Jagd Auf Null

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Reid schüttelte verwundert den Kopf. Das Gefährt, das ihn abgeholt hatte, war kaum mehr als eine kleine, eiförmige Schale mit vier parallelen Armen in Form eines X, von denen jede einen sich drehenden Rotor am Ende hatte. Er wusste, worum es sich hierbei handelte – ein Quadopter, eine Einpersonendrohne, komplett automatisiert und höchst experimentell.

Eine Erinnerung blitzte in seinem Gedächtnis auf: Ein Flachdach in Kandahar. Zwei Scharfschützen haben dich auf deinem Standort umzingelt. Du hast keine Ahnung, wo sie sind. Bewege dich und du stirbst. Dann ein Geräusch – ein helles Heulen, kaum mehr als ein Summen. Es erinnert dich an deinen Rasentrimmer zu Hause. Eine Form erscheint am Himmel. Man kann sie nur schwer erkennen. Du kannst sie kaum sehen, doch du weißt, dass Hilfe angekommen ist…

Die CIA hatte mit Maschinen wie diesen experimentiert, um Agenten aus heißen Zonen zu befreien. Er war ein Teil dieses Experiments gewesen.

Es gab keine Kontrollschalter vor ihm, nur einen LED-Bildschirm, der ihm mitteilte, dass sie sich mit dreihundertsiebenundvierzig Stundenkilometern durch die Luft bewegten und in etwa vierundfünfzig Minuten ankämen. Neben dem Bildschirm war ein Kopfhörer. Er hob ihn an und setzte ihn auf.

“Null.”

“Watson, verdammt, wie hast du den bekommen?”

“Habe ich nicht.”

“Mitch war es also”, stellte Reid fest und es bestätigte seine Vermutungen. “Der ist nicht nur eine,Aushilfe’, oder?”

“Der ist, was immer du möchtest, damit du darauf vertraust, dass er dir helfen will.”

Die Luftgeschwindigkeit des Quadopters erhöhte sich stetig und glich sich an etwas unter vierhundertachtzig Stundenkilometern an. Die geschätzte Ankunftszeit wurde um mehrere Minuten verkürzt.

“Und was ist mit der Agentur? fragte Reid. “Können die…?”

“Ihn orten? Nein. Zu klein und fliegt auf niedriger Höhe. Außerdem ist er außer Betrieb gelegt. Sie meinten, der Motor wäre zu laut, um ihn bei geheimen Einsätzen zu verwenden.

Er atmete erleichtert aus. Er hatte jetzt ein Ziel, dieses Starlight Motel in New Jersey und wenigstens war es keiner von Rais’ Tricks, der ihn dort hinführte. Falls sie noch dort waren, könnte er das alles beenden – oder es zumindest versuchen. Er konnte nicht die Tatsache ignorieren, dass dies nur in einer Konfrontation mit dem Attentäter enden könnte, und dass es seine Aufgabe war, die Mädchen aus dem Kreuzfeuer zu halten.

“Warte fünfundvierzig Minuten und schicke dann die Fährte zum Motel zu Strickland und der örtlichen Polizei”, bat er Watson. “Falls er da ist, will ich auch, dass alle anderen kommen.”

Bis zur Ankunft der CIA und der Polizei wären außerdem entweder seine Mädchen in Sicherheit, oder Reid Lawson wäre tot.

Kapitel acht

Maya zog ihre Schwester näher an sich heran. Die Handschellen rasselten zwischen ihren Handgelenken. Sarahs Hand war über ihre eigene Brust hochgezogen, ihre Hand hielt Mayas auf ihrer Schulter fest, als sie zusammengekauert auf dem Rücksitz des Autos saßen.

Der Attentäter fuhr das Auto entlang des Industriehafen Jersey. Der Frachtterminal war lang, Maya riet, dass es mehrere hundert Meter waren. Hohe Stapel von Containern türmten sich auf beiden Seiten auf und bildeten eine enge Gasse, die ihnen nicht mehr als einen halben Meter Raum auf jeder Seite der Autospiegel ließen.

Die Scheinwerfer waren ausgeschaltet und es war gefährlich dunkel, doch das schien Rais nicht weiter zu stören. Hin und wieder gab es eine kleine Unterbrechung zwischen den Frachtcontainern, sodass Maya helle Lichter in der Ferne, näher am Ufer, erblicken konnte. Sie vernahm sogar das Brummen von Maschinen. Mannschaften waren am Arbeiten. Es gab dort also Menschen. Doch das machte ihr nur wenig Hoffnung. Bisher hatte Rais bewiesen, dass er sorgfältig plante und sie bezweifelte, dass neugierige Blicke sie erreichten.

Sie müsste wohl selbst etwas unternehmen, um sie von der Abfahrt abzuhalten.

Die Uhr in der Mitte des Armaturenbretts sagte ihr, dass es vier Uhr morgens war. Weniger als eine Stunde war vergangen, seitdem sie die Notiz im Wassertank der Moteltoilette hinterlassen hatte. Kurz darauf war Rais plötzlich aufgestanden und hatte ihnen mitgeteilt, dass es Zeit war, aufzubrechen. Ohne jegliches weitere Wort der Erklärung hatte er sie aus dem Motelzimmer herausgeführt, jedoch nicht zum weißen Kombi, in dem sie angekommen waren. Stattdessen führte er sie zu einem älteren Auto, dass ein paar Türen weiter von ihrem Zimmer stand. Mühelos brach er die Autotür auf und setzte sie auf den Rücksitz. Dann riss Rais die Abdeckung über dem Zündschloss ab und schloss das Auto binnen Sekunden kurz.

Jetzt waren sie am Hafen, im Schutze der Dunkelheit und fuhren auf den nördlichen Punkt des Festlandes zu, wo der Beton endete und Newark Bay begann. Rais verminderte die Geschwindigkeit und parkte das Auto.

Maya schaute durch die Windschutzscheibe. Da stand ein Boot, für kommerzielle Standards war es recht klein. Von einem Ende zum anderen konnte es nicht mehr als zwanzig Meter lang sein. Es war mit würfelförmigen Stahlcontainern beladen, die etwa anderthalb mal anderthalb Meter groß waren. Abgesehen vom Mond und den Sternen kam das einzige Licht, an diesem Ende des Kais, von zwei kränklich gelben Glühbirnen auf dem Boot, eine am Bug und die andere am Heck.

Rais schaltete den Motor aus und saß einen langen Moment still da. Danach leuchtete er mit den Scheinwerfern auf, nur ein Mal. Zwei Männer kamen aus der Kabine des Bootes. Sie schauten in seine Richtung und kamen dann über die schmale Rampe zwischen Boot und Kai an Land.

Der Attentäter drehte sich auf seinem Sitz um und starrte Maya direkt an. Er sagte nur ein Wort, das er lang hinaus zog. “Warte.” Anschließend stieg er aus dem Auto aus, schloss die Tür erneut und stand nur ein paar Meter davon entfernt, als die Männer sich annäherten.

Maya biss die Zähne zusammen und versuchte, ihren rasenden Herzschlag zu beruhigen. Würden sie dieses Boot betreten und das Ufer verlassen, dann verminderten sich ihre Chancen erheblich, jemals wieder gefunden zu werden. Sie konnte nicht hören, was die Männer sagten, sie vernahm nur leise Töne, als Rais sich mit ihnen unterhielt.

“Sara”, flüsterte sie. “Erinnerst du dich, was ich dir gesagt habe?”

“Ich kann das nicht.” Saras Stimme zitterte. “Ich werde das nicht…”

“Du musst es tun.” Sie waren immer noch aneinandergefesselt, doch die Rampe, über die man das Boot betrat, war schmal, kaum mehr als einen halben Meter breit. Sie müssten ihnen die Handschellen abnehmen, sagte sie sich. Und wenn sie das täten… “So bald ich mich bewege, rennst du los. Finde Leute, verstecke dich, falls notwendig. Du musst —”

Sie schaffte es nicht, auszusprechen. Die Hintertür wurde aufgerissen und Rais spähte zu ihnen herein. “Raus jetzt.”

Mayas Knie wurden weich, als sie aus dem Rücksitz glitt, gefolgt von Sara. Sie zwang sich dazu, die beiden Männer anzusehen, die von dem Boot herunter gekommen waren. Sie hatten beide helle Haut, mit dunklen Haaren und düsteren Gesichtszügen. Einer der beiden hatte einen dünnen Bart und kurzes Haar, er trug eine schwarze Lederjacke. Seine Arme waren über der Brust verschränkt. Der andere trug einen braunen Mantel und sein Haar war um die Ohren herum länger. Er hatte einen Schmierbauch, der über seinen Gürtel quoll, und ein spöttisches Grinsen auf den Lippen.

Dieser Mann, der stämmige, umlief langsam die beiden Mädchen. Er sagte etwas in einer Fremdsprache – Maya bemerkte, dass es dieselbe Sprache war, die Rais am Telefon im Motelzimmer verwendet hatte.

Dann sagte er ein einziges Wort auf englisch.

“Hübsch.” Er lachte. Sein Kumpane in der Lederjacke grinste. Rais stand stoisch da.

Dieses einzige Wort löste ein Verständnis in Mayas Gehirn aus und zog sich wie eisige Finger um ihren Hals. Da geschah etwas viel Heimtückischeres, als sie nur außer Landes zu bringen. Sie wollte nicht mal daran denken, geschweige denn, es ergründen. Das konnte nicht wahr sein. Nicht das. Nicht mit ihnen.

Ihr Blick fand Rais’ Kinn. Sie konnte es nicht aushalten, in seine grünen Augen zu sehen.

“Sie.” Ihre Stimme war leise, zitternd, sie rang um ihre Worte. “Sie sind ein Monster.”

Er seufzte sanft. “Vielleicht. Das ist alles nur eine Frage der Perspektive. Ich muss die See überqueren und ihr seid mein Tauschhandel. Mein Ticket, sozusagen.”

Mayas Mund wurde trocken. Sie weinte oder zitterte nicht. Sie fühlte sich einfach nur kalt.

Rais verkaufte sie.

“Ähm.” Jemand räusperte sich. Fünf Paar Augen schauten aufmerksam, als ein Neuankömmling in den trüben Schein der Bootslampen trat.

In Mayas Herz blitzte eine plötzliche Hoffnung auf. Der Mann war älter, vielleicht um die fünfzig, er trug Khakis und ein gebügeltes, weißes Hemd – er sah offiziell aus. Unter einem Arm hielt er einen weißen Schutzhelm. Rais hatte sofort die Glock gezückt und auf ihn gerichtet. Doch er schoss nicht. Andere würden es hören, merkte Maya.

“Heeey!” der Mann ließ seinen Helm fallen und hielt beide Hände hoch.

“Hey.” Der Ausländer in der schwarzen Lederjacke trat vor, zwischen die Waffe und den Neuankömmling. “Hey, ist gut,” sagte er mit einem Akzent. “Ist OK.”

Maya stand vor Verwirrung der Mund offen. OK?

Als Rais langsam die Pistole herunternahm, reichte der dünne Mann in seine Lederjacke und zog einen zerknitterten, braunen Umschlag heraus, der drei Mal gefaltet und mit Klebeband verschlossen war. Etwas Dickes, Rechteckiges war darin, wie ein Backstein.

Er übergab ihn, während der offiziell aussehende Mann seinen Schutzhelm wieder aufsammelte.

Mein Gott. Sie wusste genau, was in dem Umschlag war. Dieser Mann wurde bezahlt, um seine Mannschaften fernzuhalten, um diesen Teil des Kais freizuhalten.

Wut und Hilflosigkeit stiegen gleichzeitig in ihr auf. Sie wollte ihn anschreien – bitte, warten Sie, Hilfe – doch dann trafen ihre Blicke sich, nur für eine Sekunde, und sie wusste, dass es sinnlos war.

 

Da war keine Reue in seinen Augen. Keine Freundlichkeit. Kein Mitgefühl. Kein Ton entsprang ihrer Kehle.

Genauso schnell, wie er aufgetaucht war, verschwand der Mann auch wieder zurück in die Dunkelheit. “Eine Freude, ein Geschäft mit Ihnen zu machen”, murmelte er, als er verschwand.

Das kann nicht passieren. Sie fühlte sich taub. Niemals in ihrem ganzen Leben hatte sie jemanden getroffen, der tatenlos zusah, während Kinder ganz offensichtlich in Gefahr waren – und dann noch Geld annahm, um nichts zu tun.

Der schmierbäuchige Mann bellte etwas in seiner Fremdsprache und machte eine wage Bewegung in Richtung ihrer Hände. Rais antwortete Etwas, das wie ein knappes Argument klang, doch der andere Mann bestand darauf.

Der Attentäter sah verärgert aus, als er in seiner Tasche wühlte und einen kleinen, silbernen Schlüssel herauszog. Er griff nach der Kette der Handschellen und zwang die beiden dazu, ihre Handgelenke anzuheben. “Ich werde die euch jetzt abnehmen”, erklärte er ihnen. “Dann gehen wir auf das Boot. Wenn ihr lebendig auf das Festland zurück wollt, dann bleibt ihr besser still. Ihr tut, was man von euch verlangt.” Er steckte den Schlüssel in die Handschelle um Mayas Hand und öffnete sie. “Und denkt nicht mal dran, ins Wasser zu springen. Keiner von uns wird hinter euch herspringen. Wir werden euch dabei zusehen, wie ihr erfriert und untergeht. Das braucht nur ein paar Minuten.” Er öffnete Saras Handschelle und sie rieb instinktiv ihr wundes, gerötetes Handgelenk.

Jetzt. Mach schon. Du musst jetzt was tun, schrie Mayas Gehirn sie an, doch es schien, als könnte sie sich nicht bewegen.

Der Fremde in der schwarzen Lederjacke trat hervor und griff schroff nach ihrem Oberarm. Der plötzliche, körperliche Kontakt riss sie aus ihrer Lähmung und ließ sie handeln. Sie dachte nicht einmal darüber nach.

Ein Fuß schnellte in die Höhe und trat Rais in den Unterleib, so hart, wie sie es konnte.

Während dies geschah, blitzte eine Erinnerung durch ihr Gedächtnis. Sie brauchte nur einen Augenblick, doch es kam ihr viel länger vor, als ob alles um sie herum sich langsamer abspielte.

Kurz nachdem die Amun Terroristen versucht hatten, sie in New Jersey zu entführen, hatte ihr Vater sie eines Tages zur Seite genommen. Er musste seine Deckungsgeschichte aufrecht erhalten – sie waren Mitglieder einer Gang, die junge Mädchen als Teil einer Initiation entführten – doch er hatte ihr erklärt: Ich werde nicht immer für dich da sein. Es wird nicht immer jemanden geben, der dir hilft.

Maya spielte schon seit Jahren Fußball. Sie hatte einen kräftigen und gut positionierten Tritt. Ein zischender Atemzug entfloh Rais, als er sich vornüberbeugte und seine beiden Hände impulsiv zu seinem Unterleib flogen.

Wenn dich jemand angreift, insbesondere ein Mann, dann tut er das, weil er größer ist. Stärker. Er ist schwerer als du. Und deswegen glaubt er, er könne mit dir machen, was er wolle. Dass du keine Chance hast.

Sie riss ihren linken Arm nach unten, schnell und brutal, und befreite sich von dem Lederjackentypen. Sie schnellte vorwärts und überrumpelte ihn.

Du brauchst nicht fair zu kämpfen. Du tust, was immer du tun musst. Unterleib. Nase. Augen. Du beißt. Du schlägst um dich. Du schreist. Die kämpfen ja auch nicht fair. Warum solltest du es tun?

Maya drehte sich erneut um sich und schwang gleichzeitig ihren dünnen Arm in einem weiten Bogen. Rais war vornübergebeugt, sein Gesicht war ungefähr auf Augenhöhe mit ihr. Ihre Faust schlug auf der Seite seiner Nase ein.

Schmerz durchfuhr sofort ihre Hand, er begann an den Knöcheln und breitete sich nach oben aus, bis zu ihrem Ellenbogen. Sie schrie und griff danach. Doch auch Rais war von dem Hieb schwer angeschlagen, er fiel fast zu Boden.

Ein Arm griff sich um ihre Taille und zog sie zurück. Ihre Füße hoben vom Boden ab und traten ins Nichts, während sie mit beiden Armen um sich schlug. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass sie brüllte, bis eine dicke Hand sich über ihre Nase und ihren Mund legte und ihr damit sowohl ihre Stimme als auch ihren Atem abschnitt.

Doch dann sah sie sie – eine kleine Figur, die immer kleiner wurde. Sara rannte den Weg zurück, den sie gekommen waren und verschwand in der Dunkelheit der Frachtstapel.

Ich hab’s geschafft. Sie ist weg. Sie ist entkommen. Es war Maya egal, welches Schicksal sie nun heimsuchen würde. Hör nicht auf zu rennen, Sara. Renn immer weiter, finde Leute, finde Hilfe.

Eine weitere Figur schoss voran wie ein Pfeil – Rais. Er setzte Sara nach und verschwand ebenfalls in den Schatten. Er war schnell, viel schneller als Sarah, und es schien, als hätte er sich schnell von Mayas Angriff erholt.

Er wird sie nicht finden. Nicht in der Dunkelheit.

Mit der Hand, die über ihr Gesicht gepresst war, konnte sie nicht atmen. Sie kratzte daran, bis die Finger herunterrutschten, nur ein wenig, doch genug, um Luft durch die Nase einzuatmen. Der stämmige Mann hielt sie fest, einen Arm um ihre Hüfte, und ihre Füße reichten immer noch nicht zum Boden. Doch sie bekämpfte ihn nicht, sie hielt still und wartete ab.

Für mehrere lange Moment war der Kai ruhig. Das Gebrumme der Maschinen am anderen Ende des Hafens hallte durch die Nacht. Das machte es unwahrscheinlich, dass Mayas Schreie gehört worden waren. Sie und die zwei Männer warteten auf Rais’ Rückkehr – sie hoffte verzweifelt, dass er mit leeren Händen wieder auftauchte.

Ein kurzer Schrei erschütterte die Stille und Mayas Gliedmaßen erschlafften.

Rais kam wieder aus der Dunkelheit zurück. Er hatte Sara unter einem Arm, so wie man ein Surfboard trägt, die andere Hand war über ihren Mund gelegt, um sie still zu halten. Ihr Gesicht war knallrot und sie schluchzte, doch ihr Weinen erklang nur gedämpft.

Nein. Maya hatte versagt. Ihre Attacke hatte nichts genützt, sie hatte Sara nicht in Sicherheit gebracht.

Rais hielt ein paar Meter vor Maya an und starrte sie mit reiner Tobsucht in seinen hellgrünen Augen an. Ein dünnes Rinnsal aus Blut trat aus einem seiner Nasenlöcher, wo sie ihn geschlagen hatte.

“Ich hab’s dir gesagt”, zischte er. “Ich hab’ dich davor gewarnt, was passieren würde, wenn du etwas tätest. Jetzt musst du dabei zusehen.”

Maya strampelte erneut, versuchte zu schreien, doch der Mann hielt sie fest.

Rais rief barsch Etwas in der Fremdsprache zu dem Mann in der Lederjacke. Der eilte hinüber und nahm Sara. Er hielt sie fest und geknebelt.

Der Attentäter zog das lange Messer, jenes, das er verwendet hatte, um Mr. Thompson und die Frau in der Raststättentoilette zu ermorden. Er zog Saras Arm auf einer Seite heraus und hielt ihn fest.

Nein! Bitte tu ihr nicht weh. Tu das nicht. Lass es sein… Sie versuchte, Worte zu formen, sie herauszuschreien, doch sie kamen nur als gellende, gedämpfte Rufe hinaus.

Sara versuchte, sich zu entwinden, während sie weinte, doch Rais hielt ihren Arm in eisernem Griff. Er zog ihre Finger auseinander und steckte das Messer in den Raum zwischen Ringfinger und kleinem Finger.

“Du wirst zuschauen”, sagte er nochmals und starrte Maya dabei direkt an, “während ich deiner Schwester einen Finger abschneide. Er drückte das Messer gegen die Haut.

Nein, nein. Bitte, lieber Gott, nein…

Der Mann, der sie festhielt, der mit dem Schmierbauch, murmelte etwas.

Rais hielt inne und sah ihn genervt an.

Die beiden tauschten sich kurz aus, wovon Maya kein Wort verstand. Es war auch egal, denn ihr Blick war auf ihre kleine Schwester gerichtet, deren Augen zugekniffen waren, während Tränen ihr beide Wangen und die Hand hinunterliefen, die ihren Mund zuhielt.

Rais knurrte frustriert. Schließlich ließ er endlich Saras Hand los. Der dicke Mann ließ Maya los und gleichzeitig schubste der in der Lederjacke Sara vorwärts. Maya fing ihre Schwester in ihren Armen auf und hielt sie fest an sich.

Der Attentäter schritt vor und sprach leise. “Diesmal habt ihr noch Glück. Diese Ehrenmänner schlugen vor, dass ich keine Güter beschädige, bevor sie an ihren Zielort gelangen.”

Maya zitterte von Kopf bis Fuß, doch sie wagte es nicht, sich zu bewegen.

“Außerdem”, fügte er hinzu, “wo ihr hinkommt, ist es viel schlimmer, als alles, was ich euch antun könnte. Jetzt gehen wir alle an Bord. Denkt dran, ihr nützt ihnen nur, wenn ihr am Leben seid.”

Der Schmierbäuchige führte sie auf die Rampe, Sara hinter ihm und Maya direkt hinter ihr, als sie erschüttert das Boot betraten. Es hatte keinen Sinn, jetzt zurückzukämpfen. Ihre Hand pochte vor Schmerz an der Stelle, mit der sie Rais den Hieb versetzt hatte. Es waren drei Männer, aber sie waren nur zu zweit und er war schneller. Er hatte Sara in der Dunkelheit gefunden. Sie hatten keine Chance, allein zu entkommen.

Maya blickte über die Seite des Bootes auf das schwarze Wasser hinunter. Für den Bruchteil einer Sekunde spielte sie mit dem Gedanken, zu springen. Vielleicht war es besser, in seinen Tiefen zu erfrieren, als das Schicksal zu erleiden, das sie erwartete.

Doch das konnte sie nicht tun. Sie konnte Sara nicht allein lassen. Sie konnte nicht ihr letztes Bisschen Hoffnung verlieren.

Sie wurden zum Heck des Schiffes gebracht, wo der Mann in der Lederjacke einen Schlüsselbund herauszog und das Vorhängeschloss an der Tür eines Stahlcontainers, der in rostigem Orange bemalt war, öffnete.

Er öffnete die Tür und Maya keuchte vor Horror.

In der Kiste blinzelten im schwachen, gelben Licht mehrere andere junge Mädchen. Es waren mindestens vier oder fünf, die Maya sehen konnte.

Dann wurde sie von hinten geschubst und ins Innere gezwungen. Das Gleiche geschah mit Sara und sie fiel auf dem Boden des kleinen Containers auf die Knie. Als die Tür hinter ihnen zuschwang, kroch Maya zu Sara und nahm sie in ihre Arme.

Dann schlug die Tür zu und sie wurden in Finsternis getaucht.

Kapitel neun

Die Sonne ging schnell am grau bewölkten Himmel unter, während der Quadopter in Richtung Norden raste, um seine Fracht, einen gewissen, entschlossenen CIA Agenten und Vater, zum Starlight Motel in New Jersey zu bringen.

Seine geschätzte Ankunftszeit betrug fünf Minuten. Eine Nachricht auf dem Bildschirm blinkte eine Warnung: Auf den Einsatz vorbereiten. Er blickte aus der Seite des Cockpits heraus und sah, dass weit unter ihnen ein großes Industriegelände aus verschachtelten Lagerhallen und Produktionsanlagen still im Dunkeln lag und nur durch Punkte aus orangefarbenem Straßenlicht beleuchtet wurde.

Er öffnete den Reißverschluss des schwarzen Seesacks, der auf seinem Schoß lag. In ihm fand er zwei Halfter und zwei Pistolen. Reid wand sich in dem winzigen Cockpit aus seiner Jacke heraus und zog das Schulterhalfter an, das eine Standard Glock 22 enthielt – sie hatte keinen von Bixbys biometrischen high-tech Abzugsriegeln, über die damals die Glock 19 verfügt hatte. Er zog sich die Jacke wieder an und krempelte anschließend das Bein der Jeans hoch, um den Knöchelhalfter anzubringen, der die Ersatzwaffe seiner Wahl enthielt, die Ruger LC9. Es war eine kompakte Pistole mit einem dicken Zylinder, neun Millimeter Kaliber in einem, auf neun Runden vergrößerten, Box Magazin, das nur drei Zentimeter weiter als der Griff hervorstand.

Er hielt sich mit einer Hand an der Abseilsprosse fest, bereit, aus der bemannten Drohne auszusteigen, sobald sie eine sichere Höhe und Geschwindigkeit erreicht hatten. Er wollte sich gerade die Kopfhörer von den Ohren ziehen, als Watsons Stimme erklang.

“Null.”

“Gleich angekommen. Noch zwei Minuten —”

“Wir haben gerade eine weiteres Foto erhalten, Kent”, unterbrach ihn Watson. “Auf das Handy deiner Tochter geschickt.”

Eiskalte Finger aus Panik ergriffen Reids Herz. “Von ihnen?”

“Wie sie auf einem Bett sitzen”, bestätigte Watson. “Sieht so aus, als könnte es das Motel sein.”

“Könnt ihr die Nummer orten, von der es gesendet wurde?” fragte Reid hoffnungsvoll.

“Tut mir leid, er hat sich ihm schon entledigt.”

Seine Hoffnung fiel in sich zusammen. Rais war intelligent. Bisher hatte er nur Fotos von Orten geschickt, an denen er schon gewesen war, nicht, an denen er sich gerade aufhielt. Wenn es überhaupt eine Chance gab, dass Agent Null ihn irgendwie einholen könnte, dann wollte der Attentäter, dass das unter seinen Bedingungen geschähe. Während des ganzen Flugs im Quadopter war Reid auf nervöse Weise optimistisch wegen des Motel Tipps, begierig, Rais’ Spiel auf die Schliche zu kommen.

Doch wenn es ein Foto gab… dann war es gut möglich, dass sie schon weitergezogen waren.

 

Nein. Du darfst so nicht denken. Der will, dass du ihn findest. Genau aus diesem Grund hatte er ein Motel am Ende der Welt gewählt. Der ködert dich. Die sind hier. Die müssen hier sein.

“Sind sie OK? Sahen sie… sind sie verletzt…?”

“Sie sahen OK aus”, teilte Watson ihm mit. “Verunsichert. Verängstigt. Aber OK.”

Die Mitteilung auf dem Bildschirm veränderte sich, blinkte in roten Buchstaben: Einsatz. Einsatz.

Trotz des Fotos oder seiner Gedanken war er angekommen. Er musste es für sich selbst sehen. “Ich muss jetzt los.”

“Beeil dich”, riet ihm Watson. “Einer meiner Männer teilt einen gefälschten Hinweis über das Motel mit, der der Beschreibung von Rais und deinen Töchtern entspricht.”

“Danke, John.” Reid zog sich den Kopfhörer ab, versicherte sich, die Abseilsprosse fest im Griff zu haben und trat aus dem Quadopter.

Der kontrollierte Abstieg von fünfzehn Metern zum Boden war schneller, als er sich vorgestellt hatte und stahl ihm den Atem. Der bekannte Nervenkitzel, der Rausch von Adrenalin, strömte durch seine Adern, während der Wind in seinen Ohren sauste. Er ging beim Ankommen leicht in die Knie und landete in der Hocke auf dem Asphalt.

Sobald er die Abseilsprosse losgelassen hatte, sprang das Seil zurück zum Quadopter und die Drohne entschwirrte in die Nacht, um dorthin zurückzukehren, wo auch immer sie hergekommen war.

Reid blickte sich schnell um. Er war auf dem Parkplatz einer Lagerhalle gegenüber des schäbigen Motels, das nur durch ein paar gelbe Glühbirnen schwach beleuchtet war. Ein handgemaltes Schild, das am Straßenrand stand, sagte ihm, dass er am richtigen Ort angekommen war.

Er warf einen Blick nach links und rechts, während er über die leere Straße eilte. Es war still hier, erschreckend still. Drei Autos standen auf dem Parkplatz, verteilt über die lange Reihe von Zimmern, denen er gegenüber stand – und eines von ihnen war ganz offensichtlich der weiße Kombi, der aus dem Gebrauchtwagenhandel in Maryland gestohlen worden war.

Er war direkt vor einem Zimmer mit der Nummer 9 aus Messing an der Tür geparkt.

Im Zimmer war kein Licht an, es schien nicht so, als ob sich dort jemand im Moment aufhielt. Trotzdem legte er seinen Seesack vor der Tür ab und lauschte sorgfältig für etwa drei Sekunden.

Er hörte nichts, also zog er die Glock aus dem Schulterhalfter und trat die Tür ein.

Der Pfosten splitterte leicht, als die Tür aufflog und Reid eintrat, die Pistole in die Dunkelheit gerichtet. Doch nichts bewegte sich in den Schatten. Es gab keine Geräusche, niemand schrie überrascht auf oder versuchte, eine Waffe zu zücken.

Seine linke Hand tastete die Wand nach einem Lichtschalter ab und legte ihn um. Zimmer 9 hatte einen orangefarbenen Teppich und gelbe Tapeten, die sich an den Ecken einrollten. Das Zimmer war kürzlich gereinigt worden, soweit man im Starlight Motel von Reinigung sprechen konnte. Das Bett war hastig gemacht und es stank nach billigem Desinfektionsspray.

Doch es war leer. Sein Herz sank. Da war niemand hier – weder Sara noch Maya und auch nicht der Attentäter, der sie entführt hatte.

Reid ging vorsichtig voran und inspizierte das Zimmer. In der Nähe der Tür stand ein grüner Sessel. Der Stoff des Sitzkissens und der Rückenlehne war leicht entfärbt und hatte den Abdruck einer Person, die hier vor kurzem gesessen war. Er kniete sich daneben und umzeichnete die Form der Person mit seinen behandschuhten Fingerkuppen.

Jemand hatte hier stundenlang gesessen. Etwa eins-achtzig groß und neunzig Kilo schwer.

Er war es. Er hatte hier gesessen, neben dem Eingang, in der Nähe des Fensters.

Reid steckte seine Waffe zurück in den Halfter und zog vorsichtig die Bettdecke zurück. Die Laken waren beschmutzt, man hatte sie nicht ausgewechselt. Er inspizierte sie vorsichtig, hob jedes Kissen abwechselnd hoch, gab sich dabei Mühe, keine möglichen Beweise zu zerstören.

Er fand zwei blonde Haare, lange Strähnen, ohne die Wurzeln. Sie waren auf natürliche Weise ausgefallen. Auf dieselbe Art fand er ein einziges braunes Haar. Sie waren hier, zusammen, auf diesem Bett, während er dasaß und sie beobachtete. Doch warum? Warum hatte Rais sie hierher gebracht? Warum hatten sie angehalten? War es nur eine weitere List im Katz-und-Maus-Spiel des Attentäters, oder hatte er auf etwas gewartet?

Vielleicht hatte er auf mich gewartet. Ich brauchte zu lange, um den Hinweisen zu folgen. Jetzt sind sie schon wieder fort.

Falls Watson den gefälschten Hinweis hatte melden lassen, würde die Polizei binnen Minuten beim Motel sein, und Strickland war wahrscheinlich schon im Helikopter. Doch Reid weigerte sich, zu gehen, ohne etwas gefunden zu haben. Sonst wäre alles umsonst gewesen, eine weitere Sackgasse.

Er eilte zur Rezeption des Motels.

Der Teppich war grün und grob unter seinen Stiefeln, er erinnerte ihn an Kunstrasen. Es stank nach Zigarettenrauch. Hinter der Theke war ein dunkler Korridor und dahinter konnte Reid hören, dass ein Radio oder ein Fernsehgerät leise spielte.

Er schellte die Serviceglocke auf der Theke, ein disharmonisches Geräusch klang aus dem stillen Büro.

“Hmmm.” Er hörte ein sanftes Grummeln aus dem Hinterzimmer, doch niemand trat heraus.

Reid klingelte drei Mal schnell hintereinander.

“Ja Mann! Himmelherrgott.” Eine männliche Stimme. “Ich komm’ ja schon.” Ein junger Mann trat aus dem Hinterzimmer hervor. Er war Mitte Zwanzig oder Anfang Dreißig. Aufgrund seiner schlechten Haut und seiner geröteten Augen, die er sich rieb, als wäre er gerade aus einem Nickerchen aufgewacht, fiel es Reid schwer, sein Alter zu schätzen. Ein kleiner Silberring zierte sein linkes Nasenloch und sein schmutzig blondes Haar war in verwahrloste Rastas gebunden.

Er starrte Reid eine Weile an, als würde ihn das bloße Konzept, dass jemand durch die Rezeptionstür trat, schon nerven. “Ja? Was?”

“Ich brauche eine Auskunft”, gab ihm Reid zu verstehen. “Hier war kürzlich ein Mann, hellhäutig, Anfang Dreißig oder so, mit zwei jugendlichen Mädchen. Eine braunhaarig, und eine jüngere, blond. Er fuhr diesen weißen Kombi hier. Sie waren in Zimmer neun —”

“Bist du ein Bulle?” unterbrach ihn der Rezeptionist.

Reid wurde schnell sauer. “Nein. Ich bin kein Bulle.” Er wollte noch hinzufügen, dass er der Vater der beiden Mädchen war, doch er hielt sich zurück. Er wollte nicht, dass dieser Rezeptionist ihn noch weiter identifizieren könnte, als es ihm jetzt schon möglich war.

“Schau Mann, ich weiß gar nichts von irgendwelchen Teenies”, beharrte der Rezeptionist. “Was die Leute hier machen, ist ihre Sache —”

“Ich will nur wissen, wann er hier war. Ob du die beiden Mädchen gesehen hast. Ich will wissen, welchen Namen dir der Mann gegeben hat. Ob er bar oder mit einer Karte gezahlt hat. Falls es mit Karte war, dann gib mir die letzten vier Ziffern. Und ich will wissen, ob er irgendwas gesagt hat, oder ob du was gehört hast, das mich darauf hinweisen könnte, wohin er von hier aus weitergefahren ist.”

Der Rezeptionist starrte ihn einen langen Moment lang an, und dann stieß er ein rauhes Lachen aus. “Mann, schau dich doch mal um. Das ist hier nicht die Art von Ort, an dem wir Namen oder Kreditkarten oder Sonstiges aufschreiben. Leute mieten hier Zimmer stundenweise, wenn du verstehst, was ich damit meine.”

Reids Nasenflügel blähten sich auf. Er hatte jetzt wirklich die Nase voll von diesem Idioten. “Es muss doch was geben, was du mir sagen kannst. Wann haben sie eingecheckt? Wann ausgecheckt? Was hat er dir gesagt?”

Der Rezeptionist warf ihm einen wissenden Blick zu. “Was ist es dir wert? Für fünfzig Dollar sag’ ich dir alles, was du wissen willst.”

Reids Zorn entzündete sich wie ein Feuerball, als er über die Theke griff, den jungen Rezeptionisten am T-Shirt packte und ihn nach vorne riss, wobei der fast das Gleichgewicht verlor. “Du hast keine Ahnung, wovon du mich hier abhältst”, knurrte er in das Gesicht des Jünglings, “oder wie weit ich gehe, um es zu bekommen. Du sagst mir jetzt, was ich wissen will, oder du wirst dich für die absehbare Zukunft durch einen Strohhalm ernähren müssen.”

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