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Engelhart Ratgeber

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Doch im Grunde wußte er besser Bescheid über Engelhart, als er sich zugestehen mochte, er wußte besser Bescheid als Engelhart selbst. Er nannte ihn Seelenspürhund, Gefühlsparasit. Doch hier war ein Etwas, das er nicht zerreißen noch zerbrechen konnte, gleichsam aus der eignen Hand des Schöpfers hervorgegangenes Gespinst, das man nicht anrühren darf, ohne vom Blitz getroffen zu werden. Sein Hinundherzittern über den Gebilden des Lebens gemahnte Palm an die Kompaßnadel, die bei allem Zittern stetig zum Pole zeigt. Sein zerrütteter Organismus spürte die Gesundheit des Gesunden traumhaft scharf, bald war er sich auch klar, wohin das unbewußte Wesen heimlich ziele, von dem Engelhart so qualvoll beunruhigt wurde, und ein gelegentlicher Fund bestätigte seine Mutmaßung.

An einem Sonntagnachmittag lag Engelhart, von Kopfschmerzen gequält, auf dem Sofa (er wohnte jetzt im zweiten Stock eines Hauses in Steinbühl), als Palm und Klewein erschienen. Sie machten sich’s nach ihrer Art bequem, schwadronierten von diesem und jenem, Klewein entwickelte nicht zum erstenmal seinen Plan, nach Amerika auszuwandern, Palm hatte indessen die Tischlade aufgezogen und stöberte ungeniert unter den Briefen und Papieren Engelharts. Es fiel ihm ein dicht bekritzelter Bogen in die Hand, auf dem die Geschichte vom kleinen Bräutigam aufgeschrieben war, die Engelhart seinem Bruder erzählt hatte; einzelne Merkworte waren ihm nicht aus dem Sinn gegangen und er hatte, vor Monaten schon, sich der ganzen Bilderfolge durch Niederschreiben entledigt. Palm las und las, begann spöttisch zu lächeln, dann laut zu kreischen, Engelhart merkte zu spät, was vorging. Palm ließ sich den Raub nicht mehr entreißen, auch Kleweins Einspruch half nichts, Palm bestand darauf, das Elaborat müsse im Paradieschen verlesen werden, auch Herr Barbeck habe heute zu kommen versprochen, das treffe sich ausgezeichnet, der sei der rechte Mann für so was. Welche Verachtung lag in seinen Worten! Engelhart glaubte, seine Unfähigkeit werde an den Pranger gestellt, und wollte vor Scham vergehen. Die Verlesung fand zu einer Stunde statt, wo noch keine fremden Gäste im Paradieschen waren; die simple Geschichte wurde mit blutigem Hohn aufgenommen und vollständig niederkritisiert. Zuhörer waren Palm, Klewein, Jentsch, der Baron, dann ein halbnärrischer Maler, der den Spitznamen Krapotkin hatte, da er unaufhörlich Stellen aus den Schriften dieses Anarchistenführers deklamierte, und ferner Herr Barbeck. Dieser gab sich den Anschein, als nehme er die Geschichte ernst, und fragte Engelhart am Schlusse, was das Ganze zu bedeuten habe und von wo die Verse abgeschrieben seien. Engelhart schwieg. »Was haben Sie denn vor, was wollen Sie werden?« fuhr Barbeck mit geheimnisvollem Grinsen zu fragen fort. Und als Engelhart verlegen die Achseln zuckte, lachten alle, Barbeck aber sagte: »Na, Jüngling, mich werden Sie nicht hinters Licht führen, ich kenne das, bin selber dort gewesen, hinterm Licht nämlich, hab’ selber Äpfel gestohlen.«

Barbeck kam von da an allabendlich ins Paradieschen. Mit seinem tückisch-vielsagenden Lächeln versicherte er, daß ihm der kleine Bräutigam, auf diesen Spitznamen nagelte er Engelhart fest, Interesse eingeflößt habe. Es hatte eine eigne Bewandtnis mit Herrn Barbeck, und Engelhart fürchtete den Mann mehr noch, als er mit der Zeit Peter Palm fürchten gelernt hatte. Peter Palm gab sich wenigstens wie er war, eher noch schlechter als besser, es war etwas Ehrliches in seiner dürren Dämonenhaftigkeit, aber dieser wechselte beständig sein Wesen und war ungreifbar wie die schillernde Qualle. Er war Privatgelehrter, das heißt, er betitelte sich so. Er behauptete, Astrologie und Alchymie zu studieren, und meinte, wenn die Rede darauf kam, die alten Burschen in Babylon seien gar nicht so dumm gewesen. Dabei ließ er die frivol glänzenden Äuglein forschend von Gesicht zu Gesicht wandern, denn er war ungemein eitel, so eitel, daß er nicht vertrug, wenn jemand in der Gesellschaft einen guten Witz machte, gerade als ob es nur ein bestimmtes Quantum Gelächter in der Welt gebe und er um seinen Anteil zu kommen fürchte. Er besaß lange glatte, blonde Haare, die am Hinterkopf kunstvoll beschnitten waren und den mädchenhaft zarten Nacken frei ließen; häufig strich er mit der Hand über den Kopf, wobei er zärtlich sinnend oder boshaft triumphierend in die Luft schaute. Wenn jemand seinen Worten widersprach, so fing er an, irgendeine Melodie vor sich hinzusummen, und drehte den Kopf wie eine Soubrette mit schmachtendem Blick zur Seite. Er war wohlhabend, aber geizig; einmal war es Peter Palm gelungen, ihn anzupumpen, darauf hatte sich Barbeck monatelang nicht mehr blicken lassen. Bei Tag war er ein Bürger, nie hätte er sich bei Tag etwas gegen die bürgerliche Ordnung zuschulden kommen lassen; bei Nacht dagegen setzte er Ehre darein, für einen erfahrenen Glücks- und Lebemann zu gelten, sprach mit pfiffig verschlagener Miene von seinen Abenteuern und von gewissen Häusern der Liebe an der Stadtmauer drüben. Alle andern verachteten immer nur die Menschen im allgemeinen mit Ausnahme der Anwesenden, jeder Anwesende war eine Persönlichkeit von Bedeutung; Barbeck verachtete alle und zeigte jedem, daß er ihn verachte, ihm konnte man nichts vormachen, der älteste Ruhm zerstob vor seinen Augen in Dunst, und er pflegte nur hin und wieder mit feinschmeckerischem Zungeschnalzen Dinge zu loben, über die sich niemand eines Lobes versah oder die zu tadeln albern gewesen wäre.

Engelhart wurde bis ins tiefste Herz beunruhigt. Dies gefühllose Fertigsein; dies unbedingte Sichersitzen auf felsenfesten Urteilen; diese hohnlachende Philosophie, die ohne Skrupel das Erhabene von seinem Thron zerrte. Oft saß er wie im Fieber und jeder Abend endete mit Stunden des Lebensüberdrusses. Denn wozu leben, wenn das, was er so göttlich in seinem Innern walten fühlte, nur ein aberwitziges Spiel war, ein Traumgesicht, das vor andern zur Grimasse erstarrte? Mit Angst hielt er sich fest, um nicht zu fallen. Die überfließende Empfindung suchte er zu verbergen, es war freilich umsonst, sie wußten es alle, sie machten sich zu Meistern seiner Unsicherheit und zerhämmerten sein Herz. Wie das Weltkind unter Pfaffen gezwungen wird, sein natürliches Betragen für eine Sünde anzusehen, so bequemte er sich, um doch wenigstens für ebenbürtig genommen zu werden, mit ihren Gebärden zu reden und ihren Anschauungen beizupflichten. Er war der erste und der letzte bei allen Gelagen, genoß unzureichenden Schlaf und nährte sich schlecht. Seine Lebensführung war unsinnig, er mußte Schulden machen, und anständige Leute, die ihm bisher wohlgewollt, wurden ihm feindselig gesinnt. Es war alles umsonst, Peter Palm glaubte ihm nicht. »Geben Sie sich keine Mühe,« sagte er, »Sie sind ja doch nur ein verkappter Philister, der zähneklappernd einen Ausflug ins feindliche Land macht.« O dieser Dämon im Schlafrock!

Eines Nachts kam Barbeck aufgeregt ins Paradieschen und verkündete, Amöna Siebert sei in der Stadt und tanze in den Reichshallen. Daraufhin wurde der Beschluß gefaßt, aufzubrechen, um die Siebert zu sehen, die nach Peter Palms Beteuerung das genialste Weib unter der Sonne war. Amöna Siebert war vor acht oder zehn Jahren Kellnerin im Wirtshaus zum Mondschein gewesen, und das siebzehnjährige Mädchen, ohne durch Schönheit aufzufallen, fand wegen ihrer Heiterkeit viele Anbeter. Eines Morgens nach einem Ball hatte sie den kleinen Saal aufzuräumen, und plötzlich fiel ihr bei, eine Menge Stühle in zwei Reihen zu setzen, diese für Tänzer und Tänzerinnen anzusehen und zwischen ihnen hindurch die Touren einer Anglaise zu tanzen, ein Vergnügen, das sie leidenschaftlich liebte, weil sie dabei die Leichtigkeit und Anmut ihrer Bewegungen spüren konnte. Ein durchreisender Fremder belauschte und überraschte sie, er machte ihr das Anerbieten, sie ausbilden zu lassen, einige Monate darauf hörte man von ihren großen Triumphen, plötzlich war sie verschollen und es hieß, ein italienischer Graf habe sie entführt. Viel später war sie noch einmal in der Stadt gewesen und hatte getanzt, darauf hieß es wieder, ein Liebhaber habe sich ihre Gutmütigkeit zunutze gemacht und sie zugrunde gerichtet. Jedenfalls ging es ihr jetzt schlecht, sonst wäre sie nicht in den Reichshallen aufgetreten, einem Lokal letzten Rangs. An diesem Abend tanzte sie nicht, am nächsten Abend sah sie Engelhart zum erstenmal, hatte aber keinen guten Eindruck von ihr; ihre Bewegungen erschienen ihm frech und gewaltsam, nur die traurigen, starr in die rauchige Luft des eklen Raums gerichteten Augen berührten sympathisch. Barbeck machte sich hinter einen von Amöna Sieberts Bekannten, und dieser versprach, ihn und seine Freunde mit der Tänzerin zusammenzubringen, die gegenwärtig ohne Anhang sei. Barbeck hatte Bedenken, die Sache drohte Geld zu kosten, er war der einzige Zahlungsfähige bei der Partie, indessen gab er sich der Hoffnung hin, auf die Kosten zu kommen, und gegen Mitternacht zog die ganze Gesellschaft mit Amöna in einen Weinkeller. Amöna Siebert trug sich wie eine vornehme Dame. Ihr oberflächlich lustiger Ton zeugte von der stetigen Gewohnheit des Verkehrs mit fremden Leuten. Mehrmals hatte es dennoch den Anschein, als fühle sie sich unbehaglich und aus dem verschleierten Blick sprühte Widerwillen. Barbeck benahm sich wie ein Faun, er trank mehr, als er vertragen konnte, und wurde nach und nach zudringlich, Klewein, bebend vor Wut, ließ ihn barsch an, es entstand Streit, Peter Palm mußte sich ins Mittel legen, am Ende stritten auch Klewein und Palm und warfen einander Wahrheiten an den Kopf. Der Baron suchte Amöna mit aristokratischen Manieren zu bestechen, während Jentsch und Krapotkin die Gelegenheit des Freitisches benutzten, um sich gütlich zu tun. Engelhart litt. Eine mahnende Stimme ertönte in seinem Innern, und wie unter einer Bergeslast stützte er den Kopf in die Hände.

Es blieb nicht verborgen, daß Klewein für die Siebert leidenschaftlich entbrannt war. Er opferte das letzte, was er hatte, um sich einen tadellosen Anzug zu verschaffen. Ob er erhört wurde, war nicht zu erfahren, man wußte nur, daß er mitsamt seinem feinen Anzug obdachlos war, denn Palm, bei dem er oft genächtigt, wollte nichts mehr von ihm wissen. Es beleidigte ihn, sich um eines Frauenzimmers willen beiseite geschoben zu sehen. Jentsch und der Erfinder gingen einmal spät nachts am Güterbahnhof spazieren, da überraschten sie Klewein, wie er sich auf einem Frachtfuhrwerk das Lager zum Schlafen richtete. Er machte humoristische Glossen darüber, die beiden dummen Menschen ließen sich täuschen und lachten mit ihm. Barbeck war die ganze Zeit über voll Gift und Galle, tröstete sich aber immer wieder mit Peter Palms Versicherung, daß die Siebert unmöglich einem Klewein ihre Gunst schenken könne. Eine Woche später hieß es, Amöna Siebert sei krank und die Direktion der Reichshallen mache Schwierigkeiten mit dem Kontrakt, das Mädchen habe ihre Wohnung aufgeben müssen und sei zu einer armen Verwandten gezogen.

 

Eines Abends trafen sich Engelhart und Klewein am Laufertor, schlenderten eine Weile planlos um den Graben, und Klewein wurde von Minute zu Minute düsterer und zerstreuter. Engelhart dachte, es seien die Geldsorgen schuld, und da Monatsanfang war und er gerade ein paar Taler in der Tasche hatte, fragte er Klewein, ob er ihm aushelfen könne. Das Anerbieten wurde dankbar angenommen, aber Kleweins Betragen veränderte sich deshalb nicht. Engelhart war nicht fähig, jemand auszuforschen, er liebte gar nicht Geständnisse eines andern, er war zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Klewein schlug ihm vor, mit in die Reichshallen zu gehen, und auf dem Wege dorthin erzählte er, offenbar in dem qualvollen Drang, sich irgendwem zu eröffnen, wie ihn Amöna Siebert an der Nase herumführe, wie sie ihn leiden lasse durch seine Leidenschaft und daß er darüber des Lebens satt und übersatt geworden sei. Wie aus Fieberphantasien stieg Amönas Bild empor als das einer Vergifterin, eines Molochs.

Stumm saßen sie während der Vorstellung in den Reichshallen, gehässig aufgeregt durch den Lärm, die widerliche Musik und den Anblick der verwüsteten Männer- und Weibergesichter. Später gingen sie mit Amöna in ein nahegelegenes Café. Klewein redete beständig, Amöna unterbrach ihn oft mit einer spöttisch stachelnden Bemerkung, sie sah matt und blaß aus, oft schien es, als werde ihre Brust ausgeglüht von einer verborgenen rasenden Ungeduld.

Engelhart schwieg zumeist. Ihn erbarmte des Weibes, er wußte nicht wie und warum. Die Gegenwart einer Frau stimmte ihn überhaupt stets milder und süßer. Auf dem Heimweg entstand plötzlich ein Wortwechsel zwischen Klewein und Amöna; eigentlich um nichts, der Zwiespalt lag mehr in den beiden Menschen selber als in ihrer Wirkung aufeinander. Als Klewein sie aufs äußerste gereizt hatte, blieb Amöna stehen und sagte kalt: »Jetzt habe ich genug von Ihnen,« und streckte dabei befehlend den Arm aus. Klewein starrte sie an, dann verbeugte er sich sarkastisch und ging hinweg. Seine heftigen Schritte verklangen in der Finsternis. Amöna wendete sich mit einem drohenden Blick zu Engelhart und fragte: »Sind Sie auch so einer?« Und da er schwieg, nahm sie seinen Arm, und da er ihr nicht werbend entgegenkam, schien sie zu erstaunen. Unter einer Gaslaterne nahm sie ihm den Hut ab, legte die Hand auf seine Schulter, sah ihn prüfend an und sagte halb lächelnd, halb traurig: »So jung, so jung!« Sie blieben eine Weile stehen, dann sagte sie: »Jetzt gehen Sie nach Hause und schlafen Sie sich mal aus, und morgen abend um neun Uhr kommen Sie zu mir, ich tanze morgen nicht, ich fühle mich wieder unwohl, kommen Sie zu mir in die Wohnung.« Sie nannte ihm die Straße und das Haus, nickte kokett und schritt langsam davon. Engelhart kam taumelnd heim, entschlief erst, als der Tag anbrach, und wurde durch einen Abgesandten des Bureaus aufgeweckt, der ihm ein Schreiben von Herrn Zittel übergab. Herr Zittel schrieb, seine Geduld sei nun zu Ende, nur der Rücksicht, die man auf seinen Vater nehme, habe es Engelhart zu verdanken, daß man ihn noch nicht davongejagt. Engelhart schrieb zur Antwort, er sei krank, versprach morgen zu kommen, versprach sich zu bessern. Als er um sieben Uhr nachmittags ins Paradieschen kam, war Barbeck zugegen, es wurde natürlich über Klewein und Amöna geredet, durch ein unvorsichtiges Wort machte er den immer lauernden und mißtrauischen Barbeck stutzig und sein Erröten setzte ihn noch mehr in Verdacht. Es erschienen auf einmal viele Leute, meist unbekannte Gesichter, einer von ihnen trat zum Tisch und begrüßte Barbeck, es war ein schlanker Mensch mit außerordentlich schönen, bleichen Zügen, hinter dem Zwicker funkelten feurige Augen. Engelhart war es längst müde, immer wieder Menschen zu sehen, ihm bangte vor jedem neuen Namen, auch dieser Fremde machte ihn ungeduldig, indessen ward er sehr bestürzt durch den ernsten, tiefen, mitleidigen Blick, der ihn aus jenen Augen traf. Er begann zornig zu werden und schaute mit Absicht in eine andre Richtung, endlich zahlte er und brach auf. Barbeck bat, auf ihn zu warten, er wolle ihn begleiten, Engelhart zögerte und erwog, wie er sich des Mannes entledigen könne, es war schon halb neun. Draußen fragte er nach dem schwarzbärtigen Herrn, der ihm so ärgerlich gewesen war, und Barbeck sagte, das sei ein toller Kauz, ein ganz toller Kauz. Das war alles. »Was ist er denn? wie heißt er?« fragte Engelhart mit beständig wachsendem Groll. Er heiße Justin Schildknecht und sei … eben ein toller Kauz. Barbeck lachte wieder einmal geheimnisvoll in sich hinein.

In Wirklichkeit verhielt sich die Sache so. Barbeck hatte sich einst, ohne Vorwissen Engelharts, eine stenographische Abschrift von der Geschichte vom kleinen Bräutigam gemacht. Vor kurzem war er mit Justin Schildknecht, einem seiner bürgerlichen Tagesbekannten, beisammen gewesen, und um zur Erlustigung beizutragen, hatte er das Geschichtchen vorgelesen, gespickt mit eignen witzigen Einschiebseln. Der Zuhörer hatte sich aber in andrer Weise dafür erwärmt und den Wunsch geäußert, Engelhart kennen zu lernen. Nichts leichter als das, meinte Barbeck, kommen Sie um die und die Stunde da und da hin.

Es war schwül. Bleifarbene Wolken umsäumten den Himmel, die den vergehenden Tag wie Tiere in unsichtbaren Klauen noch zu halten schienen. Während Engelhart überlegte, wie er von Barbeck loskommen könne, war ihm der Zufall bei seinem Vorhaben behilflich. Von der Haller Wiese her zog ein großer Trupp Menschen, lauter Arbeiter. Es war eine Kundgebung. Die Leute von den Spiegelglasfabriken hatten einen Streik veranstaltet. Aus dem Tor marschierten Polizeileute. Junge Burschen pfiffen und johlten, ein Herr im Zylinder rannte in größter Eile inmitten der Fahrstraße, Engelhart entschlüpfte in das Gedränge.

Als er vor dem Haus anlangte, wo Amöna wohnte, es war ein altes Gebäude nahe der Insel Schütt, fing es an zu regnen. Sein Blut war so aufgeregt, daß der Arm zitterte, als er an der Glocke zog, und ungeduldigstes Verlangen machte sein Auge feucht. Ein altes buckliges Weib, wie einer Hexengeschichte entlaufen, öffnete und führte ihn über einen modrig riechenden Gang in ein kellerartiges Gemach. Ein riesiger Altnürnberger Schrank und eine Ampel mit rotem Glas konnten nicht den Eindruck der Armseligkeit mildern. An einigen Nägeln an der Wand hingen die bunten Gewänder der Tänzerin und sie selbst saß auf dem Sofa und nähte eine blaue Schleife auf ihren Hut. Sie schwatzte wie ein kleines Mädchen, fragte ihn, ob er reich sei, ob er reich werden wolle, schimpfte auf die reichen Leute, auf das Geld, auf die Männer, auf die ganze Welt. »Früher ist man wenigstens in die Kirche gegangen,« sagte sie, »jetzt fehlt auch das.« Dann blickte sie plötzlich auf und fragte mit seltsamer Heftigkeit, ob er sie schön finde; und da er betreten schwieg, ob er sie hübsch finde, ob sie schon verblüht sei. »Die Spiegel lügen,« rief sie aus, »nur die Weiber sind ehrlich, wenn sie aufhören, neidisch zu sein.« Sie stand auf, ging zur Tür, lauschte, riegelte zu, trat dann zu Engelhart und sah wartend, lächelnd, nicht ganz ohne Befangenheit in sein Gesicht. Alles an ihr war ein wenig gelblich, das Haar, die Haut, ja sogar die Augen.

Engelhart vermochte weder zu reden noch sich zu bewegen, er saß wie angeschmiedet und erstaunte selbst über seinen unbegreiflichen Zustand. Nicht als ob ihm Amöna auf einmal reizlos erschienen wäre. Er fühlte noch dasselbe dumpfe Verlangen nach ihr wie vordem. Aber zuerst war es dies gewesen: er glaubte sie durch eine Miene oder Gebärde der Annäherung zu beleidigen, sie, die er doch kaum kannte; dann fürchtete er etwas andres, das Leben hinter ihr, die Bitterkeit in ihrer Brust, und außerdem war es ihm unmöglich, ihr auch nur ein einziges zärtliches Wort zu sagen, weil er keine Zärtlichkeit empfand und weil er sie nicht niedrig genug schätzte, um skrupellos zu nehmen, was vielleicht mit Mut und Selbstverleugnung gegeben wurde. Es war zugleich Stolz und Feigheit, Achtung vor dem Weibe und Angst vor einer Verantwortung, Trotz und Scham, doch hauptsächlich wohl Scham und schließlich auch eine nagende, beklemmende Traurigkeit. Alles das war es, nur kein Zugreifen und unbekümmertes Wagen. Zu viel enthielt jeder Augenblick für ihn, zu eifrig schaute er vorwärts und rückwärts und seitwärts und nach innen hinein in die Tiefe. Ein Mensch war ihm etwas unergründlich Vielfaches, Schwieriges, Gewundenes, Rätselhaftes, und ein Weib, das war nun ganz und gar ein Geheimnis.

Amöna hatte ihn zu liebkosen versucht; sie ließ nun ab und setzte sich bleich und stumm auf den Rand ihres Bettes. Sie warf einen schnellen Blick in den Spiegel, der nebenan an der Wand hing, und ihr Gesicht hatte einen herausfordernden, wild-verächtlichen Ausdruck. Dann ging eine ganze Kette von Veränderungen in ihrem Gesicht vor; die Züge erschlafften, unter den gesenkten Lidern hervor sickerte eine hohle Müdigkeit über Wangen und Mund, über den Leib flog ein Schauder, sie warf sich quer über das Bett und seufzte aus furchtbar bedrängter Brust. Engelhart war sehr bestürzt darüber, was er da angerichtet, er hätte es gern wieder ungeschehen gemacht, aber das war nun vorbei. So stand er auf, ging zur Türe und sagte schüchtern gute Nacht.

Draußen regnete es noch in Strömen, wie Peitschenschläge klatschte es aufs Pflaster. Indes er unter dem Toreingang wartete und den Hutrand herunterstülpte, weil das Wasser vom Pfosten ab und ihm ins Gesicht spritzte, löste sich aus der Dunkelheit der gegenüberliegenden Mauer eine Gestalt und kam rasch auf ihn zu. Es war Franz Klewein. Engelhart erschrak. Klewein trat dicht vor ihn hin, ergriff mit beiden Händen seine Rechte und mit schlotternden Kinnladen murmelte er: »Mensch! Mensch!« Es war nichts Tobendes in seiner Stimme, nur Schmerz und leidenschaftliche Bewegtheit. Engelhart befand sich jedoch in wunderlicher Lage; er konnte jenem nicht sagen: das, was du fürchtest, ist nicht geschehen, denn es gibt eine Männereitelkeit, die stärker ist als jedes Gefühl von Sünde.

Klewein schien es auch als ein Fatum zu nehmen. Ja, er behandelte Engelhart herzlicher als vorher und suchte im übrigen wieder Peter Palms Gesellschaft, die ihm immer unentbehrlicher wurde; sie beschäftigten sich nach alter Gewohnheit damit, Höhlen zu bauen und andrer Leute Vorratskammern zu plündern.

Es begann damals ein neuer Wind durch die Zeiten zu wehen; vieles zerbarst, was bislang in unantastbarer Scheinherrlichkeit gestanden, ein Frühling des Gedankens war es, ein März der Hoffnungen, mit Fug durfte man Gewohntem mißtrauen, es brachen Blüten auf, so fremdartig, daß müde Augen sie für Traumgebilde nahmen, es war wieder einmal freier zu atmen und mancherlei stand im Wachsen. Engelhart spürte es in allen Fasern und wußte nicht, wohinaus damit; ein heftiges, blindes Wollen machte ihn unfähig, dem Augenblick, der gegenwärtigen Stunde genugzutun, seine Sehnsucht schien ihm doch nicht die rechte zu sein, da sie ihn nicht an die rechte Stelle führte. Jene aber, an die er sich drangvoll anschloß, taten, als wüßten sie von nichts. Wenn der Sturm brauste, sagten sie: »Ach was, das Fenster schließt wieder einmal nicht«, und statt die Richtung zu deuten, machten sie sich über die Wetterfahne lustig. Sie verwühlten sich, und um nichts zu sehen, wenn es am wetterträchtigen Himmel leuchtete, schlossen sie krampfhaft die Augen und schrien: Es ist finster. Engelhart, in jeder Weise allzu intensiv auf Menschen angewiesen, ward um sein Lauschen betrogen und etwas Arges, Schmähliches kam über ihn.

Mit dem trotzigen Entschluß zur Verworfenheit, gleichsam mit verhängtem Gesicht und aufgerissener Brust hatte sich Klewein in ein lasterhaft-ausschweifendes Treiben gestürzt. Der Baron, ebenfalls ein Mensch, der das Leben dort suchte, wo andre es wegwarfen, unterstützte ihn, Barbeck machte den lüsternen Neugierigen und Peter Palm sprach von sozialwissenschaftlichen Forschungsreisen, damit die Sache ein Mäntelchen habe. Es mußte alles ein Mäntelchen haben, jeder Mann und jedes Ding. »Kommen Sie, Freundchen,« sagte er zu Engelhart, als dieser einmal schmerzlich zögerte, »die verlorenen Söhne gehören zu den verlorenen Töchtern.« Sie traten in ein Haus, auf dessen Steinschwelle sich eine Lache geronnenen Blutes befand; daneben lag ein zerschnittener, halbverfaulter Apfel.

 

Aus schmutzigen Kneipen lasen sie verwahrloste Frauenzimmer auf und zogen mit ihnen umher. Am Abgrund taumelnde Wesen waren es, die mit Lust den letzten Funken der Unschuld in ihrer von Leiden durchpflügten Brust verschütteten. Engelhart ward seinem Mitleid und seinem Abscheu ein Spielball. Ihre Gesichter erschienen ihm im Traum und glichen den offenen Gräbern für alle Hoffnungen des Lebens. Aber die Dirne ist vogelfrei, sie steht außerhalb der Welt, sie ist kein Weib mehr, sie ist die Kreatur schlechtweg, sie fordert keine Scham heraus, sie ist pflichtenlos und legt niemandem eine Pflicht auf.

Engelhart wußte, was er beging. Wie der Geldborger den besten Freund fliehen und fürchten lernt, dem er verschuldet wird, so geht es auch dem, der sein eignes Herz zum Gläubiger macht; er findet einen unerbittlich stumm mahnenden Feind in ihm. Je mehr Engelhart sich mit Schuld bedeckte, je mehr betörte er sich mit dem Traum einer großen Erlösung. Er sah das Weib in seiner schmachvollsten Niedrigkeit und baute innerlich ein Gebilde von unnennbarer Keuschheit, eine Gespielin der Götter. Daß Engelhart, so für die Liebe geschaffen wie keiner, gerade an ihr zum Frevler werden mußte und zum immer wissenden Frevler, zum sühneerwartenden; seine Jugend hinwerfen mußte, das verirrte Gefühl nicht bewahren konnte, im Wahnwitz der Ungeduld um ein Ziel und eine Bestimmung alles von sich werfen mußte, was ihn stark und rein erhalten konnte!

Es war eine Septembernacht, der Morgen ließ schon die Giebel der Häuser erblassen, da ging Engelhart mit wunderlicher Langsamkeit, die Hände vor das Gesicht gedrückt, Schritt für Schritt seiner Wohnung zu. Er mochte nicht emporblicken, die schwarzen Fenster der Häuser wurden ihm zu Augen, wie die Augen von Dirnen traurig und leer. In dieser Stunde der Verzweiflung begegnete ihm jener Justin Schildknecht, den er durch Barbeck kennen gelernt und den er seitdem nicht wiedergesehen hatte. Er hatte die Hände vom Gesicht genommen, als der halb Unbekannte vorüberging, und sah ihm unwillkürlich nach. Plötzlich drehte sich Schildknecht um, kam wieder zurück, sie wechselten ein paar Worte, auf einmal fühlte Engelhart wie durch einen Zauberschlüssel sein Inneres aufgeschlossen, sie gingen miteinander weiter, redeten, redeten, Verwicklungen lösten sich, Nebel entschwebten, der Himmel wurde licht, Engelhart fand sich so herrlich verstanden, zärtlich beruhigt, endlich ein hörendes Ohr, ein sehendes Auge, ihm war, als steige er aus Bergwerksschächten empor, und als sie sich trennten, besaß er einen Freund.