GEWALT, GIER UND GNADE

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Kurz nach der „Machtübernahme“ 1933 hatte Haas bereits geklagt, dass seine Bäckerei „durch meine Parteizugehörigkeit der NSDAP sehr schlecht ging“.137 1935 bezeichnete er sich als „erwerbslos“, da er angeblich ein Opfer eines Boykotts geworden war.138 Seine Vorgesetzten vermerkten zu seinen „wirtschaftlichen Verhältnissen“: „Die Bäckerei geht sehr schlecht, da Haas wegen seiner Zugehörigkeit zur NSDAP boykottiert worden ist. Die dieserhalb abgesprungen Kunden sind auch noch nicht zurückgekommen.“139 „Viele ‚alte Kämpfer‘ der Partei klagten darüber, dass sie wegen ihres Einsatzes für die Hitler-Bewegung wirtschaftliche Nachteile hätten in Kauf nehmen müssen“, schreibt der Historiker Sven Felix Kellerhoff. „Das traf gelegentlich zu, oft dürfte es sich aber um eine bequeme Entschuldigung für das eigene Scheitern gehandelt haben.“140 Sicherlich kauften keine SPD- und KPD-Anhänger mehr ihre Brötchen bei Adolf Haas. Die Mehrheit der Hachenburger hatte der nationalsozialistischen Bewegung aber bereits vor 1933 sehr wohlwollend gegenübergestanden. Ein Boykott eines nicht jüdischen Bäckers, der Mitglied der NSDAP und SS war, erscheint daher unwahrscheinlich. Noch unglaubwürdiger wird die Behauptung, wenn Haas mit dem „Boykott“ paradoxerweise die Bürger jüdischen Glaubens beschuldigte. Die jüdische Gemeinschaft hatte zwar in Hachenburg eine jahrhundertealte Tradition, aber gerade einmal 75 Mitglieder (1936).141 Diese unterdrückte Minderheit hatte seine Bäckerei bestimmt nicht ruiniert.

Glaubwürdiger ist eher, dass sich der angeblich „boykottierte“ Bäcker wie schon bei seiner kurzen Inhaftierung als Kämpfer für die nationalsozialistische Bewegung darzustellen wusste, der nicht vor persönlichen Opfern zurückschreckte. In der Allgemeinen SS war seit 1933 zudem ein Dienstpensum von mindestens zwei Abenden in der Woche sowie zwei Sonntagen im Monat üblich. SS-Führer wie Adolf Haas, ehrenamtlich hin oder her, investierten zweifelsfrei mehr Zeit, mussten sie ja die weltanschaulichen Schulungen, Sprechabende bei der NSDAP-Ortsgruppe, den „Wehrsport“, Verhaftungsaktionen oder SS-Abende vorbereiten, an denen die Uniformen kontrolliert, Befehle ausgebeben und das Exerzieren und Singen von NS-Kampfliedern geübt wurden.142 Wann sollte da noch Zeit bleiben, erfolgreich eine Bäckerei zu führen?

Der gelernte Beruf hatte letztlich seinen Reiz verloren, spätestens seit 1934, als die SS immer größer und mächtiger wurde und ihm die Chance auf eine richtige Karriere mit weitaus besserem Einkommen bot. Die Bäckerschürze tauschte er daher wahrscheinlich ohne Wehmut endgültig gegen die SS-Uniform, als er Mitte des Jahres 1935 sein Geschäft aufgab. Die SS unterstützte ihn die nächsten Monate finanziell, bis sie ihn am 10. Oktober 1935 zum hauptamtlichen Führer ernannte.143 Als neuer SS-Führer des II. Sturmbannes in der 78. SS-Standarte im nahen Limburg (Lahn) und mit dem neuen Rang eines SS-Hauptsturmführers verdiente er mit 200 Reichsmark monatlich nun deutlich mehr als mit der Selbstständigkeit und auch mehr als der Reichsdurchschnitt, der 1935 bei etwa 140 Reichsmark lag.144 Innerhalb von drei Jahren sollte sich sein Gehalt sogar mehr als verdoppeln.145 Haas musste sich um seine Zukunft und die seiner Familie nicht mehr sorgen. Im Sommer 1932 war seine Mutter gestorben, im Juni 1933 hatte seine Frau aber ihren zweiten Sohn geboren. Solange er seinen Verpflichtungen bei der SS nachkam, hatten sie ausgesorgt. Was dazugehörte und was noch dazugehören würde, wusste er genau.

Am 7. September 1935 hatte die NSDAP-Ortsgruppe im Hotelrestaurant „Westend“ zu einer großen Propaganda-Kundgebung geladen – eine Pflichtveranstaltung für Haas‘ SS. Obwohl ihm das Etablissement einmal gehört und er als Stadtratsmitglied die NSDAP vertreten hatte, stand er selbst nicht auf der Rednerliste. Von der nationalsozialistischen Weltanschauung war er laut einem Vorgesetzten zwar „vollkommen durchdrungen“, für öffentliche politische Reden reichten seine rhetorischen Fähigkeiten aber nicht aus.146 Als Zuhörer konnte er sich immerhin damit rühmen, tatkräftig bei den angesprochenen „Erfolgen“ mitgewirkt zu haben. Diese müssten aber hart verteidigt werden, skandierte ein Sprecher: „Staatsfeinde und Dunkelmänner stören unter der Tarnung von konfessionellen und anderen Verbänden die Aufbauarbeit des Nationalsozialismus, es geht um Sein und Nichtsein des deutschen Volkes.“ Gerade aber das Judentum müsse besonders bekämpft werden, da es viel Unheil über Deutschland gebracht habe. Am Ende schwor der Redner alle auf Adolf Hitler ein und endete mit den eindeutigen Worten: „Der Kampf geht unvermindert weiter, bis zur völligen Lösung.“147 Zwar sprachen die Nationalsozialisten erst seit Beginn der 1940er-Jahre von der „Endlösung der Judenfrage“, womit sie noch die staatlich organisierte Vertreibung der Juden meinten – erst mit dem Angriff auf die Sowjetunion im Juni 1941 und spätestens nach der Wannsee-Konferenz 1942 etablierte sich die „Endlösung“ als Tarnbegriff für den Massenmord an den europäischen Juden.148 Nichtsdestotrotz war der Wesensgehalt von der „völligen Lösung“ in der Rede auf der NSDAP-Kundgebung 1935 unmissverständlich radikal und allen Beteiligten klar.

Wer sich nicht mehr fähig fühlte, in der SS dem Regime zu dienen, konnte bis Kriegsbeginn jederzeit um eine „ehrenvolle“ Entlassung bitten. Sie hatte keine negativen Folgen und Tausende nutzten diese Möglichkeit.149 Doch weder Reue vor den begangenen Taten noch Furcht vor zukünftigen „Verpflichtungen“ drängten Adolf Haas, die SS zu verlassen. Im Gegenteil: Er half weiterhin bei der Verfolgung und Ausgrenzung von Juden und anderen „Staatsfeinden“, seit April 1936 vor allem in Wiesbaden, wo er den I. Sturmbann der 78. SS-Standarte übernahm. Seine Familie begleitete ihn zum neuen Dienstort. Mit seiner Frau, seiner neunjährigen Tochter und seinem zweijährigen Sohn zog er Mitte April in die Villa seiner SS-Standarte in der Walkmühlstraße 31. Wenige Tage später kam seine zweite Tochter zur Welt.150

Die nationalsozialistische Weltanschauung habe er „sehr gut mit Herz und Verstand“ verinnerlicht und sein Wille sei „fest und rücksichtslos gegen sich und andere“, schrieben seine Vorgesetzten ohne Beschönigungen in einem Bericht vom Juni 1936. Haas sei ein „guter Kamerad“, aber auch ein „Draufgänger“, „gerade, derb, leicht erregbar und zornig“ – genau die Eigenschaften, die ihn für seine späteren Aufgaben qualifizierten.151 Man war zufrieden mit ihm und beförderte den „treuen und pflichteifrigen SS-Führer“ am 13. September 1936 zum Sturmbannführer.152 Damit war er in die Dienstgruppe der Stabsoffiziere aufgestiegen, vergleichbar mit einem Major der Wehrmacht. Sein neuer Kragenspiegel – links das Emblem der SS, die Siegrune, rechts ein Abzeichen mit vier kleinen Rechtecken – zeigte jedem seinen Rang, war aber auch ein Zeichen für seinen raschen Aufstieg. Weiter nach oben ging es auf der Karriereleiter aber zunächst nicht mehr.

2.5 Der Überschätzte: Karrierestillstand und mangelhafte Leistungen in der „SS-Führerschule Dachau“, 1937

Im Frühjahr 1937, als seine erste Tochter mit zehn Jahren beim Jungmädelbund aufgenommen wurde, versetzte man den Familienvater von Wiesbaden nach Westerburg, etwa 15 Kilometer südöstlich von Hachenburg. In Westerburg sollte Haas ab dem 10. März den Führer des III. Sturmbanns der 78. Standarte ablösen, der beruflich genau die entgegengesetzte Entscheidung getroffen hatte. Er könne den Sturmbann nicht mehr führen, weil er „beruflich verhindert“ sei, und habe deswegen „um seine Enthebung gebeten“.153 Er entschied sich damit für seinen Beruf und gegen eine „Karriere“ in der SS – für Haas war das keine Option.

In seinem neuen Amtsgebiet griff Sturmbannführer Haas durch, im Sommer 1937 aber zunächst bei seinen eigenen Männern. Die katholische Gemeinde hatte im benachbarten Betzdorf, etwa 18 Kilometer nördlich von Hachenburg, eine Prozession durch die Straßen organisiert, bei der auch einige SS-Männer mitgelaufen waren. Das wurde im „Schwarzen Orden“ gar nicht gern gesehen, deren Führer die Kirche sowohl institutionell als auch moralisch als Konkurrenten sahen. Das machte auch das „Schwarze Korps“, das kirchenfeindliche Kampf- und Werbeblatt der SS, regelmäßig deutlich. Ob sie es denn nicht gelesen hätten, fragte Adolf Haas die SS-Männer, als er sie im Juli zu ihrer Teilnahme an der Prozession vernahm. „Weltanschaulich sind dieselben garnicht in Ordnung“, meldete Haas nach seinen ersten Verhören.154 „Zu retten ist an diesen nichts mehr.“ Seiner Meinung nach könne hier in dem betreffenden SS-Sturm nur „die rücksichtslose Ausmerzung aller schädlichen Elemente wieder Ordnung schaffen“. Nach vier weiteren Verhören empfahl er, zwei der SS-Männer, die „nicht mehr tragbar“ seien, aus der SS auszuschließen. Bei den anderen zwei schlug er vor, sie „gelinder zu bestrafen, da diese Beiden noch zu brauchbaren SS-Männern erzogen werden können bezw. nur unüberlegt oder aus Rücksicht auf die Angehörigen an der Veranstaltung teilgenommen haben“. Einer von ihnen hatte überzeugend behauptet, er habe sich längst über die Kirche „die richtige, nämlich nationalsozialistische Vorstellung darüber gemacht“ und sogar „meine Braut“ von „dem kath. Glauben fortgebracht“. So vorbildlich war nicht einmal sein vorgesetzter SS-Führer. Noch im August 1937 gab Adolf Haas an, er sei „evangelischer Konfession“.155 Erst seit Jahresende antwortete er auf die „Gretchenfrage“ mit „gottgläubig“, so wie es der Reichsführer-SS seit November 1936 wünschte, und überzeugte auch seine Frau, aus der evangelischen Kirche auszutreten.156

Trotz seiner Mühen um die „rücksichtslose Ausmerzung aller schädlichen Elemente“ in der Allgemeinen SS, war die neue Stelle in Westerburg eine Sackgasse. Drei Jahre lang blieb Adolf Haas ohne Beförderungen. Seine „Karriere“, die so gut und schnell begonnen hatte, kam zum Stillstand. Wieso ?

 

Auf einem Sportlehrgang des SS-Oberabschnitts Rhein am 21. September 1937 erwarb er das SA-Sportabzeichen in Silber und damit auch automatisch die Prüfberechtigung für seinen Sturmbann.157 Besonders stolz konnte er darauf jedoch nicht sein. Das SA-Sportabzeichen galt in der SS als verhältnismäßig einfach, zumal es in der SA sogar Pflicht war. Bereits 1935 hatte Heinrich Himmler den dringenden Wunsch geäußert, jeder SS-Mann unter 50 Jahren solle diese Prüfung absolvieren, die natürlich vor allem vormilitärischen Charakter hatte. Ein paar Wochen nach dem Lehrgang notierten Haas‘ Vorgesetzte zudem, er habe „wenig Sport getrieben“ und sei „schwerfällig“.158 Sie stellten auch seine sonstigen Fähigkeiten Ende 1937 auf eine harte Probe. Man wollte sehen, ob er überhaupt für „höhere Dienststellen“ tauge. Immerhin stieg mit den Dienstgraden auch die Verantwortung, Kenntnisse an die untergebenen SS-Männer kompetent weiterzugeben. Bereits 1935, als Haas hauptamtlicher Führer wurde, hatte der SS-Oberabschnitt Rhein gemahnt: „Führer sein heisst Vorbild sein! Lehren bedingt eigenes Können.“159

Neben militärischen und wehrsportlichen Übungen stand vor allem die „weltanschauliche Schulung“ im Mittelpunkt der SS-eigenen Aus- und Fortbildung. „Sie durfte im Dienst keiner Einheit fehlen“, schreibt der Historiker Hans-Christian Harten.160 Später, während des Krieges, sei die SS-Ideologie der Kitt gewesen, der die verschiedenen Teile der SS zusammenhielt und aus ihr einen Bund der Täter formte. Ein zentraler, umfangreicher Schul- und Ausbildungskomplex war seit 1933 im nahen Umfeld des Konzentrationslagers München-Dachau entstanden – Himmlers „Modelllager“ für das KZ-System, sowohl für den Lageraufbau und die grausame Behandlung von Häftlingen als auch für den Drill der Wärter.161 Passend dazu eröffnete die Allgemeine SS auf Himmlers Befehl ab 1937 die „SS-Führerschule Dachau für Führer von Sturmbannen und Standarten“.162 Damit verbunden war eine Professionalisierung der Führungskultur. Für den ersten Lehrgang im Oktober sollten die Führer der SS-Oberabschnitte aus ihren Reihen Führer vorschlagen und für jeden eine „eingehende Beurteilung“ abgeben.163 Plötzlich war Schluss mit den frisierten Beurteilungen für Adolf Haas, mit denen seine Vorgesetzten ihn so schnell hatten aufsteigen lassen. Am 4. Oktober 1937 relativierte der Führer der 78. SS-Standarte als Erster die bisherigen Urteile:

„SS-Sturmbannführer Haas ist als Führer eines Sturmbannes im allgemeinen geeignet. Es hat sich jedoch erwiesen, dass er in der Führung eines ländlichen Sturmbannes besser ist. Im Schriftwechsel sind seine Leistungen nicht immer ausreichend; hier bedarf er dringend der Unterstützung schriftgewandter Referenten. Seine Verwendung in höheren Stäben oder überhaupt höheren Dienststellen ist nicht gegeben. Bei den wachsenden Anforderungen, die an einen SS-Führer gestellt werden müssen, wird jedoch in späterer Zeit auch seine Belassung in der jetzigen Dienststellung in Frage gestellt sein. Sein Können liegt im besonderen in der Beherrschung der Kommando-Sprache sowie im Exerzierdienst; sein Auftreten führt leicht zu einer Überschätzung seiner Person und seines Könnens.“164

Eine vernichtende Einschätzung. Der Führer des SS-Oberabschnitts Rhein stimmte dieser zu, gab aber Adolf Haas eine Chance, sich zu bewähren.165 „Als ich in der Standartenpost einen Brief vorfand, ‚Absender RFSS‘ [Reichsführer-SS], war mein Gedanken, was ist denn jetzt wieder los?“, erinnerte sich Haas später. „Seinen Inhalt, den ich zwei bis dreimal durchgelesen hatte, machte mir so langsam klar, daß ich nach München-Dachau in einen Kursus mußte.“166 Am Sonntag, dem 10. Oktober 1937 kam er abends mit 29 anderen SS-Führern aus dem ganzen Reich in Dachau an. Er hatte ein „allgemeines Kasernenleben“ erwartet, „wie immer auf einem Lehrgang. Aber wir sollten uns sehr geteuscht haben. Denn wir fanden ein schönes neues Heim vor, wo wir uns sehr wohl fühlen konnten. Die Zimmer sehr sauber, alles neue Möbel. Wasser alles da. Und was ganz groß war, nur mit drei Mann belegt.“ Am nächsten Tag ging es los.

Die „FM-Zeitschrift. Monatsschrift der Reichsführung SS für fördernde Mitglieder“ informiert 1938 über die neu gegründete SS-Führerschule in Dachau.

Der Lehrplan sah sieben Unterrichtseinheiten vor, fünf davon waren „wehrsportlicher“ und militärischer Natur, die anderen beiden umfassten eine ideologische und verwaltungstechnische Weiterbildung: In der „Sportausbildung“ gab es nicht nur Übungen und Wettkämpfe, sondern auch Vorträge über deren „Wert und den Sinn“.167 Sturmbannführer Haas habe zwar Mut, sei aber „schwerfällig“, befanden die Lehrgangsleiter.168 Seine „körperliche Härte“ sei gerade einmal „befriedigend“ und auch seine „theoretischen Kenntnisse über Durchführung und Anlage von Sportübungen“ mangelhaft. Beim „Geländedienst“ sahen die Noten nicht besser aus: Seine bisherige Ausbildung stellte sich als durchschnittlich heraus. Nur „befriedigend“ konnte er das Gelände beurteilen und für Manöver ausnutzen, das „Entfernungsschätzen und Zurechtfinden“ bestand er gerade noch mit „genügend“, ebenso wurden seine theoretischen Kenntnisse zu den Wehrsportübungen eingeschätzt. Haas‘ Fähigkeiten lägen „im besonderen in der Beherrschung der Kommando-Sprache sowie im Exerzierdienst“, hatte der Führer der 78. SS-Standarte im Vorfeld des Lehrgangs geurteilt – doch auch das wurde hier revidiert. Zwar zeigte er sich beim „Einordnen in der Front“ durchaus „willig“. Die Kommandosprache und die Befehlswiedergabe beherrschte er aber wiederum nur „befriedigend“. Beim „Auftreten vor der Front“ zeigte er trotz seiner Fähigkeit, über seine Schwächen hinwegzutäuschen, „teilweise Mangel an Vertrauen zum eigenen vorhandenen Können“. Wie er sich beim „Schiessdienst“ mit Kleinkaliberwaffen und Pistole anstellte, notierten die Lehrgangsleiter nicht. Am Ende des Lehrgangs mussten sie sich aber wohl die Frage stellen, wie er mit diesen Fähigkeiten überhaupt zum SA-Sportabzeichen gekommen war. Jüngeren SS-Männern konnte es bei solchen Gelegenheiten wieder abgenommen werden. Haas, der während des Lehrgangs am 14. November 1937 seinen 44. Geburtstag feierte, durfte das einmal erworbene Abzeichen aus Altersgründen allerdings behalten.

Immerhin beim „Inneren Dienst“ konnte er ein wenig mit „praktische[n] Erfahrungen“ im Schriftverkehr glänzen, wenn auch „Form und Inhalt“ den Anforderungen nicht entsprachen. „Mangelhaft“ waren dagegen seine Kenntnisse im Disziplinarwesen. Unter einem Test, der ebenfalls mit „mangelhaft“ bewertet wurde, notierte sogar ein Prüfer: „Die schlechte Bearbeitung kann ihren Grund jedoch auch darin haben, dass Verfasser mit dem Schreiben offensichtlich auf Kriegsfuss steht.“169 Seine Rechtschreibung hatte sich seit der Gefangenschaft im Ersten Weltkrieg, in der er angeregt, aber ohne Sorgfalt Tagebuch geschrieben hatte, noch weiter verschlechtert. Das zeigte sich vor allem im weltanschaulichen Unterricht.

Noch vor einem Jahr hatten Haas‘ Vorgesetzte geschrieben, er habe die nationalsozialistische Weltanschauung „sehr gut mit Herz und Verstand“ verinnerlicht – Haas‘ Leistungen in der letzten Unterrichtseinheit straften sie Lügen. Seine Vorkenntnisse entsprächen gerade einmal dem „Durchschnitt“ und es fehlen ihm „sichere Grundlagen“, sagten die Prüfer.170 Sie unterrichteten auf Anweisung Himmlers anhand der „SS-Leithefte“, sozusagen ein Wissens- und Unterhaltungsmagazin für den einfachen SS-Mann. Seit 1935 vermittelten die „Leithefte“ monatlich Propaganda zu verschiedenen Themen wie „Rassenhygiene“ und Freimaurerei, gaben aber auch Tipps für Feiern und Literatur zur Hand und unterhielten die Leser mit Kurzgeschichten von heldenhaften Frontsoldaten und Rubriken wie „Hier lacht der SS-Mann“.171

Das erworbene „Wissen“ wurde während des Lehrgangs immer wieder in Vorträgen und schriftlichen Prüfungen abgefragt. Bis zu Haas‘ Zeit in Dachau gewähren die Akten vor allem einen bürokratischen Blick von außen auf seinen Karriereweg. Abgesehen von seinem Tagebuch aus dem Ersten Weltkrieg und zwei Lebensläufen sind kaum aussagekräftige Dokumente erhalten geblieben, die Adolf Haas selbst verfasste. Dass fünf weitere solcher „Egodokumente“ heute einen persönlicheren Zugang zu Adolf Haas ermöglichen, ist den Prüfern der Führerschule zu verdanken. Wohl als Referenz für ihre Beurteilungen schickten sie seine Prüfungsaufsätze an das SS-Personalhauptamt. Von da aus gelangten sie in seine Personalakte und zeugen von einem äußerst schlichten Gemüt und einer mangelnden Bildung. So versuchte er sich am 17. Oktober an einem Aufsatz zum Thema „Die Germanen vor der Wanderung und Folgen der Wanderung“.172 Heinrich Himmler war vom Germanenkult geradezu besessen. Der Nationalsozialismus, meinte er, könne und müsse das deutsche Volk wieder zu ihrem wahren germanischen Wesen zurückführen.173 In Dachau sollte Adolf Haas diesen Ursprung erklären. Zwar zählte er die Stämme der West- und Ostgermanen auf, erläuterte kurz die Tugenden der Germanen als „Volk ohne Raum“ und verwies im letzten Satz auch auf die Christianisierung der Germanen, die Himmler als die Ursünde des deutschen Mittelalters betrachtete. Die schwammigen und fehlerhaften Ausführungen reichten jedoch bei Weitem nicht aus. „Völlig ungenügend“ vermerkten die Prüfer neben der Note „4“ unter dem Text. Fünf Tage später bekam Haas eine neue Chance, als er über „Staat und Wirken Heinrichs I. u. Adolf Hitler“ schreiben sollte. 1936 hatte Heinrich Himmler zum tausendsten Todestag von Heinrich I. an seinem Grab im Dom von Quedlinburg eine Rede gehalten.174 Den Wortlaut versuchte Adolf Haas wiederzugeben:

„Heinrich I. ist im Jahre 919 als Herzog der Sachsen deutscher König geworden. Das Reich bestand nur noch dem Namen nach. Das ganze Reich war im Verlaufe von 3 Jahrhunderten total darniedergegangen, unter dem schwäschlichen Nachfolger Karl des Franken [Karl der Große]. Er [Heinrich I.] lehnt[e] die Krönung durch die Kirche ab, denn er hatte eingesehen, daß die Kirche der Untergang der Germanen war. Das Bauerntum lag ganz darnieder, welches doch der Grundstock eines Volkes sein muß. Heinrich I. war es darum zu tun, für sein Volk die Lebensmöglichkeit zu schaffen, und er schaffte es. Sehen wir Adolf Hitler[,] er fand als einfacher Mann einen ganz danieder liegenden Staat, den die vorhergehene Regierung total zu Grunde gerichtet hatte.“175

Nach kaum einer Seite brach er mitten im nächsten Satz über das Bauerntum ab und schloss, wohl aus Zeitnot, hastig mit dem Fazit: „Und beide haben es fertig gebracht, Heinrich I u. Adolf Hitler eine neue deutschen Heim-Staat zu schaffen.“ Am Ende bekam er wieder nur ein „ungenügend“ als Note. Auch beim Vortragen von weltanschaulichen Themen benahm er sich „schwerfällig“.176 Allerdings vermerkten die Prüfer nach vier Wochen, gewiss mit Eigenlob, dass seine Einstellung zur NS-Weltanschauung „durch den Lehrgang stark gefördert“ wurde.177 Am vorletzten Tag des Lehrgangs wurden die Teilnehmer gebeten, dieses Mal ohne Benotung, ihre „Erfahrungen und Wünsche“ aufzuschreiben. Haas schlug vor, jedem Sturmbann eine „hauptamtliche Schreibkraft“ zur Verfügung zu stellen, „um den Stabsscharführer zu entlasten“.178 „Entlasten“ wollte er, der ja laut einem Prüfer „mit dem Schreiben auf Kriegsfuss stand“, wohl vor allem sich selbst.

Am Mittwoch, den 10. November 1937 ging es nach Hause. Indessen schrieben die Lehrgangsprüfer die abschließenden Beurteilungen. Lob bekam Adolf Haas nur wenig, „gut“ seien nur seine Sauberkeit sowie sein „Benehmen im Aussendienst“.179 Seine Haltung sei „soldatisch“, könnte aber „straffer sein“, seine „körperliche Rüstigkeit“ aber immerhin „trotz seines Alters befriedigend“. Das Verhältnis zu den Kameraden sei „zurückhaltend“, das zu seinen Vorgesetzten „abwägend“ – aber er „fügt sich in den Rahmen“. Sein Wille sei zwar „zäh“, doch sein Auffassungsvermögen „begrenzt“. Daher müsse er „regsamer“ werden und „sich noch manches aneignen“, um die „geistige Frische“ zu erreichen, die man von einem höheren SS-Führer erwarte. Immerhin sehe er nun die „Notwendigkeit der eigenen Weiterbildung ein“. Trotz seiner durchschnittlichen bis mangelhaften Leistungen hatte Haas den Lehrgangsleitern offenbar weismachen können, er leide unter wirtschaftlichen „Schwierigkeiten“ und sei daher „verbittert“. In der gesamten Personalakte findet sich jedoch kein einziger Hinweis darauf, dass Haas Schulden hatte oder dass sein verhältnismäßig gutes Gehalt nicht ausreichte. Im Januar 1938, also kurz nach seiner Rückkehr aus Dachau, bezog er ein Bruttoeinkommen von 527 RM, mehr als drei Mal so viel wie der durchschnittliche Bürger.180 Damit konnte er seiner Familie ein neues Eigenheim in „Hachenburg, Siedlung“ in der Liegnitzer Straße finanzieren, ganz in der Nähe vom jüdischen Friedhof und dem ehemaligen Judenfriedhofsweg, den er 1933 in Dehlinger Weg hatte umbenennen lassen.181

 

Die Lehrgangsleiter aber schluckten 1937 seine Ausreden und notierten deswegen wohl auch einigermaßen gnädig in der „Gesamtbeurteilung“: „Genügt den bisherigen Anforderungen zur Führung eines Sturmbannes. Ist durch den Lehrgang stark beeinflusst und zu einer höheren Lebens- und Dienstauffassung angeregt worden.“ Weder als Referent im inneren Dienst, noch als Stabsführer, für das Rasse- und Siedlungshauptamt oder den Sicherheitsdienst (SD), geschweige denn für höhere Dienststellen sei er „vorerst“ geeignet. Damit bestätigte der einmonatige Lehrgang genau das, was der Führer der 78. SS-Standarte bereits kurz vorher festgestellt hatte. Man schlug vor, er solle den Lehrgang 1939 wiederholen – dazu kam es jedoch nie.

Keineswegs war er der einzige, der überfordert gewesen war.182 Tatsächlich machte von den 29 anderen Teilnehmern später keiner eine große Karriere.183 Ganz anders Adolf Haas, auch wenn er zwei Jahre lang hart dafür arbeiten musste.

2.6 Der Trommler: „Polizeiverstärkungen“ in der Sudetenkrise, 1938

Das neue „Großdeutschland“ reichte dem „Führer“ nicht. Er wollte ein Großgermanisches Reich, das über den europäischen Kontinent herrschen sollte. Und er wollte nicht warten. Der erfolgreiche, unerwartet leichte „Anschluss“ seiner österreichischen Heimat im März 1938 hatte Hitler in seinem Machtinstinkt bestärkt und zudem den verachteten „slawischen“ Nachbarstaat Tschechoslowakei aus militärischer Sicht geschwächt. Der „Führer“ war nicht nur bereit, für sein neues Ziel einen Krieg zu riskieren – er wollte diesen Krieg unbedingt. Einen Krieg, in der sich die „deutsche Rasse“ vereinen und ihren Kampfeswillen beweisen konnte. Nicht nur gegen die Tschechoslowakei, sondern zunächst auch gegen deren Verbündete Frankreich und Großbritannien und später gegen das restliche Europa und die Sowjetunion. Vorwand für die gewollte Eskalation boten ihm die etwa drei Millionen tschechischen Bürger im Sudetenland, die sich als Deutsche sahen und von denen er einige Tausend bei seiner Abschlussrede auf dem Nürnberger Parteitag am 12. September 1938 zur Rebellion anstacheln konnte.184 Alles musste so aussehen, als ob er den vermeintlich gefährdeten Sudetendeutschen nur zu Hilfe eilen wollte. Um den Konflikt zu schüren, ließ Hitler insgeheim etwa 40.000 geflüchtete Aufständige unterstützen. Waffen erhielten sie von der Wehrmacht, Verstärkung von der SA und der SS. Nach dem Probelauf beim „Anschluss“ Österreichs machte die Reichsführung-SS im Herbst 1938 zum ersten Mal einen größeren Teil der Allgemeinen SS mobil.185

Am Ende der „Sudetenkrise“ erkauften sich Frankreich und Großbritannien mit dem Münchener Abkommen vom 29. September 1938 einen vorläufigen Frieden in Europa. Den Preis für diesen Deal zahlten nicht sie, sondern die Tschechoslowakei, die das Sudetenland an Deutschland abtreten musste, ohne dass man sie überhaupt an den Verhandlungen beteiligt hatte. Nach dem Einmarsch der Wehrmacht in das Sudetenland am 1. Oktober ehrte die Reichsführung mehr als 1,1 Millionen Deutsche aus allen Schichten und Berufen für ihre „Verdienste um die Wiedervereinigung der sudetendeutschen Gebiete mit dem Deutschen Reich“ mit einer dunkelbronzefarben getönten „Sudeten-Medaille“.186 Auch SS-Sturmbannführer Adolf Haas bekam diese Auszeichnung.187 Besonders wertvoll war sie nicht. Sie diente vor allem dem Zweck, die Annexion des Sudetenlandes und die „Zerschlagung der Rest-Tschechei“ zu legitimieren. Die Geehrten wurden praktisch zu Mittätern gemacht. Einer der prominenteren Träger der Medaille war Hans Globke, damals Ministerialrat im Reichs- und Preußischen Ministerium des Innern und später Staatssekretär sowie engster Vertrauter von Bundeskanzler Adenauer. Als Jurist verfasste Globke nicht nur den regierungsoffiziellen Kommentar zu den „Nürnberger Rassegesetzen“, sondern auch Gesetze und Verträge in Folge des „Anschlusses“ Österreichs, des Münchener Abkommens sowie der Besetzung der Tschechoslowakei.188 Auch Adolf Haas schoss Ende 1938 weder eine einzige Kugel auf tschechoslowakische Soldaten, noch war er überhaupt in der Nähe des Sudetenlandes. Die „Sudeten-Medaille“ bekam er als bürokratischer Trommler.

Seit 1936 hatte Hitler immer schärfer gefordert, die Wehrmacht „einsatzfähig“ und die Wirtschaft „kriegsfähig“ zu machen. Die SS trug ihren Teil dazu bei. Die SS-Oberabschnitte begannen zusammen mit dem SS-Hauptamt Vorbereitungen zu treffen, um im Fall einer Mobilisierung rasch „Polizeiverstärkungen“ aus der Allgemeinen SS heranzuziehen.189 Am 12. März 1938 forderte der Führer der 78. SS-Standarte Adolf Haas und zwei weitere Sturmbannführer auf, jeweils 80 Männer zwischen 25 und 35 Jahren zur „Verstärkung der SS-Totenkopfverbände (Polizeiverstärkung)“ zu rekrutieren, also unter anderem für das Wachpersonal der Konzentrationslager.190 Übereifrig meldete Haas nicht einmal zwei Wochen später, er könne neben dem Soll weitere elf Mann zur Verfügung stellen.191

Als die „Sudetenkrise“ durch deutsche Provokationen in der zweiten Septemberhälfte richtig in Fahrt kam und Hitler noch auf seinen lang ersehnten Krieg hoffte, ließ Himmler insgesamt etwa 14.000 SS-Männer zur „Polizeiverstärkung“ bzw. KZ-Wachablösung einberufen. Man erwartete eine große Anzahl neuer Häftlinge, egal ob es zum Krieg kommen würde oder nur zur Annexion des Sudetenlandes. Doch trotz aller Vorbereitungen und sogar eines eigenen „Führererlasses“ klappte es nicht so, wie Himmler es sich vorgestellt hatte. Die Wehrbezirkskommandos stellten sich stur und Hunderte bis Tausende SS-Männer drückten sich entgegen ihres Treueschwurs vor dem unattraktiven KZ-Dienst, indem sie behaupteten, sie seien gesundheitlich angeschlagen oder wehrwirtschaftlich „unabkömmlich“ (uk). Am Ende fehlten der SS-Führung von 5000 erwarteten, älteren SS-Angehörigen für die KZ-Bewachung immerhin 1500. Himmler raste vor Wut und wollte alle diese „Knülche“ aus der SS verbannen.192

Adolf Haas hatte im März 1938 zwar mehr als ausreichend SS-Angehörige für die „Polizeiverstärkungen“ rekrutieren können. Anfang September 1938 meldete er aber, dass er seine Männer generell kaum angemessen ausrüsten konnte. Es mangelte an fast allem: Maschinengewehre, Pistolen, Patronentaschen, Stahlhelme. Einzig ein paar Dutzend Karabiner waren „brauchbar“.193 Auch ging er selbst nicht mit bestem Beispiel voran, als im September weitere Männer eingezogen werden sollten. Ganz oben auf einer Liste von 19 SS-Angehörigen seines Sturmbanns, die im Kriegsfall „unabkömmlich“ waren, prangte sein eigener Name. Am Ende des Dokuments räumte er ein: „Die verlangten Zahlen konnten nicht erreicht werden, da weitere Männer nicht ausfindig gemacht werden konnten.“194

Als sich derartige Probleme im ganzen Reich abzuzeichnen begannen, forderte die SS-Führung von den Oberabschnitten, auf eigene Faust beim Rekrutierungsstau nachzuhelfen. Der Führer des SS-Oberabschnitts Rhein mahnte Haas Ende September persönlich: „Sie haben sich unter Zurückstellung aller übrigen Arbeiten sofort für die Durchführung der Freistellung für Polizeiverstärkungen einzusetzen.“195 Von den Arbeits- und Wehrmeldeämtern habe er sich „keinesfalls abweisen zu lassen“. Zwar geben die überlieferten Akten keine Auskunft darüber, wie genau Haas „aller etwa auftretenden Schwierigkeiten Herr werden“ sollte. Dass er mit der „Sudeten-Medaille“ geehrte wurde, zeigt jedoch, dass er sie zur Zufriedenheit seiner Vorgesetzten „bewältigte“ – und zwar nicht nur während der „Sudetenkrise“, sondern auch in den folgenden Monaten. Denn Hitler hatte seinen 1938 gewollten Krieg nur aufgeschoben. Bis zum Sommer 1939 sorgte Adolf Haas in seinem Sturmbann dafür, dass aus den Jahrgängen 1901 bis 1912, die keinen Wehrdienst mehr hatten leisten müssen, immerhin jeder Zweite entweder bei der Wehrmacht oder bei den SS-Totenkopfverbänden „kurzfristig ausgebildet“ wurde.196 Auch warb er bei seinen Männern weiter für den KZ-Dienst. Auch dieser sei die Pflicht, „die sie als Angehörige der SS übernommen und zu erfüllen haben, genau so, als wenn sie ihrer Militärdienstpflicht bei den Truppeneinheiten der Wehrmacht genügen“, schrieb er an seine SS-Stürme.197