Tod oder Taufe - Die Kreuzfahrer am Rhein

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»Die Städter werden mehr als genug geschröpft. Sie bezahlen viel Geld für das Recht, ihre Waren auf dem Markt zu verkaufen. Dazu kommen die Steuern auf ihre Häuser, ihr Anteil an den Kosten für die Stadtmauer, die horrenden Zölle, die die Waren unbezahlbar machen, die …«

»Der Herr erspare mir seine übliche Litanei«, unterbrach ihn der Bischof schroff. »Als hätten wir nicht Sorge genug. Wir sind hier, um anderes zu besprechen.«

Von Erkenbald schürzte die Lippen. Dann entspannte sich sein Gesicht, vermutlich war er froh, dass es Ruthard diesmal nicht um höhere Abgaben zu gehen schien. »Ich nehme an, der ehrenwerte Bischof referiert zu dem, was in Worms vorgefallen ist.«

Chaim hatte doch von Speyer gesprochen, wunderte sich Raimund.

Ruthard nickte. »Der Herr ist gut informiert.«

»Was ist geschehen?«, fragte Raimund.

Der Vogt musterte ihn amüsiert. »War der gelehrte Herr Stiftskollege mal wieder so vertieft in seine Studien, dass er die Welt um sich herum vergessen hat?«

Volltreffer! Raimund schaute betroffen zu Boden.

Ruthard warf ihm einen Blick zu, den Raimund irgendwo zwischen Belustigung und Verärgerung einordnete. »Berichte unserem Domdekan, was du weißt.«

Von Erkenbald kniff, wohl angesichts der herablassenden Anrede, die Augenbrauen zusammen und sprach: »Bischof Johannes’ Soldaten waren in der Lage, die aufgewühlten Pilger zu vertreiben, bevor sie in Speyer größeres Unheil unter den Juden anrichten konnten. So gut wie keinem von ihnen wurde ein Haar gekrümmt. Der selbst ernannte Feldherr Emicho von Flonheim ist dann anscheinend nach Worms weitergezogen, und dort haben seine Soldaten kräftig zugelangt. Die Wormser Juden, soweit es mir berichtet worden ist, sind nun entweder getaufte Christen oder mausetot.«

Raimund erbleichte. »Die jüdische Gemeinde in Worms hat gut sechshundert Seelen, wie viele sind getötet worden?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete der Vogt. »Die Tore waren lange Zeit verschlossen. Erst gestern habe ich Genaueres erfahren, aber die Berichte widersprechen sich.« Er musterte Raimund genau. »Aber was sorgt sich der Herr Domdekan um die Ungläubigen, ist er nicht für die Christen zuständig?«

Der Bischof überging von Erkenbalds Bemerkung. »Das deckt sich mit dem, was mir berichtet wurde.«

»Ich glaube nicht, dass die getauften Juden gute Christenmenschen werden«, warf der Vogt ein.

»Die Juden bringen gutes Geld, die Kopfsteuer ist beträchtlich, und sie bezahlen pünktlich, ohne zu klagen«, erwiderte der Bischof. Mit einem Seitenblick auf den Vogt fügte er hinzu: »Was man von vielen der anderen Städter nicht behaupten kann. Außerdem sind einige Juden ausgezeichnete Handwerker, und ihre Verbindungen zum Mittelmeer erlauben dem Vogt so manche geschmackliche Raffinesse, nicht zu sprechen von dem feinen Tuch, das der Herr auf seiner Haut zu tragen pflegt. Mir wurde übrigens gestern erst berichtet, dass der Herr Vogt sich neuerdings für Marmorfiguren mit zweifelhaften Motiven interessiere, die er von dem Juden Schmuel Hendlein zu beziehen gedenkt.«

Raimund nutzte die Überraschung des Vogts über Ruthards Angriff und fragte: »Wo ist Emichos Heer jetzt?«

»Nach Speyer und Worms könnte Mainz durchaus ihr nächstes Ziel sein. Es sei denn, dass sie es nochmals in Speyer versuchen und vielleicht weiter Richtung Süden nach Straßburg ziehen.«

»Hat der Herr etwas über Truppenbewegungen erfahren können?«

»Nichts Genaues. Jeder erzählt etwas anderes. Nicht ausgeschlossen, dass einige Mainzer gar bezahlt werden, um in den hiesigen Gasthäusern und Schenken falsche Informationen zu streuen.«

»Was tun wir, falls sie kommen sollten?«, fragte Raimund.

»Ich will den Pöbel hier in Mainz nicht haben«, antwortete der Vogt. »Unsere Mauern sind hoch und robust. Da haben sie keine Chance. Eine Belagerung würde Monate dauern. Wir sollten einen kühlen Kopf bewahren.«

»Gut, dass wir in den letzten Jahren die Mauern um zwei Ellen erhöht haben. Der Herr Vogt kann daran sehen, dass die Abgaben an den Bischof auch den Mainzer Bürgern zugutekommen.« Mit einer Handbewegung, als wolle er Raimund und den Vogt aus dem Raum scheuchen, fügte Ruthard hinzu: »Ich denke, wir müssen uns keine allzu großen Sorgen machen. Ich verlasse mich darauf, dass die zwei Herren sich darum kümmern werden.« Und zu sich selbst sagte er leise: »Diese verfluchte Hitze. Wie soll man da beten können?«

Raimund verneigte sich und folgte dem Vogt, der bereits ohne jeden Abschiedsgruß den Raum verlassen hatte.

Mainz – auf der Langen Gasse

Heute waren sie ganz besonders spät dran und eilten nun durch die Lange Gasse, um rechtzeitig die Synagoge zu erreichen. Chaim hatte Benjamin auf seinen Schultern. Links neben ihm lief Jehudith mit Hannah an der einen und einem Bastkorb in der anderen Hand. David ging rechts von Chaim und bat um die Erlaubnis, sich am Nachmittag mit Ida zu treffen. Er unterstrich seinen Wunsch mit einer ausführlichen Begründung, der Chaim jedoch nur mit halbem Ohr zuhörte.

Er wechselte einen Blick mit Jehudith, die ihm kurz zunickte.

»Gut, David, du darfst nach dem Gottesdienst etwas mit Ida zusammen sein. Aber zum Vesperläuten bist du wieder zurück. Versprichst du mir das?«

David lächelte zufrieden. »Natürlich, Papa.«

Als sie endlich in die Lorscher Gasse einbogen, wurden sie Teil des Stroms der Juden, der in Richtung ihres Bethauses zog. Nachdem sie den Torbogen unter Schmuels Haus passiert hatten, trafen sie auf die übliche Ansammlung von Menschengrüppchen, die sich vor Gottesdienstbeginn auf einen Schwatz zusammengefunden hatten. Jehudith nahm ihm Benjamin ab und begab sich mit Hannah unter das Holzdach seitlich der Synagoge, unter dem die Frauen und Kinder geschützt vor Sonne und Regen den Gottesdienst zu verfolgen pflegten, den die Männer im Inneren vollzogen.

Wie gewöhnlich fanden sich nur wenige der Frauen ein, registrierte Chaim verärgert, während er Schaloms erwiderte und die eine oder andere Hand drückte. Natürlich hatte das Weibsvolk einen guten Grund fernzubleiben, immerhin galt es, das Heim für den Sabbat herzurichten. Aber dieser lieblose Unterstand vor der Synagoge war sicher nicht förderlich, ihr Interesse am Gottesdienst zu wecken. Wie oft hatte sich Jehudith bei ihm darüber beklagt. Bereits seit einiger Zeit kämpfte Chaim dafür, ihr Bethaus um eine Empore für die Frauen zu erweitern. Doch wiederholte Male war er am Widerstand einiger dickköpfiger Männer gescheitert. Und da stand sie auch schon, die Altenfraktion, die Köpfe mit den langen Bärten dicht zusammengesteckt. Und Mosche war natürlich mitten unter ihnen.

Er konnte den Einwand seines älteren Kollegen einfach nicht mehr hören, mit dem er sich bisher im Rat hatte durchsetzen können: Die Gefahr der Ablenkung durch Weibsvolk sei zu groß und würde die Wirkung der Gebete vermindern. Zum Henker noch mal! Die Empore würde im Rücken der Männer liegen. Dann sollten sich die alten Lüstlinge eben nicht nach den Frauen umdrehen.

Jetzt schauten sie zu ihm. Wegen dieses Haufens starrsinniger Greise konnten die Frauen die Stimme des Vorbeters nur durch das offene Fenster hören, dachte Chaim, während er die Blicke mit einem höflichen Nicken quittierte. Oft tratschte das Weibsvolk dann aus Langeweile. Und wenn sie dabei zu laut wurden, kam der Schammes und ermahnte sie. Kein Wunder, dass sie lieber zu Hause blieben. Jehudith hatte ganz recht, es war ein untragbarer Zustand.

Chaim wechselte hier und dort ein paar Worte und wollte sich gerade zur Eingangspforte der Synagoge begeben, da sah er Rachel bei Kalonymos stehen. Der um einiges größere Parnas hatte sich zu ihr hinuntergebeugt, während ihm Rachel aufgeregt etwas mitteilte.

Zacharias!, schoss es Chaim durch den Kopf.

Da hatte Kalonymos ihn bereits erkannt. Mit heftigen Armbewegungen forderte er Chaim auf, zu ihm zu kommen.

Mainz – auf dem Synagogenplatz

Jehudith stand unter dem Vordach der Synagoge und hielt Ausschau nach ihrer Schwester. Sie erspähte Sarah vor dem Haus der Familie ihres zukünftigen Schwagers und ging mit Hannah und Benjamin auf sie zu. Sarah stand neben ihrer Mutter und wartete bereits ungeduldig.

Schnell wurden sich die beiden Schwestern einig, dass sie ganz gewiss nicht dem Gottesdienst unter dem grässlichen Vordach zuhören wollten, dazu war das Wetter einfach viel zu schön. Am Nachmittag würde es unerträglich heiß werden, jetzt war die Sonne gerade angenehm. Und auf Gespräche mit den anderen Frauen hatten sie keine Lust, schließlich wollten sie noch letzte Einzelheiten der Hochzeit besprechen.

Außerdem hatte Jehudith das Gefühl, dass ihrer fünf Jahre jüngeren Schwester ein wenig Ablenkung guttun würde. Die Aufregung über den morgigen Tag war ihr anzumerken. So gab Jehudith Hannah und Benjamin in die Obhut ihrer Mutter. Zur Non würde sie die Kinder beim letzten gemeinsamen Mahl vor der Hochzeit wiedersehen, das sie mit der ganzen Familie im Haus der Eltern feiern wollten.

Jehudith und Sarah verließen den Synagogenplatz und gingen Richtung Flachsmarkt.

Mainz – auf dem Synagogenplatz

Chaim blickte sich um. Rachels Mann war nirgends zu sehen. Also war er noch nicht zurückgekommen. Ein leichtes Magenzwicken machte sich bemerkbar.

»David, geh schon mal vor und halte mir einen Platz frei«, sagte er zu seinem Sohn. Der Parnas war berüchtigt für seine öffentlichen Ausfälle, das musste David jetzt wirklich nicht miterleben.

Gemächlich, sodass David in dem großen Eingangsportal der Synagoge verschwinden konnte, bevor sein Vater auf Rachel und den Parnas traf, schob sich Chaim durch die Menschenmenge.

Rachel weinte, während Kalonymos ihr zuredete und Chaim gleichzeitig herbeiwinkte. Noch bevor er die beiden begrüßen konnte, fuhr der Parnas ihn an: »Rachel hat mir berichtet, dass Zacharias noch immer nicht nach Hause gekommen ist. Sie habe gestern vor der Ratssitzung mit dir gesprochen. Stimmt das?«

 

»Schalom, Rachel. Schalom, Kalonymos«, sagte Chaim, einerseits, um Zeit zu gewinnen, und andererseits in der vagen Hoffnung, die Spannung ein wenig zu lösen. Dabei blickte er sich um, wer gerade in der Nähe war. Mosche war nicht mehr zu sehen, er stand wahrscheinlich schon in der Bimah. Zumindest seine hämischen Kommentare würden ihm erspart bleiben.

Der Parnas schwieg und Chaim sagte notgedrungen: »Ja, das stimmt.«

Mit seiner dröhnenden Stimme, die jeder der Umstehenden hören konnte, fuhr der Parnas fort: »Und warum hast du uns gestern im Rat nichts davon erzählt? Rachel hatte dich darum gebeten, oder?«

Deutlich trat Chaim die Situation vor Augen, Rachel mit Orli auf ihren Schultern, die an dem Kopftuch ihrer Mutter zuppelte.

»Rachel, das tut mir wirklich leid. Ich hatte gehofft, dein Zacharias würde gestern noch zurückkommen.« Selbst in seinen Ohren klang diese Ausrede lahm.

Die beiden blickten ihn stumm an. Chaim kratzte sich am Hinterkopf. »Wir sollten nicht das Schlimmste befürchten. Vielleicht gibt es eine ganz einfache Erklärung.«

Chaims Beschwichtigungen machten den Parnas noch wütender. »Ausgerechnet in diesen Zeiten ist einer von uns in finsterer Nacht vor den Toren der Stadt in Gefahr! Dein Verhalten war unverantwortlich. Das weißt du genau.«

Um sie herum hatte sich eine Menschentraube gebildet, die stetig größer wurde. Unbarmherzig fuhr der Parnas fort. »Warum bist du nicht mit Rachel direkt zu mir gekommen? Was war denn so viel wichtiger?«

Raimund und die Psalmenübersetzung, schoss es Chaim durch den Kopf. Das wollte er jetzt unter keinen Umständen sagen. Nach einem Räuspern antwortete er: »Ich hatte ein Treffen mit dem Domdekan.«

»Das wurde mir berichtet. Und was habt ihr gemacht?«

Der Parnas war natürlich wie immer bestens informiert. Geheimniskrämerei war zwecklos. »Wir haben ein theologisches Problem erörtert.«

Das war recht weit entfernt von der Wahrheit, jedoch keine direkte Lüge. Ihr Psalmenvorhaben wollte Chaim unbedingt geheim halten. Er hörte Mosche schon lästern: »Ist Hebräisch etwa nicht mehr gut genug für unseren Christenfreund?«

Und wie sollte er auch rechtfertigen, dass ihm Raimund bei einer Übersetzung half? Weder die von den Christen benutzte griechische Septuaginta und erst recht nicht deren lateinische Übersetzung wurden unter jüdischen Gelehrten als zuverlässige Quellen anerkannt.

Kalonymos war unerbittlich. »Sprich. Warum erörterst du deine theologischen Probleme nicht mit Rabbi Mosche, sondern mit einem Christen?«

Rachel hatte aufgehört zu weinen. Nun sah auch sie Chaim wütend an. Die Menschen drängten sich um sie herum. »Äh, ich dachte, das Problem mit Zacharias würde sich von selbst lösen. Dies war wohl ein Irrtum. Das bedauere ich sehr. Was wollen wir …«

»Jetzt ist Sabbat und daher können wir keinen Suchtrupp losschicken«, unterbrach ihn der Parnas. »Gestern wäre dies möglich gewesen.«

Rachels Schultern sackten herab.

»Wenn es um Leben und Tod geht, wäre dies trotz des Sabbats gestattet«, antwortete Chaim und bereute im gleichen Augenblick seine Worte. Jetzt malte er das Böse an die Wand. Schon hörte er Getuschel um sich herum.

»Es heißt doch, am Sabbat soll man nicht mehr als tausend Schritte gehen«, fuhr Alon dazwischen. Die muskulösen Arme des Schmieds der Gemeinde schwangen bedrohlich in der Luft.

»Nein, es heißt tausend Schritte vom Stadtrand weg dürfe man nicht gehen«, antwortete der um einen Kopf kleinere Brettschneider Joseph.

Ein Dritter warf ein: »Genau, in der Stadt selbst gibt es keine Einschränkung. Viele wohnen weiter als tausend Schritte entfernt von der Synagoge. Die dürften sonst ja gar nicht zum Gottesdienst kommen.«

»Dann müssen sie halt näher zur Synagoge ziehen«, erwiderte Alon und richtete sich zu seiner vollen Größe auf.

»Ihr seid doch meschugge!« Joseph zeichnete mit seinem Zeigefinger einen Kreis auf seine kahle Stirn.

»So oder so«, erwiderte Alon. »Welch einen Sinn könnte ein Suchtrupp haben, der sich nur tausend Schritte weit von der Stadt wegbewegen kann?«

Kalonymos presste die Lippen zusammen. Chaim rechnete jeden Moment damit, erneut angefahren zu werden, da kam Salomo hinzu und sagte: »Kommt bitte. Mosche wartet schon ganz ungeduldig in der Bimah und möchte mit dem Nischmat beginnen.«

Mit Zornesfalten auf der Stirn schaute Kalonymos Chaim an. Bevor der Parnas sich abwandte, sagte er: »Wir sprechen uns später.«

Chaim atmete tief durch und sandte einen dankbaren Blick an Salomo. Die Menschen um ihn herum begaben sich in die Synagoge. Rachel trocknete ihre Tränen und stand nun allein mit ihm auf dem Vorplatz. Chaim wandte sich ihr zu. »Rachel, das tut mir wirklich alles sehr leid.« Dann folgte er zögerlich den Männern.

Der Gottesdienst war heute außergewöhnlich gut besucht, die Ankündigung einer Rede des Parnas hatte ihre Wirkung nicht verfehlt. Durch Chaims Glasfenster warf die Sonne eine rote Rose an die weißgekachelte Wand, die dicken Steine hielten die Wärme draußen. Chaim fröstelte, während Mosche auf dem Pult der Bimah in dem großen Buch mit den liturgischen Gesängen blätterte.

Vor ihm schritt Kalonymos durch den Mittelgang und setzte sich in die erste Reihe, während Chaim neben David etwas weiter hinten Platz nahm.

Es wurde langsam still und Mosches Gesang begann.

»Die Seele alles Lebenden segne Deinen Namen, Gott, unser Gott …«

Während die volle, tiefe Stimme des alten Rabbis den großen Saal füllte, schaute Chaim starr nach vorn. Dabei registrierte er die neugierigen Blicke, die von allen Seiten auf ihn geworfen wurden, während sich die Nachricht über die Schelte des Parnas im Saal verbreitete. Aus dem Zwicken im Magen war mittlerweile ein drückender Schmerz geworden.

Mosche sang:

»… in jeder Zeit der Not und der Drangsal

haben wir keinen König außer Dir.«

Den Beistand des Einen konnte Chaim jetzt wirklich gut gebrauchen.

Mainz – auf dem Flachsmarkt

Jehudiths Bastkorb schwang in ihrer Mitte. Die beiden Schwestern trugen ihn wie so oft gemeinsam, jede eine Hand an dem runden Henkel. Im Geschäft von Heinrich Flucks, das hinter der Sankt-Ottilien-Kirche lag, wollten sie die allerletzten Änderungen an Sarahs Brautkleid überprüfen, die sie dem Schneider gestern noch aufgetragen hatten.

Nach Jehudiths Ansicht war Flucks der mit Abstand beste Schneider in Mainz, jedenfalls wenn es um die Verarbeitung von feineren Materialien ging. Er führte die erlesensten Samtstoffe und hatte zudem eine Technik, bei der die Nähte völlig unsichtbar blieben.

In freudiger Erwartung traten sie in den Laden ein. Meister Flucks saß hinter dem Tresen und nähte. Er legte seine Arbeit jedoch augenblicklich nieder, als er die zwei Frauen erblickte, und schritt unter einer Abfolge kleinerer Verbeugungen auf die beiden Schwestern zu. »Guten Morgen, meine werten Damen. Ich nehme an, Ihr wollt das Brautkleid des jungen Fräuleins noch einmal begutachten.«

»Guten Morgen, Meister Flucks«, antwortete Jehudith lächelnd. »Ihr habt es erraten.«

»Darf ich die junge Braut bitten, sich nach hinten in das Umkleidezimmer zu bemühen? Ich werde das Kleid sofort bringen und meine Frau zu Hilfe rufen.«

Sarah folgte dem Schneider, und Jehudith hatte Zeit, einen Blick auf die neuen Stoffe zu werfen, die ihr allerdings in ihrer schillernden Farbigkeit nicht besonders gefielen.

»Zu viel des Guten«, sagte sie zu sich selbst. »Eine Dame ist doch kein Papagei.«

Nach einiger Zeit kam Sarah mit Meister Flucks und seiner Frau zurück. Ihre Schwester strahlte in dem glänzenden blauen Tuch, für das sie sich nach langen Erörterungen entschieden hatten. Der enge Perlengürtel betonte Sarahs schlanke Taille, unter der ein kraftvolles Becken Sinnlichkeit und Fruchtbarkeit versprach. Die roten Ärmel schlossen mit goldenen Besätzen ab, die hervorragend zu Sarahs langem blondem Haar passten.

»Sarah, das ist ein Traum von einem Kleid!«, rief Jehudith freudig aus. »Und jetzt sitzen auch die Schultern genau. Doron wird ganz hingerissen sein.«

»Was denkst du über die Länge?«, erwiderte Sarah. »Ist es nicht etwas zu kurz?«

Jehudith trat ein paar Schritte zurück. Der Schneider hielt sichtbar den Atem an, schon zum vierten Mal suchten sie ihn nun auf, um Änderungen einzufordern. Jehudith ging ein wenig hin und her, während ihre Blicke fachmännisch über den Körper ihrer Schwester glitten. Schließlich sagte sie: »Nein, so wird man deine schönen Kalbslederschuhe sehen können.«

Jehudith lächelte in sich hinein, als sie das erleichterte Ausatmen des Schneiders vernahm.

Mainz – Bischofspfalz, im Sankt-Viktor-Haus

»Was machen wir jetzt?«, fragte Raimund den Vogt, der vor der Tür auf ihn wartete.

Von Erkenbald musterte Raimund. »Da der Propst verreist ist, muss ich wohl mit dem Herrn Domdekan Vorlieb nehmen.«

Raimund blieb nichts anderes übrig, als die Stichelei zu ignorieren. Er hatte wirklich keine Ahnung, was zu tun war.

»Wir sollten auf jeden Fall mit Waldemar sprechen«, bequemte sich der Vogt schließlich zu antworten.

Raimund schaute ihn fragend an.

»Waldemar ist der neue Hauptmann der Stadtwache. Und auch mit den Verantwortlichen an den einzelnen Toren sollten wir uns treffen. Die müssen nun ganz besonders aufmerksam sein und dürfen keine fremden Gesichter hereinlassen.«

»Sollen wir sie rufen lassen?«, fragte Raimund.

»Nein. Ich glaube, es würde unserem Herrn Domdekan guttun, wenn er selbst die Tore und die Stadtmauer inspizieren würde. Heißt es nicht ora et labora? Vielleicht hat der Herr in letzter Zeit ein wenig zu viel gebetet und dafür zu wenig gearbeitet.« Von Erkenbald grinste breit. »Wir machen einen längeren Spaziergang. So bekommt der Herr etwas Luft und Sonne. Man sagt, das sei gesund für Körper und Geist.«

Raimund atmete tief ein. Von Erkenbald hatte recht, nun lag Dringlicheres an, als alte Manuskripte zu durchforsten. »Einverstanden. Gehen wir?«

Sie verließen das Viktorhaus. Draußen schien die Sonne warm in Raimunds Gesicht. Durch das große Tor der Pfalz traten sie auf den Marktplatz, der wie immer an einem Samstagnachmittag voller Menschen war. Sie schritten am Dom entlang Richtung Rhein, dann nach rechts zwischen der Stiftskirche Sankt Maria ad Gradus und dem Martinsdom hindurch und schließlich die Grebengasse hinauf, an deren Ende sie sich nach links zum Jakobstor wandten.

Mit festem Schritt ging der Vogt voraus. Raimund hatte zunächst Mühe zu folgen, nach einiger Zeit fand er jedoch Gefallen an der Ertüchtigung. Auch schien die Abwesenheit des Bischofs von Erkenbald in eine erträglichere Stimmung zu versetzen.

»Nun, falls sie überhaupt kommen sollten, dann werden sie wahrscheinlich von Osten oder vom Hafen her eindringen wollen.« Der Vogt genoss es offensichtlich, sein Wissen zu demonstrieren, und Raimund war ein guter Zuhörer. »In diesem Falle, werden wir die Tore verschließen. Möge der Herr sich entweder zum Jakobstor oder zur Dulcinesheimer Pforte begeben. Ich werde den Hafen und die Tore im Westen übernehmen. Sie könnten gerade dort kleinere Ablenkungsattacken ausführen.«

Schließlich standen sie vor dem großen Jakobstor mit den zwei runden Wachtürmen links und rechts, aus deren Mitte sich das massige viereckige Torhaus mit drei Stockwerken erhob. Die Wachen hatten den Vogt bereits erkannt und grüßten respektvoll.

»Ich denke, Ruthard will seine Ruhe haben. Also werden wir zwei das wohl in die Hand nehmen müssen.« Der Vogt hieb Raimund kräftig auf den Rücken, sodass dieser fast gestolpert wäre. »Willkommen in der Welt, gelehrter Domdekan. Mit seinem Latein wird der Herr jedoch weder Emicho noch die Stadtwachen beeindrucken.«

Raimund zog die Augenbrauen hoch. Gleichzeitig war er froh darüber, dass der Vogt die Führung übernommen hatte.

Von Erkenbald zeigte auf das Tor. »Ich vermute, dass sich Waldemar in dem Raum über dem Durchgang aufhält.«

Aus einem der Turmfenster aus dem zweiten Stock winkte ihnen jemand zu. Von Erkenbald erwiderte den Gruß. »Ah, da schau her, wenn man vom Teufel spricht. Da ist der Hauptmann ja schon. Lasst uns hinaufgehen.«

Auf dem Treidelpfad zwischen Worms und Mainz

Welch Freude, welch unvorstellbares Glück. Peter lief wie auf einem Wolkenkissen, als er an einer Kolonne Pferdegespanne vorbeieilte. Braune und schwarze Rösser, große stolze Gäule und kleine dickliche Klepper zogen die Wagen. Auf den Böcken saßen Männer neben ihren Frauen mit Kindern auf dem Schoß. Hatte er wirklich heute Morgen noch einen steinigen Acker gepflügt? Peter konnte es nicht glauben.

 

Ein leichter Wind machte selbst die Hitze vergessen. Es drängte ihn an die Spitze des Zuges. Er wollte der Erste sein, der die große Kirche sehen würde, deren Türme die Wolken kitzelten. Wie im Rausch rannte er nach vorn.

Peter erreichte eine Gruppe kahl Geschorener und verlangsamte seine Schritte. Ausgelassen tanzend liefen die Männer vor einem Pferdegespann her. Zwei Mönche saßen neben dem Kutscher auf dem Bock und spielten auf einem Kasten eine lustige Melodie, laut und klar. Der eine drehte an einer Kurbel, während die Hände des anderen über die kleinen Tasten an der Kiste flogen. Die Tänzer vor dem Wagen drehten sich wie wild in Kreisen zu der Musik, sodass ihre Kutten weit über ihren Knien wehten. Behaarte und glatte, dicke und staksige Beine bewegten sich lustig im Sonnenlicht. Aus vollem Halse sangen sie:

»Schöne Länder, reich und herrlich,

welche ich schon hab gesehen,

doch du übertriffst sie alle.

Welche Wunder sind hier geschehen!

Dass eine Jungfrau ein Kind gebar,

hoch erhaben über aller Engel Schar,

war das nicht ein Wunder gar?«

Die Melodie sprang so fein von Ton zu Ton. Einer der Mönche presste mit seiner rechten Hand ein Instrument an seinen Hals, das Peter noch nie zuvor gesehen hatte: Mit einem Holzbogen, unter dem ein feines Band gespannt war, strich er mit seiner Linken flink hin und her und entlockte dem Instrument helle klare Töne, die wie frisches Wasser die Seele erquickten. Andere Mönche schlugen kleine Zimbeln gegeneinander, deren Ton den Takt vorgab.

»Christen, Juden und Heiden

behaupten, dass dies ihr Erbe sei.

Gott müsste es gerecht entscheiden,

durch die seiner Namen drei.

Die ganze Welt bekriegt sich.

Aber wir sind mit unserer Bitte im Recht,

und daher ist es nur recht,

dass der Herr sie uns gewähre.«

Peter stimmte lauthals mit ein und kreiselte mit den Mönchen, bis ihm der Kopf schwirrte.

Mainz – in der Synagoge

Schwer wälzte Chaim die Steine in seinem Gewissen. Von dem Gottesdienst hatte er bis zu dem Moment, in dem die Torah wieder zusammengerollt und in ihren grünen Samtmantel eingebunden wurde, so gut wie nichts mitbekommen. David hatte ihn des Öfteren erinnern müssen, dass er bei den Gebeten vorschriftsmäßig aufstand.

Wie beim letzten großen Regen, als das Wasser durch die Ritzen des Holzes in ihr Haus eingedrungen war, so brach nun nach und nach das ganze Ausmaß seiner Unachtsamkeit in sein Bewusstsein ein. Ein Gefühl von Ohnmacht machte sich in seinem Innern breit und drohte, jede Regung zu lähmen.

Noch kämpfte er dagegen an. Zacharias wird sicher gleich quicklebendig in der Synagoge auftauchen, sprach er sich Mut zu. Doch es nutzte alles nichts. Die bittere Wahrheit der Schuld drängte sich in seinen Geist wie das jauchige Wasser in die Sandsäcke, die sie beim letzten Regensturm vor dem Eingang ihres Hauses aufgeschichtet hatten.

Fast wäre er sitzen geblieben, als die Torah auf dem Weg von der Bimah zum Torahschrein an ihnen vorbeigetragen wurde. Im letzten Moment, nachdem David ihn kräftig in die Rippen gestoßen hatte, erhob er sich und erwischte gerade noch mit den Fingerspitzen eine der zwei Silberkronen, die als Schmuck für die zwei Stäbe dienten, auf die das kostbare Pergament gerollt war. Gar nicht auszudenken, was er sich im Rat hätte anhören müssen, wenn er die rituelle Berührung der heiligen Schrift auch noch versäumt hätte.

Kalonymos hat völlig recht, raunte ihm eine innere Stimme zu. Du stehst da wie ein Trottel. Nun kamen ihm zu allem Überfluss die Ereignisse von Speyer in den Sinn, deren Bitterkeit er gestern in Erwartung der süßen Liebesnacht so gut im Zaum hatte halten können. Erinnere dich an die elf, die getötet worden sind, befahl ihm sein Gewissen. Und noch schlimmer: Denke an die Zelte vor Worms, an die man blutrote Kreuze aufgestickt hat.

Die Stadtmauern von Mainz sind mächtiger als die von Speyer und Worms, hielt er der bohrenden Stimme der Selbstzerfleischung entgegen. Was kann uns in Mainz passieren? Und überhaupt, in Speyer wurden die Verblendeten zurückgeschlagen. Aber wer konnte schon wissen, wie die Stimmung bei den bewaffneten Pilgern nach ihrer Schmach von Speyer war.

Chaim hielt es kaum noch aus. Seine Finger kratzten an dem Holz des Stuhles, auf dem er saß, sein Magen schmerzte, egal, welche Position er einnahm. Mosche sang schon das Kaddisch zum Abschluss des Gottesdienstes. Verdammt, wo steckte Zacharias denn nur?

Der Gottesdienst war vorbei. Die Gemeinde blieb sitzen, um die angekündigte Rede des Parnas zu hören. Wahrscheinlich würde er auch über Rachels Sorge sprechen. Chaim flehte den Herrn an, dass Kalonymos seinen Namen nicht erwähnte. Wenigstens diese Demütigung sollte ihm erspart bleiben.

Der Parnas war aufgestanden und schritt in Richtung Torahschrein, da hörte Chaim lautes Gemurmel hinter sich. Zacharias ist zurückgekommen, freute er sich. Der Herr hatte seine Gebete erhört.

Aber wieso vernahm er keine Willkommensrufe und keine Zeichen der Erleichterung? Immer lauter und empörter wurden die Stimmen aus dem hinteren Teil der Synagoge.

»Nein, das kann nicht sein.«

»Was wird nun mit uns geschehen?«

»Fliehen, wir müssen fliehen.«

Chaim schloss die Augen und beugte sich nach unten für ein letztes Stoßgebet. Dann gab er sich einen Ruck, stand auf und drehte sich um.

Mainz – in der Kämmerergasse

Nachdem Sarah wieder ihre Alltagskleidung angezogen hatte, flanierten die beiden Schwestern ein wenig durch die Kämmerergasse, die hinunter zur Stadtmauer führte.

Mit Chaim hatte Jehudith sich darauf verständigt, noch ein Schmuckstück für Sarah zu kaufen, jedoch sollte sie nicht mehr als zehn Silberschillinge ausgeben. So geleitete Jehudith ihre jüngere Schwester zum Feinschmied Blasius, der seine Werkstatt mit dem kleinen Laden weiter unten in der geschäftigen Gasse betrieb.

Sie stöberten in den Schaukästen und fanden schließlich eine vergoldete Brosche, die fast perfekt zu Sarahs Kleid passte, aber auch zu anderen Anlässen gut tragbar war. Jehudith bestand darauf, dass der Feinschmied den blauen Stein durch einen grünen ersetzte, damit das Brautkleid durch die Brosche einen Akzent in einem anderen Farbton erhielt. Gemeinsam durchkämmten sie die große Auslage mit Edelsteinen, bis sie fanden, wonach sie gesucht hatten.

Jehudith zog sich mit Herrn Blasius in seine Werkstatt zurück, um außerhalb der Hörweite ihrer Schwester über den Preis des Geschenks zu verhandeln. Jedoch mehr aus Vergnügen als aus Notwendigkeit, denn der Händler verlangte von vornherein für die Brosche selbst mit dem neu eingefügten Stein nur neun Schillinge.

Als sie das Schmuckstück einen halben Schilling heruntergehandelt hatte, besiegelten sie den Kauf mit einem Handschlag. Sie sagte Meister Blasius zu, das Geld am Montag vorbeizubringen, bewegte sie sich doch mit dem Feilschen um den Preis der Brosche bereits an der Grenze dessen, was die Sabbatregeln zuließen. Die Aushändigung des Kaufpreises an einem Samstagmorgen stand für sie als Frau eines Rabbis jenseits des Erlaubten. Blasius nickte freundlich, er war vertraut genug mit seiner jüdischen Kundschaft, um dies zu verstehen.

Jehudith senkte ihren Blick aus Dankbarkeit und trat zu einem Spiegel, an dem sich Schmuckstücke begutachten ließen. Davor nahm sie unter dem erstaunten Blick des Goldschmieds ihr Kopftuch ab und befestigte ihr langes volles Haar links und rechts über dem Ohr mit je einer kleinen Eisenspange. Dann nahm sie ein Stück festen rötlichen Stoff, das wie ein Schiffchen aussah, aus ihrem Bastkorb. An den Enden des roten Stoffes war ein halbdurchsichtiges weißes Samttuch angenäht. Jehudith drückte die Zipfel des Schiffchens zusammen, sodass eine Öffnung entstand, in die ihr Hinterkopf genau hineinpasste. Sie griff eine breite Bronzespange aus dem Korb und zog sie so über den Stoff, dass der Chapeau fest saß.