Fluchen und Jammern ertönten, als die Männer am Fuße der Treppe wieder auf die Füße zu kommen versuchten.
»Kann nicht jemand ein Streichholz anzünden, mein Daumen ist ausgerenkt«, rief einer der Leute, namens Parsons, ein dunkelhäutiger, melancholischer Mann, Standishs Steuerer – in demselben Boot, dessen Puller Harrison war.
»Die liegen irgendwo am Mastfuß herum«, sagte Leach und setzte sich auf den Rand seiner Koje, in der ich mich verkrochen hatte.
Man suchte nach Streichhölzern, dann wurde eines angezündet, und die Lampe flackerte auf, trübe und rauchig. In ihrem geisterhaften Schein bewegten sich barfüßige Männer und sahen nach ihren Wunden. Oofty-Oofty packte Parsons Daumen, zog daran und ließ ihn wieder ins Gelenk schnappen. Dabei bemerkte ich, dass der Knöchel des Kanaken aufgeschlitzt und der Knochen bloßgelegt war. Er zeigte die Wunde und erklärte mit einem Grinsen, das seine prachtvollen Zähne zeigte, er hätte sie bekommen, als er Larsen auf den Mund schlug.
»Also du warst es, du schwarzer Schurke?« fragte Kelly kriegerisch. Er war ein geborener Irländer, ein Leichtmatrose, der seine erste größere Reise machte und Kerfoots Puller war.
Bei dieser Frage spuckte er eine Handvoll Blut und Zähne aus und drängte sich mit streitsüchtiger Miene an Oofty-Oofty heran. Der Kanake sprang in seine Koje, war mit einem zweiten Satz wieder da und schwang ein langes Messer.
»Ach, leg’ dich nieder, sonst setzt es was«, mischte Leach sich hinein. Trotz seiner Jugend und Unerfahrenheit gab er offenbar in der Back den Ton an. »Geh, Kelly, lass Oofty in Ruhe. Wie sollte er denn im Dunkeln erkennen, dass du es warst?«
Kelly murmelte noch etwas und beruhigte sich dann, während der Kanake dankbar lächelnd die weißen Zähne fletschte. Er war ein schönes Geschöpf und wirkte beinahe weiblich durch die angenehmen Linien seiner Gestalt, Sanftmut und Verträumtheit lagen in seinen großen Augen, die seinen wohlverdienten Ruf für Streit- und Rauflust Lügen zu strafen schienen.
»Wie ist er entwischt?« fragte Johnson.
Er saß auf dem Rande seiner Koje, seine ganze Stellung drückte äußerste Niedergeschlagenheit und Hoffnungslosigkeit aus. Er atmete noch schwer von der Anstrengung. Das Hemd war ihm im Kampfe völlig vom Leibe gerissen, und das Blut troff ihm aus einer klaffenden Wunde in der Backe auf die nackte Brust herab, zeichnete eine rote Bahn auf seinem weißen Schenkel und tropfte auf den Boden.
»Weil er der Teufel selber ist, wie ich immer gesagt habe«, meinte Leach, dann sprang er, wütend über die Enttäuschung und mit Tränen in den Augen, auf.
»Und nicht einer von euch konnte ein Messer bringen!« klagte er immer wieder.
Aber die anderen hatten große Furcht vor den zu erwartenden Folgen und achteten nicht auf ihn.
»Wie kann er wissen, wer’s war?« fragte Kelly und sah sich mit einem blutgierigen Blick um, »es sei denn, dass einer von euch aus der Schule schwatzte.«
»Er braucht euch ja nur anzusehen«, entgegnete Parsons, »ein Blick genügt ihm.«
»Erzähl’ ihm, dass das Deck hochprellte und dir die Zähne aus dem Maule schlug’«, grinste Louis. Er war der einzige, der nicht aus seiner Koje herausgekommen war, und er freute sich, weil er keine Wunden hatte, die verraten konnten, dass er bei dieser Nachtarbeit beteiligt gewesen. »Wartet nur, bis er eure Fratzen morgen gesehn hat«, gluckste er.
»Wir sagen, dass wir ihn für den Steuermann hielten«, meinte einer. Und ein andrer: »Ich weiß, was ich sagen werde: dass ich Lärm hörte, aus der Koje sprang, zum Dank für meine Mühe eins aufs Maul kriegte und so in die Geschichte hineingezerrt wurde. Ich konnte nicht sehen, was und wer es war, und schlug um mich.« »Und da hast du mich natürlich getroffen«, fiel Kelly ein, und sein Gesicht hellte sich einen Augenblick auf. Leach und Johnson beteiligten sich nicht an der Unterhaltung, es war klar, dass ihre Kameraden sie als Leute ansahen, für die das Schlimmste unvermeidlich, ja, deren Lage ganz hoffnungslos war, und die bereits als tot zu betrachten waren. Eine Weile hörte Leach ihre Befürchtungen und Vorwürfe mit an. Dann aber brach er los:
»Ihr langweilt mich! Schöne Genossen seid ihr! Wenn ihr etwas weniger geschwatzt und etwas mehr getan hättet, dann wäre es jetzt geschafft. Warum konnte mir nicht einer, nur ein einziger, ein Messer geben, als ich danach rief? Jetzt jammert und klagt ihr, als ob er euch totschlagen würde, wenn er euch erwischte! Ihr wisst verdammt gut, dass er das nicht tun wird. Er kann es gar nicht. Hier gibt es keinen Heuerbas, und er braucht euch bei seinem Geschäft, ihr seid ihm unentbehrlich. Wer sollte pullen und steuern und Segel setzen, wenn er euch verlöre? Ich und Johnson werden die Suppe auszulöffeln haben. Jetzt geht in eure Kojen und haltet den Mund, ich möchte ein bisschen schlafen.« »Das ist schon richtig, ganz richtig«, meinte Parsons. »Mag sein, dass er uns nichts tut, aber denkt an meine Worte: Von heute an wird dieses Schiff ein Zuchthaus sein.«
Die ganze Zeit war ich mir über meine eigene schwierige Lage klar gewesen. Was geschah, wenn die Leute meine Gegenwart entdeckten? Ich konnte mich nicht durchschlagen wie Wolf Larsen. Und in diesem Augenblick rief Latimer durch die Luke herab:
»Hump! Der Alte braucht dich!«
»Hier ist er nicht!« rief Parsons zurück.
»Doch, er ist hier!« sagte ich und bemühte mich, meine Stimme fest erklingen zu lassen.
Die Matrosen blickten mich bestürzt an. Starke Furcht prägte sich auf ihren Zügen aus, und daneben die Folge der Furcht: Teufelei.
»Ich komme!« rief ich Latimer zu.
»Nein, das wirst du nicht!« rief Kelly und trat zwischen mich und die Treppe, während seine Rechte sich in eine Klaue verwandelte, die bereit war, mich zu erwürgen. »Du verdammter kleiner Duckmäuser! Ich werde dir das Maul stopfen.«
»Lass ihn gehen!« befahl Leach.
»Nein, und wenn es das Leben gälte«, lautete die zornige Erwiderung.
Leach blieb unverändert auf dem Rande seiner Koje sitzen. »Lass ihn gehen, sage ich!« wiederholte er; aber diesmal war seine Stimme kernig und metallisch.
Der Ire schwankte. Ich machte Miene, vorbeizuschreiten, und er trat beiseite. Als ich die Treppe erreicht hatte, wandte ich mich gegen diesen Kreis brutaler und bösartiger Gesichter, die mich im Halbdunkel anstarrten. Ein plötzliches tiefes Mitgefühl wallte in mir auf. Ich erinnerte mich der Anschauung des Cockney: Wie musste Gott sie hassen, dass sie so gepeinigt wurden!
»Ich habe nichts gesehen oder gehört, glaubt mir!« sagte ich ruhig.
»Ich sage euch, es ist in Ordnung«, hörte ich Leachs Stimme, als ich die Treppe hinaufstieg. »Er liebt den Alten nicht mehr als ihr und ich.«
Ich fand Wolf Larsen in der Kajüte, entkleidet und blutig. Er wartete auf mich und begrüßte mich mit seinem seltsamen Lächeln.
»Kommen Sie und machen Sie sich an die Arbeit, Doktor. Sie scheinen die besten Aussichten für eine ausgedehnte Praxis auf dieser Reise zu haben. Ich weiß nicht, was ohne Sie aus der ›Ghost‹ geworden wäre, und wenn ich sogenannter edler Gefühle fähig wäre, würde ich Ihnen versichern, dass Ihr Kapitän Ihnen außerordentlich dankbar sei.«
Ich kannte den einfachen Arzneikasten der ›Ghost‹ und während ich Wasser auf dem Kajütofen wärmte und alles für die Behandlung der Wunden Nötige bereitmachte, ging er lachend und plaudernd auf und ab und betrachtete prüfend seine Verletzungen. Ich hatte ihn noch nie entblößt gesehen, und der Anblick seines Körpers benahm mir fast den Atem. Es war nie meine Schwäche gewesen, das Fleisch zu sehr zu preisen – weit entfernt. Aber es steckte genug von einem Künstler in mir, um seine Wunderwerke anzuerkennen.
Ich muss gestehen, dass die vollkommenen Linien von Wolf Larsens Gestalt und das, was ich ihre furchtbare Schönheit nennen möchte, mich faszinierten. Ich hatte die Männer im Vorderkastell beobachtet. So kräftige Muskeln auch einige von ihnen hatten, irgend etwas stimmte nie: eine ungenügende Entwicklung hier, eine zu starke dort, eine Biegung oder Krümmung, die die Symmetrie störte, zu kurze oder zu lange Beine, zu viel oder zuwenig hervortretende Knochen. Oofty-Oofty war der einzige, dessen Linien wirklich ansprechend waren, aber er wirkte zu weiblich.
Wolf Larsen hingegen war der Mann in seiner Vollkommenheit, beinahe ein Gott. Wenn er sich bewegte oder die Arme hob, sprangen und regten sich die starken Muskeln unter der feinen glatten Haut, ich vergaß zu bemerken, dass das Braun sich auf sein Gesicht und seinen Hals beschränkte. Sein Körper war, dank seiner skandinavischen Herkunft, so weiß wie der einer zarten Frau. Ich weiß noch, wie er die Hand hob, um seine Kopfwunde zu befühlen, und wie der Bizeps sich wie ein lebendiges Wesen unter einer weißen Hülle bewegte. Dieser Bizeps war es, der mir kürzlich beinahe das Leben herausgepresst, den ich so viele tödliche Schläge hatte austeilen sehen. Ich konnte die Augen nicht von ihm lassen. Reglos stand ich da und ließ ein Päckchen Watte, das ich in der Hand hielt, sich aufrollen und zu Boden fallen.
Er sah sich nach mir um, und ich wurde mir bewusst, dass ich dastand und ihn anstarrte.
»Gott hat Sie schön geschaffen«, sagte ich.
»Wirklich?« antwortete er. »Ich habe oft dasselbe gedacht und mir den Kopf zerbrochen, warum?«
»Absicht –«, begann ich.
»Zweckmäßigkeit«, unterbrach er mich. »Dieser Körper ist zum Gebrauch geschaffen. Diese Muskeln sind gemacht, um zuzupacken, um zu zerreißen und zu vernichten, was sich zwischen mich und das Leben stellt. Aber haben Sie an andre Lebewesen gedacht? Auch sie haben Muskeln irgendwelcher Art, um zu packen, zu zerreißen und zu vernichten. Wenn sie aber zwischen mich und das Leben treten, so übertreffe ich sie im Packen, Zerreißen und Vernichten. Eine Absicht erklärt dies nicht, wohl aber die Zweckmäßigkeit.«
»Das ist nicht schön«, wandte ich ein.
»Das Leben ist nicht schön, meinen Sie«, lächelte er. »Und doch sagen Sie, ich sei schön geschaffen. Sehen Sie her!«
Er spreizte die Beine und presste die Zehen gegen den Kajütsboden, als wolle er ihn damit packen. Knoten, Klüfte und Berge von Muskeln spielten unter seiner Haut. »Fühlen Sie!« befahl er.
Sie waren hart wie Stahl. Sein ganzer Körper hatte sich, straff und geschmeidig, unbewusst zusammengezogen, die Muskeln streckten sich sanft über Lenden, Rücken und Schultern, die Arme waren leicht erhoben, ihre Muskeln zogen sich zusammen, die Finger krümmten sich, dass die Hände Klauen glichen, und selbst die Augen hatten ihren Ausdruck gewechselt, und die Schärfe und Wachsamkeit eines Raubtieres leuchtete aus ihnen.
»Festigkeit und Gleichgewicht«, sagte er und entspannte seinen Körper wieder. »Füße, um sich am Boden zu halten, Beine, um festzustehen und Widerstand zu leisten, wenn ich mit Armen, Händen, Zähnen und Nägeln zu töten versuche, um nicht selbst getötet zu werden. Absicht? Zweckmäßigkeit ist ein besseres Wort.«
Ich widersprach ihm nicht. Ich hatte den Mechanismus einer primitiven kämpfenden Bestie gesehen, und er machte einen Eindruck auf mich wie die Maschinen eines großen Kriegsschiffes oder eines Ozeandampfers. Wenn ich an den heißen Kampf im Vorderkastell dachte, war ich überrascht von der Oberflächlichkeit seiner Verletzungen, und ich glaube sagen zu dürfen, dass ich sie gut pflegte. Mit Ausnahme einiger hässlicher Wunden waren es nur tüchtige Beulen und Schrammen. Den Schlag, den er auf den Kopf erhalten hatte, ehe er über Bord flog, hatte seine Schädeldecke mehrere Zoll breit bloßgelegt. Ich reinigte die Wunde und nähte sie nach seiner Anweisung zusammen, nachdem ich die Wundränder rasiert hatte. Dann hatte er einen schlimmen Riss in der Wade, der aussah, als hätte sich eine Bulldogge hinein verbissen. Zu Beginn des Kampfes hatte, wie er mir erzählte, ein Matrose mit den Zähnen zugepackt und festgehangen, bis er ihn die Treppe mit hinaufzerrte, wo er sich freigetreten hatte.
»Ja, wie gesagt, Hump, Sie sind ein brauchbarer Mensch«, begann Wolf Larsen, als ich mit meiner Arbeit fertig war. »Wie Sie wissen, fehlt uns ein Steuermann. Von jetzt an übernehmen Sie die Wache, erhalten fünfundsiebzig Dollar monatlich und werden vorn und achtern Herr van Weyden angeredet.«
»Ich – verstehe nichts von Navigation, das wissen Sie doch«, keuchte ich.
»Gar nicht nötig.«
»Ich mache mir wirklich nichts aus einer solchen Beförderung«, wandte ich ein. »Ich finde das Leben schwer genug in meiner jetzigen bescheidenen Stellung. Ich habe keine Erfahrung. Alle Mittelmäßigkeit hat ihre Grenzen.«
Er lächelte, als wäre die Sache abgemacht.
»Ich will nicht Steuermann auf diesem Höllenschiff sein!« rief ich trotzig.
Ich sah sein Gesicht hart werden und den unbarmherzigen Schimmer in seine Augen treten. Er ging in seinen Schlaf räum, indem er sagte:
»Und jetzt, Herr van Weyden, gute Nacht.«
»Gute Nacht, Herr Larsen«, unterbrach ich schwach.
Ich kann nicht behaupten, dass die Stellung als Steuermann mir einen anderen Vorteil gebracht hätte, als dass ich nicht mehr Geschirr abzuwaschen brauchte. Ich wusste nicht das geringste von den elementarsten Pflichten eines Steuermanns, und es würde mir schlecht ergangen sein, hätte ich nicht die Zuneigung der Matrosen besessen. Ich wusste nichts von Tauen und Takelung, nichts von Segeln und Segelsetzen. Aber die Matrosen bemühten sich, mich anzuweisen – namentlich Louis war ein tüchtiger Lehrer –, und meine Untergebenen machten mir keine Schwierigkeiten.
Anders die Jäger. Mehr oder minder mit dem Leben zur See vertraut, nahmen sie mich für eine Art Spaß. Zwar konnte ich es selbst nicht ernst nehmen, dass ich, die ausgemachteste Landratte, das Amt des Steuermanns bekleiden sollte, wenn aber andere einen nicht ernst nehmen, ist das etwas anderes. Ich beklagte mich nicht, aber Wolf Larsen forderte die pünktlichste Innehaltung der Schiffsetikette in Bezug auf mich – in weit höherem Maße, als er es bei dem armen Johansen getan, und nachdem er ein paar von ihnen verprügelt und sie eindringlich ermahnt und bedroht hatte, kamen die Jäger zur Vernunft. Ich war vorn und achtern Herr van Weyden, und nur inoffiziell geschah es wohl, dass Wolf Larsen mich noch Hump nannte.
Es war ganz unterhaltend. Während wir bei Tische saßen, schlug zum Beispiel der Wind um, und wenn ich dann aufstand, sagte er: »Herr van Weyden, würden Sie die Güte haben, nach Backbord umzulegen.« Und ich ging an Deck, rief Louis zu mir und ließ mir von ihm sagen, was zu tun war. Wenn ich dann seine Anweisungen verdaut und das Manöver verstanden hatte, ging ich daran, meine Befehle auszuteilen. Ich erinnere mich eines der ersten Fälle dieser Art. Als ich gerade meine Befehle erteilen wollte, erschien Wolf Larsen auf der Szene. Er rauchte seine Zigarre und schaute ruhig zu, dann kam er nach achtern und stellte sich neben mich an die Ruff.1»Hump«, sagte er, »Verzeihung: Herr van Weyden, ich gratuliere. Jetzt können Sie Ihrem Vater die Beine ins Grab zurückschicken. Sie haben Ihre eigenen entdeckt und gelernt, auf ihnen zu stehen. Noch ein bisschen Arbeit in den Tauen, einige Übung im Segelsetzen und etwas Erfahrung bei Sturm, und Sie können am Ende der Reise auf jedem Küstenfahrer anheuern.«
In dieser Zeit, zwischen Johansens Tod und der Ankunft in den Robbengründen, verlebte ich meine angenehmsten Tage auf der ›Ghost‹. Wolf Larsen war ganz rücksichtsvoll, die Matrosen halfen mir, und ich kam nicht in diese aufreizende Berührung mit Thomas Mugridge. Und ich muss offen gestehen, dass ich, wie die Tage schwanden, einen gewissen heimlichen Stolz zu fühlen begann. In dieser fantastischen Lage – eine Landratte als Nächstkommandierender – hielt ich mich doch ganz gut, und ich wurde bald selbstbewusst und gewann das Heben und Senken der ›Ghost‹ lieb, die sich unter meinen Füßen ihren Weg durch die tropische See nach der kleinen Insel in Nordwesten bahnte, wo wir unsere Wasserfässer füllen sollten.
Aber mein Glück war nicht ungemischt. Es war nur eine verhältnismäßig weniger unglückliche Periode, die sich zwischen das große Elend von Vergangenheit und Zukunft eingeschlichen hatte. Denn die ›Ghost‹ war für die Matrosen ein Höllenschiff schlimmster Art. Sie hatten nie einen Augenblick Ruhe oder Frieden. Wolf Larsen bezahlte sie für ihren Überfall und die Prügel, die ihm in der Back zuteil geworden waren. Und morgens, mittags, abends und nachts widmete er sich der Aufgabe, ihnen das Leben unerträglich zu machen.
Er kannte die Psychologie der Kleinigkeiten nur zu gut, und mit Kleinigkeiten trieb er die Mannschaft bis an den Rand des Wahnsinns. Ich war Zeuge, wie Harrison aus der Koje geholt wurde, um einen an den falschen Platz gelegten Pinsel richtig hinzulegen, und zwei von der Wachmannschaft aus dem Schlaf geweckt wurden, um mitzugehen und zu sehen, ob er es richtig machte. Eine Kleinigkeit, wohl wahr, wenn aber ein so erfinderischer Kopf tausenderlei erdenkt, so kann man sich den Geisteszustand der Leute in der Back leicht vorstellen.
Natürlich wurde beständig gemurrt, und immer fanden kleine Ausbrüche statt. Schläge wurden ausgeteilt, und zwei bis drei Mann mussten stets die Verletzungen pflegen, die ihnen von der Hand ihres Herrn, dieser menschlichen Bestie, zugefügt worden waren. Offene Meuterei war nicht möglich angesichts des bedeutenden Waffenarsenals im Zwischendeck und in der Kajüte. Leach und Johnson waren die auserwählten Opfer der teuflischen Einfälle Wolf Larsens, und der Ausdruck tiefster Schwermut, der sich auf Johnsons Gesicht und in seinen Augen zeigte, ließ mein Herz bluten.
Anders Leach. In ihm steckte zu viel von einem kämpfenden Raubtier. Er schien von einer unersättlichen Wut besessen, die ihm nicht Zeit ließ, sich seinem Kummer hinzugeben. Seine Lippen waren zu einem beständigen Knurren verzerrt, das sich beim bloßen Anblick Wolf Larsens zu einem furchtbaren, drohenden und, ich glaube, ihm ganz unbewussten Ton verstärkte. Ich habe beobachtet, wie er Wolf Larsen, wie ein wildes Tier seinem Wächter, mit den Augen folgte, während das tierische Knurren tief aus seiner Kehle kam und zwischen den Zähnen zitterte.
Ich erinnere mich, wie ich einmal an Deck bei helllichtem Tage seine Schulter von hinten berührte, um ihm einen Befehl zu erteilen. Im selben Augenblick sprang er in einem Satz von mir weg, indem er knurrte und im Sprunge den Kopf wandte. Er hatte mich für den Verhassten gehalten.
Er sowohl wie Johnson würde Wolf Larsen bei der ersten Gelegenheit getötet haben, aber die Gelegenheit kam nie. Wolf Larsen war zu klug, und außerdem hatten sie keine entsprechenden Waffen. Mit ihren Fäusten hatten sie keine Chance. Immer wieder kam es zum Kampf zwischen Wolf Larsen und Leach, der sich stets wie eine Wildkatze mit Zähnen, Nägeln und Fäusten wehrte, bis er erschöpft oder ohnmächtig auf dem Deck lag. Und er war stets zu neuem Kampf bereit. Der Teufel in ihm forderte den Teufel in Wolf Larsen heraus. Sie brauchten nur gleichzeitig an Deck zu erscheinen, so waren sie auch schon fluchend, knurrend und kämpfend aneinander, und ich habe Leach gesehen, wie er sich ohne Warnung und ohne Anlass auf Wolf Larsen stürzte. Einmal schleuderte er sein schweres grifffestes Messer und verfehlte Wolf Larsens Kehle nur um einen Zoll. Ein andermal ließ er einen stählernen Marlpfriem vom Besanbaum herunterfallen, auf einem rollenden Schiffe ein schwerer Wurf, aber die scharfe Spitze, die aus einer Höhe von 75 Fuß durch die Luft sauste, verfehlte den Kopf Wolf Larsens, der gerade von der Kajütstreppe kam, um nur zwei Zoll und bohrte sich tief in die feste Deckplanke ein. Ein drittes Mal stahl er sich ins Zwischendeck, setzte sich in den Besitz eines geladenen Gewehrs und schlich sich damit auf Deck, wurde aber von Kerfoot überrascht und entwaffnet.
Ich wunderte mich oft, dass Wolf Larsen ihn nicht tötete und der Sache damit ein Ende machte. Aber er lachte nur, und es schien ihn zu belustigen.
»Es kitzelt«, erklärte er mir, »wenn das Leben nur an einem Haar hängt. Der Mensch ist von Natur aus Spieler, und das Leben ist der höchste Einsatz, den man hat. Je größer die Gefahr, desto mehr kitzelt es. Warum sollte ich mir die Freude rauben, Leachs Seele bis zur Fieberglut zu erhitzen? Übrigens erweise ich ihm damit einen Freundschaftsdienst. Das Gefühl ist gegenseitig. Er führt ein königlicheres Dasein als irgendeiner von der Mannschaft, wenn er es auch nicht weiß. Denn er hat, was die anderen nicht haben, ein Ziel, eine Aufgabe, die ihn ganz erfüllt: den Wunsch, mich zu töten, und die Hoffnung, dass ihm dies glücken werde. Wirklich, Hump, er lebt auf den Höhen des Lebens. Ich zweifle, dass er je so frisch und mutig gelebt hat, und beneide ihn zuweilen ehrlich, wenn ich ihn auf dem Gipfel der Leidenschaft und des Gefühls rasen sehe.«
»Ach, das ist feige, feige«, rief ich. »Sie haben ja das Übergewicht.«
»Wer ist der größere Feigling von uns beiden, Sie oder ich?« fragte er ernsthaft. »Die Situation ist unerfreulich, und da schließen Sie ein Kompromiss mit Ihrem Gewissen. Wenn Sie wirklich groß, wenn Sie wahr gegen sich selbst wären, so würden Sie gemeinsame Sache mit Leach und Johnson machen. Aber Sie fürchten sich. Sie wollen leben. Das Leben in Ihnen schreit heraus, dass es leben muss, koste es, was es wolle. Und daher leben Sie unwürdig, werden Ihren besten Träumen untreu, versündigen sich gegen all Ihre jämmerlichen Lehren und schicken Ihre Seele schnurstracks in die Hölle, falls es eine geben sollte. Pah! Ich spiele ein tapferes Spiel. Ich sündige nicht, denn ich bleibe meinen Lebensanschauungen treu.«
Was er sagte, traf mich. Vielleicht war ich wirklich feige, und je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr erschien es mir als meine Pflicht, zu tun, was er mir geraten hatte: gemeinsame Sache mit Leach und Johnson zu machen, um ihn zu beseitigen. Der Gedanke ließ mich nicht los. Es musste eine gute Tat sein, die Welt von diesem Ungeheuer zu befreien. Die Menschheit würde besser und glücklicher, das Leben schöner und lieblicher dadurch werden.
Ich erwog es lange, lag wach in meiner Koje und ließ die Tatsachen nochmals in endloser Prozession an mir vorbeiziehen. Während der Nachtwachen, wenn Wolf Larsen unten war, sprach ich mit Johnson und Leach. Beide hatten die Hoffnung aufgegeben – Johnson aus Mutlosigkeit, Leach, weil er sich in dem vergeblichen Ringen erschöpft hatte. Aber eines Nachts ergriff er leidenschaftlich meine Hand und sagte:
»Sie sind rechtschaffen, Herr van Weyden. Aber bleiben Sie, wo Sie sind, und halten Sie den Mund. Wir beide, Johnson und ich, sind verloren, ich weiß es – aber vielleicht wird es Ihnen doch eines Tages möglich sein, uns einen Dienst zu erweisen, wenn wir es verdammt nötig haben.«
Ich hatte die Hoffnung gehegt, dass seine Opfer eine Gelegenheit zur Flucht finden würden, wenn wir die Wasserfässer füllten, aber Wolf Larsen hatte seine Maßregeln getroffen. Die ›Ghost‹ lag eine halbe Meile vor der Brandung, und dahinter war öder Strand, den eine wilde Bergschlucht mit steilen vulkanischen, unersteigbaren Wänden abschloss. Und hier, unter seiner eigenen Aufsicht – denn er ging selbst mit an Land –, füllten Leach und Johnson die kleinen Fässer und rollten sie zum Wasser hinab. Sie hatten keine Gelegenheit, mit Hilfe eines Bootes ihre Freiheit zu gewinnen.
Harrison und Kelly jedoch machten einen Fluchtversuch. Sie befanden sich in einem der Boote und hatten die Aufgabe, mit je einem Fass zwischen Strand und Schoner hin und her zu rudern. Gerade vor dem Mittagessen, als sie mit einem leeren Fass an Land fuhren, änderten sie plötzlich den Kurs nach links, um hinter das Vorgebirge zu kommen, das sich zwischen ihnen und der Freiheit aus dem Meere erhob. Jenseits der schäumenden Fläche lagen die hübschen Dörfer der japanischen Kolonisten und lächelnde Täler, die sich weit ins Innere erstreckten. Waren sie erst dort, so konnte Wolf Larsen sich den Mund nach ihnen wischen.
Ich hatte bemerkt, dass Henderson und Smoke den ganzen Morgen auf Deck herumlungerten, und jetzt erfuhr ich den Zweck. Sie nahmen ihre Büchsen und eröffneten lässig ein Feuer auf die Flüchtlinge. Es war eine kalte Darbietung ihrer Schießkunst. Zuerst hüpften ihre Kugeln harmlos über den Wasserspiegel zu beiden Seiten des Bootes, als aber die Leute weiter ruderten, trafen sie immer näher.
»Pass auf: jetzt nehme ich Kellys rechten Riemen«, sagte Smoke, indem er sorgfältig zielte.
Ich sah durch das Glas, wie das Ruderblatt durch seinen Schuss zersplittert wurde. Henderson wählte sich Harrisons rechten Riemen zum Ziel. Das Boot drehte sich. Einen Augenblick später waren auch die beiden anderen Riemen zerschossen. Die Leute versuchten mit den Stümpfen zu rudern, aber sie wurden ihnen aus den Händen geschossen. Kelly brach eine Bodenplanke los und begann damit zu paddeln, ließ sie aber mit einem Schmerzensruf fallen, als die Splitter ihm in die Hand drangen. Jetzt gaben sie es auf und ließen das Boot treiben, bis ein zweites Boot, das Wolf Larsen vom Strande schickte, sie ins Schlepptau nahm und an Bord brachte.
Spät am Nachmittage lichteten wir die Anker und fuhren weiter. Vor uns lagen drei bis vier Monate Jagd in den Robbengründen. Diese Aussicht war in der Tat trübe, und ich ging schweren Herzens an meine Arbeit. Eine Art Grabesstimmung schien sich auf die ›Ghost‹ herabgesenkt zu haben. Wolf Larsen hatte sich, von seinen merkwürdigen, betäubenden Kopfschmerzen gepackt, in seine Koje zurückgezogen. Harrison stand teilnahmslos am Rad, halb darauf gestützt, als drücke ihn sein eigenes Gewicht zu Boden. Die übrige Mannschaft war mürrisch und schweigsam. Ich überraschte Kelly, der, den Kopf auf den Knien und die Arme um den Kopf, in einer Haltung unaussprechlicher Niedergeschlagenheit neben der Achterluke zusammengebrochen war.
Johnson fand ich seiner ganzen Länge nach auf dem äußersten Rande der Back liegend, wo er unverwandt in den aufgewühlten Schaum unter sich starrte. Ich versuchte, die düsteren Gedanken des Mannes abzulenken, indem ich ihn zu mir rief, aber er lächelte mich nur traurig an und weigerte sich, zu gehorchen. Als ich nach achtern ging, näherte sich Leach mir.
»Ich möchte Sie um etwas bitten, Herr van Weyden«, sagte er. »Wollen Sie, wenn Sie je das Glück haben sollten, Frisco wiederzusehen, Matt McCarthy aufsuchen? Er ist mein Vater. Er wohnt auf dem Hügel, gleich hinter der Mayfair-Bäckerei, und betreibt eine Schuhflickerwerkstatt, die jeder kennt, Sie werden ihn ohne Schwierigkeiten finden. Sagen Sie ihm, dass ich lange genug gelebt habe, um all die Sorge zu bereuen, die ich ihm bereitet habe, und – Gott segne ihn.«
Ich nickte, sagte aber: »Wir werden alle nach San Francisco zurückkehren, Leach, und du wirst mit dabei sein, wenn ich Matt MacCarthy besuche.«
»Ich möchte es gern glauben«, antwortete er, indem er mir die Hand schüttelte, »aber ich kann nicht. Wolf Larsen bringt mich um, das weiß ich, und ich hoffe, dass er es schnell tut.«
Und als er mich verließ, spürte ich denselben Wunsch in mir selber. Es geschah ja doch, also dann lieber schnell. Die allgemeine Finsternis hatte auch mich eingehüllt. Das Schlimmste schien unvermeidlich. Und wie ich Stunde auf Stunde an Deck auf und ab schritt, war mir, als hätten mich die abstoßenden Gedanken Wolf Larsens angesteckt. Wozu das alles? Wo war die Größe des Lebens, wenn es eine so maßlose Vernichtung menschlicher Seelen zulassen konnte? Alles in allem war dieses Leben etwas Billiges, Nichtiges, und je eher es vorbei war, desto besser. Auch ich lehnte mich über die Reling und starrte sehnsüchtig ins Meer hinab, sicher, dass ich früher oder später versinken musste in dieser kühlen, grünen Tiefe der Vergessenheit.