mästen. Schließlich vermag Minerva ihre Mannen so gut zu ernähren wie Merkur die seinen.«

»Nun, was willst du eigentlich? was schwebt dir vor?« fragte Michael Herz. »Bist du zur Besinnung gekommen?« – Zögernd offenbarte Engelhart seinen glühenden Wunsch zu studieren. Michael Herz schwieg. Seine geröteten, hochgewölbten Lider senkten sich über die unruhig irrenden Augen. »Gut, studiere,« entgegnete er endlich schroff. »Ich gebe keinen Kreuzer dafür her. Wer so wie du sein Glück mit Füßen tritt, ist nicht mehr wert, als zu verhungern. Das merke dir: und wenn ich dich an einer Straßenecke liegen sehe und du schnappst nach Brot, ich höre nichts, ich kenne dich nicht.« – »Du hast mich gefragt, was ich will, ich habe ehrlich geantwortet, Onkel,« sagte Engelhart. »Natürlich, ich bin arm und kann ohne deine Zustimmung nichts tun.« Frau Esmee kam dazu, und die ungemessene Verachtung, die sie Engelhart bezeugte, machte ihn völlig verstockt. Jedes unbefangene Wort auf eine bestimmte Dankesschuld hin beurteilt zu sehen, das erbittert.

Michael Herz sprach mit seinen Freunden über den Fall. Sie sagten zumeist das, was er oder vielmehr was Frau Esmee hören wollte. Nur ein einziger, auf dessen Klugheit und Weltkenntnis er große Stücke hielt – es war der Hausarzt –, machte sich anheischig, mit Engelhart zu reden, und stellte ihm das Unbillige, ja Vernunftlose seines Verhaltens vor. Engelhart horchte auf. Das war der erste Mann, der menschlich mit ihm redete und nicht wie von einem Turm herunter allgemein tönende Worte von sich gab. »Ich kann nicht,« war alles, was Engelhart zu antworten vermochte, doch hatte seine Stimme einen flehentlichen Klang.

Am ersten Mai fuhr das Ehepaar Herz für einige Tage aufs Land. Engelhart blickte von seinem Zimmer aus in den Hof auf die fensterlose Rückenmauer des Nachbarhauses. Auf einem vorspringenden Steinabsatz saß ein Sperling. »Bleibt er sitzen, bis ich zwanzig zähle, so tue ich’s noch heute,« sagte Engelhart. Mit vorgenommener Langsamkeit fing er an zu zählen. Sein Herz klopfte bang. Als er bei zwölf war, legte der Vogel das Köpfchen schräg ins Gefieder und schaute in die Richtung, wo Engelhart stand. Er konnte bis dreiundzwanzig zählen, da flog das Tierchen auf und zwitscherte ins Sonnenlicht hinein.

Engelhart überrechnete seine Barschaft; er hatte sich ungefähr fünfzig Gulden erspart und meinte, es sei viel Geld. Dann ging er ins Museum, sah aber keine Bilder an, sondern setzte sich in eine Ecke und beobachtete lange Zeit das Spiel eines Sonnenstrahls, der sich um eine Marmorsäule wand. Eine schöne Frau, in dunkeln Sammet gekleidet, schritt vorüber, ohne ihn zu sehen. Sie trug zwei gelbe Rosen in der Hand, und er hörte sie mit gedankenvoll lächelndem Mund etwas flüstern.

Nachmittags packte er seinen Koffer, die Dienstboten kümmerten sich nicht um ihn. Als es dunkel wurde, verließ er das Haus. Es war ein göttlich milder Abend; der Mond lag zwischen scharfgeschnittenen Wolken wie in einer dunkelblauen Schüssel. Jetzt war es ihm doch gar eigen ums Herz, weder traurig noch lustig, sondern weh und verantwortungsvoll. Auf dem Bahnhof kaufte er ein Billett nach München. Er mußte über eine Stunde bis zur Abfahrt warten, dann wurde er in einem unabgeteilten Wagen mit mehr als dreißig Personen zusammengepfercht. Nach den ersten Stationen wurde es erträglicher, aber die Luft war schlecht und die Beleuchtung trübe. Engelhart drückte die Stirn an die Fensterscheibe und schaute in die mondbeschienene Wald- und Hügellandschaft.

Ihm gegenüber saß eine Bauernmagd; sie hatte ein rotes Tuch über die Holzlehne gebreitet, darauf hatte sie den Kopf gelegt und schlief. Ein sonderbarer Kitzel trieb ihn, an dem Tuch zu zupfen; die Nachbarn sahen zu und lachten. Der Beifall ermunterte ihn und er wiederholte es, jetzt rutschte das Haupt der Schläferin ein Stück herunter. Die Zuschauer waren höchst belustigt, die ganze Gesellschaft wurde munter, und als die Bäuerin schließlich ein unwilliges Gebrumm hören ließ, brachen alle in dröhnendes Gelächter aus. Engelhart nahm einen Zigarettenstummel und steckte ihn der immer noch Schlummernden in den Mund. Die Leute fühlten sich wie im Theater, ein altes Weib bekam vor Lachen einen Hustenanfall. Die Schläferin schlug die Augen auf, ihr verschämtes und bestürztes Gesicht vermehrte den Jubel. Engelhart ließ es damit nicht genug sein, es kam wie eine Wut der Tollheit über ihn, er bellte, krähte, wieherte, nannte einen dicken, triefäugigen Menschen beständig »Herr Professor«, stieg auf die Bank und hielt eine unsinnige Ansprache, dabei empfand er im Innern ein finsteres Staunen über sich. Der Raum war von Tabaksqualm erfüllt, die lachenden Gesichter verzerrten sich vor seinen Augen zu unheimlichen Gebilden. Am andern Ende des Wagens saß ein Prälat; dieser wandte sich an die Zunächstsitzenden und sagte: »Der junge Mensch kommt mir verdächtig vor.« Darauf erhob sich ein andrer, offenbar ein Handlungsreisender, und rief Engelhart zu: »Sie, sagen Sie mal, sind Sie vielleicht Ihrem Herrn Vater mit dem Geld davongelaufen?« Engelhart stutzte, dann erwiderte er mit gespielter Verachtung: »Mein Vater hat gar kein Geld.« Da sah Engelhart ein strenges Augenpaar auf sich gerichtet. Es war ein blasser, einfach gekleideter Mann mit einer Narbe auf der Stirn. Streng und drohend war der auf ihn geheftete Blick. Allmählich wich das berauschte Wesen einer tiefen Niedergeschlagenheit. ›Warum starrt er mich so düster an?‹ grübelte Engelhart. Er wünschte mit dem Fremden zu sprechen; es lag ihm daran, jenem mitzuteilen, daß er nichts Böses im Schilde führe, daß es überflüssig sei, ihm unfreundlich entgegenzutreten, und daß er Menschen suche, von denen er geliebt sein wollte. Aber es gab keinen Weg von ihm zu dem Fremden, obwohl sie nur drei Schritte voneinander entfernt waren, es gab kein Mittel, den Unversöhnlichen milder zu stimmen.

Als der Zug sich der Grenze näherte, wurde es Tag. Zur Rechten lagen die rosig umhauchten Gipfel der Berge in der gläsernen Frühluft. Eine dumpfe Stimme rief: »Engelhart! Engelhart!« War es nicht der Mann mit der Narbe? Nein, jener war fort, der Platz, auf dem er gesessen, war leer. –

»Wieviel Geld hast du mitgebracht?« fragte Benedikt Knoll. Engelhart nannte die Summe, die er noch besaß. »Und für wie lange soll das reichen?« fragte Knoll weiter. Darauf wußte Engelhart keine Antwort. Knoll war erschrocken. »Kommst du denn ohne die Einwilligung deines Onkels?« fragte er und erfuhr, daß Engelhart als Flüchtling kam. Nun hatte der kleine Student nicht mehr das geringste Wohlgefallen an der Ankunft des Freundes. Indessen schmiedeten sie noch am selben Tag einen diplomatischen Brief an Michael Herz. Knoll teilte dem von ihm verehrten Manne mit, wie die Dinge standen und daß er sich für die anständige Führung Engelharts verbürge. Wenn er wirklich das Zeug zu einem Manne der Wissenschaft habe, dürfe man ihn doch nicht untergehen lassen; Herr Herz möge Gnade walten lassen und den Hilflosen vor Not schützen. Als Antwort kam nach acht Tagen nichts weiter als eine geschäftliche Notiz der Firma, wonach Engelhart bis auf weiteres an jedem Monatsersten fünfzig Mark ausgezahlt erhalten sollte. Benedikt Knoll rang die Hände. »Fünfzig Mark!« rief er aus, »da mußt du von jedem Fünfzehnten ab einen vierzehntägigen Schlaf tun.« Das Zimmer, das er für Engelhart gemietet, kostete allein den dritten Teil dieser Summe. Aber wenn Engelhart fünfzig Mark in der Hand hatte, hielt er es für unmöglich, daß so viel Geld jemals ganz ausgegeben werden könne. Erst wenn die letzten Groschen in der Tasche klimperten, wurde ihm unbehaglich zumute.

 

Knoll spürte wenig Lust, den Lehrer zu machen, und Engelhart noch weniger, Schüler zu sein. Er hatte genug gelernt, nun wollte er sehen, atmen, leben. Trotzdem verbrachten sie einen Tag damit, auf dem Büchermarkt eine lateinische und eine griechische Grammatik einzuhandeln. Es geschah der Form wegen. Dann kamen auch Stunden, wo Engelhart sich aufraffte und seinem Gedächtnis eine Reihe von Vokabeln einprägte, die er am nächsten Tag wieder vergaß. Es ist aussichtslos, dachte Benedikt Knoll und sann darauf, wie er sich der lästigen Verantwortung entledigen könne. Inzwischen lebten sie als gute Kameraden, und da Engelhart an einem unstillbaren Hunger nach Menschen litt, machte ihn Knoll mit seinen Kommilitonen bekannt. Engelhart kam jedem einzelnen mit kindlichem Vertrauen entgegen, aber er setzte sie damit in Verlegenheit; sie wunderten sich über ihn, was er sagte, erschien sonderbar einfältig oder unverständlich. Knoll hingegen war beliebt, und wenn er Engelhart zur Zielscheibe seines Witzes machte, sahen sie auch diesen mit günstigeren Augen an, weil sie über ihn lachen konnten.

Sie standen fest auf ihren Füßen, die Studenten und Studentlein. Jeder verübte mit dem, was er besaß, und war es noch so wenig, greulich viel Lärm und Geklapper, so daß seiner Armseligkeit nicht beizukommen war. Ungeachtet aller Liederbuchphrasen von deutschem Männerstolz und echtem Germanentum waren sie die Knechte eines jämmerlichen Formelwesens, und der ganze Freiheitsdrang hatte ausgetobt, wenn sie eine Straßenlaterne zerschlagen und einen Nachtwächter beschimpft hatten. Sie waren überzeugt, als Schirmherren für die idealen Güter der Nation bestellt zu sein, doch im Grunde betrachteten sie all das wissenschaftliche oder patriotische Getue als ein Geschäft wie jedes andre. Kräfte der Ahnung, Kräfte des Herzens wurden im Bier ersäuft.

Es war ein Juniabend, Knoll und Engelhart spazierten mit fünf andern Studenten über die Ludwigstraße, Knolls Intimus, ein gewisser Schustermann, führte seinen Hund an der Leine, eine schöne dänische Dogge. Plötzlich riß sich das Tier los, verfolgte einen andern Hund, kam aber, als sein Herr pfiff, sogleich zurück. Nun war jedoch Schustermann, auch sonst ein galliger Bursche, diesmal in boshaft trunkener Laune. Er fing an, den Hund aufs grausamste zu schlagen, und schließlich blutete das Tier aus mehreren Wunden. Je mehr es mißhandelt wurde, je erbärmlicher winselte es um Gnade; Schustermanns Freunde standen lachend herum, und einer sagte: »Der Hund ist wie ein Jud.« Engelhart fuhr zusammen und erwiderte mit stockender Stimme: »Wenn man die Juden auch blutig schlägt, um Gnade pflegen sie nicht zu betteln.« Die Studenten fanden den Auftritt peinlich, und der älteste bemerkte naserümpfend: »Mir scheint, er bildet sich was darauf ein, daß er ein Jude ist.« Knoll war wütend und zischte Engelhart zu: »Nur nicht pathetisch sein, das gibt es hier nicht.«

Am andern Tag kam er zu Engelhart ins Zimmer und machte ihm förmliche Vorhaltungen. »Was kümmert es die Leute, daß du Jude bist,« eiferte er. »Schlimm genug, daß wir es sind, wir haben nicht nötig, viel Aufhebens davon zu machen. Wir wollen endlich Ruhe haben und alles vergessen, und jene sollen gleichfalls vergessen.«

Doch Engelhart war satt von jenen, es verlangte ihn nicht mehr nach ihrer Gesellschaft.

»Wie willst du überhaupt vorwärts kommen mit deiner beispiellosen Anmaßung?« fuhr Knoll fort.

»Ich – anmaßend?« flüsterte Engelhart erstaunt und bestürzt. »Ebensogut könntest du sagen, Schustermanns Hund sei gestern abend mutig gewesen.«

Knoll beachtete die Einrede nicht. »Du arbeitest nichts, du hast kein Ziel, keinen Ehrgeiz, und ich bereue, was ich für dich getan habe,« sagte er.

Engelhart trat zum Fenster und schaute stumm in die Abendröte. Fern zwischen Häusern schwebte noch ein schmales Sonnensegment. Herz der Welt, du sollst erglühen, dachte er mit jähem Entzücken – Worte, die er nie früher gehört. Von einem gegenüberliegenden Wirtshaus drangen Harfen- und Geigenklänge herauf. Ach Musik, Musik, all sein Sinn, sein ganzer Leib lechzte nach Musik, bebte von chaotischer Musik, das Dämmern und Weben der Zeit, ihre Rufe, ihre Stimmen, alles Musik, ein Wogen unfaßbarer Akkorde.

»Komm, Benedikt,« sagte er versöhnend, »laß uns eine Partie Schach spielen.« Knoll war es zufrieden, und da er gewann, kehrte seine gute Laune zurück. Dennoch kritisierte er bald darauf in einem Brief an Frau Wahrmann Engelharts Treiben höchst abfällig. Das machte böses Blut, auch Herr Ratgeber, der jetzt in Würzburg wohnte und dort als Versicherungsinspektor tätig war, erhielt Nachricht, wie die Sache stand. Er schrieb sogleich an Engelhart und beschwor ihn, umzukehren, solange es noch Zeit sei. »Willst du denn das geistige Proletariat um eine hoffnungslose Existenz vermehren?« schrieb Herr Ratgeber. »Ist es denn kein Beruf, der deiner würdig ist, Kaufmann zu sein? Wer bist du denn eigentlich? O, alles Unglück kommt über mich, auch diese Erwartungen nun zuschanden, und wie steh’ ich vor meinem Schwager Herz da! Wenn deine Mutter noch lebte, das würde sie töten. Kann dich nichts andres bestimmen, von deinem Wahn zu lassen, so denke an die Leiden und Entbehrungen, die dir bevorstehen.«

So von allen Seiten in die Enge getrieben, verlor Engelhart selbst das Vertrauen zu dem gegenwärtigen Zustand. Das Schlimmste war, daß er mit dem Geld nicht auskam und gegen das Ende des Monats nicht wußte, wovon er leben sollte. Er konnte nicht einmal in der elenden Kneipe, wo er zu essen pflegte, den Mittagstisch bezahlen. Er träumte sich hinweg über die Mißlichkeiten, sein Inneres befand sich in einer beständigen Glut.

Im Juli begannen die Ferien; Knoll reiste nach Hause, auch die geringe Zahl der übrigen Bekannten verließ die Stadt. Engelhart wanderte unter den Arkaden umher, bis das Nachmittagskonzert zu Ende war. Das Gewimmel geputzter Menschen stimmte ihn traurig. Vor der kleinen Rotunde begegnete ihm eine auffallend schöne Frau, er blieb stehen und sah ihr mit erstarrendem Gesicht nach. Dann ging er in den Englischen Garten. Bei der Mühle lagen riesige Felsen im Wasser, er kletterte von Stein zu Stein und ruhte endlich auf einem moosbewachsenen Block. Es waren nicht Gedanken, denen er nachhing, vielmehr war ein mystisches Weben in seinem Innern, das einen Zustand von Dämmerung erzeugte. Auf dem Nachhauseweg kam er an einer offenen Kirche vorbei; er trat hinein und ließ sich von der kühlen Stille wollüstig umschauern.