Primärziel: Der Werdegang von Luke Stone—Buch #1

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KAPITEL SIEBEN

18:15 Uhr (USA Eastern Daylight Zeit)

Queen Anne’s County, Maryland—Östliche Küste der Chesapeake Bucht

„Du siehst wunderschön aus”, sagte Luke.

Er war gerade angekommen. Sobald er durch die Tür geschritten war, hatte er sich sein Hemd und seine Krawatte vom Leib gerissen und sich Jeans und ein T-Shirt angezogen. Jetzt hatte er eine Dose Bier in der Hand. Es war eiskalt und köstlich.

Der Verkehr war verrückt. Er brauchte neunzig Minuten von Washington DC durch Annapolis über die Brücke der Chesapeake Bucht, um an die Ostküste zu gelangen. Doch das spielte alles keine Rolle mehr, weil er jetzt zu Hause war.

Er und Becca hielten sich im Häuschen ihrer Familie in Queen Anne’s County auf. Das Häuschen war ein alter, rustikaler Ort, das an einer Steilküste direkt über der Bucht lag. Es hatte zwei Stockwerke, alles war aus Holz, weshalb es überall krächzte und stöhnte, wo man auftrat. Es gab eine mit Fliegengitter geschützte Terrasse mit Blick auf das Wasser und eine Küchentür, die enthusiastisch zufiel.

Die Möbel im Wohnzimmer waren Generationen alt. Die Betten waren alte Metallskelette mit Federn. Das Bett im Hauptschlafzimmer war fast, aber nicht ganz, lang genug, damit Luke darin bequem schlafen konnte. Der weitaus robusteste Gegenstand im Haus war der Steinkamin im Wohnzimmer. Es schien fast als wäre der Kamin zuerst dagewesen, und jemand mit Sinn für Humor hatte eine klapprige Hütte darum gebaut.

Angeblich war das Haus schon seit über hundert Jahren im Besitz der Familie. Einige von Beccas frühesten Erinnerungen hatten dort stattgefunden.

Es war ein wirklich schöner Ort. Luke gefiel es hier.

Sie saßen im Hinterhof, genossen den späten Nachmittag, während die Sonne langsam westwärts über die riesige Wasserfläche zog. Es war ein windiger Tag und überall da draußen waren weiße Segel gesetzt. Luke wünschte sich fast, dass die Zeit anhielte und er hier für ewig sitzen könnte. Die Umgebung war wunderbar und Becca war wirklich schön. Da hatte Luke nicht gelogen.

Sie war so hübsch wie immer und fast genauso zierlich. Ihr Sohn war ein Basketball, den sie unter ihrer Bluse schmuggelte. Einen Teil des Nachmittags hatte sie damit verbracht, ein wenig im Garten zu graben, weshalb sie ein bisschen verschwitzt war. Sie trug einen großen Sonnenschlapphut und trank ein großes Glas Eiswasser.

Sie lächelte. „Du bist auch nicht grade hässlich.”

Eine lange Pause zog sich zwischen ihnen hin.

„Wie war dein Tag?” fragte sie.

Luke nippte erneut an seinem Bier. Er glaubte daran, dass man die Dinge richtig lösen musste, wenn es Ärger gab. Ausreden waren normalerweise nicht sein Stil. Und Becca hatte es verdient, es sofort zu hören.

„Nun, es war anders als gewohnt. Don heuert die Belegschaft an. Und er hat mir heute ein Projekt zukommen lassen.”

„Super”, antwortete Becca. „Das sind doch gute Nachrichten, oder? Ist es etwas, auf das du dich konzentrieren kannst? Ich weiß, dass der Job dich ein wenig gelangweilt hat und die Pendelei dich frustriert.”

Luke nickte. „Klar, es sind gute Nachrichten. Könnten es zumindest sein. Es ist Polizeiarbeit, könnte man sagen. Wir sind das FBI, stimmt’s? Das ist unsere Aufgabe. Der Nachteil ist, dass wenn ich diese Aufgabe annehme - und ich habe da nicht wirklich die Wahl, da es meine Arbeit ist - ich die Stadt für ein paar Tage verlassen muss.”

Luke hörte sich selbst dabei zu, wie er zögerte. Es gefiel ihm nicht, wie das klang. Die Stadt verlassen? War das ein Witz? Don schickte ihn nicht nach Pittsburgh.

Jetzt nippte Becca an ihrem Wasser. Ihre Augen beobachteten ihn über den Glasrand. Sie blickten wachsam. „Wo musst du denn hin?”

Das war es. Es wäre besser, jetzt gleich die Wahrheit zu sagen.

„Irak.”

Ihre Schultern fielen vornüber. „Oh Luke. Wirklich.” Sie seufzte schwer. „Er will dich in den Irak schicken? Du bist gerade aus Afghanistan zurückgekehrt, wo du fast gestorben wärst. Weiß er nicht, dass wir bald ein Baby haben? Das weiß er doch, oder?”

Luke nickte. „Er hatte dich gesehen, Liebes. Erinnerst du dich? Er hat dich mitgenommen, um mich zu besuchen.”

„Wie kann er auch nur daran denken? Ich hoffe, dass du ihm nein gesagt hast.”

Luke nippte erneut an seinem Bier. Es war jetzt ein wenig wärmer. Nicht mehr gar so köstlich wie noch vor einem Moment.

„Luke? Du hast ihm nein gesagt, stimmt’s?”

„Liebling, das ist mein Beruf. Es gibt nicht viele andere Jobs wie diesen für mich. Don hat mir einen Rettungsring zugeworfen und mir den Hals gerettet. Die Armee hätte gesagt, dass ich PTB habe und hätte mich rausgeschmissen. Wegen Don geschah dies nicht. Ich bin gerade nicht in der Situation, in der ich das ablehnen kann. Und es ist auch eine ziemlich einfache Aufgabe.”

„Eine einfache Aufgabe in einem Kriegsgebiet”, erwiderte Becca. „Worum geht es? Sollst du Osama bin Laden umbringen?”

Luke schüttelte seinen Kopf. „Nein.”

„Was denn dann?”

„Es gibt dort einen Militärvertragsnehmer, der außer Kontrolle ist. Der plündert alte Verstecke von Saddam Hussein und stiehlt Geld, Kunstwerke, Gold, Diamanten… Die wollen, dass ich und ein Partner ihn festnehmen. Es ist gar kein Militäreinsatz. Es ist Polizeiarbeit.”

„Wer ist der Partner?” fragte sie. An ihrem Blick konnte er erkennen, dass sie daran dachte, was seinem letzten Partner widerfahren war.

„Ich habe ihn noch nicht kennengelernt.”

„Und warum lassen sie nicht einfach die Militärpolizei das regeln?”

Luke schüttelte seinen Kopf. „Das ist nichts, womit sich das Militär befasst. Wie schon gesagt, es ist eine Polizeiangelegenheit. Der Vertragsnehmer ist technisch gesehen ein Ziviler. Sie wollen den Unterschied klar darstellen.”

Luke dachte an all die Dinge, die er ausließ. Die Unruhen in der Region und das ständige Kämpfen, das dort vor sich ging. Die Gräueltaten, die Parr begangen hatte. Das Team von Schurken und erbarmungslosen Killern, das er um sich geschart hatte. Die Verzweiflung, die sie gerade spüren mussten, um lebendig und mit ihrer ganzen Beute dort rauszukommen, ohne dabei vom langen Arm des Gesetzes gefangen zu werden. Die toten Männer, enthauptet und verbrannt, die von einer Brücke hingen.

Becca begann abrupt zu weinen. Luke stellte das Bier ab und ging zu ihr. Er kniete neben ihrem Stuhl und umarmte sie.

„Oh Gott, Luke. Sag mir, dass das nicht wieder alles anfängt. Ich glaube nicht, dass ich es aushalten könnte. Unser Sohn kommt bald auf die Welt.”

„Ich weiß”, entgegnete er ihr. „Ich weiß das. Es wird nicht wie früher. Es ist kein Militäreinsatz. Ich gehe nur drei, vielleicht vier Tage weg. Ich nehme den Typen fest und bringe ihn nach Hause.”

„Was, wenn du stirbst?” wollte sie wissen.

„Ich werde nicht sterben. Ich werde sehr vorsichtig sein. Ich muss vielleicht nicht mal meine Waffe ziehen.”

Er konnte die Dinge, die er ihr da erzählte, fast nicht glauben.

Sie zitterte jetzt vor lauter Weinen.

„Ich will nicht, dass du gehst”, sagte sie.

„Ich weiß, Schatz, ich weiß. Aber ich muss gehen. Es wird sehr schnell sein. Ich werde dich jeden Abend anrufen. Du kannst bei deiner Familie unterkommen. Und dann bin ich gleich wieder da. So als ob ich nie gegangen wäre.”

Sie schüttelte ihren Kopf, die Tränen flossen jetzt noch mehr. „Bitte”, flehte sie. „Bitte sag mir, dass alles in Ordnung kommt.”

Luke hielt sie vorsichtig fest, achtete auf das Baby, das in ihr wuchs. „Alles kommt in Ordnung. Alles wird wunderbar. Ich weiß es.”

KAPITEL ACHT

5. Mai

15:45 Uhr (USA Eastern Daylight Time)

Joint Base Andrews

Prince George’s County, Maryland

„Du bist der Chef”, sagte Don.

Er war ein paar Zentimeter größer als Luke und ein ganzes Stück breiter. Sein graues Haar, seine Größe, sein Alter und seine Erfahrung ließen Luke sich neben Don immer wie ein Kind fühlen.

„Lass sie nicht vergessen, wer das Sagen hat. Ich würde mit dir mitkommen, aber ich stecke in Terminen fest. Du bist mein Repräsentant. Was diese Reise angeht, bist du ich.”

Luke nickte. „In Ordnung, Don.”

Sie gingen einen langen, breiten Gang durch den Terminal entlang. Schwärme von Menschen, die meisten trugen verschiedene Uniformen, liefen umher. Andere standen und aßen bei Taco Bell und Subway. Männer und Frauen umarmten sich. Haufen von Gepäck fuhr auf Wagen vorbei. Es herrschte viel Betrieb. Es gab zwei Kriege zum gleichen Zeitpunkt und überall im Militär wurde Personal entsandt.

„Ein neuer Typ kommt mit dir mit. Er ist dein Partner, aber du bist der Dienstältere. Sein Name ist Ed Newsam. Ich mag ihn. Er ist groß, verdammt selbstsicher und jung. Ich habe ihn aus Delta herausgeholt, obwohl er nur ein Jahr dort war.”

„Ein Jahr? Don…”

„In dem Jahr hat er schon eine Menge geleistet. Glaub mir, du wirst mir danken, dass ich diesen Typen angeheuert habe. Er ist ein toller Kerl. Ein richtiges Tier, genauso wie du es in dem Alter warst.”

Mit seinen zweiunddreißig Jahren begann Luke sich schon alt zu fühlen. In den letzten Wochen war er wieder ins Fitnessstudio gegangen und es fühlte sich anstrengend an, wieder in Form zu kommen. Das war ein böses Erwachen. Er hatte sich während seiner Zeit im Krankenhaus gehenlassen.

„Trudy und Swann reisen mit dir, doch die werden dich nicht beim Einsatz begleiten. Sie bleiben in der grünen Zone, wo es sicherer ist und liefern dir von dort aus Beratung und Informationen. Unter keinen Umständen solltest du sie in Gefahr bringen. Sie sind kein Militärpersonal und waren es auch nie.”

Luke nickte. „Verstanden.”

Don hielt inne. Er wandte sich an Luke. Seine harten Augen wurden ein wenig weicher. Es war als ob er Lukes Vater war - der Vater, den er nie hatte. Don war einfach nur ein riesiger, grauhaariger, breitgebauter Papa mit einem Gesicht, das aus Granit gemeißelt schien.

 

„Du schaffst das, mein Sohn. Du hattest schon zuvor Kommandopositionen. Du warst schon zuvor in Kriegsgebieten. Du warst schon auf schwierigen, unmöglichen Missionen. Das hier ist anders. Es wird einfacher, OK? Big Daddy Cronin kümmert sich um diesen Einsatz vom Boden aus. Er schützt dir den Rücken und liefert die Leute, die du in der Luft brauchst und ist direkt einen Schritt hinter dir.”

Luke freute sich, das zu hören. Bill Cronin war ein CIA Spezialagent. Er hatte eine Menge Erfahrung im Nahen Osten. Luke hatte schon zwei Mal zuvor unter ihm gedient - einmal wurde er von der Delta Force an die CIA verliehen und das andere Mal waren sie auf einem gemeinsamen Spezialeinsatz.

Don fuhr fort. „Ich gehe ganz davon aus, dass ihr Jungs da einfallt und Parr seine Waffe fallenlässt und die Hände hochhebt. Der wird erleichtert sein, dass ihr nicht Al Qaeda seid. Wir brauchen einen schnellen Gewinn, um den Kongressmitgliedern zu beweisen, dass wir es ernst meinen. Deshalb habe ich dir eine einfache Mission zugeteilt. Doch sage das nicht den anderen. Die glauben, dass das hier das ernsthafteste überhaupt ist.”

Luke lächelte und schüttelte seinen Kopf. „In Ordnung, Papa.”

„Ich würde dir ja das Haar zerzausen, aber dafür bist du zu alt” erwiderte Don.

Vor ihnen war eine kleine Wartezone für ihr Gate. Drei Reihen mit jeweils fünf Plätzen standen vor einem Schreibtisch, hinter dem sich die Tür zur Rollbahn befand. Der Schreibtisch war leer und niemand saß auf den Plätzen. Dies war ein leerer Bereich des Terminals.

Durch die großen Fenster konnte Luke ein kleines, blaues Jet des Außenministeriums geparkt sehen. Eine abnehmbare Treppe führte zu der offenen Kabinentür des Flugzeuges.

Eine Gruppe von drei Leuten stand am Gate. Zwei von ihnen waren Trudy Wellington und Mark Swann. Trudy war winzig, während Swann groß und schlank war, doch durch die dritte Person in den Schatten geworfen wurde. Es war ein schwarzer Typ in Jeans und einer Lederjacke. Der schwarze Typ stand allein da, ein wenig abseits von Trudy und Swann. Vor ihm stand ein grüner Rucksack auf dem Boden.

„Ist das der Typ?” wollte Luke wissen. „Newsam?”

Don nickte. „Das ist er.”

Luke betrachtete ihn, während sie sich annäherten. Er sah zwei Meter groß aus, hatte breite Schultern und eine enorme Brust. Unter seiner Lederjacke trug er ein weißes T-Shirt, dass sich an seinen riesigen Körper schmiegte. Es sah aus als hätte es ihm jemand aufgemalt. Seine Arme waren durch die Jacke bedeckt, doch seine Fäuste waren enorm. An seinen großen Füßen trug er gelbe Arbeitsstiefel. Er sah wie die Zeichentrickversion eines Superhelden aus.

Außer seinem Gesicht - das war so arrogant und jung wie das eines normalen High School Jungen. Es stand keine einzige Falte darin.

„Hat dieser Typ Erfahrung im Gefecht?” fragte Luke.

Don nickte erneut. „Oh ja.”

„In Ordnung. Du bist der Chef.”

„Das bin ich.”

Sie erreichten die Gruppe. Alle drei wandten sich um. Trudys und Swanns Blick war auf Don, ihren Boss, gerichtet. Der Neuling, Newsam, starrte Luke an.

„Danke, dass ihr hier seid. Trudy und Mark, ihr habt Luke Stone, euren Kommandanten auf dieser Reise, schon kennengelernt. Luke war einer der besten Sondereinsatzmitglieder, mit denen ich in der Armee der USA gedient habe. Luke, das ist Ed Newsam, mit dem ich zwar nicht gedient habe, aber über den ich spektakuläre Dinge gehört habe.”

Die beiden Männer schüttelten sich die Hände. Luke blickte dem größeren Mann in die Augen. Newsam tat nichts offensichtliches - er versuchte beispielsweise nicht, Lukes Hand in seiner eigenen zu zerdrücken. Doch seine Augen sagten alles: Du kommandierst mich nicht.

Luke sah das anders. Doch dies war weder der Moment noch der Ort, um sich darüber Sorgen zu machen. Sollten sie jedoch zusammenarbeiten, insbesondere in einem Kriegsgebiet, dann käme der Moment sicherlich.

Don äußerte ein paar ermutigende Worte, um die Gruppe loszuschicken. Doch Luke hörte nicht mehr zu. Er beobachtete die harten, jungen Augen dabei, wie sie ihn beobachteten.

KAPITEL NEUN

23:15 Uhr Zentraleuropäische Sommerzeit (17:15 USA Eastern Daylight Zeit)

Institut Le Rosey

Rolle, Schweiz

Es war die berühmteste Schule der Welt.

Nunja, zumindest war es die teuerste.

Aber eigentlich war es nur sehr langweilig und sie wollte nicht hier sein. Ihre Mutter und ihr Vater hatten sie für ein Jahr hierher geschickt, bevor sie ins College ging. Und es war das tristeste, einsamste Jahr ihres Lebens. Vielleicht würde jetzt, da es fast vorbei war, alles besser werden. Man hatte ihr einen Platz in Yale im Herbst angeboten.

Selbstverständlich. Ihr Vater war einer der bekanntesten Ehemaligen von Yale, warum hätte man sie nicht akzeptiert? Sie war Elizabeth Barrett, die jüngste Tochter von David P. Barrett, dem derzeitigen Präsidenten der Vereinigten Staaten.

Sie war gerade dabei, ein Telefonat mit ihrem Vater zu beenden.

„Nun, Herzchen, welche positiven Dinge nimmst du aus diesem Jahr mit?”

So war ihr Vater, immer sprach er über „positives”. War das überhaupt ein echtes Wort? Ständig verwandte er solche Worte und Phrasen - sie waren immer positiv, es gab etwas mitzunehmen, es ging immer voran, die Leiter hinauf, um etwas Großartiges zu erschaffen. Sie hatte begonnen zu verdächtigen, dass er überhaupt nicht so optimistisch war wie seine Gerede. Das war alles gefälscht, ein Betrug. Er sagte das alles nur, weil er wusste, dass es in seinem Leben immer jemanden gab, der mitlauschte.

Sie hasste das. Sie hasste, dass ein Agent vom Geheimdienst vierundzwanzig Stunden täglich in ihrer Nähe war. Sie mochte einige der Agenten an sich, aber sie hasste, dass dies notwendig war, dass ihr Leben überall gekürzt und gekünstelt war deswegen. Sie hörten natürlich auch bei diesem Telefonat mit, und sie waren niemals weit entfernt - während sie schlief, blieb ein Mann draußen die ganze Nacht auf dem Gang.

„Ich weiß nicht, Papa”, sagte sie. „Ich weiß es einfach nicht. Ich freue mich, hier rauszukommen.”

„Na, du bist doch in den schweizer Alpen Ski gefahren, oder? Du hast Leute aus der ganzen Welt getroffen.”

„Unsere Reisen nach Colorado haben mir besser gefallen, als ich ein Kind war”, erwiderte sie. „Und die Leute, die ich getroffen haben? Ja, toll. Kinder aus Russland, deren Väter Gangster sind, die alle Industrien ausgeraubt haben, als die Sowjetunion zusammenfiel. Kinder aus Saudi Arabien und Dubai, deren Väter Prinzen oder sowas sind. Sind alle in Saudi Arabien Prinzen? Das ist das, was ich gelernt habe, Papa. Jeder in Saudi Arabien gehört der königlichen Familie an.”

Ihr Vater der Präsident lachte. Das brachte sie zum Lächeln. Sie hatte ihn seit sehr langer Zeit nicht mehr Lachen gehört. Das erinnerte sie daran, wie es früher war, als ihr Vater im Ölgeschäft der Familie arbeitete und Mitinhaber eines professionellen Footballteams war. Er war damals ein lustiger Vater gewesen.

Zu Familiengrillfesten trug er eine Schürze auf der Lustigster Vater der Welt stand. Das schien vor einer langen Zeit gewesen zu sein.

„Nun, Kleine”, sagte er, „Ich bin mir ziemlich sicher, dass nicht jeder in Saudi Arabien zur königlichen Familie gehört.”

„Ich weiß”, antwortete sie. „Einige Leute sind Diener und Sklaven.”

„Elizabeth!” rief er, doch er war nicht böse. Er amüsierte sich mit ihr. Sie war schon immer diejenige, welche die ungeheuerlichsten Sachen sagte, seit sie jung war.

„Die Wahrheit tut weh, Papa.”

„Elizabeth? Das ist sehr lustig. Aber ich muss los. Tu das für mich, ja? Du hast nur noch eine Woche dort. Versuche, das Beste draus zu machen. Nutze die Gelegenheiten, die sich dir bieten und tu was, dass dir Spaß macht, OK?”

„Keine Ahnung, was das sein könnte”, erwiderte sie, doch dieses Mal war es eine Lüge. „Aber ich tu mein Bestes.”

„Gut. Du bist wunderschön, Liebes. Deine Mama und ich haben dich lieb. Opa und Oma lassen dich grüßen. Und ruf deine Schwester an, ja?”

„In Ordnung”, sagte Elizabeth. „Ich habe dich auch lieb, Papa.”

Sie legte auf. Dabei stellte sie sich alle Leute vor, die gleichzeitig auflegten. Sicherlich ihr Vater, womöglich im Oval Office. Doch auch die Leute vom Geheimdienst, die durch andere Telefone im Oval Office mithörten - zwei oder drei von ihnen, die gleichzeitig auflegten. Außerdem auch Leute, die hinter ihren Computern in CIA oder FBI Gebäuden saßen. Und ihr persönlicher Bodyguard, der draußen auf dem Gang stand und zu dessen Ohr ein Kabel reichte. Hörte der auch mit? Sie war sich sicher.

Auch die russischen und chinesischen Spionageagenturen. Man wusste, dass sie mithörten. Und die russischen Milliardärgangster, die ihre ungehobelten, flegelhaften Kinder zu dieser teuren Schule schickten. Hörten sie mit? Möglicherweise.

Ebenfalls das Sicherheitsbüro hier an der Schule. Die hörten natürlich mit. Sicherheit war ein großer Teil des Babysitterdienstes, der hier geleistet wurde. Die Schule warb Eltern damit, wie „die Schulsicherheit reibungslos Ihre eigenen Sicherheitsmaßnahmen ergänzt, während jedem Moment der Lernerfahrung ihres Kindes.”

Sie wollte schreien.

Einen Moment lang saß sie auf ihrem Bett. Draußen war es Nacht in der Schweiz. Sie konnte die Lichter der Boote auf dem Genfer See von hier aus sehen, und wie die Dunkelheit der Berge auf der anderen Seite des Sees sich auftürmte. Sie konnte sogar die blinzelnden Lichter der Dörfer am Berghang erkennen.

Für einen Augenblick sah sie sich in dem großen Spiegel gegenüber ihres Bettes an. Sie war hübsch. Das wusste sie. Sie hatte langes, braunes Haar und einen sehr schönen Körper, selbst sie musste das zugeben. Sie war achtzehn Jahre alt und sie hatte kaum einen Jungen geküsst. Kein Junge kam durch Sicherheitsabriegelungen um sie herum durch.

Ihr war langweilig! Sie saß in der Falle! Sie würde als Jungfrau sterben!

Sie konnte nicht glauben, dass dies ihr Leben war. Sie konnte kein Wort sagen, ohne dabei belauscht zu werden. Sie konnte nirgendwo hin, ohne dass ihr riesige Männer folgten, sie umzingelten, sie beschützten.

Und in Wirklichkeit konnte sie nirgendwo hin. All die Orte, an die sie wollte, stellten ein Sicherheitsrisiko dar.

Nun, darum würde sie sich schon noch kümmern.

Sie stand auf und ging durch die Wohnung zum Badezimmer, das sie mit ihrer Mitbewohnerin teilte. Sie ging durch den Raum mit der gekachelten Fußbodenheizung, der Regendusche und dem zwei Meter breiten Frisiertisch und Spiegel - es war ein schönes Bad, das musste sie zugeben. Ihre Familie war seit Generationen reich - und sie glaubten nicht an Luxus - weshalb sie noch nie ein solches Bad hatte.

Sie klopfte an die angrenzende Tür.

„Komm rein!” rief eine Stimme.

Elizabeth öffnete die Tür und trat ein. Plötzlich war sie in einer anderen Welt - in der Wohnung von Rita Chadwick. Die Wohnungen hatten alle denselben Grundriss - Schlafzimmer, kleine Küche und Wohnraum - doch Rita hatte ihre individuell gestaltet. Sie hatte einen bohemischen Hippie-Stil und überall hingen Tücher und Perlen und tibetische Gebetsflaggen. An einer Wand hing ein riesiges Poster namens „Erdaufgang”, es zeigte den Planeten Erde, wie er angeblich vom Mond aus aussah. An einer anderen Wand hing ein lebensgroßes Poster des Rappers Eminem auf der Bühne. Er trug ein T-Shirt und war schweißdurchtränkt.

Rita trug Schlaghosen und eine geblümte Bluse. Sie war auf dunkle Weise hübsch, hatte ihr glattes, schwarzes Haar mit einem lila Band zurückgebunden.

Eine Mitbewohnerin war die einzige Normalität, die ihr Vater, der Geheimdienst und die Schule ihr erlaubten. Selbst das war kaum normal. Elizabeth und Rita waren Mitbewohner und Freundinnen, doch sie führten sehr verschiedene Leben.

Ritas Familie besaß seit über mehr als zwei Jahrhunderten Zeitschriften und Zeitungen. Sie war reich, doch es gab keine Sicherheitsmaßnahmen - die Sicherheit der Schule stellte Ritas Eltern zufrieden. Für Rita war es kein Problem, einen Autoservice anzumieten, um sie an einem Wochenendabend die dreißig Kilometer nach Genf zu fahren. Sie aß dort in Restaurants und ging bis in die frühen Morgenstunden in die Diskos. Dann wurde sie wieder zurückchauffiert und kam im Morgengrauen zu Hause an.

Oder manchmal auch nicht.

Manchmal nahm Elizabeth an den langweiligen Aktivitäten, die an Wochenendabenden in der Schule angeboten wurden, teil. Dann wachte sie vor Sonnenaufgang auf und lauschte, um herauszufinden, ob Rita in dieser Nacht nach Hause zurückgekehrt war.

Rita hatte jede Menge Freiheit - Elizabeth überhaupt keine. Der Geheimdienst hatte Rita überprüft und hielt sie für keine Gefahr. Das lag hauptsächlich daran, dass es unmöglich war, jemanden auf den Campus zu schmuggeln.

 

Leute, die sie in Genf kannte, konnten sie zwar besuchen, doch nur tagsüber und sie durften das Gebäude nicht betreten. Nachdem sie von der Sicherheit überprüft wurden, mussten sie sich draußen auf dem Campus aufhalten.

Rita saß auf ihrem Bett, zeichnete etwas mit einem dicken, schwarzen Bleistift auf einen Block. „Hi Babe”, sagte sie, ohne dabei aufzuschauen.

„Hi Babe”, erwiderte Elizabeth.

Hi Babe - das war ihr Ding. Sie nannten sich gegenseitig Babe.

Elizabeths Freundschaft mit Rita war eines der wenigen guten Dinge, die sich in diesem Schuljahr ergeben hatten. Rita würde nächstes Jahr in Brown, in Providence, Rhode Island studieren, ganz in der Nähe von Yale. Elizabeth hoffte, dass sie in Kontakt und Freundinnen blieben. Viele dieser sogenannten Freundschaften zerfielen, wenn man nicht mehr am selben Ort lebte.

„Wie geht’s deinem Vater?” wollte Rita wissen.

„Ach, weißt du”, erwiderte Elizabeth.

Rita nickte. „Ich weiß. Er ist der Präsident, und das ist eine große Aufgabe.”

„Stimmt.”

Rita schlug die Seite in ihrem Zeichenblock um. Jetzt schrieb sie etwas anstatt zu zeichnen.

„Ich schätze, er ist mit präsidentiellen Angelegenheiten beschäftigt.”

„Er ist sehr beschäftigt damit, sich präsidentiell zu verhalten”, sagte Elizabeth.

Es war belangloses Geschwätz. Mit der Zeit hatten sie ein Kommunikationssystem entwickelt, das der Geheimdienst nicht abhören konnte. Sie redeten einfach normal weiter, über dieses oder jenes, so wie einfältige High School Mädchen. Doch währenddessen reichten sie sich geschriebene Nachrichten, die sie später zerrissen und in die Mülltonnen des Speisesaales warfen.

Rita drehte den Block um und zeigte Elizabeth was sie geschrieben hatte.

Willst du es immer noch tun? Fluchtmodus?

Fluchtmodus war ein Plan, den Rita für Elizabeth erfunden hatte. Es war ein Weg, um sie aus ihrem Gefängnis zu befreien, damit sie ein wenig Abenteuer, Aufregung und genfer Nachtleben erfahren konnte.

Der Plan war, milde gesagt, waghalsig. Atemberaubend. Verwegen. Sollte er funktionieren, dann nur ein einziges Mal. Jeglicher Versuch wäre also eine einmalige Chance, ein verzweifeltes Spiel um Alles oder Nichts.

Ihre Zimmer waren im zweiten Stock, doch ihre Fenster öffneten sich auf ein Dach, das schräg abfiel. Laut Rita war dort eine Regenrinne aus hartem Metall, Stahl oder Eisen wahrscheinlich. Sie war nicht wacklig. Sie wusste das, weil sie schon mehrmals mitten in der Nacht daran heruntergeklettert war, um einen Jungen in einem der anderen Wohngebäude zu besuchen.

Bei Fluchtmodus würde Rita sich auf eine Wochenendnacht in Genf vorbereiten. In der Zwischenzeit gäbe Elizabeth vor, früh zu Bett zu gehen - sich aber ebenfalls auf eine Nacht in der Stadt vorbereiten. Rita würde einen Chauffeurservice anrufen, um sie abzuholen. Wenn das Auto käme, würde Rita nach unten gehen, so wie sie es immer tat. Elizabeth würde drinnen sitzen, den Fernseher laut angeschaltet. Sie hatte seit Monaten laut fern gesehen, nur falls sie jemals den Mut aufbrächte, Fluchtmodus auszuprobieren.

Dann würde Elizabeth den Fernseher anlassen und aus dem Fenster steigen, welches sie zuvor geöffnet hätte, still über das Dach schleichen, die Regenrinne hinunterklettern, sich zu Boden fallen lassen und zur Einfahrt rennen, wo das Auto geparkt wäre.

Nachdem sie eingestiegen wäre, würden sie auf die Tore der Schule zufahren. Das Auto hätte verdunkelte Fenster und laut Rita war die Sicherheit bei der Ausfahrt, verglichen mit der Einfahrt, eher oberflächlich - man wurde einfach durchgewinkt.

Sollten sie es durch die Tore schaffen, dann wäre Elizabeth für einen Moment ihres Lebens frei. Rita wollte sie zum Club Baroque mitnehmen, wo Dance DJs spielten, und sie würden in der vollen Disko bis zum Schluss zu House Musik tanzen. Dann gingen sie essen gehen und Kaffee trinken und wären zum Morgengrauen wieder zurück.

Es war das Verbrechen des Jahrhunderts. In Genf gab es ein paar Jungs - ihre Familien waren im Bankgeschäft - die Rita kannte. Manchmal kamen sie zu Besuchszeiten zum Campus. Einer von ihnen war ein sehr gut aussehender, junger Typ aus der Türkei namens Ahmet. Er war dünn, mit lockigem, schwarzen Haar und kaffeefarbener Haut - Rita nannte sie leicht und süß. Er trug Kleidung im amerikanischen Stil. Er sprach englisch. Er war normal - nicht wie eine Menge arabischer Jungs, die religiöse Fanatiker waren.

Waren türkische Jungs Araber? Elizabeth war sich nicht sicher. Doch Rita hatte Elizabeth gesagt, dass Ahmet sie süß fand.

Rita gab Elizabeth den Bleistift. Sie tippte auf das Wort Fluchtmodus. Elizabeth kritzelte schnell eine Antwort.

Ja.

„Naja,” sagte Rita, wenn man der Anführer der freien Welt ist, dann macht man sich um vieles Sorgen. Überall Krieg, Finger am Knopf, Yuris Vater dreht den Hahn für natürliche Gasreserven in Europa ab.”

Yuri war ein idiotischer vierzehnjähriger Junge aus Moskau, der hier zur Schule ging und dem es eine Riesenfreude bereitete jedem, der zuhören wollte, zu erzählen, dass sein Vater die natürliche Gas-Fernleitung von Russland nach Deutschland kontrollierte. Yuri hatte noch nicht seinen Wachstumsschub gehabt, er war nicht einmal einen Meter fünfzig groß.

Elizabeth gab den Bleistift zurück.

„Das ist alles, was Yuri hat… natürliches Gas”, sagte sie.

Die Uhr tickt, schrieb Rita. Das Schuljahr ist vorbei. Freitag Nacht?

„Und damit gibt er endlos an”, erwiderte Rita.

Elizabeth nahm den Bleistift und unterstrich das ursprüngliche Ja.

Sicher? Schrieb Rita.

Elizabeth unterstrich das Wort erneut. Jetzt war es ein Ja mit zwei dicken schwarzen Linien darunter.

Sie lachten beide über den armen, kleinen Yuri. Dummer Junge.

Gut, schrieb Rita. Das wird lustig.

Elizabeth nickte. „Lustig”, sagte sie. Es war ein komisches Wort, denn es machte nicht wirklich Sinn im Zusammenhang mit dem, was Rita gesagt hatte, doch es war das einzige, was Elizabeth einfiel.

Lustig.

Und mehr war es auch nicht für Rita, die ihre riesige Freiheit als selbstverständlich ansah. Ihre Abende in Genf, ihre gelegentlichen Reisen nach London, Paris und Mailand. Doch für Elizabeth war es etwas ganz anderes. Es war riesig, belebend, unheimlich. Ihr ganzer Körper kribbelte, wenn sie nur daran dachte. Ihr blieb der Atem im Hals stecken.

Würde sie es wirklich durchziehen können?

Würde sie sich dazu überwinden, durch das Fenster zu steigen und die Regenrinne herunterzuklettern? Dann was? Eine Fahrt durch das Land in die Stadt. Eine volle Disko mit aufflammenden Lichtern, pulsierender Musik, Körper, die sich aneinander drängten. Getränke? Natürlich würde sie was trinken, selbst wenn sie eigentlich noch zu jung war. Einfach nur eine lang ersehnte Nacht voll Abenteuer. Die Chance, anonym zu bleiben, unter anonymen Leuten und vielleicht zur Abwechslung mal richtig Spaß zu haben.

Nun, ihr Vater sagte ihr, dass sie etwas Aufregendes tun sollte, oder nicht?

Wem versuchte sie etwas vorzumachen? Ihre Eltern würden sie umbringen, falls sie es herausfänden, und natürlich würden sie es herausfinden. Fluchtmodus ging nur in eine Richtung. Es gab keinen Plan, um wieder zurück hineinzukommen. Es gab kein Hinaufklettern an der Regenrinne. Sie würde einfach den Campus und das Gebäude auf die altmodische Weise wieder betreten müssen.

Bis dahin hätte der Geheimagent vor ihrer Tür wahrscheinlich schon Verdacht geschöpft, weil der Fernseher die ganze Nacht so laut angeschaltet war, und er hätte ihre Wohnung betreten. Man hätte Alarm geschlagen. Es könnte sogar ein internationales Aufsehen deswegen geben.

Elizabeth spürte, wie Nervosität in ihr aufstieg. Sie nahm einen tiefen Atemzug, um sich zu beruhigen. Danach würde sie Stubenarrest erhalten, bis sie vierzig wäre.

Rita schrieb etwas Neues. Sie drehte den Block um, damit Elizabeth sehen konnte.

Ahmet wird da sein.

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