Jagd Auf Null

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“Das ist Mitch”, sagte Watson. “Mitch ist ein Freund.” Er warf Reid einen Schlüsselring zu und zeigte auf den Trans Am. “Er ist ein älteres Modell, weshalb er kein GPS hat. Er ist zuverlässig. Mitch hat ihn die letzten paar Jahre über in Ordnung gebracht. Versuche also, ihn nicht zu zerstören.”

“Danke.” Er hatte auf etwas Unverdächtigeres gehofft, doch er würde nehmen, was er bekommen konnte. “Was ist das für ein Ort hier?”

“”Das? Das ist eine Werkstatt, Kent. Die reparieren hier Autos.”

Reid rollte mit den Augen. “Du weißt, wovon ich spreche.”

“Die Agentur versucht jetzt schon, ihre Ohren und Augen auf dich zu lenken”, erklärte Watson. “Die werden deiner Fährte folgen, wie sie es nur können. Bei unserer Arbeit braucht man manchmal… Freunde von draußen, um es mal so zu nennen.” Er zeigte erneut auf den strammen Mechaniker. “Mitch ist eine Ressource für die CIA, jemand, den ich während meiner Zeit bei der Abteilung für nationale Ressourcen angeheuert habe. Er ist ein Experte, was, ähm, ‘Fahrzeugbeschaffung’ angeht. Wenn du irgendwo hin musst, dann rufst du ihn an.”

Reid nickte. Er wusste nicht, dass Watson bei der Ressourcenbeschaffung tätig war, bevor er ein Agent im Außendienst wurde – doch ehrlich gesagt war er sich nicht mal sicher, dass John Watson sein wirklicher Name war.

“Jetzt komm schon, ich habe ein paar Dinge für dich.” Watson öffnete den Kofferraum und zog den Reißverschluss eines schwarzen Seesacks aus Leinwand auf.

Reid tat einen Schritt zurück, er war beeindruckt. In dem Beutel befand sich eine Reihe von Zubehör, unter anderem Aufnahmegeräte, eine GPS-Verfolgungs-Einheit, ein Frequenzscanner und zwei Pistolen – eine Glock 22 und seine Lieblingsunterstützung, die Ruger LC9.

Er schüttelte seinen Kopf in Unglauben. “Wo hast du das alles her?”

Watson zuckte mit einer Achsel. “Ich hatte ein wenig Hilfe von einem gemeinsamen Freund.”

Reid musste gar nicht nachfragen. Bixby. Der exzentrische CIA-Ingenieur, der die meisten seiner wachen Stunden in einem unterirdischen Recherchen- und Entwicklungslabor unter Langley verbrachte.

“Du und er, ihr kennt euch schon eine ganze Weile, auch wenn du dich gar nicht dran erinnern kannst”, meinte Watson. “Doch dafür musste ich ihm auch versprechen, zu erwähnen, dass du ihm noch einige Tests schuldest.”

Reid nickte. Bixby war einer der Miterfinder des experimentellen Gedächtnishemmers, der in seinem Kopf installiert wurde, und der Ingenieur hatte darum gebeten, einige Tests an Reids Kopf vorzunehmen.

Der kann meinen Schädel öffnen, wenn das bedeutet, dass ich meine Mädchen zurückbekomme. Er spürte, wie eine weitere, überwältigende Welle der Gefühle über ihm zusammenbrach. Er verstand, dass es Leute gab, die bereit waren, die Regeln zu brechen, sich selbst in Gefahr zu bringen, um ihm zu helfen – Leute, von denen er sich kaum noch daran erinnern konnte, eine Beziehung zu ihnen zu haben. Er blinzelte, um die androhenden Tränen, die in seine Augen traten, zurückzuhalten.

“Danke John. Echt.”

“Bedank dich noch nicht bei mir. Wir haben ja gerade erst angefangen.” Watsons Telefon klingelte in seiner Jackentasche. “Das wird wohl Cartwright sein. Gib mir eine Minute.” Er wich in eine Ecke zurück, um den Anruf anzunehmen und sprach mit leiser Stimme.

Reid verschloss den Seesack und warf den Kofferraumdeckel zu. Während dies geschah, grummelte der Mechaniker und machte dabei ein Geräusch, das irgendwo zwischen einem Räuspern und einem Murmeln lag.

“Hast du… hast du was gesagt?” fragte Reid.

“Ich hab’ gesagt, dass es mir leid tut. Wegen deiner Kinder.” Mitchs Gesichtsausdruck war hinter dem gekräuselten Bart und der Baseballmütze gut versteckt, doch seine Stimme klang aufrichtig.

“Du weißt Bescheid… über sie?”

Der Mann nickte. “Es ist schon in den Nachrichten. Ihre Fotos und eine Telefonnummer, die man bei Hinweisen oder Sichtung anrufen kann.”

Reid biss sich auf die Lippe. Daran hatte er nicht gedacht, an die Publicity – und die unvermeidliche Verbindung zu ihm. Er dachte sofort an ihre Tante Linda, die in New York wohnte. Diese Art von Nachrichten verbreitete sich immer schnell. Wenn sie davon gehört hatte, dann wäre sie jetzt voller Sorge und würde immer wieder versuchen, Reids Nummer anzurufen, um Information zu bekommen, aber keiner ginge dran.

“Ich habe was”, erklärte Watson plötzlich. “Thompsons Wagen wurde an einer Raststätte siebzig Meilen südlich von hier, auf der I-95, gefunden. Eine Frau wurde tot am Tatort entdeckt. Ihre Gurgel war durchgeschnitten, das Auto weg und ihre Papiere verschwunden.”

“Wir wissen also nicht, wer sie war?” fragte Reid.

“Noch nicht. Doch wir arbeiten dran. Ich habe einen Techniker infiltriert, der die Ätherwellen der Polizei scannt und per Satellit ein Auge drauf behält. Sobald etwas berichtet wird, weißt du Bescheid.”

Reid grummelte. Ohne die Papiere würden sie nicht fähig sein, den Wagen zu finden. Es war zwar kein toller Hinweis, doch besser als nichts, und er wollte sich sofort auf die Fährtensuche machen. Er hatte die Tür des Trans Am schon geöffnet, als er fragte: “Welche Ausfahrt?”

Watson schüttelte den Kopf. “Fahr da nicht hin, Kent. Dort ist alles voll von Polizisten und ich bin mir sicher, dass Agent Strickland schon auf dem Weg ist.”

“Ich werde vorsichtig sein.” Er vertraute nicht darauf, dass die Polizei oder dieser Neueinsteiger alles finden würden, was er dort finden könnte. Falls Rais dieses Spiel so anginge, wie Reid es von ihm annahm, dann würde er dort außerdem einen weiteren Hinweis in Form einer Stichelei finden. Etwas, das nur für ihn gedacht war.

Das Foto seiner Mädchen leuchtete wieder in seiner Erinnerung auf. Jenes, das Rais von Mayas Telefon aus geschickt hatte, und es erinnerte ihn an noch etwas. “Hier, gib darauf für mich Acht.” Er gab Watson sein persönliches Handy. “Rais hat Saras Nummer, und ich habe ihr Telefon zu meinem weitergeleitet. Wenn irgendetwas ankommt, dann möchte ich davon erfahren.”

“Na klar. Der Tatort ist auf der Ausfahrt dreiundsechzig. Brauchst du sonst noch was?”

“Vergiss nicht, Maria Bescheid zu geben, mich anzurufen.” Er setzte sich hinter das Steuer des Sportwagens und nickte Watson zu. “Danke. Für deine Hilfe.”

“Ich tu’ das nicht für dich”, erinnerte ihn Watson ernst. “Ich mache das für die Kids. Und Null? Wenn das jemand herausfindet, wenn irgendwer mich verpfeift und die rauskriegen, was ich da mit dir mache, dann fliege ich raus. Verstehst du? Ich kann es mir nicht leisten, auf die schwarze Liste der Agentur gesetzt zu werden.”

Reids sofortige, instinktive Reaktion war ein kurzes Anschwellen seines Zornes – hier geht es um meine Kinder, und der hat Angst, auf die schwarze Liste gesetzt zu werden? – doch er würgte ihn so schnell herunter, wie er hochkam. Watson war ein unerwarteter Verbündeter in dieser Sache, und der Mann hielt seinen Hals für seine Mädchen hin. Nicht für ihn, sondern für zwei Kinder, die er nur kurz kennengelernt hatte.

Reid nickte steif. “Ich verstehe.” Zu dem ernsten, grummelnden Mechaniker fügte er noch hinzu: “Danke Mitch. Ich weiß deine Hilfe zu schätzen.”

Mitch grummelte seine Antwort und drückte auf den Knopf, der die Garagenbucht öffnete, während Reid in den Trans Am stieg. Der Innenraum war ganz aus schwarzem Leder, das sauber war und angenehm roch. Der Motor sprang sofort an und brummte unter der Motorhaube. Ein 1987 Modell, sagte ihm sein Gehirn. 5,0 Liter V8 Motor. Mindestens zweihundertfünfzig PS.

Er fuhr aus der Third Street Garage hinaus in Richtung Highway, seine Hände fest um das Lenkrad geschlossen. Die Horrorvorstellungen, die zuvor durch seinen Kopf wirbelten, wurden durch eine stählerne Entschlossenheit, eine harte Entschiedenheit ersetzt. Es gab eine Rufnummer. Die Polizei arbeitete daran. Die CIA saß an dem Fall. Und jetzt war auch er auf der Straße, um sie zu finden.

Ich bin auf dem Weg. Papa findet euch.

Und ihn.

Kapitel fünf

“Du solltest was essen.” Der Attentäter zeigte auf eine Kiste mit chinesischem Essen auf dem Nachttisch, der neben dem Bett stand.

Maya schüttelte den Kopf. Das Essen war schon lange kalt geworden und sie hatte keinen Hunger. Stattdessen saß sie mit hochgezogenen Knien auf dem Bett und Sara lehnte sich gegen sie, ihren Kopf auf dem Schoß der älteren Schwester. Die Mädchen waren durch Handschellen aneinandergefesselt, Mayas linkes Handgelenk mit Saras rechtem. Sie hatte keine Ahnung, wo er die Handschellen her hatte, doch der Attentäter hatte beide mehrmals gewarnt, dass wenn eine von ihnen versuchte, zu entkommen oder Lärm zu machen, die andere darunter litte.

Rais saß in einem Sessel in der Nähe der Tür des zwielichtigen Motelzimmers mit orangefarbenem Teppichboden und gelben Wänden. Das Zimmer roch modrig und das Bad stank nach Chlor. Sie waren schon seit Stunden hier. Der uralte Wecker verriet ihr in rechteckigen, roten LED-Ziffern, dass es halb drei morgens war. Der Fernseher war leise auf einen Nachrichtenkanal geschaltet.

Ein weißer Kombi war direkt vor der Tür geparkt. Der Attentäter hatte ihn nach Einbruch der Dunkelheit aus dem Parkplatz eines Gebrauchtwagenhändlers gestohlen. Das war das dritte Mal, dass sie an diesem Tag das Auto gewechselt hatten, von Thompsons Kleintransporter, zum blauen Limousinenwagen und jetzt der weiße Kombi. Bei jedem Mal änderte Rais die Himmelsrichtung. Zuerst fuhr er nach Süden, dann zurück nach Norden und jetzt nordöstlich in Richtung Küste.

Maya verstand, was er tat. Es war ein Katz-und-Maus-Spiel. Er hinterließ die gestohlenen Fahrzeuge an verschiedenen Orten, damit die Behörden keine Ahnung hätten, wohin sie fahren würden. Ihr Motelzimmer war weniger als fünfzehn Kilometer entfernt von Bayonne, nicht weit von der Grenze zwischen New Jersey und New York. Das Motel an sich war ein längliches, derart heruntergekommenes und absolut widerliches Gebäude, dass man beim Vorbeifahren denken musste, es sei schon seit Jahren geschlossen.

 

Beide Mädchen hatten nicht viel geschlafen. Sara hatte hin und wieder ein Nickerchen in Mayas Armen gemacht, stahl sich zwanzig oder dreißig Minuten, bevor sie wieder erschreckt mit einem Wimmern von ihren Träumen aufwachte und sich daran erinnerte, wo sie war.

Maya hatte mit der Erschöpfung gerungen und versucht, so lange wie möglich wach zu bleiben – sie wusste, das Rais irgendwann schließlich auch schlafen musste. Das könnte ihnen die wertvollen wenigen Minuten verschaffen, die sie brauchten, um ihm zu entkommen. Doch das Motel lag in einem Industriepark. Als sie dort hineinfuhren, bemerkte sie keine weiteren Häuser in der Nähe oder Geschäfte, die um diese nächtliche Uhrzeit geöffnet waren. Sie war sich noch nicht mal sicher, ob jemand im Büro des Motels war. Sie könnten nirgendwo hin, sie könnten nur in die Nacht rennen, doch die Handschellen würden sie langsamer machen.

Letzten Endes war Maya ihrer Erschöpfung unterlegen und schlummerte gegen ihren Willen ein. Sie hatte weniger als eine Stunde geschlafen, als sie mit einem Keuchen aufwachte – und dann nochmal erschrocken keuchte, als sie Rais im Sessel nur drei Meter von sich sitzen sah.

Er starrte sie direkt an, mit weit geöffneten Augen. Er beobachtete sie nur.

Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken… eine ganze Minute verstrich, dann eine weitere. Sie beobachtete ihn, starrte zurück, ihre Angst vermische sich mit Neugier. Plötzlich ging ihr ein Licht auf.

Der schläft mit offenen Augen.

Sie war sich nicht sicher, ob das nicht noch beunruhigender war, als aufzuwachen und zu bemerken, dass er sie beobachtete.

Dann blinzelte er und sie hielt ein weiteres erschrockenes Keuchen zurück, bei dem ihr Herz bis in die Kehle schlug.

“Geschädigte Gesichtsnerven”, sagte er ruhig, fast flüsternd. “Ich habe gehört, dass das etwas verwirrend sein kann.” Er zeigte auf die Box mit dem restlichen chinesischen Essen, das einige Stunden zuvor auf ihr Zimmer geliefert worden war. “Du solltest was essen.”

Sie schüttelte den Kopf und hielt Sara auf ihrem Schoß fest.

Der Nachrichtensender wiederholte leise die wichtigsten Schlagzeilen des Tages. Man hielt eine Terrororganisation für die Freisetzung eines tödlichen Pockenvirus in Spanien und anderen Teilen Europas verantwortlich. Ihr Anführer und der Virus wurden in Gewahrsam genommen und auch einige weitere Mitglieder wurden verhaftet. Am Nachmittag hatten die Vereinigten Staaten offiziell ihr Reiseverbot in alle Länder, mit Ausnahme von Portugal, Spanien und Frankreich, wo es weiterhin isolierte Ausbrüche der mutierten Pocken gab, aufgehoben. Doch alle schienen zuversichtlich, dass die Weltgesundheitsorganisation die Situation unter Kontrolle hatte.

Maya hatte vermutet, dass man ihren Vater zur Unterstützung dieses Falles gesandt hatte. Sie fragte sich, ob er es war, der den Anführer gestellt hatte. Sie fragte sich, ob er wieder zurück im Land war. Sie fragte sich, ob er Mr. Thompsons Leiche gefunden hatte. Ob er bemerkt hatte, dass sie entführt worden waren – oder ob es überhaupt irgendjemand gemerkt hatte.

Rais saß in dem gelben Sessel und ein Handy lag auf der Armlehne. Es war ein älteres Modell, fast prähistorisch für heutige Umstände – es diente nur, um Anrufe zu tätigen und Nachrichten zu senden. Maya hatte gehört, dass man diese Dinger Prepaid-Handy im Fernsehen nannte. Man konnte es nicht mit dem Internet verbinden und es hatte auch kein GPS. Aus den Polizeisendungen wusste sie, dass man es nur durch die Telefonnummer orten konnte, die jemand haben musste.

Es schien, dass Rais auf etwas wartete. Einen Anruf oder eine Nachricht. Maya wollte verzweifelt wissen, wohin es ging, ob es überhaupt ein Ziel gab. Sie vermutete, dass Rais wollte, dass ihr Vater sie fand, sie aufspürte, doch der Attentäter war anscheinend nicht in Eile, irgendwo anzukommen. Welches Spiel er da wohl spielte, wunderte sie sich. Er stahl Autos und veränderte die Richtung, entkam den Behörden, und das alles in der Hoffnung, dass ihr Vater sie zuerst finden würde? Würden sie einfach von Ort zu Ort irren, bis es zu einer Auseinandersetzung kam?

Plötzlich tönte ein monophonischer Klingelton aus dem Handy neben Rais. Durch das grelle Geräusch zuckte Sara leicht in ihren Armen zusammen.

“Hallo.” Rais antwortete tonlos. “Ano.” Das erste Mal nach drei Stunden stand er aus dem Sessel auf, während er englisch für irgendeine Fremdsprache austauschte. Maya konnte bloß englisch und französisch sprechen, und sie erkannte eine Hand voll anderer Sprachen durch einzelne Wörter und Akzente, doch diese war ihr unbekannt. Sie bestand aus vielen Kehllauten, doch war nicht ganz unangenehm.

Russisch? dachte Sie. Nein. Polnisch vielleicht. Es hatte keinen Sinn, zu raten. Sie konnte sich nicht sicher sein und selbst, wenn sie wüsste, um welche Sprache es sich handelte, so würde sie dennoch nichts von dem Gesagten verstehen.

Sie hörte trotzdem zu und bemerkte, dass die Laute “z” und “-ski” häufig verwendet wurden. Sie versuchte, verwandte Worte aufzuschnappen, doch es schien keine zu geben.

Ein Wort stand jedoch heraus, und es ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren.

“Dubrovnik”, sagte der Attentäter, als wolle er etwas bestätigen.

Dubrovnik? Erdkunde war eines ihrer Lieblingsfächer. Dubrovnik war eine Stadt im Südwesten Kroatiens, ein berühmter Hafen und ein beliebtes Urlaubsziel. Doch wichtiger als all das war die Andeutung, die dieses Wort bedeutete.

Es hieß, dass Rais vorhatte, sie außerhalb des Landes zu bringen.

“Ano”, sagte er (was wie eine Bejahung schien. Sie nahm an, dass es “Ja” bedeutete). Und dann: “Industriehafen Jersey”.

Abgesehen von “Hallo” waren da nur zwei englische Wörter in der ganzen Unterhaltung und sie hatte sie leicht hören können. Ihr Motel lag bereits in der Nähe von Bayonne, einen Katzensprung vom Industriehafen Jersey. Sie hatte ihn schon viele Male zuvor gesehen, wenn sie die Bücke von Jersey nach New York oder zurück überquerte. Da standen Stapel von bunten Frachtcontainern, die von Kränen auf riesige, dunkle Schiffe geladen wurden, die sie nach Übersee bringen würden.

Ihr Herzschlag verdreifachte sich. Rais würde sie aus der USA, über den Industriehafen Jersey, nach Kroatien bringen. Und von dort aus… sie hatte keine Ahnung, und niemand anders würde sie haben. Es gab nur wenig Hoffnung, dass man sie jemals wieder fände.

Maya konnte das nicht zulassen. Ihre Entschlossenheit zurückzukämpfen wurde stärker. Ihre Entschiedenheit, etwas gegen diese Situation zu unternehmen, erwachte erneut in ihrem Inneren.

Das Trauma, Rais dabei zu beobachten, wie er die Gurgel der Frau im WC der Raststätte heute durchtrennt hatte, klang immer noch nach. Sie sah die Szene jedes Mal, wenn sie ihre Augen schloss. Der ausdruckslose, tote Blick. Die Blutlache, die fast ihre Füße berührte. Doch dann strich sie über das Haar ihrer Schwester und wusste, dass sie wortlos das gleiche Schicksal akzeptieren würde, wenn es bedeutete, dass ihre Schwester in Sicherheit und außerhalb der Reichweite dieses Mannes wäre.

Rais fuhr mit seiner Unterhaltung in dieser Fremdsprache fort, schnatterte in kurzen, betonten Sätzen. Er drehte sich um und öffnete die dicken Vorhänge ein wenig, nur ein paar Zentimeter, um auf den Parkplatz hinaus zu spähen.

Er stand mit dem Rücken zu ihr, vielleicht das erste Mal, seit sie in dem zwielichtigen Motel angekommen waren.

Maya streckte ihren Arm aus und öffnete vorsichtig die Schublade des Nachttisches. Es war das einzige, was sie erreichen konnte, da die Handschellen sie an ihre Schwester fesselten und sie nicht vom Bett aufstehen konnte. Ihr Blick huschte nervös zu Rais’ Rücken und dann zurück zur Schublade des Nachttisches.

Da lag eine Bibel drin, eine sehr alte, mit einem abgeblätterten, gebrochenen Rücken. Und neben ihr lag ein einfacher, blauer Kuli.

Sie nahm ihn heraus und schloss die Schublade erneut. Fast im selben Moment drehte sich Rais wieder um. Maya erstarrte und hielt den Kuli in ihrer geschlossenen Faust.

Doch er gab keine Acht auf sie. Es schien, als wäre er jetzt gelangweilt vom Anruf und wollte endlich auflegen. Etwas im Fernsehen erweckte seine Aufmerksamkeit für einige Sekunden und Maya versteckte den Kuli im elastischen Bund ihrer Flanellschlafanzughosen.

Der Attentäter grummelte ein halbherziges Auf Wiedersehen und beendete das Gespräch, indem er das Handy auf das Sofakissen warf. Er drehte sich zu ihnen um und musterte jedes Mädchen einzeln. Maya starrte geradeaus, ihr Blick so leer wie nur möglich, und gab vor, die Nachrichten zu sehen. Scheinbar zufriedengestellt nahm er erneut seine Position auf dem Sessel ein.

Maya strich sanft mit ihrer freien Hand über Saras Rücken, während ihre jüngere Schwester mit halb geschlossenen Augen den Fernseher, oder vielleicht auch gar nichts, anstarrte. Sara brauchte Stunden nach dem Vorfall in der Raststättentoilette, um mit dem Weinen aufzuhören, doch jetzt lag sie einfach da und ihr Blick war leer und verglast. Es schien, als sei nichts mehr von ihr übrig.

Maya strich mit ihren Finger über Saras Wirbelsäule, um sie zu trösten. Es gab keine Möglichkeit für die beiden, untereinander zu kommunizieren. Rais hatte es mehr als deutlich gemacht, dass es ihnen nicht erlaubt war, miteinander zu sprechen, es sei denn, sie würden gefragt. Maya konnte ihr keine Nachricht übermitteln, keinen Plan aushecken.

Obwohl… vielleicht brauche ich ja gar keine Worte, dachte sie.

Maya hörte für einen Moment auf, den Rücken ihrer Schwester zu berühren. Als sie erneut begann, verwendete sie ihren Zeigefinger, um heimlich und langsam die Form eines Buchstaben zwischen Saras Schulterblätter zu ziehen – ein großes D.

Für einen kleinen Moment hob Sara neugierig ihren Kopf an, doch sie schaute dabei Maya nicht an und sagte auch kein Wort. Maya hoffte verzweifelt, dass sie verstand.

R, zeichnete sie als nächstes.

Dann Ü.

Rais saß in dem Sessel in Mayas erweitertem Blickfeld. Sie wagte es nicht, zu ihm herüberzublicken, aus Angst, verdächtig zu erscheinen. Stattdessen starrte sie gerade vor sich hin, so wie sie es schon die ganze Zeit tat, und zeichnete die Buchstaben.

C. K.

Sie bewegte ihren Finger langsam, absichtlich. Zwischen jedem Buchstaben legte sie eine Pause von zwei Sekunden ein, zwischen den Worten wartete sie fünf Sekunden ab, bis sie ihre Nachricht vollendet hatte.

Drück meine Hand, falls du mich verstehst.

Maya sah nicht einmal, wie Sara sich bewegte. Doch aufgrund der Handschellen lagen ihre Hände nah beisammen und sie spürte wie kühle, klamme Finger sich für einen Moment eng um ihre legten.

Sie verstand. Sara hatte die Nachricht verstanden.

Maya begann von vorne, bewegte sich so langsam wie möglich. Es gab keine Eile und sie musste sicherstellen, dass Sara jedes Wort verstand.

Gibt es eine Möglichkeit, schrieb sie, dann rennst du weg.

Schau nicht zurück.

Warte nicht auf mich.

Finde Hilfe. Hole Papa.

Sara lag ruhig und bewegungslos während der ganzen Nachricht. Es war Viertel nach drei als Maya endlich fertig war. Anschließend spürte sie den kühlen Druck eines dünnen Fingers auf ihrer Handinnenfläche, die teilweise an Saras Wange geschmiegt war. Der Finger zeichnete ein Muster auf ihrer Hand, den Buchtaben N.

Nicht ohne dich, lautete Saras Nachricht.

Maya schloss ihre Augen und seufzte.

Du musst, schrieb sie zurück. Sonst sind wir beide verloren.

Sie gab Sara nicht die Chance, zurückzuschreiben. Nachdem sie ihre Nachricht beendet hatte, räusperte sie sich und sagte leise, “Ich muss aufs Klo.”

Rais runzelte die Stirn und zeigte auf die geöffnete Badezimmertür am anderen Ende des Raumes. “Nur zu.”

“Aber…” Maya hob ihren Arm mit der Handschelle an.

“Na und?” fragte der Attentäter. “Nimm sie mit. Du hast eine Hand frei.”

Maya biss sich auf die Lippe. Sie wusste, was er da tat. Das einzige Fenster im Badezimmer war klein, fast kaum groß genug für Maya. Es war ganz unmöglich zu entkommen, während sie an ihre Schwester gefesselt war.

Langsam schlüpfte sie vom Bett und stieß ihre Schwester an, damit sie mitkäme. Sara bewegte sich mechanisch, als ob sie vergessen hätte, wie sie ihre Gliedmaßen eigenständig verwenden müsste.

“Ich gebe dir eine Minute. Schließ nicht die Tür ab”, warnte Rais. “Solltest du es dennoch versuchen, dann trete ich sie ein.”

Maya ging voran und schloss die Tür zu dem winzigen Bad, das mit den beiden darin schon überfüllt war. Sie schaltete das Licht an – sie war sich ziemlich sicher, dass sie eine Kakerlake dabei sah, wie sie sich unter dem Waschbecken in Sicherheit brachte – und anschließend den Entlüfter, der laut über ihnen brummte.

 

“Ich werde nicht”, flüstere Sara fast sofort. “Ich gehe nicht ohne—”

Maya hielt sich schnell einen Finger an die Lippen, als Zeichen, dass sie still sein sollte. Es könnte gut sein, dass Rais an der anderen Seite der Tür stand und lauschte. Der ging keine Risiken ein.

Sie zog schnell den Kuli aus dem Bündchen ihrer Schlafanzughosen. Sie brauchte etwas, um darauf zu schreiben, doch es gab nur Toilettenpapier. Maya riss ein paar Stückchen ab und legte sie auf das kleine Waschbecken, doch jedes Mal, wenn sie mit dem Kuli darauf drückte, riss es ein. Sie versuchte es noch einmal, doch das Papier riss erneut.

Das ist sinnlos, dachte sie bitterlich. Der Duschvorhang würde ihr auch nichts bringen, er war nur ein Plastiktuch, das über der Badewanne hing. Das kleine Fenster hatte keine Vorhänge.

Doch es gab etwas, das sie verwenden konnte.

“Halt still”, flüsterte sie in das Ohr ihrer Schwester. Saras Pyjamahosen waren weiß mit einem aufgedruckten Ananasmuster – und sie hatten Taschen. Maya drehte eine der Taschen nach außen und riss sie, so vorsichtig wie möglich, ab, bis sie ein Dreieck mit rauen Kanten aus Stoff hatte, das zwar den Obstaufdruck auf der einen Seite hatte, aber auf der anderen ganz weiß war.

Sie glättete es flink auf dem Waschbecken und schrieb vorsichtig, während ihre Schwester dabei zuschaute. Der Kuli verhakte sich mehrere Male in dem Stoff, doch Maya biss sich auf die Lippe, um nicht vor Frust zu fluchen, während sie ihre Nachricht schrieb.

Industriehafen Jersey.

Dubrovnik.

Sie wollte noch mehr schreiben, doch ihr war schon fast die Zeit ausgegangen. Maya versteckte den Kuli unter dem Waschbecken und rollte die Stoffnachricht fest ein. Dann suchte sie verzweifelt nach einem Ort, an dem sie das Stück Stoff verstecken konnte. Sie konnte die Nachricht nicht einfach zusammen mit den Kuli unter das Waschbecken stecken, das wäre zu auffällig und Rais war gründlich. Die Dusche stand ganz außer Frage. Würde der Stoff nass, dann verliefe die Tinte.

Ein plötzliches Klopfen an der dünnen Badezimmertür erschrak beide.

“Die Minute ist um”, warnte Rais klar von der anderen Seite aus.

“Ich bin gleich fertig”, antwortete sie hastig. Sie hielt ihren Atem an, als sie den Deckel des Spülkasten anhob und hoffte, dass der brummende Entlüfter jegliche Kratzgeräusche überdeckte. Sie steckte die aufgerollte Nachricht durch die Kette des Spülmechanismus, hoch genug, sodass sie nicht das Wasser berührte.

“Ich sagte, dass du eine Minute hast. Ich öffne jetzt die Tür.”

“Geben Sie mir nur ein paar Sekunden, bitte!” bettelte Maya, während sie schnell den Deckel zurückschob. Dann riss sie sich noch ein paar Haare aus und ließ sie auf den geschlossenen Spülkasten fallen. Mit ein wenig Glück – mit viel Glück – würde jemand, der nach ihnen suchte, den Hinweis bemerken.

Sie konnte nur hoffen.

Der Knauf der Badezimmertür drehte sich. Maya spülte die Toilette und ging in die Hocke, um so zu tun, als zöge sie sich die Schlafanzughosen hoch.

Rais steckte seinen Kopf durch die offene Tür und blickte auf den Boden. Langsam ließ er seinen Blick an den zwei Mädchen hinaufwandern und inspizierte sie beide abwechselnd.

Maya hielt den Atem an. Sara griff nach der gefesselten Hand ihrer Schwester und ihre Finger verhakten sich ineinander.

“Bist du soweit?” fragte er langsam.

Sie nickte.

Er schaute angewidert nach rechts und links. “Wasch dir die Hände. Dieses Zimmer ist widerlich.”

Das tat Maya mit einer rauen, orangefarbenen Handseife, während Saras Handgelenk schlaff neben ihrem eigenen hing. Sie trocknete ihre Hände an dem braunen Handtuch und der Attentäter nickte.

“Zurück aufs Bett. Marsch.”

Sie führte Sara zurück in das Zimmer und auf das Bett. Rais wartete einen Moment und sah sich in dem kleinen Bad um. Dann schaltete er den sowohl Entlüfter als auch das Licht aus und kehrte zu seinem Sessel zurück.

Maya legte ihren Arm um Sara und hielt sie fest.

Papa wird die Nachricht finden, dachte sie verzweifelt. Er wird sie finden. Ich weiß es.