GEWALT, GIER UND GNADE

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Der alte Backofen im Keller der Perlengasse 2 in Hachenburg ist erhalten geblieben. Hier arbeitete Adolf Haas, bis er seine Bäckerei Mitte 1935 für eine hauptamtliche Tätigkeit bei der SS aufgab.

Seit dem Winter 1928/29 hatten sich wirtschaftliche und politische Probleme in der jungen Republik bereits abgezeichnet. Der New Yorker Börsencrash am 24. Oktober 1929 stürzte das kreditabhängige Deutschland vollends in eine Krise, von der vor allem die Parteien am linken und rechten Rand profitierten. Nach der Reichstagswahl am 14. September 1930 war Hitlers Partei mit 18,3 Prozent plötzlich die zweitstärkste hinter der SPD. Innerhalb kurzer Zeit verdoppelten sich die Mitgliedszahlen der NSDAP, Ende 1931 waren es über 800.000. Zu den „Braunen“ gehörte seit dem 1. Dezember 1931 auch Adolf Haas, NSDAP-Mitgliedsnummer 760.610. Ihren Sitz hatte die Hachenburger Ortsgruppe im „Braunen Haus“ am oberen Ende der Friedrichstraße, heute eine der schönsten Gassen der Stadt.82

Nach eigenen Aussagen hatte Adolf Haas „vor 1929 keiner politischen Partei angehört“.83 Einige seiner Hachenburger Nachbarn erzählten nach dem Krieg, dass er durchaus schon vor seinem Eintritt in die NSDAP politisch aktiv gewesen sei. Allerdings nicht auf der rechten, sondern auf der linken Seite: Er sei früher ein „fanatischer Kommunist“ gewesen, bevor er etwa 1930 eine „radikale Schwenkung zum Nationalsozialismus“ vollzogen habe – also genau in dem Jahr des ersten großen Wahlerfolgs der NSDAP in den Reichstagswahlen.84 Danach habe er „seine ehemaligen Gesinnungsgenossen in brutalster Weise bekämpft“. Dieser Gesinnungswandel mag radikal erscheinen, war aber kein Einzelfall. Hitler selbst diente nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, im Frühjahr 1919, als Soldat der sozialistischen Regierung der Münchener Räterepublik und wurde sogar in einen Soldatenrat gewählt. Nach der blutigen Niederschlagung der Räterepublik durch Reichswehr und Freikorps bemühte sich Hitler, alle Spuren seines sozialistischen Abenteuers zu beseitigen. Dafür trennte er sich nicht nur von linken Ideen, sondern bot sich auch der Reichswehr als V-Mann an und lieferte ehemalige Genossen ans Messer.85 Auf die Farce seines „nationalen Sozialismus“ fielen später schließlich auch Kommunisten rein.

Heinrich Schönker, der als Kind das „Aufenthaltslager Bergen-Belsen“ überlebt und den Kommandanten kennengelernt hat, schrieb in einem Brief: „Wenn damals die Kommunisten an die Macht gelangt wären, hätte Haas versucht, als Kommunist Karriere zu machen. Er war ein Mann ohne Rückgrat.“86 Da Adolf Haas erst ein Jahr nach dem Wahlerfolg der NSDAP in die Partei eintrat, gehörte er wohl tatsächlich zu den vielen „Konjunkturrittern“.87 Ihn trieb weniger eine politische Überzeugung als vielmehr das Bedürfnis, auf der Gewinnerseite zu stehen. Nicht zuletzt signalisierten die Nationalsozialisten, dass sie die ehemaligen, lang diffamierten und vernachlässigten Kriegsgefangenen als Frontsoldaten anerkannten. 1933 lud Hitler sie als Teil des „Frontsoldatentums“ zur „Mitarbeit am neuen Deutschland ein.“88 Der erfolglose Bäcker Adolf Haas wollte jedoch schon bald mehr sein als bloßer „Parteigenosse“. Ihn trieb es zu einem Arm der Partei, der wortwörtlich lieber zum Schlag ausholte als debattierte.

Hitlers Partei stützte sich seit Beginn ihres Aufstiegs auf zwei paramilitärische Organisationen: zum einen auf die „Sturmabteilung“, die SA. Die Schlägertruppe unterstand dem Reichswehr-Veteran Ernst Röhm, einem der ersten NSDAP-Mitglieder. Hitlers persönliche, loyale „Leib- und Prügelgarde“ wurden 1925 die „Schutzstaffeln, die SS. Die kleine Truppe blieb zunächst der Obersten SA-Führung unterstellt und im Schatten der weitaus größeren SA-Verbände, meint der Historiker Bastian Hein. Das habe sich erst geändert, als große Teile der nordostdeutschen SA 1930 und 1931 gegen Hitler und die aus ihrer Sicht „verbonzte“ Parteiführung aufmuckten. Hier konnte sich die SS erstmals als treue „Garde des Führers“ profilieren – und mit ihr Heinrich Himmler, seit 1929 Reichsführer-SS. Himmler sorgte seit Ende 1930 dafür, dass sich die Zahlen der SS-Männer von 3000 bis Anfang 1931 mehr als verdoppelten. Dabei setzte er nicht auf offene Werbekampagnen wie seine Vorgänger, sondern auf Image-Pflege. Durch zahlreiche Reden und Artikel baute er das Bild einer Truppe auf, die nur die gehorsamsten, die körperlich und geistig besten, die „rassisch“ überlegensten, und aufgrund ihrer Gewaltbereitschaft „männlichsten“ Deutschen aufnehme – der Beginn des Eliten-Mythos der SS.89

Obwohl Adolf Haas selbst kaum dem Ideal von Himmlers erträumter „Elitetruppe“ entsprach, zog ihn wohl genau dieses Image an. Kameradschaft hätte er auch in der weitaus größeren SA finden können. Bei den Aufgaben in der SS gab es keine großen Unterschiede zur SA, weder in der „Kampfzeit“ noch danach in der Phase der Machteroberung: Man prügelte sich mit den Gegnern der Partei, half bei der politischen Arbeit und betrieb Wehrsport.90 Auch eine bezahlte Stelle konnte die SS erst nach 1933 anbieten. Obwohl Adolf Haas in seinen Lebensläufen nie angab, warum er sich nicht für die bereits etablierte SA, sondern für die kleine SS entschieden hatte, lockte ihn wie Tausende andere sicherlich ihr elitärer Ruf.

Ab 1931 begann die SS auch in ländlichen Gebieten, nach dem Vorbild der SA komplexere Hierarchien aufzubauen: Die kleinste Einheit von mehreren Dutzend Mann war ein Sturm. Meist bildeten vier Stürme einen Sturmbann, je drei Sturmbanne eine Standarte, die wiederum in Abschnitte und Oberabschnitte zusammengefasst wurden. Der Westerwald zählte zum Gebiet des SS-Oberabschnitts „Rhein“ (später „Rhein-Westmark“), der seinen Sitz in Wiesbaden hatte. Noch vor der „Machtübernahme“ der Nationalsozialisten bewarb sich Adolf Haas am 1. April 1932 bei der Hachenburger SS. Nach einer Anordnung Himmlers mussten in der Regel alle Bewerber ab Januar 1932 eine Musterung bestehen, bei der ein SS-Arzt über 50 Kriterien bewertete, darunter Größe, Gewicht, Zustand der Muskulatur, Intelligenz, Temperament oder Geltungsbedürfnis. Die „Anwärter“ schafften sich danach eine Uniform an und begannen ihren Dienst auf Probe, bis der Bescheid kam.91 Haas musste gerade einmal eine Woche warten: Ab dem 8. April 1932 war er offiziell ein SS-Mann mit der Nummer 28.943. Mit 38 Jahren zählte er nun im wahrsten Sinne zu den „Alten Kämpfern“ der Partei.92

Mit dem Bedürfnis, der „leistungsfähigsten und opferwilligsten Propagandaorganisation“ anzugehören, verpflichteten er und andere sich bewusst und bereitwillig, die Ziele ihres „Führers“ radikal und ohne Widerspruch zu unterstützen – bis in den Tod. „SS-Mann, Deine Ehre heißt Treue“, lautete ihr Eid. „Die so konzipierte ‚Sippengemeinschaft‘ machte die Schutzstaffel zur radikalsten rassistischen Tat- und Täterorganisation des Nationalsozialismus“, schreibt Bastian Hein.93 Die SS übernahm nicht nur bei der „Verteidigung“ der nationalsozialistischen Bewegung gegen politische Gegner eine Schlüsselrolle, sondern vor allem bei den „volkszüchterischen“ Aufgaben der „Ausmerze“: bei der Verfolgung und Ermordung von Homosexuellen, „Erbkranken“, „Asozialen“, Zeugen Jehovas, von Sinti und Roma – oder beim Holocaust.

2. Der Aufsteiger

Karriere in der nationalsozialistischen Bewegung und Allgemeinen SS

1932–1940

Westerwald, Mainz, Wiesbaden

2.1 Der Abgeordnete: Kurze politische Karriere in der Hachenburger NSDAP, 1932–1933

Wo er sein Kreuz setzte, war klar. Im Frühjahr 1932, als Adolf Haas in die SS eintrat, durften die Deutschen zum letzten Mal in ihrer Geschichte direkt ihr Staatsoberhaupt wählen. Bereits bei dieser Reichspräsidentenwahl gaben in Hachenburg 42,8 Prozent, darunter sicher auch Haas, ihre Stimme dem NSDAP-Vorsitzenden Adolf Hitler. Das waren sechs Prozent mehr als im Reichsdurchschnitt. Durch die Unterstützung von SPD, Linksliberalen und der Zentrumspartei ging zwar der alte Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg als Sieger hervor. Es deutete sich aber schon an, was Konrad Adenauer später über Hachenburg und den Westerwald bemerkte: „Die ganze Gegend war durch und durch nationalsozialistisch.“94 Die Wahlergebnisse der NSDAP in den frühen 1930er-Jahren zeigten, dass bald „über die Hälfte der wahlberechtigten Personen in Hachenburg entweder Sympathien für die neuen Machthaber hegte oder zumindest irgendwie ‚Hoffnungen‘ auf die Nationalsozialisten setzte, die damals schwierigen wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse zu ändern“, schreibt der Stadtchronist Stefan Grathoff.95

Nach einigen gescheiterten Kabinetten infolge der Reichstagswahl im November 1932 ernannte Reichspräsident Hindenburg am 30. Januar 1933 Adolf Hitler zum Reichskanzler – der Beginn einer zwölfjährigen Diktatur, die Deutschland und die Welt für immer veränderte. Trotz seines legalen Wegs zur Macht, hatte Hitler immer offen über seine radikalen Pläne gesprochen und geschrieben: Den Marxismus und die Juden, die er zu einem „jüdisch-bolschewistischen“ Feindbild verknüpft hatte, werde er „beseitigen“, Deutschland wieder aufrüsten, die Schmach des Versailler Friedensvertrages revidieren und „mit dem Schwert“ den vermeintlich nötigen „Lebensraum im Osten“ erobern.96 Wenige nahmen ihn ernst und viele – von konservativ bis links – unterschätzten ihn, seinen Rassenwahn, seine Machtgier und den sozialen Unmut, der Hitlers „Bewegung“ trug. Innerhalb kürzester Zeit und ohne große Gegenwehr verhängten die Nationalsozialisten einen permanenten Ausnahmezustand, hoben die Grundrechte auf, schalteten ihre Gegner mit scheinlegalen Maßnahmen und Gewalt aus und übernahmen schrittweise die staatlichen Machtinstrumente. Und Adolf Haas half tatkräftig mit.

 

1. Mai 1933: Hunderte Hachenburger heben am Tag der nationalen Arbeit auf einer Kundgebung der Nationalsozialisten auf dem Alten Markt den rechten Arm zum „Deutschen Gruß". Der national umgedeutete Feiertag ging im ganzen Reich mit der Zerschlagung der freien Gewerkschaften einher.

Eine Woche nach der folgenden Reichstagswahl am 5. März 1933 – der letzten, bei der noch mehr Parteien als die NSDAP auf dem Wahlzettel standen – gab es in Hachenburg Kommunalwahlen. Für die „Bürgerliste/Einheitsliste“ unter der Führung der nationalsozialistischen Partei kandidierte zum ersten Mal auch der Bäcker Adolf Haas. Seine SS-Männer schickte er los, um Flugblätter in ausgewählte Briefkästen zu werfen: „An alle jüdischen Wähler! Es wird dringend geraten, den Kommunalwahlen am Sonntag fernzubleiben.“97 Mit Erfolg: Kurz darauf stimmten am 12. März 54 Prozent der Hachenburger Wähler für die NSDAP.98 Einen Tag später feierten SS, SA und die Vereinigung „Stahlhelm“ ihren Wahlsieg. Sie zogen zur Schule, hissten dort die Hakenkreuz- sowie die schwarz-weiß-rote Reichsflagge und verbrannten später die zwei alten schwarz-rot-goldenen Fahnen auf dem Marktplatz.99 Ende März schickte die NSDAP-Ortsgruppe einen neuen Vertreter in die Stadtverordnetenversammlung – wahrscheinlich nicht, weil er besonders geeignet war, sondern weil es noch keine großen Alternativen gab. Engagement konnte man ihm aber nicht abstreiten.

Bereits an seinem ersten Tag als Stadtverordneter der NSDAP stellte Adolf Haas am 28. März 1933 gleich zwei Anträge. Der erste, ein „Dringlichkeitsantrag“, bei dem es formal nur um die Zahl der Vertreter des Bürgermeisters und der Schöffen ging, wurde vertagt. Nachdem er zum Mitglied der Rechnungsprüfungskommission und der Kommission für Elektrizitäts- und Wasserversorgung gewählt wurde, stellte er am Ende der Sitzung einen banalen, aber weitaus folgenschwereren zweiten Antrag: Er forderte, die „von einem hiesigen israelitischen Geschäftsinhaber beschaffte Hakenkreuzfahne nicht mehr auf dem Rathaus zu hissen“.100 Bürgermeister Dr. Alexander Stollenwerk (Deutsche Zentrumspartei) und andere besonnene Stadtverordnete erklärten daraufhin, dass zwei Fahnen bei zwei Hachenburger Geschäftsinhabern beschafft worden waren, von denen keiner ihres Wissens Jude sei. Doch Vernunft half hier nicht. Auf Druck der NSDAP holte man die fragliche Fahne ein und übergab sie Anfang April der NSDAP-Ortsgruppe.101 Dabei blieb es natürlich nicht.

Während der Sitzung am 15. Mai fragte der Stadtverordnete Haas dreist den Bürgermeister, wen er denn für den Kreisausschuss gewählt habe. Stollenwerk weigerte sich. Prompt folgte ein Misstrauensantrag gegen ihn. Der Bürgermeister genieße nicht das Vertrauen der NS-Einheitsliste und auch nicht das der Bevölkerung, was die Wahlen klar gezeigt hätten, erklärten die Nazis. Außerdem habe er einen unbedeutenden Besichtigungsgang dem Hissen der neuen Hakenkreuzfahne auf dem Rathaus vorgezogen. Am 30. Mai sollte über den Antrag abgestimmt werden. Nun warfen Haas und seine fünf Parteigenossen dem Bürgermeister auch noch vor, höchstpersönlich die zweifelhafte Hakenkreuzfahne bei einem jüdischen Geschäftsmann bestellt zu haben. Schließlich nahm die Versammlung den Misstrauensantrag an – mit sechs Ja-Stimmen und fünf Enthaltungen. Die unterlegenen fünf Zentrumspolitiker hatten nicht einmal den Mut aufgebracht, gegen die sechs Nationalsozialisten mit Nein zu stimmen.102 So wie ihre 73 Kollegen im Reichstag am 24. März 1933 ohne Ausnahme für Hitlers „Ermächtigungsgesetz“ und damit letztlich für die Selbstentmachtung des Reichstages stimmten, so wollten auch die Hachenburger Zentrums-Vertreter die neuen Herrschenden nicht verprellen. Umgehend trat nun NSDAP-Kreisleiter Karl Scheyer als kommissarischer Bürgermeister an die Stelle des im Stich gelassenen Alexander Stollenwerk.103

Damit nicht genug. Am Tag nach der Sitzung konnte man in der „Westerwälder Zeitung“ lesen, was außerdem festgehalten wurde:

„Es wird einstimmig beschlossen, der Polizeiverwaltung den Antrag Adolf Haas, die Leipziger Strasse vom Kaiser-Friedrich-Denkmal bis zum Beamtenhaus in Adolf-Hitler-Strasse umzubenennen, zu unterbreiten. Ausserdem soll die Linde (Ecke Leipziger Strasse/Dehlinger Weg) die Bezeichnung Adolf-Hitler-Linde erhalten und durch eine Steinfassung verschönert werden. Ferner soll der bisherige Judenfriedhofsweg in Dehlinger Weg umgewandelt werden.“104

Auch die historische Judengasse wurde umbenannt und hieß fortan Alte Poststraße. Haas und die NSDAP versuchten damit schon früh, alles aus dem Stadtbild zu tilgen, was an das traditionsreiche jüdische Leben in Hachenburg erinnerte. Am 8. Juni übermittelte Hitler „seinen verbindlichsten Dank“.105 Als der Bürgermeister ein Jahr später die Schilder für die neuen Straßennamen bestellte, war die „Adolf-Hitler-Straße“ allerdings nicht dabei und wurde auch nie nachgeliefert.106

Doch nicht wegen seiner politischen Aktivität schreibt der Hachenburger Stadtchronist Stefan Grathoff über Haas, der „überzeugte Nazi-Scherge“ sei „der wohl niederträchtigste Nationalsozialist in der Stadt“ gewesen.107 Mit der Umbenennung der Straßen und der Neubesetzung politischer Schlüsselpositionen scheint sich sein Engagement als Stadtverordneter erschöpft zu haben. Mit dem neuen kommissarischen Bürgermeister und dem NSDAP-Ortsgruppenleiter Wilhelm Dressel übernahmen nun schnell andere, für den politischen Bereich geeignetere Personen die Verantwortung für die Gleichschaltung und Bekämpfung von „Reichsfeinden“.108 Womöglich vermittelte Adolf Haas noch einige Male zwischen der Partei und dem Besitzer des „Westend“, der ehemaligen Gastwirtschaft seines Vaters, wo sich die NSDAP des Öfteren zu Bier und Hassreden traf.109 Davon abgesehen diente er der nationalsozialistischen Bewegung im Westerwald nun mehr und mehr mit dem, was ihm mehr lag als die Politik – mit körperlicher Gewalt.

2.2 Der „Draufgänger“: Steile „Karriere“ in der Allgemeinen SS, 1933–1934

Ende 1930 wussten die meisten Deutschen kaum etwas mit der „Schutzstaffel“ anzufangen. Spätestens seit Januar 1933 war sie „in aller Munde“ und von etwa 4000 auf 52.000 Mann angewachsen.110 Dass sie nun auch professioneller wurde, verdankte sie der besseren finanziellen Lage nach der „Machtübernahme“. Als immer mehr hauptamtliche SS-Führer staatliche Funktionen im Bereich der „inneren Sicherheit“ übernahmen, unterschied man bei den SS-Unterorganisationen zwischen dem Sicherheitsdienst (SD), den Totenkopfverbänden, die die Wachmannschaften für die neuen Konzentrationslager stellten, sowie der Verfügungstruppe, einer kasernierten Sondereinheit, die Hitler flexibel einsetzen konnte. All die Männer, die nach wie vor in ihrer Freizeit dem „normalen“ SS-Dienst nachgingen, fasste man damals unter dem Begriff „Allgemeine SS“. Es war ein bunter, aber repräsentativer Querschnitt durch die Bevölkerung. Auch etwa 2300 Bäcker waren dabei.111

Adolf Haas musste zu den Ersten gehört haben, die sowohl die NSDAP in Hachenburg aufbauten, aber auch „aufgefordert“ wurden, die Allgemeine SS „im Ober- und Unterwesterwaldkreis aufzuziehen“, wie er in einem späteren Lebenslauf schrieb.112 Sein rascher Aufstieg rührte demnach wohl vor allem vom günstigen Eintrittszeitpunkt her, das heißt, dass es zu der Zeit in seiner Region noch keine großen Alternativen in der Personalbesetzung gab.113 Ähnliches Glück war auch in seiner späteren Karriere im Spiel. Tatsächlich hatte man ihn bereits am 15. November 1932, kaum sieben Monate nach seinem Eintritt, zum SS-Scharführer befördert, was in den Dienstgraden der Wehrmacht einem Unterfeldwebel entsprach. In den Monaten und Jahren nach der „Machtübernahme“ ging es ähnlich rasant weiter. Kurz nachdem er Ende März 1933 Stadtverordneter der NSDAP wurde, überwachte SS-Truppführer Adolf Haas am 1. April 1933 in Hachenburg gemeinsam mit der Parteiortsgruppe die Durchführung des reichsweiten „Aprilboykotts“. Mit Parolen wie „Deutsche! Wehrt Euch! Kauft nicht bei Juden!“ richtete sich die Aktion gegen jüdische Geschäfte, Banken, Arztpraxen und Kanzleien. Die wenigen jüdischen Bewohner Hachenburgs waren bis zu diesem Zeitpunkt nach der rechtlichen Gleichstellung in allen Bereichen des wirtschaftlichen Lebens der Stadt vertreten und hatten sich vor allem im Viehhandel ein Monopol erarbeitet.114 Mit dem Boykott begann für sie wie für alle deutschen Juden eine Zeit der wirtschaftlichen und sozialen Ausgrenzung, allerdings bis 1938 vielmehr mit Gesetzen, da die deutsche Bevölkerung auf den Boykott weniger enthusiastisch reagiert hatte, als vom Regime gehoffi.

Wenige Tage nach dem Aprilboykott führte Adolf Haas erstmals seinen eigenen SS-Sturm, quasi eine Kompanie von 70 bis 120 Mann.115 Hatte sich die Allgemeine SS vor der „Machtübernahme“ noch intensiv um den Wahlkampf kümmern müssen, konzentrierte sie sich nun immer mehr auf die Verfolgung von politischen Gegnern. In Hachenburg hatte die SS ihren Sitz in einem der heute verschwundenen Häuser gegenüber dem Gasthaus „Zur Sonne“, direkt vor dem Hachenburger Barockschloss.116 Von hier aus organisierten Haas und seine Männer Aktionen in der Stadt und in der Umgebung. „Gearbeitet“ wurde auch am Wochenende. So versammelten sich am Morgen des 28. Mai 1933, einem Sonntag, einige SS-Männer aus dem Unterwesterwaldkreis in Welschneudorf, etwa 37 Kilometer südlich von Hachenburg. Ihr Auftrag: „Kommunistische Wühlarbeit“117. Bei einer Razzia verhafteten und misshandelten sie mehrere Mitglieder der KPD und SPD. Anwesend war auch Adolf Haas, der nach späteren Aussagen „seine ehemaligen Gesinnungsgenossen in brutalster Weise bekämpft“ habe.118 So schritt er auch nicht ein, als ein Hachenburger SS-Kamerad einem Opfer mit den Stiefeln in den Rücken trat und ihm das Gesicht blutig schlug. Noch zwei Jahre später prahlte dieser während einer abendlichen Fahrt vor seinen Mitfahrern, wie er damals „gute Arbeit geleistet“ hätte. Was er nicht wusste: Unter den Zuhörern war ausgerechnet sein einstiges Opfer, das er im Dunkeln nicht erkannte und ihn so nach dem Krieg anklagen konnte.119

Welche genaue Rolle Adolf Haas bei den „Beurlaubungen“, Verfolgungen, der Zerschlagung von unerwünschten Parteien und der Auflösung konfessioneller Vereinigungen spielte, ob er selbst mit der Faust ausholte oder eher die Aktionen überwachte, ist kaum im Einzelnen überliefert. Ein Hachenburger Polizeibeamter schrieb allerdings nach dem Krieg in einem Bericht:

„Adolf Haas war ein fanatischer Nazi. Als solcher war er in Hachenburg gefürchtet. Dieses dürfte aber nach den getroffenen Ermittlungen zum großen Teil auf seine beschränkte Intelligenz zurückzuführen sein. Er hat alle Befehle und Anordnung der Nazis gewissenhaft und rabiat durchgeführt.“120


SS-Führer Adolf Haas führt SS- und SA-Männer an (ca. 1933-1935). Ihr Marsch geht durch die „Adolf-Hitler-Straße", für deren Benennung sich Haas selbst als NSDAP-Abgeordneter eingesetzt hat.

Seine Vorgesetzten waren offenbar zufrieden, wie Haas seine „Arbeit“ machte. Sie beförderten ihn am 30. Oktober 1933 zum SS-Obertruppführer und in den folgenden Jahren meist, wie in der SS üblich, symbolisch zu den Gedenktagen der NS-Bewegung. So folgte die nächste Beförderung zum SS-Sturmführer am 30. Januar 1934, zum Jahrestag der „Machtübernahme“.121 Das Prüfungszeugnis von 1934 bescheinigte Haas ein „streng-soldatisch-vorbildliches Verhalten im Auftreten“, gute bis sehr gute Noten im Bereich „Allgemeine Ausbildung und Kenntnisse“ sowie auch einen „allgemein gut[en]“ Umgang im Schriftverkehr.122 Erst drei Jahre später sollte ein hoher SS-Führer erkennen, dass Haas‘ Person und Können überschätzt wurden. Die übertrieben positiven Beurteilungen waren für den Aufbau der Allgemeinen SS damals jedoch üblich. Ohne sie gab es keine Beförderungen und ohne Beförderungen keine ranghöheren SS-Führer, die neue Männer ausbilden konnten.

Vom 26. Mai bis zum 7. Juli 1934 besuchte Haas einen Lehrgang in der „SS-Sportschule Fürth“ bei Nürnberg.123 Im Gegensatz zu SS-Männern, die sich beruflich keine fünf Wochen Urlaub leisten konnten, setzte der Hachenburger Bäcker seine Selbstständigkeit offenbar bereitwillig aufs Spiel. Sport im engeren Sinne trieben Haas und die anderen Teilnehmer jedoch nur am Rande. Nach den Bestimmungen des Versailler Friedensvertrags war die Reichswehr nach dem Ersten Weltkrieg offiziell zu einem 100.000-Mann-Heer geschrumpft. Inoffiziell hatten Regierungen und die Militärführung seitdem paramilitärische Verbände geduldet oder sogar gefördert. Die „Sportschulen“ der SA und SS in Fürth und anderen Orten dienten Hitler und seinen Generälen seit 1933 im Rahmen des geheimen Rüstungsprogramms als Tarnbezeichnung für Lehrgänge, bei denen die Teilnehmer „wehrhaft“ gemacht werden sollten – mit Know-how und Geldern der Reichswehr.124

 

Während des Kurses erfuhren Adolf Haas und die anderen Teilnehmer von der „Reinigung der Bewegung“. Ende Juni 1934 wählte Hitler die SS aus, um die Führungsspitze der SA um Ernst Röhm sowie andere seiner Gegner in der „Nacht der langen Messer“ auszuschalten. Den Massenmord inszenierte der Reichskanzler als „Staatsnotwehr“ und belohnte anschließend seine Helfer: Am 20. Juli 1934 erhob Hitler die SS zu einer unabhängigen Gliederung der NSDAP, die nur noch ihrem „Führer“ unterstand, ein lang ersehntes Ziel.125 Obwohl Adolf Haas wenige Tage zuvor vom Lehrgang zurückgekehrt war, hatte er auch dieses Ereignis verpasst. Jedenfalls konnte er es mit seinen Kameraden nicht angemessen feiern. An jenem Tag saß der SS-Sturmführer in einer Zelle im Hessischen Landgerichtsgefängnis Mainz.

2.3 Der Erpresser: Habsucht und Haft, 1934

Im Juli 1934 wurden Haas und drei weitere Personen aus Hachenburg und Westerburg der „räuberischen Erpressung“ beschuldigt. Ihr Opfer war Karl Grünebaum aus Nierstein bei Mainz, ein jüdischer Tuchhändler, der bis 1932 ein „Manufaktur- und Ausstattungsgeschäft“ betrieben hatte.126 Zwei der Angeklagten waren ebenfalls Textil- und Modeunternehmer: Paula Fröhlich war die erfolgreiche Inhaberin des „Berliner Kaufhauses“, einer Manufakturwarenhandlung in Hachenburg, und bereicherte sich später auch bei den Arisierungen jüdischer Geschäfte.127 Gustav Seekatz führte zu der Zeit unter seinem Namen ein Mode-Kaufhaus im nahen Westerburg.128 Ob aus Neid und Missgunst gegen ihren früheren jüdischen Konkurrenten oder um ihn auch für die Zukunft auszuschalten, Seekatz und Fröhlich schienen es gezielt auf Karl Grünebaum abgesehen zu haben. Gern behilflich waren ein Sturmbannführer der SA aus Westerburg sowie SS-Truppführer Adolf Haas, der die Möglichkeit sah, ein gutes Sümmchen zu erpressen. Offiziell natürlich für seinen SS-Sturm.

In Nierstein hatte die Mehrheit der Stadtbevölkerung nach Hitlers „Machtübernahme“ begonnen, die kleine jüdische Minderheit von etwa 80 Personen auszugrenzen. Sie hatten daher auch nicht eingegriffen, als Karl Grünebaum am 12. August 1933 von SA-Männern aus Westerburg überfallen worden war. Sie könnten ihn sofort verhaften und in das nahe gelegene Konzentrationslager Osthofen bei Worms bringen, hatten sie ihm gedroht – oder er könnte sich freikaufen. Grünebaum hatte nachgegeben, seinen Erpressern 100 Reichsmark in bar gezahlt und ihnen einen Schuldschein von 1500 Reichsmark ausgestellt, was damals einem Durchschnittseinkommen eines ganzen Jahres entsprach.129 Die Nazis hatten ihn trotzdem nicht in Ruhe gelassen. Es hatte sich herumgesprochen, dass er sich erpressen ließ: Am 28. September 1933 entführten Adolf Haas und andere SS-Männer Grünebaum ein zweites Mal. Nicht gerade kreativ drohten sie, wie schon die SA, ihn in das KZ Osthofen zu verschleppen, forderten aber dreist eine weitaus höhere Summe. Schließlich stellte ihnen der Erpresste einen Scheck von 2700 Reichsmark aus. Damit die Beteiligung der SA und SS nicht offensichtlich wurde, löste die Kaufhausinhaberin Paula Fröhlich die Schecks ein und verteilte das Geld. An wen und welche Summen, konnte der zuständige Untersuchungsrichter in Mainz 1934 nicht genau klären, nachdem Karl Grünebaum Anzeige erstattet hatte. Da der Richter aber annahm, dass die Beschuldigten fluchtverdächtig waren und „Spuren der Tat vernichtet und Zeugen und Mitschuldige zu einer falschen Aussage verleitet werden“, unterzeichnete er am 16. Juli 1934 einen Haftbefehl.130

Zwei Tage später wurden Haas und seine Komplizen von einem SS-Kameraden dem Landgerichtsgefängnis Mainz übergeben. Sie sollten unbedingt getrennt voneinander gehalten werden, damit sie sich nicht weiter absprechen könnten, „die Geschehnisse nach einer gewissen Richtung darzustellen und damit ihre Aufklärung zu verhindern“.131 Trotz der Tatbestände waren die Insassen guten Mutes. Der SA-Sturmbannführer aus Westerburg schrieb seiner Frau, er habe ein „reines Gewissen“, er werde bald dem Untersuchungsrichter vorgeführt und „dann wird sich alles klären“.132 Sorgen machte er sich vielmehr um die Obsternte, bei der er nicht helfen konnte. Paula Fröhlich schrieb dagegen in höchster Erregung einen vier Seiten langen Brief an ihren gemeinsamen Rechtsanwalt. Sie leide unter Herzproblemen und hohem Blutdruck, habe auf dem harten Eisenbett „noch keine Nacht geschlafen“ und sei ohnehin vollkommen „schuldlos“, klagte sie. 133 Die 55-Jährige beteuerte zudem, sie habe geglaubt, Karl Grünebaum habe freiwillig das Geld abgetreten. Davon habe sie aber „keinen Pfennig“ für sich behalten, sondern alles an die SS, SA, das Winterhilfswerk oder an Adolf Haas überwiesen. „Herr Haas konnte mit dem Gelde machen was er wollte.“ Sie hoffte auf die Nachsicht des Regimes, das sie von Anfang an unterstützt habe, und unterschrieb am Ende „mit deutschem Gruß“. Mit Erfolg: Wohl auf Druck nationalsozialistischer Beamter waren alle Angeklagten Ende Juli 1934, nur wenige Tage nach ihrer Einweisung, wieder auf freiem Fuß. Auch wenn keine Prozessakten überliefert sind, scheint der Fall geschlossen worden zu sein. Karl Grünebaum hat sein Geld höchstwahrscheinlich nie wiedergesehen. In Nazi-Deutschland konnten jüdische Bürger nicht mehr auf Gerechtigkeit hoffen, egal welche Beweise vorlagen. Seine Familie wanderte 1938 in die USA aus. Was mit Grünebaum selbst geschah, ist unklar.134

Die Täter blieben nicht nur unbestraft, sie konnten sich mit ihrer Zeit in Untersuchungshaft sogar noch rühmen. 1936 vermerkte Adolf Haas in einem Personalbericht unter „Verletzungen, Verfolgungen und Strafen im Kampfe für die Bewegung“: „Verhaftung 14 Tage wegen Anzeige eines Juden“ – tatsächlich waren es gerade einmal zehn Tage.135 In Zukunft musste er nicht einmal befürchten, für Erpressungen und andere Aktionen gegen Juden überhaupt belangt zu werden. Am 2. August 1934 starb Reichspräsident Paul von Hindenburg. Hitler übernahm nun auch dieses Amt und regierte fortan als „Führer und Reichskanzler“ – tatkräftig unterstützt von seiner treuen „Schutzstaffel“, die, losgelöst von der SA, immer mächtiger wurde.

2.4 Der hauptamtliche SS-Führer: Weg mit der Bäckerschürze, rein in die Uniform, 1934–1937

Die Mörder wurden belohnt: Himmler und seine SS hatten sich im Sommer 1934 bedingungslos loyal gegenüber ihrem „Führer“ gezeigt, als sie für ihn die Führungsspitze der SA und andere Gegner eliminierten. Ende August 1934 erhob Hitler seinen Reichsführer-SS zu einem „Reichsleiter der NSDAP“, der nur noch ihm selbst unterstand. Himmler war bereits seit Frühjahr 1933 Polizeipräsident von München und Chef der politischen Polizei Bayerns sowie seit April 1934 Leiter der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) in Berlin. In den nächsten Jahren baute er seine Machtstellung und die seiner „Elitetruppe“ immer weiter aus. Nun hatte er auch Budget für mehr hauptamtliche Stellen.

Auf Adolf Haas‘ Karriere hatte der Kurzaufenthalt hinter Gittern im Juli 1934 keinerlei Einfluss. 1935 wurde er gleich zweimal befördert: am 20. April, anlässlich des „Führergeburtstages“, zum Obersturmführer und am 15. September zum Hauptsturmführer – wiederum mit äußerst lobenden Beurteilungen. Er sei „der beste Sturmführer der Standarte“, pries ihn der Führer seines SS-Abschnitts im Juli 1935.136 Wenn es nach ihm ginge, sollte Haas sogar ab August seinen eigenen Sturmbann führen, der zwischen 250 und 600 Mann stark sein konnte. Seit zwei Jahren musste er sich so auf seinen ehrenamtlichen Dienst bei der SS konzentriert haben, dass er dabei völlig sein eigenes Geschäft vernachlässigt hatte.