Primärziel: Der Werdegang von Luke Stone—Buch #1

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KAPITEL DREI

19. März

Nacht

Ein Flugzeug über Europa

„Habt ihr Männer es bequem?”

„Ja, Sir”, antwortete Luke.

Murphy sagte nichts. Er saß in einem Sessel auf der anderen Seite des engen Gangs, starrte aus dem Fenster in die Dunkelheit. Sie waren in einem kleinen Jet, das fast wie ein Wohnzimmer ausgestattet war. Luke und Murphy saßen hinten, blickten nach vorn. Vorne waren drei Männer, eingeschlossen eines Delta Force Oberst und eines Drei-Sterne-Generals aus dem Pentagon. Bei ihnen war ein Mann in Zivilkleidung.

Hinter den Männern waren zwei Green Berets, sie standen stramm.

„Spezialist Murphy?” sagte der General. „Haben sie es bequem?”

Murphy zog die Fensterverdunklung herunter. „Ja. Mir geht’s gut.”

„Murphy, wissen Sie, wie man einen vorgesetzten Offizier anredet?” fragte der Oberst.

Murphy wandte sich von dem Fenster ab. Er blickte die Männer zum ersten Mal direkt an.

„Ich bin nicht mehr in Ihrer Armee.”

„Warum sind Sie in diesem Fall in diesem Flugzeug?”

Murphy zuckte mit den Schultern. „Jemand bot an, mich mitzunehmen. Es gibt nicht viele kommerzielle Flüge aus Afghanistan heutzutage. Da dachte ich, dass ich besser diesen nehme.”

Der Mann in Zivilkleidung blickte auf die Kabinentür.

„Wenn Sie nicht mehr im Militär sind, dann können wir Sie darum bitten, zu gehen. Aber natürlich ist es ein ganz schön weiter Weg bis zur Erde.”

Murphy folgte dem Blick des Mannes.

„Nur zu, ich verspreche Ihnen, dass Sie mitkommen.”

Luke schüttelte seinen Kopf. Wäre dies ein Spielplatz, dann würde er fast lächeln. Doch dies war kein Spielplatz und diese Männer meinten es toternst.

„OK, Murph”, sagte er. „Mach mal langsam. Ich war mit dir auf dem Hügel. Niemand in diesem Flugzeug hat uns dort hingebracht.”

Murphy zuckte mit den Schultern. „In Ordnung, Stone.” Er sah den General an. „Ja, ich habe es bequem, Sir. Sehr bequem. Vielen Dank.”

Der General blickte auf etwas Papierkram vor sich hinunter.

„Danke für Ihren Dienst, meine Herren. Spezialist Murphy, wenn Sie frühzeitig von Ihren Verpflichtungen entlassen werden möchten, dann wenden Sie sich bitte an Ihren kommandierenden Offizier, wenn Sie nach Fort Bragg zurückkehren.”

„OK”, erwiderte Murphy.

Der General blickt auf. „Wie Sie wissen, war dies eine schwierige Mission, die nicht gerade wie geplant lief. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, um die Fakten der Situation genauer kennenzulernen. Ich habe die Aufzeichnungen der Nachbesprechung der Mission, als Sie beide nach Bagram zurückkehrten. Ihren Aussagen und den fotografischen Beweisen zufolge nehme ich an, dass die Mission an sich ein Erfolg war. Würden Sie dem zustimmen, Feldwebel Stone?”

„Äh… wenn Sie mit ,Mission an sich’ meinen, dass wir Abu Mustafa Faraj finden und festnehmen sollten, dann: ja, Sir. Ich schätze, sie war ein Erfolg.”

„Das meinte ich, Feldwebel. Faraj war ein gefährlicher Terrorist und die Welt ist ein besserer Ort, jetzt, da er weg ist. Spezialist Murphy?”

Murphy starrte den General an. Es war Luke klar, dass Murphy nicht ganz da war. Es ging ihm besser als am Morgen nach der Schlacht, doch nicht viel besser.

„Ja?” sagte er.

Der General biss die Zähne zusammen. Er blickte die Männer rechts und links von sich an.

„Wie werten Sie die Mission, bitte?”

Murphy nickte. „Oh. Die, die wir gerade durchgeführt haben?”

„Ja, Spezialist Murphy.”

Murphy antwortete für mehrere Sekunden nichts. Er schien darüber nachzudenken.

„Nun, wir haben neun Delta Jungs und zwei Helikopter Piloten verloren. Martinez ist am Leben, doch mehr Rührei als Mensch. Außerdem hat man mir gesagt, dass wir einen Haufen Kinder und mindestens ein paar Frauen getötet haben. Es lagen Haufen von toten Männern am Boden. Ich meine Hunderte von toten Männern. Und ich schätze, dass da auch ein berühmter Terrorist war, doch ich sah ihn nicht. Also… ich würde sagen, so ziemlich am Nennwert. So laufen diese Dinge ab. War nicht mein erstes Rodeo, wenn Sie mich verstehen.”

Er blickte über den Gang zu Luke.

„Stone sieht in Ordnung aus. Und ich habe nicht mal einen Kratzer abgekommen. Also sicher, ich würde sagen, dass die Mission gut gelaufen ist.”

Die Offiziere starrten Murphy an.

„Sir”, sagte Luke. „Ich glaube, Spezialist Murphy versucht zu sagen - und aus meinem Zeugenbericht können Sie entnehmen, dass ich ihm zustimme - dass die Mission schlecht geplant und möglicherweise unklug war. Oberstleutnant Heath war ein tapferer Mann, Sir, doch vielleicht kein sehr guter Stratege. Nachdem der erste Helikopter verunglückte, bat ich darum, dass er die Mission abbräche, und er weigerte sich. Er war außerdem ebenfalls persönlich verantwortlich für den Tod einer Reihe von Zivilisten und wahrscheinlich ebenfalls am Tod von Unteroffizier Wayne Hendricks.”

Den Namen seines Freundes auszusprechen, brachte ihm absurderweise fast zum Weinen. Er schluckte seine Tränen hinunter. Hier war weder die richtige Zeit noch der richtige Ort.

Der General blickte wieder auf seine Papiere hinunter. „Und stimmen Sie zu, dass die Mission ein Erfolg war? Der Zweck der Mission wurde erfüllt?”

Luke dachte einen langen Moment darüber nach. Im engsten militärischen Sinne hatten sie das Ziel der Mission erreicht. Das stimmte. Sie hatten einen gesuchten Terroristen getötet und das würde vielleicht irgendwann Leben retten. Es könnte sogar viel mehr Leben retten als dabei verlorengingen.

So wollten diese Männer Erfolg definieren.

„Feldwebel Stone?”

„Ja, Sir. Ich stimme dem zu.”

Der General nickte. Der Oberst ebenfalls. Der Mann in Zivilkleidung reagierte gar nicht.

Der General sammelte seine Papiere auf und übergab sie dem Oberst.

„Gut”, sagte er. „Wir landen bald in Deutschland, meine Herren, und dann verabschiede ich mich von Ihnen. Doch zuvor möchte ich Ihnen mitteilen, dass Sie etwas hervorragendes getan haben, und dass Sie sehr stolz auf sich sein sollten. Sie sind offensichtlich mutige Männer und sehr fähig. Ihr Land schuldet Ihnen Dankbarkeit, die niemals adäquat bezahlt werden kann. Es wird Ihnen ebenfalls niemals öffentlich anerkannt werden.”

Er hielt inne.

„Bitte nehmen Sie zur Kenntnis, dass die Mission Abu Mustafa Faraj al-Jihadi zu töten zwar erfolgreich war, doch niemals stattgefunden hat. Sie existiert in keinem Register und wird es auch niemals tun. Die Männer, die ihr Leben  bei dieser Mission verloren haben, starben bei einem Trainingsunfall während eines Sandsturmes.”

Er blickte nun mit harten Augen auf sie hinab.

„Verstanden?”

„Ja, Sir”, antwortete Luke ohne zu zögern. Es überraschte ihn überhaupt nicht, dass sie diese Mission verschwinden ließen. Er würde dasselbe tun, könnte er es.

„Spezialist Murphy?”

Murphy hob eine Hand und zuckte mit den Schultern. „Das ist eure Angelegenheit. Ich glaube, ich war noch nie auf einer Mission, die wirklich existierte.”

KAPITEL VIER

23. März

16:35

Spezialeinsatz Kommando, Armee der Vereinigten Staaten

Fort Bragg

Fayetteville, North Carolina

„Darf ich Ihnen einen Tee anbieten?”

Luke nickte. „Danke.”

Waynes Frau, Katie, war eine hübsche Blondine, klein, etwas jünger als Wayne. Luke schätzte sie auf etwa vierundzwanzig. Sie war mit ihrer Tochter schwanger - im achten Monat - und ihr Bauch war riesig.

Sie lebte auf dem Stützpunkt, etwa einen Kilometer von Luke and Becca entfernt. Das Haus war ein winziger Drei-Zimmer-Bungalow in einer Nachbarschaft von exakt identischen Häusern. Wayne war tot. Sie war dort, weil sie sonst nirgendwo hatte.

Sie brachte Luke seinen Tee in einer kleinen, verzierten Tasse, die erwachsene Version der Tassen, die kleine Mädchen benutzen, wenn sie erfundene Tee-Parties abhielten. Sie setzte sich ihm gegenüber. Das Wohnzimmer war karg eingerichtet. Die Couch war ein Futon, das man für Gäste als Doppelbett ausziehen konnte.

Luke hatte Katie zwei Mal zuvor getroffen, beide Male für fünf oder weniger Minuten. Er hatte sie das letzte Mal vor ihrer Schwangerschaft gesehen.

„Sie waren ein guter Freund von Wayne”, sagte sie.

„Ja, das war ich.”

Sie starrte in ihre Tasse, als ob vielleicht Wayne auf ihrem Boden trieb.

„Und Sie waren auf der Mission, auf der er starb.” Es war keine Frage.

„Ja.”

„Haben Sie es gesehen? Haben Sie gesehen, wie er starb?”

Luke gefiel es jetzt schon nicht, worauf diese Fragen abzielten. Wie sollte er eine solche Frage beantworten? Luke hatte die Schüsse verpasst, die Wayne töteten, doch er hatte sehr wohl gesehen, wie er starb. Er gäbe fast alles dafür, es aus seinem Kopf zu bekommen.

„Ja.”

„Wie ist er gestorben?” sagte sie.

„Er starb wie ein Mann. Wie ein Soldat.”

Sie nickte, doch sagte nichts. Vielleicht war das nicht die Antwort, nach der sie suchte. Doch Luke wollte nicht weiter darüber reden.

„Hatte er Schmerzen?” fragte sie.

Luke schüttelte seinen Kopf. „Nein.”

Sie blickte in seine Augen. Ihre Augen waren rot und es standen Tränen darin. Es lag eine fürchterliche Trauer in ihnen. „Wie können Sie das wissen?”

„Ich habe mit ihm gesprochen. Er sagte mir, dass ich Ihnen ausrichten soll, dass er Sie liebt.”

Das war natürlich eine Lüge. Wayne hatte es nicht geschafft, einen ganzen Satz hervorzubringen. Doch es war eine Notlüge. Luke glaubte, dass Wayne dies gesagt hätte, wäre es ihm möglich gewesen.

„Kamen Sie deshalb hierher, Feldwebel Stone?” sagte sie. „Um mir das zu sagen?”

Luke atmete tief durch.

„Bevor er starb, bat mich Wayne darum, der Pate Ihrer Tochter zu werden”, sagte Luke. „Ich habe zugestimmt und ich bin hier, um diese Verpflichtung zu ehren. Ihre Tochter kommt bald zur Welt und ich möchte Ihnen auf jegliche mir mögliche Weise in dieser Situation helfen.”

 

Eine lange, stille Pause breitete sich zwischen ihnen aus. Sie dauerte länger und länger.

Schließlich schüttelte Katie kaum merkbar ihren Kopf. Sie sprach sanft.

„Ich könnte es niemals zulassen, dass ein Mann wie Sie der Pate meiner Tochter wird. Wayne ist wegen Männern wie Ihnen tot. Mein Mädchen wird wegen Männern wie Ihnen niemals einen Vater haben. Verstehen Sie? Ich bin hier, weil ich noch krankenversichert bin, weshalb mein Baby hier geboren werden wird. Doch danach? Danach werde ich so weit wie ich kann von der Armee und Leuten wie Ihnen wegrennen. Wayne war dumm, sich daran beteiligt zu haben und ich war dumm, ihn dabei zu begleiten. Sie müssen sich keine Sorgen machen, Feldwebel Stone. Sie haben keine Verantwortung mir gegenüber. Sie sind nicht der Pate meines Babys.”

Luke fiel keine Antwort ein. Er blickte in seine Tasse und sah, dass er schon seinen Tee getrunken hatte. Er stellte sie auf den Tisch. Sie nahm sie auf und bewegte ihren Bauch zur Tür des winzigen Hauses. Sie öffnete die Tür und hielt sie auf.

„Guten Tag, Feldwebel Stone.”

Er starrte sie an.

Sie begann zu weinen. Ihr Stimme war so sanft wie zuvor.

„Bitte. Verschwinden Sie aus meinem Haus. Verschwinden Sie aus meinem Leben.”

* * *

Das Abendessen war trist und traurig.

Sie saßen sich am Tisch gegenüber und sprachen nicht. Sie hatte gefülltes Hühnchen und Spargel zubereitet und es war lecker. Sie hatte ein Bier für ihn geöffnet und ihm ein Glas eingegossen. Sie hatte nette Dinge getan.

Sie aßen still, fast so als ob alles normal wäre.

Doch er konnte sich nicht dazu bringen, sie anzusehen.

Auf dem Tisch in der Nähe seiner rechten Hand lag eine matt-schwarze Glock Neun-Millimeter. Sie war geladen.

„Luke, alles in Ordnung?”

Er nickte. „Ja, mir geht’s gut.” Er nippte an seinem Bier.

„Warum liegt deine Waffe auf dem Tisch?”

Schließlich blickte er zu ihr hinauf. Sie war schön, und er liebte sie. Sie war mit seinem Kind schwanger und sie trug eine geblümte Mutterschaftsbluse. Er hätte fast wegen ihrer Schönheit und der Macht seiner Liebe für sie weinen können. Er spürte sie intensiv, wie eine Welle, die gegen die Felsen krachte.

„Äh, die liegt nur hier, falls ich sie brauche, Liebling.”

„Warum würdest du sie brauchen? Wir essen doch nur zu Abend. Wir sind auf dem Stützpunkt. Wir sind hier in Sicherheit. Niemand kann…”

„Stört sie dich?” fragte er.

Sie zuckte mit den Schultern. Sie schob eine kleine Gabel voll Hühnchen in ihren Mund. Becca aß langsam und sorgfältig. Sie nahm kleine Bissen und sie brauchte oft lange, um ihr Abendessen zu beenden. Sie schlang ihr Essen nicht herunter, so wie manche Leute. Luke liebte das an ihr. Es war einer der Unterschiede zwischen ihnen. Er neigte dazu, sein Essen einzuatmen.

Er beobachtete sie dabei, wie sie in Zeitlupe ihr Essen kaute. Ihre Zähne waren groß. Sie hatte Hasenzähne. Es war niedlich. Es war reizend.

„Ja, ein wenig”, antwortete sie. „Du hast das noch nie zuvor getan. Hast du Angst, dass…”

Luke schüttelte seinen Kopf. „Ich habe vor nichts Angst. Unser Baby ist auf dem Weg, OK? Es ist wichtig, dass wir unser Kind vor Schaden schützen. Das ist unsere Verantwortung. Die Welt ist gefährlich, Becca, falls du das noch nicht gewusst hast.”

Luke nickte über die Wahrheit, die er da von sich gab. Er begann die Gefahren um sie herum immer mehr zu bemerken. In der Küchenschublade waren scharfe Messer. In dem Holzblock auf der Arbeitsplatte steckten große Tranchiermesser und ein riesiges Hackbeil. Im Schränkchen hinter dem Badezimmerspiegel befand sich eine Schere.

Das Auto hatte Bremsen und jemand konnte die Bremskabel ganz einfach durchschneiden. Wenn Luke wusste, wie das ging, so wussten das eine Menge anderer ebenfalls. Und es gab eine Menge Leute, die möglicherweise Luke Stone etwas zurückzahlen wollten.

Es schien fast wie…

Becca weinte. Sie drückte ihren Stuhl weg vom Tisch und stand auf. Ihr Gesicht war in den letzten zehn Sekunden hochrot angelaufen.

„Liebling? Was ist denn los?”

„Du”, erwiderte sie, während die Tränen ihr das Gesicht hinunterlaufen. „Irgendwas stimmt nicht mit dir. Du bist noch nie so heim gekommen. Du hast mich kaum begrüßt. Du hast mich überhaupt nicht berührt. Ich fühle mich unsichtbar. Du bleibst die ganze Nacht wach. Es scheint, als ob du gar nicht geschlafen hast, seit du angekommen bist. Jetzt legst du eine Waffe auf den Esstisch. Ich habe ein wenig Angst, Luke. Ich habe Angst, dass da etwas ganz und gar nicht stimmt.”

Er stand auf und sie tat einen Schritt zurück. Ihre Augen öffneten sich weit.

Dieser Blick. Es war der Blick einer Frau, die vor einem Mann Angst hatte. Und er war der Mann. Es erschreckte ihn. Es war als wäre er plötzlich aufgewacht. Er hatte sich niemals vorgestellt, dass sie ihn jemals so anblicken würde. Er wollte, dass sie nie wieder weder ihn noch jemand anderen so anblickte, aus überhaupt einem Grund.

Er schaute auf den Tisch. Er hatte dort eine geladene Waffe während des Abendessens hingelegt. Warum täte er so was? Plötzlich schämte er sich für die Waffe. Sie war breit, kantig und hässlich. Er wollte sie mit einer Serviette bedecken, doch es war zu spät. Sie hatte sie schon gesehen.

Er blickte sie wieder an.

Sie stand ihm gegenüber, erniedrigt, wie ein Kind, ihre Schultern nach vorn gebeugt, ihr Gesicht verweint, die Tränen flossen ihr die Wangen hinunter.

„Ich liebe dich”, sagte sie. „Aber ich mache mir gerade solche Sorgen.”

Luke nickte. Das Nächste, was er sagte, überraschte ihn.

„Ich glaube, ich muss vielleicht eine kleine Weile fort.”

KAPITEL FÜNF

14. April

9:45 Uhr USA Eastern Daylight Zeit

Fayetteville Abteilung für Veteranen-Angelegenheiten (VA)

Gesundheitszentrum

Fayetteville, North Carolina

„Warum sind Sie hier, Stone?”

Die Stimme riss Luke aus seinen Tagträumen, in denen er sich verloren hatte. Er schwelgte dieser Tage oft allein in seinen Gedanken und Erinnerungen und konnte sich anschließend nicht daran erinnern, worüber er nachgedacht hatte.

Er blickte auf.

Er saß auf einem Klappstuhl in einer Gruppe aus acht Männern. Die meisten der Männer saßen auf Klappstühlen. Zwei waren in Rollstühlen. Die Gruppe füllte eine Ecke des großen, doch trostlosen, offenen Raumes aus. Die Fenster auf der entgegengesetzten Seite zeigten, dass es ein sonniger Frühlingstag war. Doch irgendwie schien es als ob das Licht von draußen nicht bis in den Raum gelangte.

Die Gruppe saß in einem Halbkreis und blickte einen bärtigen Mann mittleren Alters mit einem dicken Bauch an. Der Mann trug Kordhosen und ein rotes Flanellhemd. Der Bauch stand fast wie ein Wasserball hervor, den er unter seinem Hemd versteckte, nur dass er vorne flach war, als ob die Luft herausströmte. Luke vermutete, dass dieser Bauch so hart wie eine gusseiserne Pfanne war, sollte er darauf schlagen. Der Mann war groß und er war ganz zurückgelehnt auf seinem Stuhl. Seine dünnen Beine lagen in einer geraden Linie direkt vor ihm.

„Entschuldigung?” sagte Luke.

Der Mann lächelte, doch es lag kein Humor darin.

„Warum… sind… Sie… hier?” fragte er erneut. Dieses Mal sagte er es langsam, als ob er mit einem kleinen Kind oder einem Idioten spräche.

Luke blickte um sich auf die Männer. Dies war eine Gruppentherapie für Kriegsveteranen.

Es war eine gute Frage. Luke gehörte nicht hierher. Diese Typen waren zerstört. Körperlich behindert. Traumatisiert.

Einige von ihnen sahen nicht so aus als kämen sie jemals zurück. Der Typ namens Chambers war möglicherweise am schlimmsten dran. Er hatte einen Arm und beide Beine verloren. Sein Gesicht war entstellt. Die linke Hälfte war mit Binden verdeckt, eine große Metallplatte lugte daraus hervor, welche die Reste seiner Gesichtsknochen auf dieser Seite zusammenhielt. Er hatte sein linkes Auge verloren und sie hatten es noch nicht ersetzt. Nachdem sie seine Augenhöhle wiederhergestellt hätten, würden sie ihm ein hübsches, neues, falsches Auge geben.

Chambers war in einem Humvee über eine USBV gefahren. Das Gerät war eine überraschende Innovation - eine geformte Sprengkapsel, welche direkt in das Fahrwerk des Fahrzeugs eindrang und dann direkt durch Chambers drang und ihn von unten nach oben durchtrennte. Das Militär stattete die alten Humvees nachträglich mit schwerer Unterpanzerung aus und fertigte neue Entwürfe für die weitere Produktion an, um gegen solche Art von Angriffen in der Zukunft gewappnet zu sein. Doch das würde Chambers nicht helfen.

Luke sah ihn nicht gerne an.

„Warum sind Sie hier?” fragte der Anführer noch einmal.

Luke zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht, Riggs. Warum sind Sie hier?”

„Ich versuche, den Männern zu helfen, ihre Leben wieder zurückzubekommen”, antwortete Riggs. Er zögerte keinen Moment. Entweder war es eine vorbereitete Antwort, die er für Leute bereit hielt, die ihn konfrontierten, oder er glaubte es wirklich. „Wie steht’s mit Ihnen?”

Luke erwiderte nichts, doch alle starrten ihn jetzt an. Er sagte kaum etwas in dieser Gruppe. Er würde am liebsten nicht teilnehmen. Er fand nicht, dass es ihm half. Um ehrlich zu sein, dachte er, dass dies alles nur eine Zeitverschwendung war.

„Haben Sie Angst?” wollte Riggs wissen. „Sind Sie deshalb hier?”

„Riggs, wenn Sie das denken, dann kennen Sie mich nicht sehr gut.”

„Ah”, sagte Riggs und hob seine fleischigen Hände ein klein wenig an. „Jetzt machen wir Fortschritt. Sie sind eine harte Nuss. Das wissen wir schon. Also tun Sie es. Treten Sie hervor. Erzählen Sie uns alles über den Oberfeldwebel Luke Stone der Spezialkräfte der Armee der Vereinigten Staaten. Delta, habe ich recht? Steckt bis zum Hals in der Scheiße, stimmt’s? Einer der Typen auf der vermasselten Mission, um den Al Qaeda Typen umzubringen. Der Typ, der angeblich hinter der Sprengung der USS Sarasota steckt?”

„Riggs, ich habe keine Ahnung von einer derartigen Mission. Eine solche Mission wäre eine Geheimsache, was bedeutete, dass selbst wenn wir etwas darüber wüssten, nicht über…”

Riggs lächelte und bewegte seine Hand wie ein drehendes Rad. „Ein solch hochrangiges und wichtiges gezieltes Attentat sprechen könnten, das sowieso niemals stattgefunden hat. Ja, ja, ja. Wir kennen alle dieses Geschwätz. Wir haben es schon zuvor gehört. Glauben Sie mir, Stone, Sie sind nicht so wichtig. Jeder Mann in dieser Gruppe war im Gefecht. Jeder Mann in dieser Gruppe ist sich nur zu bewusst , dass -”

„In welchem Gefecht waren Sie denn, Riggs?” fragte Luke. „Sie waren in der Marine. Auf einem Zerstörer. In der Mitte des Ozeans. Sie sitzen seit fünfzehn Jahren hinter einem Schreibtisch in diesem Krankenhaus.”

„Hier geht’s nicht um mich, Stone. Es geht um Sie. Sie sind in einem Veteranenkrankenhaus in der Psychiatrie. Stimmt’s? Ich bin nicht in der Psychiatrie. Sie schon. Ich arbeite in der Psychiatrie und Sie leben hier. Doch Sie sind nicht eingewiesen. Sie sind freiwillig hier. Sie können jederzeit hier raus. All Ihre alten Freunde warten da drüben auf Sie. Wollen Sie nicht wieder zu ihnen? Sie warten auf Sie, Mann. Rock and Roll. Es gibt immer wieder eine weitere geheime, verpfuschte Mission, auf die Sie können.”

Luke sagte nichts. Er starrte Riggs nur an. Der Mann war total verrückt. Er war der Durchgeknallte. Der machte nicht einmal langsam.

„Stone, ich sehe, wie ihr Delta Jungs manchmal hier eine Weile Halt macht. Ihr habt niemals auch nur einen Kratzer. Ihr Typen seid irgendwie übernatürlich. Die Kugeln verpassen euch immer irgendwie. Doch ihr seid aufgeschreckt. Ihr seid ausgepowert. Ihr habt zu viel gesehen. Ihr habt zu viele Leute umgebracht. An euch klebt überall Blut. Es ist unsichtbar, aber es ist da.”

Riggs nickte sich selbst zu.

„In 2003 kam hier ein Delta Typ vorbei, etwa so alt wie Sie, bestand darauf, dass es ihm gut ging. Er war gerade aus einer strenggeheimen Mission in Afghanistan zurückgekehrt. Es war ein Schlachthaus. Natürlich war es das. Doch er brauchte das ganze Gerede nicht. Klingt das wie jemand, den wir kennen? Als er hier fortging, kehrte er nach Hause zurück, brachte seine Frau und seine dreijährige Tochter um und schoss dann eine Kugel in sein eigenes Gehirn.”

Eine Stille zog sich zwischen Luke und Riggs hinaus. Keiner der anderen Männer sagte ein Wort. Der Typ wusste, wie man auf die richtigen Knöpfe drückte. Aus irgendeinem Grund dachte er, das wäre sein Job. Es war wichtig, dass Luke gelassen bliebe und nicht zuließe, dass Riggs ihm unter die Haut ginge. Doch Luke mochte solche Situationen nicht. Er spürte, wie er sich innerlich anspannte. Riggs bewegte sich auf gefährlichem Terrain.

 

„Ist es das, wovor du Angst hast?” sagte Riggs. „Du hast Angst, dass du heimgehst und das Gehirn deiner Frau über die ganze -?”

Luke war in weniger als einer Sekunde von seinem Stuhl aufgesprungen und hatte den Raum zwischen Riggs und ihm überquert. Bevor er wusste, was geschah, hatte er Riggs geschnappt, den Stuhl unter ihm herausgetreten und ihn wie eine Lumpenpuppe zu Boden geworfen. Riggs Kopf prallte gegen die Steinfliesen.

Luke bückte sich über ihn und holte mit seiner Faust aus.

Riggs Augen waren weit geöffnet und für den Bruchteil einer Sekunde blitzte Angst in seinem Gesicht auf. Dann kehrte sein ruhiges Auftreten wieder zurück.

„Das wollte ich sehen”, sagte er. „Ein wenig Enthusiasmus.”

Luke atmete tief durch und entspannte seine Faust. Er blickte die anderen Männer an. Keiner von ihnen hatte sich bewegt. Sie starrten nur teilnahmslos, als ob es ganz normal wäre, dass ein Patient seinen Therapeuten angreift.

Nein. Das war es nicht. Sie starrten als ob es ihnen egal wäre was geschähe, als wäre ihnen alles egal.

„Ich weiß, was Sie da tun wollen”, sagte Luke.

„Ich versuche, Sie aus Ihrer Schale zu locken, Stone. Und es sieht so aus, als ob es endlich funktionieren würde.”

* * *

„Ich will dich nicht hier”, sagte Martinez.

Luke saß neben Martinez’ Bett auf einem Holzstuhl. Der Stuhl war überraschend unbequem, als wäre er erfunden, um Trödeln zu entmutigen.

Luke tat, was er für Wochen vermieden hatte - er besuchte Martinez. Der Mann war in einem anderen Gebäude des Krankenhauses, ja. Doch es war nur ein zwölfminütiger Spaziergang von Lukes Zimmer entfernt. Luke hatte es bis jetzt nicht geschafft, sich zu diesem Spaziergang zu überwinden.

Martinez hatte einen langen Weg vor sich, doch er zeigte kein Interesse, ihn zu beschreiten. Seine Beine waren zerfetzt und konnten nicht gerettet werden. Eines war an der Hüfte abgetrennt, das andere unter dem Knie. Er konnte weiter seine Arme benutzen, doch er war direkt unterhalb vom Brustkorb ab gelähmt.

Bevor Luke eintrat, hatte ihm eine Krankenschwester zugeflüstert, dass Martinez die meiste Zeit weinte. Er schlief auch sehr viel - er stand unter starken Beruhigungsmitteln.

„Ich bin nur gekommen, um mich zu verabschieden”, sagte Luke.

Martinez hatte aus dem Fenster hinaus den hellen Tag angestarrt. Jetzt wandte er sich zu Luke. Sein Gesicht war in Ordnung. Er war schon immer ein gutaussehender Typ und das war er auch weiterhin. Gott, oder der Teufel, oder wer auch immer für solche Dinge verantwortlich war, hatte das Gesicht des Mannes verschont.

„Hallo und auf Wiedersehen, was? Schön für dich, Stone. Du bist in einem Stück, du wirst hier gerade hinausgehen, vielleicht eine Beförderung bekommen, irgendeine lobende Erwähnung. Weil du in der Psychiatrie warst, wirst du nie wieder auch nur eine Minute Gefecht mitbekommen. Ein Schreibtischjob. Das gibt auch mehr Geld, dann schickst du andere Jungs rein. Schön für dich, Mann.”

Luke saß still da. Er kreuzte ein Bein über das andere. Er sagte kein Wort.

„Murphy kam vor ein paar Wochen vorbei, wusstest du das? Ich fragte ihn, ob er dich besuchen würde, doch er verneinte. Er wollte dich nicht sehen. Stone? Der schleimt doch nur nach oben. Warum würde er Stone besuchen? Murphy sagte, dass er auf den Frachtzügen durch das Land fahren würde, so wie ein Landstreicher. Das ist sein Plan. Weißt du, was ich denke? Ich glaube, der wird sich in den Kopf schießen.”

„Es tut mir leid, was geschehen ist”, sagte Luke.

Doch Martinez hörte nicht zu.

„Mann, wie geht’s deiner Frau? Läuft die Schwangerschaft gut? Kleiner Luke Junior unterwegs? Echt toll, Stone. Ich freue mich für dich.”

„Robby, habe ich dir was getan?” fragte Luke.

Tränen begannen über Martinez’ Gesicht zu strömen. Er schlug mit seinen Fäusten auf das Bett ein. „Schau mich doch mal an, Mann! Ich habe keine Beine! Ich werde für den Rest meines Lebens in eine Tüte pinkeln und scheißen, OK? Ich kann nicht laufen. Ich werde nie wieder laufen. Ich kann nicht…”

Er schüttelte seinen Kopf. „Ich kann nicht…”

Jetzt begann Martinez zu weinen.

„Ich war das nicht”, sagte Luke. Seine Stimme klang klein und schwach, wie die eines Kindes.

„Doch! Du warst es! Du hast das getan. Du warst es. Es war deine Mission. Wir waren deine Jungs. Jetzt sind wir tot. Alle außer dir."

Luke schüttelte seinen Kopf. „Nein. Es war Heaths Mission. Ich war nur —”

„Du Arschloch! Wir folgten nur Befehlen. Doch du hättest nein sagen können.”

Luke sagte nichts. Martinez atmete tief ein und aus.

„Ich habe dir gesagt, dass du mich umbringen sollst.” Er biss die Zähne aufeinander. „Ich habe dir gesagt… dass du… mich umbringen… sollst. Schau dir das jetzt an… diesen Schlamassel. Du warst derjenige.” Er schüttelte seinen Kopf. „Du hättest es tun können. Niemand hätte davon gewusst.”

Luke starrte ihn an. „Ich hätte dich nicht umbringen können. Du bist mein Freund.”

„Sag das nicht!” rief Martinez. „Ich bin nicht dein Freund.”

Er wandte sein Gesicht zur Wand. „Raus aus meinem Zimmer.”

„Robby…”

„Wie viele Männer hast du umgebracht, Stone? Wie viele, hä? Hundert? Zweihundert?”

Luke flüsterte kaum. Er war ehrlich. „Ich weiß es nicht. Ich habe aufgehört zu zählen.”

„Da kannst du nicht einen Mann als einen Gefallen umbringen? Einen Gefallen für deinen sogenannten Freund?”

Luke antwortete nicht. Sowas war ihm noch nie zuvor eingefallen. Seinen eigenen Mann umbringen? Doch er wurde sich jetzt dessen bewusst, dass es möglich war.

Für den kürzesten Moment stand er wieder auf dem Hügel an dem kalten Morgen. Er sah Martinez auf dem Rücken ausgestreckt, weinend. Luke ging zu ihm hinüber. Es gab keine Munition mehr. Luke hatte nur noch das verdrehte Bajonett in seiner Hand. Er kniete sich neben Martinez, das Bajonett stand aus seiner Faust wie ein Zacken hervor. Er holte damit über Martinez’ Herz aus und…

„Ich will nicht, dass du hier bist”, sagte Martinez jetzt. „Ich will, dass du mein Zimmer verlässt. Raus, OK Stone? Hau jetzt sofort ab.”

Plötzlich begann Martinez zu schreien. Er nahm den Lichtruf vom Nachttisch und rammte seinen Daumen hinein.

„Ich will, dass du verschwindest! Hau ab! Raus!”

Luke stand auf. Er hob seine Hände an. „OK, Robby. In Ordnung.”

„RAUS!”

Luke ging zur Tür.

„Ich hoffe, du stirbst, Stone. Ich hoffe, dein Baby stirbt.”

Dann war Luke draußen im Gang. Zwei Krankenschwestern kamen auf ihn zu, schritten schnell voran.

„Ist er in Ordnung?” fragte die erste.

„Hast du mich gehört, Stone? Ich hoffe dein…”

Doch Luke hielt sich schon die Ohren zu und rannte den Gang hinunter. Er rannte durch das Gebäude und schnappte nach Luft. Er sah das Schild, auf dem AUSGANG stand, wandte sich ihm zu und sprintete durch die Doppeltüren. Dann rannte er durch das Gelände über einen Asphaltweg. Hier und da drehten sich Leute nach ihm um, doch Luke rannte weiter. Er rannte, bis seine Lungen anfingen, zu brennen.

Ein Mann kam aus der anderen Richtung. Der Mann war älter, doch breitgebaut und stark. Er ging gerade aufgerichtet mit einer militärischen Haltung, doch er trug Jeans und eine Lederjacke. Luke hatte ihn fast umgerannt, bevor er bemerkte, dass er ihn kannte.

„Luke”, sagte der Mann. „Wohin rennst du, mein Sohn?”

Luke hielt an. Er beugte sich vornüber und stützte sich mit den Händen auf den Knien ab. Sein Atem war kurz und abgehackt. Er kämpfte darum, seine Lungen zu füllen.

„Don”, sagte er. „Oh Mann, Don. Ich bin außer Form.”

Er stand auf. Er griff hinaus, um Don Morris’ Hand zu schütteln, doch Don zog ihn stattdesssen zu einer Umarmung heran. Es fühlte sich… Luke hatte keine Worte dafür. Don war wie ein Vater für ihn. Gefühle brodelten in ihm auf. Es fühlte sich sicher an. Es fühlte sich wie eine Erleichterung an. Es fühlte sich an als ob er für so lange Zeit Dinge in sich aufgestaut hätte, Dinge die Don intuitiv kannte, ohne dass man ihm etwas sagen musste. Eine Umarmung von Don Morris fühlte sich an wie Heimkommen.

Nach einem langen Moment ließen sie sich los.

„Was machst du hier?” sagte Luke.

Er dachte, dass Don aus Washington herunter nach Fort Bragg gekommen war, um sich mit den Vorgesetzten zu treffen, doch Don widerlegte diese Annahme mit nur einigen Worten.

„Ich bin gekommen, um dich abzuholen”, sagte er.