Boys don't cry

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Geld regiert die ganze Welt

Es überrascht nicht, dass Frauen schon lange dagegen aufbegehren, doch während ihr Kampf sich historisch gegen Einkommensungleichheit richtete und für die Verbesserung der Beschäftigungsaussichten von Frauen, befassen sich in den letzten Jahren immer mehr Menschen auch mit den negativen Auswirkungen, die das auf Männer hat. Was ich euch jetzt erzähle, mag euch erschüttern bis ins Mark, also legt die Ohren an: Eine der stärksten Antriebskräfte auf der Welt ist Geld. Geld ist toll, mit Geld kann man sich Dinge kaufen und Sachen machen, und es gibt kaum jemanden, der nicht gern mehr davon hätte. Folglich haben sich Männer traditionellerweise wenig Gedanken über ein System gemacht, von dem sie persönlich profitieren, selbst wenn es unfair ist.

»Mike, wären Sie damit einverstanden, etwas weniger zu verdienen, damit Sandra zwei Räume weiter, die dieselbe Arbeit macht wie Sie und zwar genauso gut wenn nicht gar besser, ein wenig mehr verdienen kann?«

»Ähm. Na ja, Chef, eigentlich nicht. Was habe ich denn davon?«

»Ihre Kinder würden in einer faireren Gesellschaft aufwachsen.«

»Aber ich würde weniger verdienen?«

»Ja.«

»Dann nicht.«

Sieht man sich die Superreichen an, ist – außer bei einer Handvoll knuddeliger Philanthropen wie Warren Buffet und Richard Branson – der Teil ihres Einkommens, den sie an Wohltätigkeitsorganisationen spenden, prozentual oft geringer als das, was in ärmsten Schichten der Gesellschaft gespendet wird. Wenn wir vom Wohlstand dieser Superreichen lesen, ist dieser für die meisten von uns so riesig, dass wir gar nicht begreifen, wie viel Geld das überhaupt ist oder wie man es je ausgeben kann. Überlegt mal, was ihr mit, sagen wir, 3 Millionen Euro machen würdet. Das wäre schön, nicht wahr? Und ganz unmöglich ist es nicht: Vielleicht gewinnt ihr ja im Lotto. Wenn ihr 100 Jahre alt würdet, wären das dann 30.000 Euro für jedes Jahr eures Lebens, auch für die Jahre vor dem Lottogewinn. Das ist fast so viel wie das Durchschnittseinkommen im Vereinigten Königreich. Solange ihr also die 3 Millionen auf einem Sparkonto lasst, um mit der Inflation Schritt zu halten, und keine Dummheiten macht, müsstet ihr euer ganzes Leben lang keinen einzigen Tag mehr arbeiten. Stellt euch vor, genug Geld zu haben, um nie mehr arbeiten zu müssen! Stellt euch vor, wie phantastisch das wäre. Und jetzt stellt euch vor, was ihr mit tausend Mal so viel Geld machen würdet. Das sind 3 Milliarden, damit könnte man tausend Mal 100 Jahre alt werden, ohne je einen einzigen Tag arbeiten zu müssen. Im Jahr 2015 gab es 1.826 Milliardäre auf der Welt mit einem Durchschnittsvermögen von 3,8 Milliarden US-Dollar,8 was zu dem Zeitpunkt, da ich dies schreibe, nicht ganz 3 Milliarden Euro sind. Wenn diese 1.826 Menschen ihren Wohlstand so verteilten, dass sie sich ein jährliches Durchschnittseinkommen zahlen könnten, besäße jeder von ihnen genug, um 100.000 Jahre zu leben, ohne je arbeiten zu müssen. Lasst uns das mal relativieren: Da erst zehn Prozent der Reise vergangen sind, wären sie dann so weit in der Zukunft wie die Epoche, als wir den Lebensstil als Jäger und Sammler aufgegeben haben, in der Vergangenheit liegt. Auf halbem Weg hätten sie so lange gelebt, wie modernes menschliches Verhalten existiert. Bis sie ihr Geld ausgegeben haben, bereuen sie die Entscheidung wahrscheinlich und fragen sich, warum sie beschlossen haben, behaglich 100.000 Jahre zu leben, und gütiger Himmel, es ist verdammt heiß auf der Erde heutzutage, was?

So viel Geld besitzt der*die durchschnittliche Milliardär*in. Viele dieser Menschen arbeiten aber weiter und widmen ihr Leben der Aufgabe, dieses Vermögen noch weiter zu vergrößern, denn so etwas macht Geld: Es verzerrt die Perspektive. Viele Menschen wollen, egal wie viel Geld sie schon besitzen, immer noch mehr davon. Egal, wie unsere Situation ist, wir sind selten zufrieden und wissen, dass es immer noch besser geht. Das gehört zu den Dingen, die den Menschen so einzigartig machen, und auch wenn es in solchen Dimensionen rätselhaft erscheint, ist es wahrscheinlich der Grund, warum wir einen so großen technischen Fortschritt erreicht haben: Es gibt immer noch etwas, was uns das Leben leichter machen kann.

Wenn Mikes Chef also fragt, ob er etwas weniger verdienen möchte, damit Sandra im Büro nebenan ein wenig mehr verdienen kann, wird er – ob er weiß, dass es eigentlich fair wäre, oder nicht – nicht das opfern, was ihn persönlich motiviert. Es entspricht der menschlichen Natur, dass die mit den größten Privilegien nicht gewillt sind, diese aufzugeben, auch wenn sie erkennen, wie unfair es ist. Der Komiker Louis CK hat dies in Bezug auf Rassismus vermutlich besser erklärt, als es irgendjemand sonst könnte:

»Ich find’s toll, weiß zu sein. Im Ernst. Wenn man nicht weiß ist, verpasst man was: Es ist so richtig geiler Scheiß. Lassen Sie mich das klarstellen: Ich sage nicht, dass Weiße besser sind. Ich sage nur, dass weiß zu sein eindeutig besser ist. Wer wollte mir da widersprechen? Wenn man die Wahl hätte, würde ich jedes Jahr verlängern. ›O ja, ich nehme wieder weiß. Definitiv.‹ Ich sag Ihnen, wie toll es ist, weiß zu sein: Wenn ich eine Zeitmaschine hätte, könnte ich in jede Zeit reisen, und es wäre phantastisch, wenn ich dort ankäme! Das ist ein exklusiv weißes Privileg! Schwarze Menschen geben sich nicht mit Zeitmaschinen ab!«

Was Arbeit angeht, haben Männer immer von ihrem Gender profitiert und profitieren heute noch davon, auch wenn viele von uns es weder mit Absicht tun noch böswillig. Es ist entscheidend, dass wir dies zugeben: Wenn ihr glaubt, dass Frauen Chancengleichheit verdient haben, dann müsst ihr wenigstens zugeben, dass das Problem existiert. Wenn ihr nicht glaubt, dass Frauen Chancengleichheit verdient haben, dann solltet ihr dieses Buch wahrscheinlich nicht lesen, aber selbst dann gibt es einen Anreiz, euch das Problem bewusst zu machen, denn auch ihr als Männer könnt davon profitieren.

Wie wir uns den Weg aus unserem biologischen Schicksal gestaltet haben

Im Zuge der Veränderungen der Genderrollen in den letzten sechzig oder siebzig Jahren haben mehr Frauen einen Beruf ergriffen und sich allmählich auch in Führungspositionen hochgearbeitet, die zuvor nur Männern vorbehalten waren (197 von diesen Milliardär*innen im Jahr 2015 waren Frauen, die höchste Zahl aller Zeiten). Finanziell haben Männer immer noch bedeutend mehr Macht, aber immer häufiger sehen wir, was einst undenkbar gewesen wäre: Haushalte und Partnerschaften, in denen Frauen die Hauptverdienerinnen sind. Das bietet den Männern eine Gelegenheit, die ihnen in der Vergangenheit selten offenstand: Sich in erster Linie um ihre Kinder zu kümmern.

Dies ist eines der zentralen Beispiele dafür, dass die Biologie bei Genderrollen inzwischen überflüssig ist. Es stimmt zwar, dass ihre Körpergröße und ihre Kraft frühen Männern einen Vorteil als Jäger verschaffte, doch Frauen hätten, auch wenn sie von Natur aus zierlicher sind, durchaus auch die Muskelkraft entwickeln können, die notwendig war, um ihre Beute zu erlegen, wenn sie die Chance bekommen hätten. Männer dagegen hätten nicht die Aufzucht der Kinder übernehmen können, denn sie können keine Milch produzieren – etwas, worüber ich manchmal jammere, wenn ich meine rätselhaft funktionslosen Brustwarzen im Spiegel betrachte. Und so war für den größten Teil der Geschichte festgeschrieben, dass Genderrollen nicht davon bestimmt wurden, was Frauen gekonnt hätten, sondern davon, was Männer nicht konnten. Es ist die grausamste Ironie, und noch heute leiden Frauen unter dem, was man tatsächlich ihre biologische Überlegenheit nennen könnte. Doch das muss nicht sein.

Das Ammentum hat eine lange Tradition: Mütter, die ihre Kinder nicht stillen konnten oder wollten, haben sich Ammen genommen. Doch dank der Entwicklung von Milchpumpen und Milchersatznahrung sind Säuglinge nicht mehr auf den direkten Zugang zu Milchdrüsen angewiesen. Es sind relativ simple Erfindungen, doch sie sind verantwortlich für einen der revolutionärsten Schläge gegen Genderrollen in der Geschichte, denn sie erlauben Männern, die Rolle der Hauptbezugsperson für die Kinder zu übernehmen, und geben Frauen die Gelegenheit, unmittelbar nach der Geburt zur Arbeit zurückzukehren. Sie haben damit quasi auch den Weg für Adoptionen durch gleichgeschlechtliche Paare geebnet (auch wenn noch viele Jahrzehnte vergingen, bis es sozial akzeptiert und vom Gesetz legalisiert wurde). Nachdem Genderrollen über hunderttausende von Jahren durch die Biologie erzwungen worden waren, war das einzige körperliche Hindernis, das verhinderte, dass ein Vater seine Kinder großziehen konnte, damit aus dem Weg geräumt worden. Mit diesen Erfindungen haben wir uns aus einer biologisch erzwungenen Struktur gelöst. Ist euch klar, wie verdammt geil das ist? Leck mich, Mutter Natur, du bist eh nicht meine richtige Mama!

Gesellschaftlich haben wir noch einen langen Weg vor uns, aber Haltungen können sich sehr viel schneller verändern als Körper. Die Auswirkungen sind erst seit zwei oder drei Jahrzehnten sichtbar, doch es ist deutlich, dass jedes Jahr mehr Männer lernen, ihre Vaterrolle anzunehmen und ihre Kinder großzuziehen – und aus irgendeinem Grund scheint es, als bekäme jeder Einzelne eine Zeitungskolumne, um sich darüber auszulassen. (Im Ernst, mehr braucht es nicht? Denn wenn ich dann für lukratives Honorar regelmäßig für die Zeitung schreiben darf, werde ich auf jeden Fall ein Kind in die Welt setzen.) Es scheint auch Auswirkungen auf die allgemeine Haltung zur Vaterschaft zu haben, denn selbst Väter, die Vollzeit arbeiten, unternehmen heutzutage größere Anstrengungen, gute Bindungen zu ihrem Nachwuchs aufzubauen. Die gesellschaftlichen Implikationen werde ich später noch ausführlicher behandeln, aber es bedarf keiner weiteren Erläuterung, dass das einen positiven Effekt auf unsere Vorstellung von Männlichkeit hat und eine entscheidende Rolle dabei spielen wird, wie Genderrollen in einer – für uns alle besseren – Zukunft aussehen werden. Oder wenigstens aussehen könnten. Wir haben die körperliche Hürde genommen, doch solange wir uns nicht mit den sozialen Fragen befassen, bekommen nur wenige Männer so eine Gelegenheit, und das ist eine Tragödie.

 

Die steigenden Kosten für ein langes Leben

Es ist noch gar nicht lange her, da konnte man eine Familie bequem einzig mit dem Gehalt des Vaters ernähren. Im Jahr 2015 betrugen die durchschnittlichen Kosten für ein Kind bis zum 21. Lebensjahr 222.251 Pfund9 (umgerechnet rund 265.000 Euro), knapp 11.000 Pfund (knapp 13.000 Euro) pro Jahr. Bei einer Anzahlung von zehn Prozent auf 235.000 Pfund10 (wofür man in Manchester ein Haus mit zwei Schlafzimmern bekäme) kostet die Hypothek eine Familie 15.600 Pfund jährlich. Ohne die elementaren Lebenshaltungskosten etwa für Lebensmittel (die nicht ganz unwichtig sind) hinzuzurechnen, übersteigen die Hypothek und die Kosten für ein Kind bereits das britische Durchschnittseinkommen von 26.000 Pfund. Das heißt, wenn nur ein Elternteil arbeiten würde, müsste dessen Einkommen weit über dem Durchschnitt liegen. Die meisten Menschen verdienen aber leider kaum mehr als der Durchschnitt, denn das ist gewissermaßen das Konzept des Durchschnitts. Also geht es im Allgemeinen einfach nicht, dass ein Elternteil zu Hause bei den Kindern bleibt, bis diese eingeschult werden.

Mutterschaftsgeld schafft da ein wenig Abhilfe, indem es dafür sorgt, dass arbeitende Mütter nicht unmittelbar nach den Wehen gezwungen sind, an den Arbeitsplatz zurückzukehren. Im Vereinigten Königreich bekommen Mütter sechs Wochen lang neunzig Prozent ihres normalen Lohns, und dann erhalten sie für weitere dreiunddreißig Wochen 139,58 Pfund (umgerechnet ca. 165 Euro) pro Woche (oder neunzig Prozent, je nach dem, was weniger ist). Väter bekommen nur zwei Wochen lang bezahlten Vaterschaftsurlaub. Erst während des Zweiten Weltkriegs wurde es üblich, dass Frauen einer Lohnarbeit nachgingen, folglich wurde es erst in den vierziger Jahren notwendig, über bezahlte Freistellung für Eltern nachzudenken. Und das war nur eine von vielen Perioden in den letzten zweihundert Jahren, die entscheidenden Anteil daran haben, was Männlichkeit heute für uns bedeutet.

We are not amused – das finden wir gar nicht lustig

Ich weiß, ich weiß, es gibt keinen Beweis dafür, dass Königin Victoria diese Worte je gesagt hat, aber offen gestanden finde ich das nicht so wichtig, denn sie fassen, so oder so, doch ganz gut den Geist der Epoche zusammen, die ihren Namen trägt. Auf viele von uns übt das Großbritannien des 19. Jahrhunderts heute eine einzigartige Faszination aus. Für den Großteil der Gesellschaft damals war es ziemlich elend, wie es historisch immer der Fall war, doch für das Land an sich war es auch eine Zeit großen Wohlstands, die nicht nur einige der wohl schönsten Gebäude hervorbrachte, sondern auch die meisten Werte prägte, die heute als zutiefst britisch gelten. Selbst Ideale wie unser Wunsch nach weißen Weihnachten können bis hin zu den Werken von Charles Dickens zurückverfolgt werden, dessen Arbeiten die Periode widerspiegeln, die heute als Miniatureiszeit gilt. Es war auch der Beginn einer Kultur der Etikette und Korrektheit.

Fragt eine beliebige Zahl von Ausländer*innen nach den charakteristischen Eigenschaften des Durchschnittsbriten, und ihr werdet mit Sicherheit ziemlich oft »Höflichkeit« zur Antwort erhalten. Wir haben uns den Ruf erworben, eine zuweilen aufreizend höfliche Gesellschaft zu sein, über die George Mikes, ein in Ungarn geborener Schriftsteller, der mit Mitte zwanzig nach London verpflanzt wurde, schrieb: »Wenn ein Engländer alleine an einer Bushaltestelle wartet, bildet er eine ordentliche Schlange von einer Person.« Diese neue Konzentration auf Etikette, vermutlich eine Nebenwirkung der aufstrebenden Mittelschicht, sorgte für die Herausbildung der äußerst konservativen Haltungen, für die wir bekannt wurden und von denen sich viele zu Qualitäten entwickelten, die wir jetzt (oft fälschlicherweise) als männlich betrachten – wie zum Beispiel die Unterdrückung von Gefühlen. Der Einfluss der viktorianischen Epoche auf das, was heute mit ›britischen Werten‹ gleichgesetzt wird, war so stark, dass man leicht annehmen kann, wir wären immer schon prüde gewesen, emotional und sexuell unterdrückt, beleidigt ob der leisesten Andeutung von Unschicklichkeit. Aber geht nur mal zweihundert Jahre vor die Viktorianer zurück, und ihr werdet feststellen, dass die britische Literatur zu dieser Zeit ziemlich versaut war. Und ich meine keinen Schmuddel von der Sorte »Huch, die Dame zeigt Knöchel«, sondern richtige Sauereien, die heute an den Fernsehzensoren nicht vorbeikämen. Seht euch nur diesen Auszug von John Wilmot, Earl of Rochester, aus dem Jahr 1672 an, A Ramble in St. James’s Park:

Had she picked out, to rub her arse on,

Some stiff-pricked clown or well-hung parson,

Each job of whose spermatic sluice

Had filled her cunt with wholesome juice,

Hätt sie, um sich den Arsch zu reiben,

’nen harten Kerl gewählt, ’nen gut bestückten Pfaff,

so würd die Mös nicht lange trocken bleiben,

wär schnell gefüllt mit zuträglichem Saft.

Wilmot starb acht Jahre später an einer Geschlechtskrankheit – woran auch sonst? Wenn das im 17. Jahrhundert als Poesie durchging (Poesie, ich bitte euch!), dann wage ich mir gar nicht auszumalen, wie Pornografie aussah. Geht noch weiter zurück in die Zeit von Chaucer, und ihr findet Sex und Obszönitäten an jeder Ecke. Was ich damit sagen will? Wir waren nicht immer die sexlosen, prüden Langeweiler, die in der Formulierung »britische Werte« mitschwingen. Vor noch nicht allzu langer Zeit sind wir mit unserer Sexualität ziemlich laut und offen umgegangen, doch die Viktorianer haben das Ihre getan, dem ein Ende zu bereiten. Wenn wir der Straße »Was Poesie uns über unsere Geschichte lehrt« weiter folgen, dann ist Rudyard Kiplings »If …« – »Wenn …« – eines der berühmtesten Gedichte aller Zeiten – im Grunde eine Ode an die »stiff upper lip«. Veröffentlicht im Jahr 1895, erklärt es dem Leser, wenn er einer Reihe von Regeln folgt »und auch nicht klagst, wenn du verlierst«, dann »du, mein Sohn, wirst sein: ein Mann!«. Man kann wohl sagen, dass die Briten – besonders die Männer – zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf dem besten Weg waren, die emotional gestörten Wesen zu werden, als die wir sie heute kennen.

Nach zwei Weltkriegen verändern sich ein paar Dinge …

Als Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts der Prozess der Globalisierung begann, erfuhr die Welt einen Wandel bis dahin nicht gekannten Ausmaßes. Reisen und Handel zwischen den Kontinenten hatte es vorher auch schon gegeben. Hunderte von Jahren, doch ab da funktioniert die Welt wirklich als etwas mehr als eine Ansammlung individueller Staaten. Angesichts der menschlichen Natur überrascht es nicht, dass in dieser Zeit im Abstand von gerade mal zwei Jahrzehnten die ersten beiden Weltkriege ausbrachen. Auch wenn die Globalisierung an sich nicht der Auslöser für diese Konflikte war, führten die veränderten geschäftlichen Beziehungen und die wachsende gegenseitige Abhängigkeit zwischen internationalen Verbündeten fast unvermeidlich dazu, dass sehr viel mehr Länder in diese Kriege hineingezogen wurden. Das hieß natürlich, dass Großbritannien Zugriff auf mehr Menschenpotenzial hatte; die Kehrseite war, dass das auch für unsere Feinde galt.

Bis dahin hatte Großbritannien auf eine allgemeine Wehrpflicht verzichtet, doch als 1914 der Krieg ausbrach, suchte der Kriegsminister Lord Kitchener Wege, so viele Männer wie möglich dazu zu bringen, sich freiwillig zum Militär zu melden. In der Annahme, Männer wären eher bereit, ihrem Land zu dienen, wenn sie dies im Kreis ihrer Familie und Freunde tun könnten, wurden die sogenannten Pals-Bataillone aufgestellt. Diese bestanden aus Männern, die sich zusammen bei örtlichen Rekrutierungskampagnen meldeten, und sie erwiesen sich, wie der Journalist und Historiker Bruce Robinson bemerkt, als äußerst erfolgreich:

»Lord Derby war der Erste, der die Idee auf die Probe stellte, als er Ende August erklärte, er werde versuchen, in Liverpool ein Bataillon aufzustellen, das ausschließlich aus Ortsansässigen bestand. Innerhalb von Tagen hatten sich in Liverpool so viele Männer eingeschrieben, dass es für vier Bataillone reichte.

Der Erfolg in Liverpool war anderen Städten Ansporn gleichzuziehen. Das war das große Geheimnis hinter den ›Pals‹: Der Stolz der Städte und der Gemeinschaftsgeist spornten andere Städte an, miteinander in Wettstreit zu treten, wer die größte Zahl an Rekruten aufbrachte.«11

Das Ziel, die Kriegsstärke zu vergrößern, wurde erreicht, doch im ganzen Land wurden Straßen und Städte eines Großteils ihrer männlichen Bevölkerung beraubt. Als wären die Toten, die dem Feind zum Opfer fielen, nicht genug, wurden im Laufe des Krieges 306 britische Soldaten für Verbrechen exekutiert, auf die im zivilen Leben nicht die Todesstrafe stand. Bei vielen lautete die Straftat Feigheit. Heute, wo ein größeres Verständnis für psychische Gesundheit herrscht, hat sich das Wissen durchgesetzt, dass diese Männer unter einer posttraumatischen Belastungsstörung litten und ihr vorgebliches Verbrechen keine bewusste Entscheidung war. Noch im Jahr 1993 weigerte sich Premierminister John Major, diese Männer zu begnadigen, indem er behauptete, sie hätten einen fairen Prozess bekommen und sie zu begnadigen hieße, jene zu beleidigen, die einen ehrenhaften Tod auf dem Schlachtfeld gefunden hatten. Die Blair-Ära brachte schließlich eine Kehrtwende, aber erst im Jahr 2006.

Noch nie zuvor hatten so viele Männer für ihr Land gekämpft. Die Männer, die den Krieg überlebten, hatte das strenge Reglement der militärischen Kultur, der sie sich hatten unterwerfen müssen, verändert. Die Hinrichtungen wegen Feigheit waren genauso sehr eine Warnung wie eine Strafe: Wer sich auch nur den kleinsten Augenblick der Schwäche erlaubt, läuft Gefahr, in der Morgendämmerung durch ein Exekutionskommando den Tod zu finden. Das wurde den Rekruten mit solcher Schärfe eingedrillt, dass die Auswirkung oft unumkehrbar war, so dass sie bei ihrer Rückkehr nicht die geringste Chance hatten, sich wieder in eine gesunde Gesellschaft zu integrieren. Zwar wurden sie als Helden bejubelt, doch von ihrer Regierung wurden sie im Stich und mit ihren körperlichen und seelischen Wunden allein gelassen.

Krieg war einmal etwas gewesen, an dem teilzunehmen britische Männer sich aus freien Stücken entschlossen, doch mit der Einführung der Wehrpflicht während des Ersten Weltkriegs und der Rückkehr dazu bei Beginn des Zweiten Weltkriegs im Jahr 1939 markiert die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts einen beachtenswerten Wendepunkt. Die Wehrpflicht galt offensichtlich nur für Männer, denn nur Männer waren damals befähigt, in der Armee zu dienen, aber es muss hier trotzdem vermerkt werden.

Die Assoziation von Männlichkeit und Militär mag schon Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg zementiert worden sein, doch die Wehrpflicht veränderte den Blick der Gesellschaft auf Männer grundlegend, indem sie ihnen ihren freien Willen raubte und sie zwang, sich zu fügen. Mit anderen Worten, sie machte ihre Männlichkeit obligatorisch.

In dem Moment, als man die Männer der Möglichkeit beraubte zu wählen, ob sie in den Krieg zogen oder nicht, gab es einen neuen, staatlich sanktionierten Bedarf an Männlichkeit. Wehrdienstverweigerer und Pazifisten, die sich zu kämpfen weigerten, riskierten, ins Gefängnis zu gehen, aber bedeutsamer ist vielleicht, dass sie großer gesellschaftlicher Ächtung ausgesetzt waren und in den Augen mancher selbst heute noch als Feiglinge gelten. In einer Folge von Question Time im Jahr 2009 reagierte Nick Griffin (der damalige Anführer der ultrarechten British National Party) auf Anschuldigungen von Jack Straw (zu dem Zeitpunkt Justizminister), er sei ein Nazi-Unterstützer, mit dem Hinweis, sein eigener Vater habe im Zweiten Weltkrieg in der Royal Air Force gedient, während Straws Vater im Gefängnis gesessen habe, weil er »sich geweigert hatte, gegen Adolf Hitler zu kämpfen«12. Das war unleugbar eine billige Nummer, aber der Vorfall macht anschaulich, dass Wehrdienstverweigerer immer noch stigmatisiert werden. Es besteht kein Zweifel daran, dass viele derer, die im Krieg kämpften, dies widerstrebend taten, doch es herrschte allgemein Einigkeit darüber, dass es schlicht die Pflicht eines Mannes war, seinem Vaterland zu dienen, und dieser Pflicht unterwarf man sich fraglos. 1960 wurde die Wehrpflicht wieder aufgehoben, doch bis dahin war sie für zwei Generationen britischer Männer Realität gewesen, und auch wenn sich die rechtliche Situation geändert hat, sind die Einstellungen, die daraus erwuchsen, so fest in der Gesellschaft verankert, dass sie noch an zukünftige Generationen weitergegeben werden.

 

Ich fasse mich hier kurz, denn über den emotionalen Tribut des Krieges habe ich bereits gesprochen, und auf das Militär komme ich später noch ausführlicher zurück, doch es ist wichtig: Nicht nur der Kriegsdienst war Pflicht – auch alles, was danach kam, war obligatorisch. Von den Männern wurde erwartet, mit dem Leben ganz normal weiterzumachen, und wenn es Probleme gab – insbesondere psychische –, hatten sie diese, wie alle anderen auch, klaglos durchzustehen. Weil es eine allgemeine Pflicht war, weil man nur einer von vielen war, die alle denselben Mist durchgemacht hatten, und weil man weder etwas Besonderes war noch einzigartig, war der Druck groß, es abzuschütteln, wie alle anderen es auch abzuschütteln schienen, und sich so zu verhalten wie alle anderen Männer auch. Infolgedessen betrachtete die Gesellschaft das, was unter Männern zur Norm wurde, zunehmend als männlichen Wesenszug. Männlichkeit ist im Kern schlicht ein Spiegel dessen, wie die Mehrheit der Männer agiert, und wenn ein Ereignis einen großen Prozentsatz der männlichen Bevölkerung verändert, verändert sich damit auch das, was wir als männlich erachten.