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Engelhart Ratgeber

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Am Abend trat eine Gestalt an sein Bett und hieß ihn aufstehen. Er gehorchte und kleidete sich an. Die Gestalt führte ihn hinaus. Am Himmel zuckten beständige Blitze; es sah aus, als ob unter den Rändern der Erde ein großes Spiritusfeuer kochte und die Flammen schlugen beständig über. Er wurde von der Gestalt bis zum Altmühlfluß geführt. Dort lag ein Boot, und sie stiegen ein, fuhren ohne Stange noch Ruder stromaufwärts, und da erwies es sich plötzlich, daß die Gestalt Hedwig Andergast war; ihr Gesicht war wie mit einem Silberschleier behangen, und als er sie schüchtern fragte, warum sie nicht spreche, legte sie stumm die Hand auf die Brust und seufzte.

Es war ein Wunschbild natürlich, aber Wahrheit steckte darin. So sah er sie und sich selbst, ringsum von Wundern umgeben. Es war nicht mehr die alte Erde, auf der er wandelte, es erschien ihm ein wenig lächerlich, zu gehen, zu sprechen und zu schlafen. Er mied Hedwig Andergasts Nähe, nichts enttäuschte ihn so sehr, als ihre Stimme zu hören, und nichts beglückte ihn so, als einen Raum zu betreten und zu wissen, daß sie dagewesen war. Es stimmte ihn böse, wenn sie in seiner Gegenwart von ihrem Elternhaus erzählte, von ihren Kleidern oder von Vergnügungen und Gesellschaften, er sah sie dann so wild an, daß das Mädchen erstaunte und erschrak; dagegen suchte er am Abend den Garten und die dunkle Laube auf und saß regungslos, bis es zehn Uhr schlug und die Tante zum Schlafengehen rief. Dort wurde ihm der Tag erst Wirklichkeit und holdes Schauen, er fühlte den Leib der Bäume von sommerlichen Säften strotzen, in den Mondstreifen leuchtete das Blut der Blumen, alle Dinge waren doppelt entblößt und doppelt verhüllt. Es erschien ihm wichtig, daß man gütig und anerkennend gegen ihn sei, und Hedwig Andergast wählte er vor allen andern aus, daß sie es sei. Wenn er im Freien ging, im Wald, warf er sich bisweilen zur Erde und horchte; der Wind sang, im Innern der Erde sang es mit, die ganze Natur hatte Atem, Stimme, Bewegung, Antlitz, Mark und Sehnsucht. Wenn er an Hedwigs Gestalt und Namen dachte, erzitterte sein Herz, aber wenn sie kam und ging und ihm wie allen die Hand reichte, schaute er finster zur Seite. Er empfand es als eine Demütigung, von ihr gekannt zu sein. Schließlich wußten doch bald alle, was mit ihm vorging, er gehörte nicht zu denen, die ihre inneren Zustände verbergen können, da wurde jedes Zusammensein eine Qual, und es genügte, wenn Hedwig bei einer Anspielung errötete, daß er aufsprang, forteilte und sich den ganzen Tag über nicht mehr sehen ließ. Von allem am meisten haßte er das Wort Liebe; er wurde blaß und seine Fäuste ballten sich, wenn er es hörte; das epileptisch verkrampfte Gesicht Lechners tauchte hinter dem Wort empor, er erschien sich besudelt und unwert seiner Träume. Damit hing es auch zusammen, daß ihm der Anblick seines nackten Körpers schmerzlich und peinvoll war und daß er nach dem Bad mit größter Hast wieder in die Kleider schlüpfte; am liebsten hätte er im Finstern gebadet. Wenn er körperlich an Hedwig Andergast dachte, geschah es mit demselben Schauder, den er damals gespürt, als bei Lechners hündischen Erklärungen der Gedanke an die Mutter sein Gemüt aufgewühlt hatte.

Die Tage wurden merklich kürzer, ein herbstlicher Hauch ging durch die Landschaft. Die Kirchweih kam, die gewöhnlich das Ende des Sommers bedeutete; auf dem Rasen vor den Ruinen der alten Stadtmauer wurden die Buden errichtet, saßen die Bauern auf Bretterbänken im Freien und tranken Bier aus steinernen Krügen. Die Cousinen schauten vor den Fenstern der Wirtshäuser dem Tanze zu und Engelhart, abgestoßen von dem Lärm und Gewühl, spazierte am Schilf des Ufers hin, und wenn er sich umkehrte, sah er die Figur eines Seiltänzermädchens im himbeerroten Trikot auf hohem Seil voltigieren; es war, als ob sie durch den blaßblauen Äther des Himmels schwebte.

Bevor die schönen Tage verstrichen, wollte man noch einen Ausflug auf den Hesselberg unternehmen, und an einem Abend, wo der Barometer und die Prophezeiungen der Bauern günstig waren, wurde eine frühe Morgenstunde zum Abmarsch festgesetzt. Es war herrliches Wetter. Bei dem Dorf Wurmbach verließ man die Landstraße und wanderte über die Wiesen. Knoll und Esmees Student machten die Führer, Frau Wahrmann und Helene schlossen den Zug. Die Mädchen sangen Lieder und pflückten Blumen, an den Ufern eines Waldbachs war Mittagsrast. Durch Dörfer ging’s, die unberührt von der großen Welt am Bergeshang versteckt lagen wie die Perle in der Muschel. Engelhart sammelte Steine, oben im Schloß verfolgte er eine Eidechse bis ins Innere eines verfallenen Turms. Nicht mehr so belebt war der Heimmarsch, die Mädchen wurden müde, Esmee klagte über ihre wunden Füße, Engelhart gab sich, wie oft in der Dämmerungsstunde, einer selbstsüchtigen Traurigkeit hin. Der Himmel war mit Purpur begossen, die Blätter der Bäume glichen Blutstropfen, dann kam die Dunkelheit, feuchte Dünste entstiegen dem Boden, Frösche quakten, das Grillengezirp erfüllte die Luft wie ein Sausen; aus der verblassenden Glut hinter den Hügeln wanderten die Sterne herauf. Wie zufällig hatten sich Engelhart und Hedwig Andergast einander gesellt. »Sieh mal die Sterne,« sagte Engelhart und deutete hinauf. Sie sah die Sterne an, aber sie hatte sie schon zu oft gesehen, es machte ihr wenig Eindruck. Sie fragte ihn, ob er wisse, daß sie übermorgen wieder nach Hause reise; er wußte es nicht; ob er wisse, wo ihre Eltern in Nürnberg wohnten; er wußte es nicht, sie erklärte es ihm. Dann schwiegen sie lange Zeit.

Dem Mädchen wurde sonderbar zumute. Vielleicht fühlte sie das zum Springen volle Herz ihres Gefährten und daß ihm von allen Menschenworten keins zu Gebote stand, um sich zu erleichtern. Irgend etwas Namenloses riß sie plötzlich hin, sie schwankte zwischen Ungeduld und Bangigkeit, der bunte Jahrmarkt ihrer Gedanken und Wünsche bedeckte sich mit dem Mantel sanfter Schwermut. Ihr war, als müsse sie ihm helfen, aber sie wußte nicht wie, sie war genau so hilflos wie er. Die Dunkelheit, die Stille, die Einsamkeit, die Müdigkeit, die sie empfand, der weite Weg, der noch vor ihnen lag, all das machte sie zaghaft, einem unbestimmten Mitleid zugänglich, und aus dem Kind wurde plötzlich ein Weib, wenigstens für diese eine Stunde. Ihre Blicke suchten einander, konnten sich aber nicht treffen und flohen dann wieder erschreckt in die Ferne. Das mattere und vollere Schlagen der Herzen wechselte wie im Takt, das Gras bog sich williger unter ihren Füßen und sie versanken so in ihr gegenseitiges Schweigen, daß sie wie aus dem Schlaf emporschreckten, als dicht hinter ihnen die Baßstimme des kleinen Knoll ertönte, der sich mit Helene über das Leben in der großen Stadt unterhielt. Es war spät, als sie heimkamen; vor der Tür des Wahrmannschen Hauses fand ein höchst geräuschvolles Gutenachtsagen statt. Esmee setzte sich auf die Steintreppe und nahm einen Vorschuß auf den Schlaf ihrer Nacht. Hedwig stand eine Weile bei den andern, dann kam sie wieder zu Engelhart, dann entfernte sie sich wieder und kam abermals, schlang den Arm um den Laternenpfahl und schaute mit erregt glänzenden Augen die leere Straße hinunter. Es war ein unbewußtes Nichtvoneinanderkönnen. Wenn ein weiser Geist zwischen ihnen schwebte, so hat er vielleicht gelächelt über das kindlich bittersüße Spiel.

Am übernächsten Tag reiste Hedwig, und nun war doch die Welt verödet für Engelhart. Auch seine Frist war um. Die Trennung von dem liebreichen Haus fiel ihm schwer aufs Herz. Am Ende der dritten Septemberwoche traf er im elterlichen Hause ein. Dort hatte sich nichts verändert. Der Vater webte in seiner Arbeit und in seinen Sorgen wie in Qualm, Abel war verprügelter als vordem, ein von schlechten Einflüssen durchaus in die Enge getriebener Knabe. Er war häßlich geworden, auf seinem fahlen Gesicht kündigten sich die Laster an, nur in den Augen schimmerte noch, tief und immer tiefer schlummernd, das Weh um eine ertötete Kindheit. Engelhart wurde freudlos empfangen; Frau Ratgeber, gleichwie aufgereizt durch den Widerschein der verlebten Tage auf seiner Stirn, verfolgte ihn mit unverstelltem Haß. Er nahm es hin. Seine Fähigkeit, Widerwärtiges zu tragen, war größer geworden.

An einem Nachmittag in jeder Woche entriß er sich allen Pflichten und marschierte heimlich nach Nürnberg und vor das Haus an der Rosenau, wo Hedwig Andergast wohnte. Er langte gewöhnlich an, wenn es schon dunkel wurde, stellte sich an die gegenüberliegende Straßenseite und blickte zu den erleuchteten Fenstern hinauf. Wenn sich ein Schatten an den Gardinen zeigte, krampfte sich ihm die Brust zusammen, wenn jemand aus dem Tor trat, hielt er den Atem an. Der Winter kam, er fürchtete kein Wetter, scheute nicht den langen Weg hin und zurück, in Schnee, in Stürmen stand er dort und verließ den Warteposten erst wieder, wenn die Zeit drängte und er bis in die Adern durchfroren war. Er bekam Hedwig Andergast nicht ein einziges Mal zu Gesicht, er sah sie überhaupt niemals wieder und die Trübnis des alltäglichen Lebens schwemmte die frohen Farben der Erinnerung aus seinem Geiste hinweg.

Siebentes Kapitel

Von Woche zu Woche nahm in Engelhart der Abscheu gegen die Schule zu. Er verachtete die Auszeichnungen, die dem stumpfen Fleiß, dem tierischen Gehorsam, der gedankenlosen Aufmerksamkeit zuteil wurden, angewidert von dieser ungeschmückten Welt, der aufreibenden Wiederholung mechanischer Geschäftigkeiten, versank sein Geist in die Sphäre des Traums so tief, daß es ihn oft Mühe kostete, die Stimme eines Menschen zu vernehmen, der vor ihm stand und mit ihm redete. Man sagte dann von ihm, er sei zerstreut, und er zog sich das Mißtrauen und die Geringschätzung fast aller Lehrer zu, die seiner Begabung das beste und seinem guten Willen das schlechteste Zeugnis ausstellten, was zur Folge hatte, daß jede seiner Handlungen als Ausgeburt einer böswilligen Gesinnung aufgenommen und durch züchtlerische Maßregeln bestraft wurde.

 

Keine wohlmeinende und freundliche Gestalt trat ihm unter seinen Lehrern entgegen. Es waren Männer, die nicht einen Beruf erfüllten, sondern ein Amt innehatten. Sie kümmerten sich nicht um die Seele, sondern nur um die Kenntnis der Knaben. Sie hatten der höheren Stelle, der sie untergeordnet waren, nur den Beweis zu erbringen, daß sie ein vorgeschriebenes Pensum erledigten, so wie die Kellner dem Wirt die Ablieferung der Zahlmarken schuldig sind. Sie nährten den Wissensdurst mit Regeln und belohnten den Fleiß durch Zensuren, das unterweisende Wort war nur eine Grimasse, der Geist der Belehrung eine Mumie, vertrocknet durch viele Jahre eines wesenlosen Treibens. Ihre Belebtheit war aufgedunsen, ihre Vertraulichkeit voll falscher Töne, ihre Strenge lieblos und zynisch. Die meisten erschienen gleichsam mit einer Maske vor dem Gesicht, hielten sie unruhig und krampfhaft fest und schäumten vor Zorn, wenn sie ihnen bei einer unerwarteten Gelegenheit entfiel. Wenn er einem Lehrer auf der Straße begegnete, war es Engelhart oft, als schäme sich der Mann seines Straßengesichts, der antwortende Gruß war dann widerwillig oder von übertriebener Gefälligkeit. Auch in den Lehrstunden spürte er mit unsicherem Staunen, wie in manchem eine Art Angst oder Scheu nicht bloß vor der Meinung und dem Urteil, sondern vor dem Menschlichen, Fleischlichen der Schüler zutage trat; da wurde ein gefürchteter Tyrann unversehens kindisch und es sah aus, als wolle er durch eine tölpische Zärtlichkeit seinen Mangel an Herzensbeteiligung vergessen machen. Um den Mund des einen zuckte beständig ein unbegreiflicher Hohn; ein andrer fürchtete, lächerlich zu werden, und war wortkarg wie ein Einsiedler; der dritte, puppenhaft geziert und seine ganze Natur verhüllend unter einer starren Sachlichkeit, wählte sich einige Lieblinge, die er verhätschelte, während er allen andern kalt und hart begegnete; der vierte benahm sich wie ein Sklavenhalter; der fünfte liebte es, eine erheuchelte Gutmütigkeit und Umgänglichkeit als Falle zu benutzen, der sechste war ein unfähiger Schwächling, der siebente ein Narr. Kein echter und ganzer Mensch; was sie lehrten, blieb tot: Regeln, Formeln, Zahlen, Register. Da sie nicht Teilnahme erwecken konnten, hielten sie die Furcht in Atem, Drohung und Strafe waren ihre Büttel. Sie wußten nichts vom Geiste, und der Sache waren sie entfremdet; ihr Ziel: Dressur. Sie waren beherrscht von jenem Parade- und Uniforminstinkt, der die Glieder des jugendlichen Reichs für immer verkrüppelt hat.

Eines wirkt ins andre; auf einem Distelstrauch wachsen nicht Rosen. Engelharts Mitschüler waren in ihrem innersten Wesen zuchtlos. Nur mit der gemeinsten Notdurft der Dinge vertraut, waren sie jeglichen Aufschwungs bar, und seltsam war es, die angeborenen Eigenschaften, Roheit, Tücke, Heuchelei, feiges Kriechen, von dem dünnen Schimmer unechter Bildung übertüncht zu sehen. Sie waren mit den Rätseln des Daseins fertig, ehe noch das Leben die erste Silbe zu ihnen gesprochen hatte; sie waren nur füreinander geschaffen, nicht für sich selbst; wenn so ein Knabe allein auf der Straße ging, hatte sein Gesicht den Ausdruck des Schlafs. In ihrer Brust war keine Musik, und Respekt hatten sie nur vor dem Gelde. Eines war Engelhart immer aufgefallen, nämlich daß sie nicht sprechen konnten, daß sie nicht ruhig sitzen oder gehen konnten, um gut und natürlich zu sprechen; entweder schrien sie oder sie tuschelten. Dies letztere erregte seinen Abscheu in hohem Grad, denn er ahnte, was sie mit ihrem Munde und ihren Gedanken beschmutzten, wenn sie zu dreien oder vieren beisammenstanden und erregt grinsend einander das Wort von der Lippe rissen. Bisweilen gesellte er sich hinzu, um sich zu schützen, denn aus Absonderung erwuchs ihm Haß, aber sie nahmen sich in acht vor ihm, auch ummauerte sich sein Wesen, und ohne daß er darum wußte, ward seine Haltung feindselig. Die meisten hatten Reiz und Anmut der Jugend schon eingebüßt, ihre Gesichter waren hohl und fahl von Stubenluft und ungesunden Trieben, in seine untersten Schlünde hinabgestoßen war der edle Kindergenius und schon thronte auf den Stirnen der brutale Zweck.

Nichtsdestoweniger fand Engelhart ein paar Kameraden, die manche seiner Neigungen teilten. Mit ihnen verabredete er sich zu weiten Spaziergängen, und daraus wurde schließlich etwas wie ein Kultus mit wunderlichen Zeremonien und Gepflogenheiten. Sie versammelten sich an einem möglichst abgelegenen Punkt der Stadt, und bevor der Marsch begann, erhielt jeder einen Spielnamen, der zugleich eine bestimmte Rolle in sich schloß. Die Mitglieder der Gesellschaft leisteten das Gelübde des Schweigens, und die Formen des Verkehrs, feierlicher gemacht durch Worte aus einer selbsterfundenen Sprache und durch eine künstliche Rangordnung geregelt, suchten auf die Haltung und den Geist der Truppe zu wirken. Mit Anbruch des Frühlings wurden die Märsche bis gegen den Moritzberg und die Wälder an den Ufern der Zenn ausgedehnt. Wenn das einsame Schloß des befreundeten Königs erreicht war, nämlich ein Forsthaus oder eine Fuhrmannskneipe, sonderte sich Engelhart von den Genossen ab und stellte in der tiefen Wildnis dem Auerochsen und dem Bären nach oder er ging horchend dahin, untertauchend in die Stille und die Augen zu Boden geheftet wie der traurige Prinz, dessen Herz vor Sehnsucht krank ist. Er besaß das Land, das sie durchzogen, es war in Wahrheit sein Eigentum; es war ihm herrlich zu Sinn, wenn sie alle schweigend in einer fast leidenschaftlichen Gangart dahineilten und der Wind schüttelte die Baumkronen und die Krähen schwirrten vor ihnen auf. Er brachte etwas Stürmisches und Atemloses in diese Wanderzüge, nicht so sehr durch die Begierde nach immer neuen Eroberungen als durch die unbeschreibliche Unruhe und das Drängende, Gärende, Wollende seines ganzen Wesens. Am liebsten hätte er nirgends Rast gemacht, nur immer ziehen, ziehen, ziehen, die Welt war so groß, der Himmel so weit.

An Tagen, wo es unmöglich war, die Stadt oder gar das Haus zu verlassen, schloß er sich in die Kammer ein, rannte stundenlang auf und ab und sang dazu, indem er sich von einem unsichtbaren Orchester begleitet wähnte. Dann war sein Schlaf schwer und oft unterbrochen, auch war ihm das Zubettgehen mehr als je verhaßt und er meinte durch den Schlummer eine Einbuße an Leben zu erleiden. Es geschah immer häufiger, daß er sich zur vorgerückten Abendzeit heimlich aus dem Hause stahl, und er wußte die Magd zu bereden, daß sie ihn heimlich wieder einließ. Am Pegnitzufer, dicht neben der Mauer des protestantischen Kirchhofs, stand ein altes und wegen einer Senkung des feuchten Erdreichs unlängst verlassenes Haus. Der Besitzer wollte es nicht abtragen lassen, da der Grund ziemlich wertlos war; so hatte man an den Seitenmauern einstweilen Stützbalken angebracht, und um die Wände im Innern vor weiterer Fäulnis zu bewahren, standen Trockenöfen in den Räumen und die rote Glut strahlte aus den Fenstern weit in die Nacht. Das Tor war verriegelt, doch Engelhart stieg durch eines der erdgeschössigen Fenster ein, kauerte sich in einen Winkel und gab sich dem Abenteuerlichen und Gesuchten seiner Lage mit erwartungsvollem Trotze hin. Es war ihm recht, wenn es in den Dielen über ihm geisterhaft knackte oder im Keller die Ratten rumorten. Die Nähe des Kirchhofs war es besonders, die ihn ergriff; durch ein seitliches Fenster konnte er die Trauerweiden und Grabsteinkreuze ungeachtet der Dunkelheit gewahren. Es steckt ein doppelgängerisches Wesen in der menschlichen Brust; sein Revier ist der Traum, es macht das Unbegreifliche zum Bild, den Willen bindet es und wie die Spinne das Insekt, umklammert es die Seele und entsaugt ihm die Kräfte einer behaglichen Freiheit. Bei manchem durchbricht es seinen Bezirk, bemächtigt sich auch des wachen Geistes, prägt die Marke der Hörigkeit selbst auf die jugendliche Stirn, will vernommen sein, und wenn es nicht gegenwärtig ist, will es beständig erharrt werden, es macht den Stetigen flüchtig und den freundlichen Charakter einsam, mit holden Versprechungen umgaukelt es das Herz, mischt das Gift der Ungeduld in jede freudig ruhende Stunde und trägt das Bewußtsein des Lebens mit bedächtiger Grausamkeit frühzeitig auf die Wege des Todes, läßt um das Ende wissen, wenn noch nicht einmal die erste Frucht des Daseins reif geworden ist.

Drei- oder viermal mochte Engelhart unbehelligt in dem leeren Hause geweilt haben, da sah er einst, während er sich erhob und zum Fenster schritt, ein verzerrt-grinsendes Gesicht von draußen hereinblicken. Er erschrak, und erst als das Gesicht verschwunden war, erkannte er seinen alten Feind, den rothaarigen Rindsblatt. Seit er ihm vor Jahren den übeln Streich gespielt, hatte er nicht ein Wort mit ihm gewechselt. Engelhart begriff, daß ihm der Bursche aufgelauert haben müsse, vielleicht war er selbst auf der Straße an ihm vorbeigegangen, ohne ihn zu sehen. Er verbarg sich wieder, wartete geraume Weile, dann öffnete er vorsichtig das Fenster, schaute hinaus und da er nichts Verdächtiges wahrnahm, verließ er seinen Zufluchtsort. Kaum war er draußen, so kam von der Uferböschung eine Gestalt auf ihn zu, die den Arm drohend erhob. Es war Rindsblatt. Engelhart begann zu laufen, der andre lief hinterdrein. Engelhart lief hinunter gegen den Markt, das Wasser der Pfützen spritzte unter seinen Stiefeln auf, sein Gewand war mit Kot bedeckt, die Schritte hallten von den Häusermauern zurück, das anfängliche Lustgefühl der raschen Bewegung verwandelte sich in Angst, die Angst wuchs und versperrte seine Kehle, er lief blindlings, ohne zu wissen wohin, der andre ihm nach, endlich kamen sie in die abschüssigen Straßen der Altstadt, Wasser und Wassergeplätscher machten ein Ende, dort unten war alles überschwemmt, weit über den Schießanger und das neue Schlachthaus hinaus, und wo sie standen, bespülte die Flut schon die Torstufen der Häuser. Mondschein lag auf dem weiten Spiegel des Sees, drüben beim Wehr sprühte silbern die Gischt. Engelhart stierte hinab, keuchend vom Lauf, Rindsblatts Gesicht war schweflig fahl und er sagte durch die verpreßten Zähne: »Ich will dich jetzt ins Wasser werfen und ersäufen. Dann sind wir quitt.« Engelhart keuchte verächtlich: »Ein schlechter Kerl, wer seine Rache so lang aufhebt.« Mit grünlich glitzernden Augen schnellte Rindsblatt auf ihn zu, da kam aus einer Seitengasse ein ungeheurer schwarzer Fleischerhund, stellte sich bösartig knurrend zwischen die beiden Knaben und fixierte einen um den andern mit offenem Maul und hängender Zunge. Sie wagten nicht, sich zu rühren, und als das Tier durch einen schrillen Pfiff zurückgerufen wurde, schien sich Rindsblatt eines andern besonnen zu haben, er machte kehrt und seine plump schreitende Gestalt entfernte sich langsam gegen den Lilienplatz.

Am nächsten Tag wurde Engelhart zum Rektor berufen, Rindsblatt hatte die nächtlichen Ausflüge und das Einsteigen in das fremde Haus denunziert. Engelharts Benehmen war das eines Schuldigen; feierliche Verhöre zerbrachen bei ihm jeden Widerstand und jedes Selbstgefühl, seine äußere Haltung wurde durchaus von der Haltung der andern hervorgebracht. Da der Rektor nichts Wesentliches herausbringen konnte und da das, was Engelhart berichtete, ziemlich verhalten und konfus klang, glaubte er an einen verstockten Heuchler geraten zu sein. Auch der Ordinarius hegte den Verdacht, daß hier eine geheime Verbindung oder Verschwörung im Werk war, doch keine der üblichen Pressionen und moralischen Folterungen führte zu einem Aufschluß, der unbekannten Übeltat war nicht beizukommen, und so wurde Engelhart schließlich zu mehrstündiger Einsperrung verurteilt und sein Vater erhielt über das Vorgefallene ausführlichen Bericht. Alles nahm einen amtlich-wichtigtuerischen Weg, jeder, der ein bißchen Macht hatte, spielte auf seine Weise Polizei, auf Subordination war jeder Geist gedrillt und keinen kam ein menschliches Lächeln an. Auch Herr Ratgeber faßte das Geschehnis völlig als Staatshandlung auf und verbarg nicht seinen Kummer und seine Enttäuschung um den Sohn. Engelhart mußte sich zu Hause abermals einer Reihe von Verhören unterwerfen, und Frau Ratgeber strafte ihn, wie sie eben zu strafen pflegte, durch Demütigungen berechnetster Art und dadurch, daß sie ihm verschiedentlich die Mahlzeiten vorenthielt.

In dieser Zeit wuchs für Engelhart nicht viel Trost. Er ging mit gesenktem Kopf herum, auch sein inneres Schauen war verschleiert. Oft beobachtete er Männer auf der Straße mit dem furchtbaren Hintergedanken, welcher von diesen wildfremden Leuten ihm wohl besser hätte Vater sein können als der eigne Vater. Bisweilen ruhte er am Tisch zu Hause von den anstrengenden und sinnlos weitläufigen Schularbeiten aus und blickte an der Lampe vorbei in das auf die Zeitung herabgebeugte Gesicht seines Vaters. Er faßte die Möglichkeit ins Auge, mit ihm zu sprechen, etwa wie mit einem Freund, und schon der Gedanke hatte etwas Absurdes. In allen Büchern war die Rede von dem heiligen Band zwischen Vater und Kind, er spürte es nicht, er spürte nur das Joch unliebsamer Strenge und schablonenhafter Zucht. Die Worte, die sie hie und da wechselten, waren aus der kargen Enge des praktischen Bedarfs geboren, hatten niemals einen geistigen Hauch, vom Scherz nicht zu reden. Er wußte sich’s nicht zu gestehen und fühlte doch, daß ein solches Beieinanderleben, selbst wenn es dem natürlichsten Gesetz der Dinge entstammte, etwas Unwahres, ja Frevelhaftes hatte, und er glaubte außerdem dessen gewiß zu sein, daß er dem Vater zur Last war und daß das unaufhörliche Hindrängen gegen die Zukunft nichts weiter vorstelle als die Ungeduld, sich seiner zu entledigen. Er sah, wie rücksichtsvoll sich der Vater gegen seine zweite Frau benahm und wie er alles geschehen ließ, was sie gegen ihn und den Bruder unternahm, und wie er geflissentlich schwieg oder nur schüchtern zu widerstreben wagte, wenn ein offenbares Unrecht ihm zu Ohren kam; Engelhart hörte auf zu hadern, er wähnte, irgendeine bindende Verpflichtung des Vaters läge dem zugrunde, der Vater müsse sich irgendwie an dieser Frau vergangen haben, sei in Schuld und Sühne verstrickt und finde nicht mehr zu sich selbst. Unter solchen Erwägungen wurde ihm Frau Ratgeber zu einer hassenswerten Gestalt und den Vater gab er für sein Herz, einer unerbittlichen Logik gehorchend, verloren.

 

Nun befand er sich einst in dem Zimmer, wo auf einem mäßig großen Regal die Bücher des Vaters aufbewahrt wurden, und kramte nach seiner Lieblingsgewohnheit unter den alten Scharteken, die sämtlich aus Herrn Ratgebers Jugend und Jünglingsalter waren. Beim Aufschlagen eines grauen, mehr von der Zeit als vom Lesen zerstörten Bandes, einer Abhandlung über das Prinzip der Elektrizität, gewahrte er auf dem Vorsatzblatt ein Gedicht von der Hand seines Vaters. Die Verse waren überschrieben: An Agathe Herz; er las, platt auf dem Boden liegend, mit aufgestützten Armen, vor sich hin:

 
Ist es bestimmt in Gottes Walten,
Daß ich Agathe soll erhalten,
Die mir des Lebens Inhalt gibt,
Dann will ich keine Mühe scheuen,
Mich selbst durch Tugend zu erneuen,
Denn fromm ist nur ein Mann, der liebt.
 
 
Ach, dieses holde Blühn auf Erden!
So schön war noch kein Lenzeswerden
Meiner Dunkelheit gewohnten Brust.
Doch süßer, als wenn Zephyr fächelt,
Ist’s, wenn Agathes Auge lächelt,
Davor wird jeder Schmerz zur Lust.
 

Lange blickte Engelhart auf das Blatt, ohne es zu wagen, sich einer sanften Regung völlig zu ergeben. Die gelesenen Worte veränderten unerwartet das Bild des Vaters. Er war so verwundert, wie wenn ein Geschöpf, das er für stumm gehalten, plötzlich zu reden begonnen hätte. Ob wohl die Mutter um dies Gedicht gewußt? Wenn nicht, so mußte sie zeitlebens über die Empfindungen des Gatten im unklaren geblieben sein, denn daß der Vater je mit ihr davon gesprochen haben könne, schien ihm undenkbar. Jedenfalls verbarg er seine Entdeckung sorgfältig und ließ sich nichts merken, doch schaute er bisweilen den Vater so gedankenverloren an, daß dieser, unangenehm berührt, sich das freche Anstarren, wie er es nannte, verbat.

Herr Ratgeber durfte nicht zur Ruhe kommen. Sein Unglück erfüllte sich nicht auf einen Schlag, es nippte langsam, Schluck für Schluck von den Kräften seiner Seele. Durch die Unvorsichtigkeit eines Lehrlings brach während einer Mittagsstunde ein Brand in der Fabrik aus. Herr Ratgeber saß gerade beim Essen und schien etwas heiterer gestimmt als sonst, da gellte von drunten der durchdringende Schrei: Feuer! Mit den Worten: »um Gottes Himmels willen« sprang Herr Ratgeber auf und raste hinunter. Weißer, dicker Dampf quoll durch alle Fenster des Erdgeschosses, das Holz und die Sägespäne waren eine gar zu leichte Beute für die Flammen. Nach wenigen Minuten bliesen die Feuertrompeten, die großen Leiter- und Spritzenwagen konnten nicht durch den Toreingang des Vorderhauses fahren, die Leitern mußten abgeladen und die Schläuche bis auf die Straße gelegt werden, wodurch eine verhängnisvolle Verzögerung entstand. Herr Ratgeber war indessen von seinem Bureau aus in das Innere der brennenden Werkstätten gedrungen; später wurde er gefragt, warum er dies getan, da er doch als einzelner auf keinen Fall etwas hätte ausrichten können; er wußte nichts zu antworten, es war nur der blinde Trieb gewesen. Es dauerte nicht lange, so war er dermaßen in Qualm gehüllt, daß er weder vor- noch rückwärts konnte, die Sinne schwanden ihm und er fiel um. Zum Glück durchbrachen die Feuerwehrmänner in demselben Augenblick eine hier befindliche, mit Brettern verschlagene Tür, sie sahen Herrn Ratgeber liegen und schleppten ihn hinaus. Engelhart schaute vom Fenster oben zu; er rührte sich nicht, Frau Ratgeber weinte und schrie, räumte die Schränke aus, warf das Silberzeug in eine Kiste, er stand am Fenster wie versteinert. Im ersten Stock des Fabrikgebäudes war eine Gipsgießerei; auf den Simsen lagen gewöhnlich allerlei Masken und Reliefs, und Engelhart beobachtete mit einer der dumpfesten Angst sich entringenden Spannung, wie die Figuren vom Rauch geschwärzt wurden und die Gesichter der Masken sich langsam verzerrten.

Die Folge des Brandes war, daß die Polizei den ferneren Betrieb der Fabrik nicht mehr gestattete, da die Lage des zwischen Hinterhäusern eingezwängten Traktes als zu gefährlich befunden wurde. Herr Ratgeber mußte so schnell als möglich eine andre Lokalität haben, auch sann er auf Vergrößerung der ganzen Anlage, obwohl der bisherige Erfolg ihn keineswegs dazu ermuntern konnte. Er hatte wenig Kredit, seine Pläne begegneten dem Mißtrauen der Geldleute, und wie um ihn zu demütigen, wies man darauf hin, daß sein Bruder, seitdem er allein das Geschäft in Händen habe, trefflich gedeihe. »Gewiß,« entgegnete Herr Ratgeber, »ich bin eben kein Krämertalent, ich bin Fabrikant.« Schließlich gewann er durch seine geduldige und überzeugende Beredsamkeit doch noch einen Kapitalisten, der zugleich sein stiller Teilhaber wurde, er mietete ein leerstehendes Haus am äußersten Rande der Schwabacher Landstraße, unweit davon stand, gleichfalls in großer Einsamkeit und Stadtferne, ein neuerrichtetes Zinshaus, dessen zweiten Stock er mit seiner Familie bezog. Nach der Rückseite breiteten sich die Wiesen aus, und ein mageres Waldstück schloß den Blick ab, vorne, gegen die Rednitz hinunter, lag das Dambacher Land, dann die tiefen Forste, die sich bis gegen Kadolzburg und Erlangen dehnten. Das auf der Höhe der Chaussee gelegene Gebäude war den herbstlichen Stürmen von allen Seiten schutzlos preisgegeben und zitterte oft unter dem Anprall bis in seine Grundmauern; wenn die Sonne unterging, waren die Wände und Fensterscheiben wie mit Blut bestrichen, alle Gegenstände im Zimmer glühten von innen heraus und im Spiegel über dem Sofa malte sich noch einmal das flammende Himmelsmeer über der auf ihre stärksten und einfachsten Linien zurückgeführten Landschaft. Die Verlassenheit hier draußen wirkte nicht wohltätig auf Engelhart; Besuche kamen höchst selten, auch für die Kameraden wohnte er zu weit, und innerhalb der Familie war doch Herz dem Herzen fremd. Einer lauerte des andern Verfehlungen und Sünden auf, nur Furcht vereinte sie hie und da einmal, zum Beispiel als in einem nahegelegenen Wirtshaus ein durchreisender Fremdling ermordet wurde und die Regungslosigkeit der darauffolgenden Nächte allen zehnfach fühlbar wurde. So wühlte sich Engelhart immer mehr in gefährliches Abgeschlossensein, dunkler färbten sich seine Träume, von Tag zu Tag ward ihm wesenloser, was alle Menschen rings um ihn herum an ihr Dasein knüpfte. Drei Elemente webten in seiner Brust, nämlich ein schwaches, ein süßes und ein diabolisches. Das erste fügte sich jedem Druck des Windes und der Trauer jedes Augenblicks, fügte sich und unterlag, es gab ihn fruchtlosen Erwartungen preis und machte ihn zum Knecht allerlei schlechter Gewohnheiten; das zweite verlieh ihm tiefen Atem, tiefes Weilen bei sich selbst und die Liebe für die kleinen Dinge, an denen andre gleichgültig vorübergehen, es schuf Dämmerung um seine Augen und breitete eine gewisse Andacht über seine zügellosen Phantasien; das dritte war schuld an der Heftigkeit seiner Begierden, es erzeugte aus jeder Bewegung des Gemüts einen leidenschaftlichen Rausch, erweckte Ansprüche an das Leben, die sich niemals erfüllen konnten, vertauschte im Nu Freude und Angst, Ungeduld und Apathie, Überheblichkeit und Demut, Starrsinn und Nachgiebigkeit. In einem alten Buche las er einmal Worte, die ihm lange Zeit rätselhaft erschienen und später plötzlich eine furchtbare Bedeutung enthüllten: Da stehst du am Abgrund des Bösen, armseliger Mensch, und scheuest dich, hinunterzublicken, aber wenn du auch deinen Pfad abkehrst, so werden dich dennoch die Geister ewig verfolgen, denen du nur ein einziges Mal freiwillig das Ohr geliehen hast.