Eine Falle für Null

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Kapitel eins

Abdallah bin Mohammed war tot.

Der Körper des alten Mannes lag auf einer Granitplatte im Hof des Lagers, einer ummauerten Gruppe von verschachtelten, beigen Gebäude, die etwa achtzig Kilometer westlich von Albaghdadi in der Wüste Iraks lag. Dort hatte die Brüderschaft sowohl den Ausschluss von Hamas als auch die Überwachung durch amerikanische Streitkräfte während der Besetzung und darauffolgenden Demokratisierung des Landes überlebt. Für jegliche Person, die nicht der Brüderschaft angehörte, war das Lager lediglich eine Kommune orthodoxer Schiiten. Razzien und erzwungene Kontrollen des Geländes hatten nichts ergeben. Ihre geheimen Lager waren gut versteckt.

Der alte Mann hatte sich persönlich um ihr Überleben gekümmert, sein Vermögen im Dienst der Aufrechterhaltung ihrer Ideologie ausgegeben. Doch jetzt war bin Mohammed tot.

Awad stand stoisch neben der Platte, auf dem die aschfarbene Leiche des alten Mannes aufgebahrt war. Bin Mohammeds vier Gattinnen hatten ihm schon ghusl zukommen lassen. Sie wuschen seinen Körper drei Mal, bevor sie ihn in Weiß kleideten. Seine Augen waren friedlich geschlossen, seine Hände über seine Brust gekreuzt, die Rechte über die Linke. Die Leiche hatte keinen Flecken oder Kratzer, während der letzten sechs Jahre hatte er in der Anlage gelebt und war dort gestorben, ihre Mauern nicht verlassen. Er wurde nicht durch Granatfeuer oder Drohnenangriffe, wie so viele andere Mudschaheddin, getötet.

“Wie?” fragte Awad auf arabisch. “Wie starb er?”

“Er hatte Nachts einen Krampfanfall”, antwortete Tarek. Der kleinere Mann stand auf der anderen Seite der Steinplatte Awad gegenüber. Viele in der Brüderschaft sahen Tarek als den stellvertretenden Kommandeur nach bin Mohammed an, doch Awad wusste, dass seine Aufgabe kaum die eines Boten und Betreuers überschritt, als die Gesundheit des alten Mannes sich verschlechterte. “Der Anfall rief einen Herzinfarkt hervor. Es dauerte nur einen Augenblick. Er litt nicht.”

Awad legte eine Hand auf die stille Brust des alten Mannes. Bin Mohammed hatte ihm viel beigebracht, nicht nur bezüglich des Glaubens, sondern auch was die Welt anging, die vielen Notlagen in ihr, und was es bedeutete, ein Anführer zu sein.

Und er, Awad, sah nicht nur eine Leiche vor sich, sondern ebenfalls eine Chance. Drei Nächte zuvor hatte Allah ihn mit einem Traum beschenkt, doch jetzt war es schwer, ihn nur so zu nennen. Er war prophetisch. In ihm sah er Mohammeds Tod und eine Stimme sagte ihm, dass er aufstiege und die Brüderschaft anführte. Die Stimme, so war er sich sicher, gehörte dem Propheten, er sprach im Auftrag des Einen Wahren Gottes.

“Hassan ist auf einem Munitionsraubzug”, gab ihm Tarek leise zu wissen. “Er weiß noch nicht, dass sein Vater verstorben ist. Er kommt heute zurück. Bald schon wird er erfahren, dass es jetzt an ihm liegt, die Brüderschaft anzuführen—”

“Hassan ist schwach”, entfuhr es Awad schärfer, als er es eigentlich vorhatte. “Während Mohammeds Gesundheitszustand sich verschlechterte, tat Hassan nichts, damit wir nicht schwächer würden.”

“Doch…”, Tarek zögerte. Er war sich Awads aufbrausendem Temperament nur zu gut bewusst. “Die Pflichten der Führerschaft fallen auf den ältesten Sohn—”

“Das ist hier keine Dynastie”, gab Awad zurück.

“Wer denn dann…?” Tarek hielt inne, als er bemerkte, worauf Awad anspielte.

Der jüngere Mann verengte seine Augen zu einem Schlitz, doch sagte nichts. Das war nicht nötig, ein stechender Blick reichte schon als Drohung aus. Awad war jung, noch nicht einmal dreißig, doch er war groß und stark, sein Kiefer so steif und unnachgiebig wie sein Glaube. Nur Wenige erhöben das Wort gegen ihn.

“Bin Mohammed wollte, dass ich der Anführer würde”, erklärte Awad Tarek. “Er hatte es selbst so gesagt.” Das stimmte nicht ganz. Der alte Mann hatte bei mehreren Gelegenheiten zum Ausdruck gebracht, dass er das Potentiell für Größe in Awad sah, und dass er ein natürlicher Anführer von Menschen wäre. Awad interpretierte diese Aussagen als eine Erklärung der Absichten des alten Mannes.

“Mir hat er nichts davon gesagt”, wagte es Tarek, zu widersprechen, auch wenn er es nur sehr leise hervorbrachte. Sein Blick war nach unten gerichtet, traf nicht Awads dunkle Augen.

“Weil er wusste, dass auch du schwach bist”, forderte ihn Awad heraus. “Sag mir, Tarek, wie lange ist es her, seit du das letzte Mal hinter diesen Mauern herausgekommen bist? Wie lange lebst du schon von der Wohltätigkeit und Sicherheit bin Mohammeds, unbesorgt von Kugeln und Bomben?” Awad lehnte sich nach vorn, über den Körper des alten Mannes, während er leise hinzufügte: “Wie lange, glaubst du, würdest du überleben, wenn ich die Macht übernehme und dich nur mit den Klamotten, die du auf dem Leib trägst, verbanne?”

Tareks Unterlippe bewegte sich, doch kein Klang entrann seiner Kehle. Awad grinste. Der kleine, pausbackige Tarek hatte Angst.

“Mach schon”, trieb ihn Awad voran. “Sag mir, was du denkst.”

“Wie lange…” schluckte Tarek, “wie lange, glaubst du, dass du innerhalb dieser Mauern ohne die Unterstützung von Hassan bin Abdallah überlebst? Wir werden in der gleichen Lage stecken. Nur an anderen Orten.”

Awad grinste. “Ja. Du bist gerissen, Tarek. Doch ich habe eine Lösung.” Er lehnte sich über die Platte und sprach leiser. “Unterstütze meinen Anspruch.”

Tarek sah scharf auf, überrascht von Awads Worten.

“Sag ihnen, dass du dasselbe wie ich gehört hast”, fuhr er fort. “Sag ihnen, dass Abdallah bin Mohammed mich zum Anführer nach seinem Tod ernannt hat, und ich schwöre dir, dass du immer einen Platz in der Brüderschaft hast. Wir werden unsere Kraft zurückgewinnen. Wir machen unseren Namen bekannt. Und der Wille Allahs, Friede sei mit ihm, wird geschehen.”

Bevor Tarek antworten konnte, rief ein Wächter durch den Hof. Zwei Männer hievten die schweren Eisentore gerade rechtzeitig auf, damit zwei Lastwagen, mit matschigen Rädern von dem kürzlich gefallenen Regen, durchfahren konnten.

Acht Mann traten hinaus – alle, die hinausfuhren, waren auch zurückgekommen – doch selbst von seinem Blickwinkel aus konnte Awad erkennen, dass der Raubzug kein Erfolg war. Sie hatten keine Munition mitgebracht.

Einer der Acht trat voran, seine Augen in Schock geweitet, als er auf die Steinplatte zwischen Awad und Tarek starrte. Hassan bin Abdallah bin Mohammed war vierunddreißig Jahre alt, doch er sah immer noch wie ein hagerer Jugendlicher aus. Seine Wangen waren seicht und sein Bart lückenhaft.

Ein leises Stöhnen entrang Hassans Lippen, als er die still liegende Figur auf der Platte erkannte. Er lief darauf zu und seine Schuhe ließen den Sand hinter ihm aufwirbeln. Awad und Tarek schritten zurück, gaben ihm Raum, während Hassan sich über die Leiche seines Vaters warf und laut schluchzte.

Schwach. Awad grinste höhnisch aufgrund der Szene, die sich vor ihm abspielte. Es wird einfach sein, die Brüderschaft zu übernehmen.

An diesem Abend führte die Brüderschaft im Hof Salat-al-Janazah durch, das Begräbnisgebet für Abdallah bin Mohammed. Jede anwesende Person kniete sich in drei Reihen in Richtung Mekka nieder. Sein Sohn Hassan war seinem Körper am nächsten und seine Frauen bildeten das Ende der dritten Reihe.

Awad wusste, dass die Leiche sofort nach den Riten begraben würde. Die muslimische Tradition befahl, dass eine Leiche so schnell wie möglich begraben werden musste. Er war der Erste, der nach dem Gebet aufstand und sprach mit inbrünstiger Stimme: “Meine Brüder”, begann er. “Mit großem Kummer übergeben wir Abdallah bin Mohammeds Körper der Erde.”

Alle Augen richteten sich auf ihn, einige waren durch seine plötzliche Unterbrechung verwirrt, doch niemand stand auf oder unterbrach ihn.

“Sechs Jahre sind vergangen, seitdem wir wegen der Heuchelei Hamas’ aus Gaza verbannt wurden”, fuhr Awad fort. “Vor sechs Jahren wurden wir in die Wüste vertrieben und leben von der Wohltätigkeit bin Mohammeds, plündern und rauben, was wir können. Seit sechs Jahren leben wir eine Lüge und halten uns in den Schatten von Hamas auf. In den Schatten von Al-Qaeda. Von Isis. Von Amun.”

Er hielt einen Moment inne, während er den Blick jedes Augenpaares erwiderte. “Nicht länger. Die Brüderschaft wird sich nicht länger verstecken. Ich habe einen Plan ausgearbeitet. Vor Abdallahs Tod habe ich ihm meinen Plan erklärt und seinen Segen erhalten. Wir, Brüder, werden diesen Plan durchführen und unseren Glauben behaupten. Wir werden die Häretiker ausmerzen, und die ganze Welt wird die Brüderschaft kennenlernen. Ich verspreche es euch.”

Viele, sogar die meisten, Köpfe nickten im Hof. Ein Mann stand auf, ein starker und etwas zynischer Bruder, der sich Usama nannte. “Und worum geht es in diesem Plan, Awad?” fragte er mit herausfordernder Stimme. “Welchen großartigen Komplott hast du da ausgeheckt?”

Awad lächelte. “Wir werden den heiligsten Dschihad, der jemals auf amerikanischen Boden durchgeführt wurde, anzetteln. Einen, den Al-Qaedas Angriff auf New York als fruchtlos erscheinen lassen wird.”

“Wie?” wollte Usama wissen. “Wie werden wir das anstellen?”

“Alles wird offenbart”, antwortete Awad geduldig. “Doch nicht heute Nacht. Dies ist ein Abend der Ehrfurcht.”

Awad hatte wirklich einen Plan. Er hatte sich in seinem Gehirn schon für einige Zeit geformt. Er wusste, dass es möglich wäre, er hatte mit dem Libyer gesprochen, der ihn über die israelischen Journalisten und die Kongressdelegation aus New York informierte, die bald in Bagdad wären. Es schien wie eine schicksalhafte Fügung, dass sich alles so ergeben hatte – sogar Abdallahs Tod. Awad war sogar soweit gegangen, eine vorläufige Vereinbarung mit einem Waffenhändler zu treffen, der Zugang zu der notwendigen Ausrüstung für den Angriff auf die US Stadt hatte, doch es war eine Lüge, dass er es mit Abdallah besprochen hatte. Der alte Man war ein Anführer, ein Freund und ein Wohltäter für die Brüderschaft – und dafür war Awad ihm dankbar – doch er hätte niemals zugestimmt. Es bräuchte erhebliche finanzielle Mittel und könnte den Bankrott für ihre Ressourcen bedeuten, falls etwas schiefging.

 

Deshalb wusste Awad, dass er sich bei Hassan bin Abdallah beliebt machen musste. Die Pflicht der Bestattung wurde für gewöhnlich von dem engsten männlichen Verwandten durchgeführt, doch Awad konnte sich kaum vorstellen, dass Hassans dünne, schlaksige Arme ein Loch grüben, das tief genug wäre. Außerdem könnte er Hassan näherkommen, wenn er ihm bei der Aufgabe hälfe, und so seinen Plan mit ihm besprechen.

“Bruder Hassan”, sagte Awad. “Ich hoffe, dass du mir die Ehre gibst, dir dabei zu helfen, Abdallah zu begraben.”

Der anämische Hassan blickte ihn an und nickte einmal. Awad konnte in den Augen des jungen Mannes sehen, dass er vor Angst, die Brüderschaft anzuführen, erstarrte. Die beiden traten aus der dreireihigen Gebetsformation heraus, um Schaufeln zu holen.

Nachdem sie außer Hörweite der anderen waren, im Mondlicht des offenen Hofes erleuchtet, räusperte Hassan sich und fragte: “Was hast du da für einen Plan, Awad?”

Awad bin Saddam hielt ein Grinsen zurück. “Er fängt damit an”, antwortete er, “drei Männer zu entführen. Morgen, nicht weit von hier. Er endet mit einem direkten Angriff auf die Stadt New York.” Er hielt inne und legte eine schwere Hand auf Hassans Schulter. “Doch ich kann das nicht alleine inszenieren. Ich brauche deine Hilfe, Hassan.”

Hassan schluckte und nickte.

“Ich verspreche dir”, fuhr Awad fort, “dass diese sündenverdorbene Nation habgieriger Abtrünniger einen unzählbaren Verlust erleidet. Die Brüderschaft wird endlich als eine Macht im Islam anerkannt werden.”

Und, behielt er bei sich, der Name Awad bin Saddam wird für immer einen Platz in der Geschichte haben.

Kapitel zwei

“Erinnert, erinnert, den fünften November”, sagte Professor Lawson, während er vor einer Gruppe von siebenundvierzig Stunden im Healy Hörsaal der Georgetown Universität auf- und abging. “Was bedeutet das?”

“Wissen Sie denn nicht, dass wir erst April haben?” witzelte ein braunhaariger Junge in der ersten Reihe.

Einige Studenten kicherten. Reid grinste. Im Hörsaal war er in seinem Element, es fühlte sich gut an, wieder hier zu sein. Fast, als sei alles wieder normal. “Nicht ganz. Das ist die erste Zeile eines Gedichts, dass einem sehr wichtigen Anlass – oder fast-Anlass, sozusagen – in der englischen Geschichte gedenkt. Der fünfte November, bitte?”

Eine junge, braunhaarige Frau einige Reihen weiter hinten erhob höflich die Hand und bot an: “Guy Fawkes Tag?”

“Ja, danke schön.” Reid blickte kurz auf seine Uhr. Die digitale Anzeige nach Neuigkeiten zu überprüfen, war seit kurzem zu einer Gewohnheit geworden, fast wie ein eigentümlicher Spleen. “Ähm, obwohl die Feierlichkeiten nicht mehr so verbreitet sind wie zuvor, fand am fünften November ein gescheiterter Mordkomplott statt. Ich bin mir sicher, dass ihr alle schon Mal den Namen Guy Fawkes gehört habt.”

Köpfe nickten und bejahendes Gemurmel war im Hörsaal zu vernehmen.

“Gut. 1605 arbeiteten Fawkes und zwölf weitere Verschwörer einen Plan aus, um das House of Lords, den englischen Bundesrat, während einer Versammlung zu sprengen. Doch die Mitglieder des House of Lords waren nicht ihr eigentliches Ziel. Vielmehr wollten sie König James I ermorden, der Protestant war. Fawkes und seine Freunde wollten wieder einen katholischen Monarchen auf den Thron setzen.”

Er blickte erneut auf seine Uhr. Eigentlich wollte er es gar nicht, es war ein Reflex.

“Ähm…” Reid räusperte sich. “Ihr Plan war recht einfach. Über einige Monate hinweg verstauten sie sechsunddreißig Fass Schießpulver in einer Krypta – das ist so was wie ein Weinkeller – direkt unter dem Parlament. Fawkes war der Attentäter. Er sollte eine lange Zündschnur entfachen und dann, so schnell ihn seine Beine trugen, zur Themse rennen.”

“Wie in einem Wile E. Coyote Zeichentrickfilm”, sagte der Witzbold in der ersten Reihe.

“So ähnlich”, stimmte Reid zu. “Deshalb nennt man ihren Mordversuch heutzutage auch den Schießpulver-Komplott. Doch sie schafften es nicht, die Zündschnur zu entfachen. Jemand gab dem House of Lords anonym einen Hinweis und man durchsuchte die Krypten. Das Schießpulver und Fawkes wurden entdeckt…”

Er warf wieder einen Blick auf seine Uhr. Sie zeigte ihm nichts außer der Zeit an.

“Und, ähm…” Reid kicherte leise über sich selbst. “Es tut mir leid, Leute, ich bin heute einfach ein bisschen abgelenkt. Fawkes wurde ertappt, doch weigerte sich, die anderen Verschwörer zu verraten – zumindest zu Anfang. Er wurde in den Tower of London gesteckt und dort für drei Tage gefoltert…”

Plötzlich blitzte eine Vision in seinem Gehirn auf. Es war eigentlich weniger eine Vision als vielmehr eine Erinnerung, die sich da aufdringlich breitmachte und ihren Weg in seinen Kopf bahnte, als er Folter erwähnte.

Ein geheimes CIA-Gefängnis in Marokko. Codename H-6. Bei den meisten unter ihrem Pseudonym bekannt – Hölle-sechs.

Ein gefangener Iraner ist auf einen leicht geneigten Tisch gefesselt. Über seinem Kopf eine Kapuze. Du drückst ein Handtuch auf sein Gesicht.

Reid erschauerte, als ein Frösteln ihm über den Rücken jagte. Die Erinnerung war eine, die er schon zuvor hatte. In seinem anderen Leben als CIA Agent Kent Steele, hatte er an gefangenen Terroristen “Verhör-Techniken” durchgeführt, um an Information zu gelangen. So hatte die Agentur sie genannt – Techniken. Dazu gehörte Waterboarding, Daumenschrauben und das Ziehen von Fingernägeln.

Doch das waren keine Techniken. Es war ganz einfach nur Folter. Gar nicht so anders, wie bei Guy Fawkes im Tower of London.

Du machst das nicht mehr, erinnerte er sich selbst. Das bist du nicht.

Er räusperte sich erneut. “Drei Tage lang wurde er, äh, verhört. Dann rückte er schließlich die Namen sechs weiterer Verschwörer heraus und alle wurden zum Tod verurteilt. Der Komplott, das Parlament und King James I vom Untergeschoss aus zu sprengen, wurde vereitelt, und der fünfte November verwandelte sich in einen Tag, an dem man den gescheiterten Mordversuch feiert…”

Eine Kapuze über seinem Kopf. Ein Handtuch auf seinem Gesicht.

Wasser gießen. Nicht aufhören. Der Gefangene schlägt so fest um sich, dass er seinen eigenen Arm bricht.

“Sag mir die Wahrheit!”

“Professor Lawson?” fragte der braunhaarige Student in der ersten Reihe. Er starrte Reid an – sie alle starrten. Habe ich das gerade laut gesagt? Er dachte, dass dem nicht so sei, doch die Erinnerung war in seinen Kopf vorgedrungen und hatte sich vielleicht sogar bis zu seinem Mund ausgebreitet. Alle Augen waren auf ihn gerichtet, einige Studenten flüsterten zueinander, während er da verlegen stand und sein Gesicht rot wurde.

Er blickte zum vierten Mal in ebenso vielen Minuten auf seine Uhr.

“Ähm, Entschuldigung”, kicherte er nervös. “Sieht so aus, als wäre uns für heute die Zeit ausgegangen. Bitte lest über Fawkes und die Hintergründe bezüglich des Schießpulver-Komplotts nach. Am Montag besprechen wir dann den Rest der protestantischen Reformation und beginnen mit dem dreißigjährigen Krieg.”

Im Hörsaal erklang das Geräusch von Schlurfen und Rascheln, als die Studenten ihre Bücher und Taschen aufsammelten und sich auf den Weg nach draußen machten. Reid rieb sich die Stirn, er spürte, wie Kopfschmerzen sich ankündigten. Das war etwas, das in letzter Zeit immer häufiger vorkam.

Die Erinnerung des gefolterten Andersdenkenden hing wie ein schwerer Nebel über ihm. Auch das war in letzter Zeit öfter geschehen: wenige neue Erinnerungen kamen zurück, doch jene, an die er sich schon zuvor erinnert hatte, kehrten stärker, instinktiver wieder. Sie erschienen wie ein Déjà-vu, doch er wusste, dass er dort gewesen war. Es war nicht nur ein Gefühl, er hatte all diese Dinge und noch viel mehr wirklich getan.

“Professor Lawson.” Reid blickte scharf auf wurde von einer jungen, blonden Frau aus seinen Gedanken gerissen, die sich ihm annäherte und dabei eine Tasche über ihre Schulter warf. “Haben Sie heute Abend ein Rendezvous oder so?”

“Wie bitte?” Reid runzelte die Stirn, fühlte sich von der Frage überrumpelt.

Die junge Frau lächelte. “Ich bemerkte, dass sie etwa alle dreißig Sekunden auf ihre Uhr starrten. Ich dachte mir, dass sie heute Abend vielleicht eine heiße Verabredung hätten.”

Reid erzwang ein Lächeln. “Nein, nichts in der Art. Ich, äh, freue mich nur aufs Wochenende.”

Sie nickte zustimmend. “Ich auch. Genießen Sie’s, Professor.” Sie drehte sich, um den Hörsaal zu verlassen, doch hielt inne, blickte über ihre Schulter und fragte: “Hätten Sie denn mal Lust, irgendwann?”

“Wie bitte?” fragte er düster.

“Auf eine Verabredung. Mit mir.”

Reid blinzelte, war sprachlos. “Ich, äh…”

“Denken Sie drüber nach.” Sie lächelte erneut und ging hinaus.

Er stand einen langen Moment da, versuchte zu verarbeiten, was gerade geschehen war. Alle Erinnerungen an Folter oder geheime Gefängnisse, die noch da schwebten, wurden von der unerwarteten Einladung zur Seite geschoben. Er kannte die Studentin ziemlich gut. Sie war mehrmals zu seiner Sprechstunde gekommen, um die Arbeiten für die Vorlesung überprüfen zu lassen. Sie hieß Karen, sie war dreiundzwanzig und eine der Intelligentesten in seiner Vorlesung. Nach der High School hatte sie sich ein paar Jahre Zeit genommen, bevor sie mit der Universität begann und war währenddessen gereist, hauptsächlich durch Europa.

Fast hätte er sich auf die Stirn geschlagen, als er plötzlich bemerkte, dass er mehr über die junge Frau wusste, als er sollte. Diese Besuche seiner Sprechstunde waren nicht gedacht, um Hilfe für ihre Aufgaben zu bekommen. Sie hatte sich in den Professor verliebt. Und sie war unbestreitbar schön, falls Reid es sich auch nur für einen Augenblick erlaubte, so zu denken – was er für gewöhnlich nicht tat, nicht seit er gelernt hatte, die körperlichen und geistigen Eigenschaften seiner Studenten zu trennen und sich auf ihre Bildung zu konzentrieren.

Doch diese Studentin, Karen, war sehr attraktiv, blond, mit grünen Augen, schlank, doch athletisch, und…

“Oh”, sprach er laut in den leeren Hörsaal.

Sie erinnerte ihn an Maria.

Vier Wochen waren vergangen, seitdem Reid und seine Mädchen aus Osteuropa zurückgekehrt waren. Zwei Tage später wurde Maria auf einen weiteren Einsatz geschickt, und trotz seiner SMS und Anrufe auf ihr persönliches Handy hatte er seitdem nichts mehr von ihr gehört. Er wunderte sich, wo sie war, ob es ihr gutging… und ob sie immer noch dasselbe für ihn verspürte. Ihre Beziehung zueinander war so komplex geworden, dass es ihm schwerfiel, zu wissen, wo er stand. Eine Freundschaft, die fast romantisch wurde, dann zeitweise durch Misstrauen versauerte und sie letztendlich zu zwei Verbündeten auf der falschen Seite einer Regierungsvertuschung machte.

Doch jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um darüber nachzudenken, was Maria wohl für ihn fühlte. Er hatte geschworen, zu der Verschwörung zurückzukehren, zu versuchen, mehr über das herauszufinden, was er damals wusste. Doch seitdem er wieder unterrichtete, eine neue Position in der Agentur hatte und sich um seine Mädchen kümmerte, hatte er kaum die Zeit gehabt, darüber nachzudenken.

Reid seufzte und blickte wieder auf seine Uhr. Vor kurzem hatte er eine teure Smart-Uhr gekauft, die per Bluetooth mit seinem Handy verbunden war. Selbst wenn sein Telefon auf seinem Pult oder in einem anderen Zimmer lag, würde er weiterhin über SMS oder Anrufe benachrichtigt. Ständig darauf zu starren wurde so instinktiv wie Blinzeln. So zwanghaft wie das Jucken, wenn es irgendwo kratzt.

Er hatte Maya eine Nachricht geschickt, kurz bevor die Vorlesung begann. Normalerweise waren seine SMS scheinbar harmlose Fragen, wie etwa “Auf was hast du zum Abendessen Lust?” oder “Soll ich irgendwas auf dem Heimweg mitbringen?” Doch Maya war nicht dumm, sie wusste, dass er sich um sie sorgte, egal, auf welche Weise er es auch versuchte, zu verstecken. Besonders, weil er fast jede Stunde eine SMS schickte oder sie anrief.

Er war intelligent genug, um sich dessen bewusst zu sein, was hier geschah. Die Neurose wegen der Sicherheit seiner Mädchen, sein zwanghaftes Überprüfen und die darauffolgende Nervosität, während er auf eine Antwort wartete. Selbst die Stärke und der Einfluss der Flashbacks, die ihm widerfuhren. Egal, ob er bereit war, es zuzugeben oder nicht, alle Zeichen deuteten darauf hin, dass er unter einem Grad von posttraumatischer Belastungsstörung litt, nach den ganzen Qualen, die er durchgemacht hatte.

 

Dennoch, seine Herausforderung, das Trauma zu überwinden, wieder zu einem Leben zurückzukehren, das einer Art von Normalität glich, und zu versuchen, die Angst und Sorge über das Geschehene zu besiegen, war nichts im Vergleich zu dem, was seine Töchter gerade durchmachten.