Peter Whipple, einer der ältesten weißen Männer im Land, besaß einen Claim, nicht weit von Vances Hügel, und lebte dort mit einer dunklen, nicht besonders hübschen Mischlingsfrau, einer Tochter des Landes. Ihre Mutter war Indianerin gewesen, der Vater ein russischer Pelzhändler. Sie redete eine furchtbare Mischsprache, die für Weiße wie für Indianer gleich unerträglich war. Aber Whipple war ein alter Kumpan von Bishop, und da er nicht viel mehr zu tun hatte, als morgens und abends die Abgrenzungen seines Claims zu kontrollieren, ging er manchmal zu Peter Whipple, um ein langatmiges Garn mit ihm zu spinnen.
An einem Sonntagmorgen traf er die Frau allein zu Hause. Da die Unterhaltung kein Vergnügen werden konnte, beschloss er, nur aus Höflichkeit eine Pfeife bei ihr zu rauchen und sich so früh wie möglich wieder davonzumachen. Aber es geschah, dass er viele Pfeifen lang blieb, denn was die Kreolin erzählte, als ihre Zunge einmal in Schwung kam, war so interessant, dass er sie immer wieder anfeuerte, wenn der Strom ihres Kauderwelsch schwächer rann. Während er lauschte, kicherte und fluchte er leise vor sich hin. Es war die spannendste Erzählung, die er in seinem Leben gehört hatte.
Mitten darin holte die Frau ein altes Buch in abgegriffenem Ledereinband aus einer gebrechlichen Kiste und legte es auf den Tisch. Sie öffnete es nicht, aber mit Fingern und Blicken führte ihre Erzählung immer wieder auf dies geheimnisvolle Buch, und in Bishops Augen trat ein begehrliches Funkeln.
Als sie sich schon ein halb dutzendmal wiederholt und gar nichts Neues mehr zu sagen hatte, zog er seinen Beutel aus der Brusttasche. Die Frau stellte eine Goldwaage auf und tat Gewichte in die eine Schale, in die andere Schale schüttete Bishop Goldstaub im Werte von 100 Dollar. Dann griff er nach dem ledergebundenen Werk, presste es fest an sich und sagte Lebewohl.
Corliss saß im Zelt auf seinem Bett und flickte an seinen Mokassins herum.
»Jetzt hab’ ich ihn bald!« sagte Bishop und warf ihm das Buch zu.
»Wen denn?«
»Das Stinktier.«
Corliss schlug erstaunt das Buch auf, das Papier war vergilbt, von Wind und Wetter mitgenommen, der Text war russisch.
»Ich kann kein Wort davon lesen. Ich wusste gar nicht, dass Sie Russisch können, Del?!«
»Traurig genug, dass ich es nicht kann. Whipples Frau versteht auch nichts davon. Aber ihr Vater, der war Russe, und das war sein einziges Buch, seine Bibliothek sozusagen. Er hat ihr oft daraus vorgelesen. Sie weiß, was ihr Vater wusste, und jetzt weiß ich auch, was sie weiß, und was da drin steht.«
»Und was wisst ihr denn alle drei?«
»Na, es lohnt sich schon! Ein bisschen Geduld müssen Sie vielleicht noch haben, aber eines Tages werden Sie auch Ihren Spaß dran finden.«
*
Über Weihnachten kam der alte McCarthy über das Eis nach Dawson marschiert. Er hatte keine Geschäfte mehr, eigentlich wollte er ja längst in den Staaten sein und hatte sich nur von der zweiten Heimat nicht trennen können. Jetzt saß er bei Dave Harney herum, ein Goldkönig beim anderen, und ließ sich allen Klatsch von Dawson erzählen. Die großen Funde interessierten ihn nicht mehr so sehr. Er hörte gern von Liebesgeschichten und Saufereien, auch dem Bericht von Faustkämpfen lauschte er stets mit freundlichen Augen. Frona und Gregory St. Vincent – das war ein Rauch, der ihm in die Nase stieg! Über Frona war alle Welt sich einig: eine echte Welse und ein so famoses Mädel, wie kein anderer Kontinent es hervorgebracht hätte. Aber dieser St. Vincent, da konnte man nur den Kopf schütteln. Alle Weiber waren hinter dem Kerl her. Er hielt es mit Frona, aber ganz besonders auch noch mit einer Sängerin namens Lucille, und ein halbes Dutzend anderer Damen wurde ihm so nebenbei nachgesagt. Es war klar, die Männer konnten ihn nicht leiden, weil er soviel Glück bei den Weibern hatte. Junge und Alte nahmen ihm das gleich übel. Aber wenn man den Sachen auf den Grund ging, war nicht viel daran.
Eines Nachmittags traf McCarthy den Mann selbst im Hause von Dave Harney. Er schien beträchtlich besser als sein Ruf, schließlich hatte der alte Goldkönig in seinem Leben manchem Mann unter den Hutrand geschaut, und er verstand sich darauf, was echt und unecht war. Der hier war der übelste nicht. Und trotzdem hatte die Abneigung der anderen ihn schon angesteckt. Matt musste sich zwingen, mit diesem natürlichen, heiteren Burschen freundlich zu sein.
»Die Hunde sollen über mein Grab laufen«, sagte er bei sich, während er seine Spielkarten sortierte. »Bin ich zu alt oder zu jung, um gerecht zu sein? Nehme ich es ihm auch übel, dass er die Weiber zu nehmen weiß? Der Kerl hat in seinem Leben eben etwas geleistet, und das imponiert den Mädels. Immerhin, wenn’s um Frona geht, kann man nicht vorsichtig genug sein.«
Als die Gesellschaft auseinanderging, schien es selbstverständlich, dass St. Vincent Frona nach Hause brachte. Aber Matt fuhr dazwischen.
»Heute Abend nicht, mein Junge! Heute ist der alte Pflegevater an der Reihe.«
Er wanderte, Frona an seinem Arm, auf Welses Haus zu und fragte ohne Umschweif:
»Was ist das, was ich von dir und dem Burschen höre?«
Sie schaute mit offenem Blick in seine scharfen grauen Augen.
»Ich kann doch nicht wissen, was du gehört hast.«
»Wenn die Leute über ein hübsches junges Mädel und einen unverheirateten jungen Mann überhaupt reden, dann ist es nicht schwer zu raten, um was es sich handelt.«
»So, was denn?«
»Liebe, natürlich. Die Leute sagen, dass es bei euch danach aussieht.«
»Beweist das auch, dass es so ist?«
»Genügt mir, wenn es so aussieht.«
»Also erstens, Onkel Matt, bist du alt genug, um zu wissen, dass die Leute sich um jeden Preis etwas zurechtdichten müssen, wenn sonst nichts passiert. Zweitens sind Herr St. Vincent und ich gute Freunde, das ist alles. Und drittens, wenn es so wäre, wie du sagst, was dann …?«
Matt wollte etwas sagen, räusperte sich, fand jedes Wort dumm, das ihm einfiel, und brabbelte vor sich hin. Dann platzte er in seiner Verlegenheit heraus.
»Weiß Gott, Frona, ich hätte Lust, dich tüchtig durchzuwichsen.«
Sie lachte: »Du meinst es sicher gut mit mir, alter Goldonkel. Leider kommst du ein bisschen spät damit, du hast die richtige Zeit damals in Dyea versäumt.«
Er bettelte: »Du wirst doch nicht böse auf deinen alten Matt sein!«
»Ich denke nicht daran.«
»Aber du bist es doch.«
»So!« Sie beugte sich hastig vor und küsste ihn auf die Nase. »Glaubst du, ich könnte von Dyea sprechen und böse mit dir sein?«
Sie waren vor Welses Tür stehengeblieben.
»Ich bin wirklich nicht böse, Matt. Aber außer meinem Vater bist du der einzige Mensch, der sich erlauben darf, über diese Sache mit mir zu reden. Und wenn du es noch einmal tust, werde ich trotz allem nicht mehr an Dyea denken. Das ist etwas, was mich ganz allein angeht, du hast kein Recht …«
»Kein Recht, zu verhindern, dass du mit verbundenen Augen in dein Unglück rennst?«
»Wenn du es so nennst, nein!«
Er brummte etwas vor sich hin.
»Was sagst du da?«
»Das Maul kannst du mir verbieten, aber den Arm kannst du mir nicht festbinden.«
»Das darfst du nicht, Matt! Matt, lieber Matt, du darfst nicht!«
Sie war sehr erregt und klammerte sich an den Arm des Alten. »Ich lasse dich nicht weg, ehe du mir versprochen hast, dass du nicht in mein Leben eingreifst. Weder mit Worten noch mit Taten.«
»Ich verspreche dir gar nichts. Jetzt mach, dass du ins Haus kommst, Frona. Und Gute Nacht. Es wird verdammt kalt hier draußen auf der Treppe.«
Er schob sie hinein und ging. Ein paar Schritte weiter blieb er stehen, betrachtete seinen eigenen Schatten auf dem Schnee und fluchte wie ein junger Hundetreiber, wenn die Hunde nicht ziehen wollen.
»Matt Mc Carthy, du bist der größte Esel, von dem du je gehört hast! Bildest du alter Schwachkopf dir wirklich ein, dass eine Welse ihren Kopf nicht durchsetzt?«
Fluchend und knurrend ging er weiter. Sein alter Wolfshund, der ihm auf den Fersen trottete, fletschte die Zähne.
*
Der Weihnachtsabend mit all seiner Aufregung und Freude war vorbei. Zwei Dutzend Kinder hatten sich, glücklich und reich beschenkt, durch den Schnee nach Hause getrollt. Dann nahm auch der letzte Gast Abschied.
»Bist du müde, mein Kind?«
Frona vergalt ihrem Vater mit strahlenden Augen all seine Zärtlichkeit, dann setzten sie sich in die großen bequemen Sessel rechts und links vom Kamin, in dem das letzte Tannenholzscheit rotglühend zerfiel.
»Was wird nächstes Jahr um diese Zeit sein?« fragte Jacob Welse. Er fragte es gewissermaßen in den Kamin hinein, als ob die Funken ihm Antwort geben könnten.
»Diese beiden Monate, seit du bei mir bist, sind ein einziges Wunder gewesen, vom Anfang bis zum Ende. Mir ist, als lebte ich jetzt die glücklichste Zeit meines Lebens. Wir hatten uns ja kaum gekannt, Frona. Seit du ein ganz kleines Kind warst, haben wir uns immer nur für Wochen gesehen, und von einem Wiedersehen zum anderen warst du immer schon ein ganz anderer Mensch geworden. Manchmal ist es mir ganz komisch, wenn ich dich ansehe und mir sage, dass du wirklich mein Fleisch und Blut bist … Dass du kein Junge geworden bist!« unterbrach er sich plötzlich. »Frona, du wärst ein großartiger Junge geworden! Ich glaube, das wäre mir lieber. Weißt du auch, warum? Eigentlich hat man als Vater ja tausendmal mehr von einer Tochter. Ein Mädel kann lieb und zärtlich sein, und einem Mädel kann man schmeicheln. Wenn du ein Bursche von zwanzig Jahren wärst … glaubst du, ich hätte dir einen Weihnachtskuss gegeben, so wie heute Abend? In einer Tochter erlebt man die Frau noch einmal, die man am liebsten auf der Welt gehabt hat … Aber es ist komisch, Frona, lieber wär’ mir’s doch, wenn du ein Bursche wärst. Wie lange dauert es noch, dann bist du eine Frau und gehst mit irgendeinem Kerl weg, der mich nichts angeht, und der mich nicht leiden kann, oder den ich nicht mag, und ich kann nicht einmal ein Wort dagegen sagen. Du bist zur Freude für ihn geschaffen, du wirst mich verlassen und musst mich verlassen … morgen, übermorgen, vielleicht erst nächstes Jahr, so Gott will … wer weiß das?«
Sie kam zu ihm, setzte sich auf die breite Armlehne des Sessels und streichelte sein gesundes, raues Gesicht.
»Lass das, Daddy, heute Abend wenigstens! Ich bin auch so glücklich, dass ich bei dir sein kann, und vielleicht möchte ich am liebsten immer in diesem warmen Nest bleiben. Aber erzähl mir was, du hast mir noch so selten erzählt, von deiner Jugend, von unseren Vorfahren, erzähl mir vor allem von Mama! … Und dann muss ich auch einmal etwas hören von deinem Vater, der den großen einsamen Kampf bei Treasure City gekämpft hat, wo sie zehn gegen einen waren, und wo er gefallen ist. Ich bin so stolz, dass all meine Ahnen tapfere Männer waren, und ich höre so gern von Männerkämpfen!«
»Von deiner Mutter möchte ich dir viel erzählen, Frona. Eigentlich ist es das erstemal, dass wir so allein beisammen sind, und dass ich dir mein Herz ausschütten kann. Aber was kann ich dir sein? Jetzt kommt die Zeit, wo ein Mädel seine Mutter am nötigsten braucht, und du hast deine Mutter nie gekannt!«
Sie schwiegen beide. Es war etwas wie elektrische Spannung in die Luft getreten; Frona wusste genau, was jetzt kommen sollte.
»Dieser Mann, dieser Dr. Gregory St. Vincent … wie steht es mit euch beiden?« fragte Welse mit abgewandtem Gesicht und stoßweisem Atem, als müsste er sich Wort um Wort aus der Kehle quälen.
»Ich … das weiß ich selbst nicht so recht, Daddy.«
»Du bist ein freier Mensch, Frona. Du darfst wählen, wen du willst. Das ist das erste und letzte Wort, das ich dir zu sagen habe. Aber, ich möchte dich doch so gern verstehen. Wenn du mir alles sagtest, weißt du, alles … vielleicht könnte ich alter Knurrhahn dir doch einmal raten. Mehr will ich ja gar nicht. Nur ein bisschen raten …«
»Wir sind gute Freunde, wir sind sogar sehr gute Freunde, Vater. Aber sonst ist nichts zwischen uns, ich glaube wenigstens, dass sonst nichts zwischen uns ist. Herr St. Vincent hat nie ein Wort darüber hinaus gesagt.«
»Aber ich weiß doch, dass ihr euch gern habt. Es ist nur die Frage, ob du ihn so gern hast, wie eine Frau einen Mann haben muss, für den sie sich selbst aufgeben darf.«
»Nein. Oder vielleicht doch, wie soll ich das selbst wissen? Ich denke mir, das ist auf einmal da, was du meinst, so wie ein großes, weißes Licht in einem dunklen Zimmer. Auf einmal ist alles ganz offenbar. Aber das weiß ich, gekommen ist dieses Licht noch nicht.«
Jacob Welse nickte nachdenklich und sah aus wie ein Riese, der mit winzigem Kinderspielzeug spielen möchte und sich fürchtet, daran zu rühren.
»Schließlich bin ich doch auch mit anderen jungen Männern befreundet, Vater, genau so wie mit Gregory.«
»Aber gerade dieser St. Vincent …«
»Was ist gerade mit dem?«
»Ich kann den Kerl nicht leiden.«
»So geht es ihm bei vielen Männern, leider«, gab Frona zu. »Aber gerade deshalb …«
»Meine Meinung soll dir nicht mehr gelten als die der anderen. Weil ich dein Vater bin, habe ich dir in solchen Dingen keine Vorschriften zu machen, gerade deshalb nicht. Aber, dass viele Männer dasselbe Urteil haben wie ich, da muss etwas daran sein.«
»Aber du hast nichts gegen ihn als dieses unbestimmte Gefühl?«
»Doch, vielleicht etwas mehr als den bloßen Instinkt. Ich will versuchen, dir das zu erklären. Nimm’s nicht als Prahlerei, es ist eine bloße Tatsache: wir Welses haben nie einen Feigling unter uns gehabt. Feigheit ist für mich etwas Unnatürliches, etwas Ekelhaftes, und neben Feigheit kann nichts Gutes gedeihen.«
»Gregory St. Vincent ist weiß Gott der letzte Mann auf Erden, Vater, den man einen Feigling nennen könnte! Sein ganzes Leben als Forscher war eine einzige tapfere Tat.«
Frona war bei dieser Antwort heiß und feurig geworden, aber dann schien sie ihm so traurig, dass der Anblick ihres Gesichts ihm ins Herz schnitt.
»Ich will dir nicht weh tun, Kind. Und wenn ich es doch tun muss, dann verzeih mir. Ich weiß nichts von diesem St. Vincent, ich habe gar keinen Anhalt für das, was ich jetzt sage, nur das unsichere Gefühl. Aber ich kann mir nicht helfen, der Mann scheint mir nicht das, wofür er sich ausgibt. Dann habe ich allerdings etwas über ihn gehört, eine kleine Tatsache, an sich ganz geringfügig. Ein Auftritt unten in der Bar, bei dem er nicht ganz sauber war.«
»Weil er mit einer Varietédame getanzt hat? … Nicht wahr, darüber zerbrechen die Männer sich ihre Zungen? Vielleicht hat er auch sonst schön mit ihr getan und meinetwegen sogar … Jedenfalls geht das die anderen nicht das geringste an, und mir ist er keine Treue schuldig. Wenn mir das weh tun soll, dann hab’ ich es jedenfalls mit mir allein auszumachen, aber ich kann nicht einmal sagen, dass es mir weh tut.«
»Du verstehst mich falsch. An seine Weibergeschichten habe ich gar nicht gedacht, sondern an etwas ganz anderes. Es hat da mal eine Prügelei stattgefunden, eine große, gewaltige Prügelei, wie sich’s ab und zu in einer Goldgräberbar gehört. Er wollte nicht mitmachen. Rundheraus gesagt, er war so feig, dass es einen Hund erbarmen konnte. Einfach zum Kotzen war’s, wie er sich benommen hat.«
»Erstens ist das doch alles nur Gerücht … Und außerdem kann es gar nicht wahr sein. Er hat mir selbst bald darauf von der Geschichte erzählt. Ausgesehen hat er keineswegs wie ein Feigling, sondern wie ein Mann, der beim Boxen gehörig eingesteckt hat. Jedenfalls hätte er nicht davon gesprochen, wenn es so gewesen wäre, wie du sagst.«
»Soll keine Anklage sein«, unterbrach Jacob Welse sich hastig, als fürchtete er, zu viel gesagt zu haben. »Manchmal ist man nicht disponiert, ich habe gute Männer kneifen gesehen, die bei einer anderen Gelegenheit wie der Teufel losgegangen sind. Hören wir auf davon! Ich habe das Gefühl, dass ich dich auf festes Land führen wollte und selbst in den Sumpf geraten bin. Ich wollte dir vielleicht einen Rat geben, aber unsereins ist alt und plump, man soll besser die Hände von so zerbrechlichen Sachen lassen.«
»Ich weiß, wie gut du es gemeint hast, Daddy.«
Sie ließ sich auf seine Knie fallen und lag so zärtlich an seiner Brust, wie er es sein Leben lang nicht gefühlt hatte.
»Du guter Daddy, machst dir soviel unnütze Sorgen um mich.«
Dies war der letzte Augenblick, in dem er ihr das sagen konnte, was ihm eigentlich auf der Zunge lag:
»Was geht es uns an, Frona, uns beide, was die Welt sagt? Du bist eine Welse und hast deinen Kompass in der Brust, du brauchst nach Himmel und Hölle nicht zu fragen, wenn du etwas tust. Und wenn du es dir einfallen lässt, ganz ohne Kirche und Standesamt ein Kind zu bekommen, nur weil du eben ein Kind haben willst, dann wird es trotz allem ein Welse sein, und wir beide fragen den Henker danach, von wem es ist.«
Als die letzte Glut im Kamin zerfiel und die Wärme das Zimmer verließ, lag sie immer noch an seiner Brust. Er erzählte ihr, was sie eigentlich hören wollte, von ihrer Mutter, die ihr so heroisch das Leben gegeben hatte, von all den mutigen Welses, die vor ihm gelebt hatten, und von dem großen, einsamen Kampf bei Treasure City, in dem sein Vater den Tod gefunden.
*
Die lange vorbereitete Theatervorstellung fand statt und wurde ein so riesiger Erfolg, wie Dawson ihn höchstens einmal in jedem Jahre erlebte. St. Vincents Regiekunst war außer Zweifel. Er hatte aus all den ungefügen Menschen eine Art richtiger Schauspieler gemacht und schien selbst auf der Bühne ein Fachmann zu sein, kein Dilettant. Sie hatten »Nora« von Ibsen gespielt, nichts zum Lachen, sondern ein Stück, das die Menschen quälte und zugleich erhob. Unter seinem Einfluss, von seinem Talent mitgerissen, war Frona, die die Nora gab, weit über ihre Grenzen hinausgewachsen. Sie hatte Töne des Leides und der Leidenschaft gefunden, die jeden ergriffen.
Unter endlosem Beifall war der Vorhang gefallen. Dann sammelte Frau Sheffield die Honoratioren der Gesellschaft um sich und hielt die Kritik in so flammend begeisterten Ausdrücken, dass Jacob Welse sich ärgerte. Auch Dave Harney knurrte in das allgemeine Lob hinein, erstens sei das Stück wie vom Teufel gespielt worden, und zweitens sei es wirklich ein verdammt gutes Stück, und drittens hätte er schon, wer weiß wie lange, keinen so schönen Abend gehabt. Aber dann flüsterte er dem Polizeioffizier zu:
»So’n bisschen Schleiertanz hätte man schließlich auch gern gesehen. Und mehr Mädels, vor allem mehr Mädels! Und warum hat der Ibsen, oder wie der Bursche heißen mag, denn gar keine Schlager hineingedichtet?«
»Das hätte verdammt schlecht gepasst«, belehrte ihn Onkel Matt, der nicht hören konnte, dass man an irgendeiner Leistung Fronas Kritik übte. »Die Frona hat das so großartig gespielt«, sagte er, »so verdammt großartig, dass andere Mädels nur gestört hätten. Das gebe ich Ihnen schwarz auf weiß, wenn Sie es wollen.«
»Haben Sie Gummi gekauft?«
»Gummi?«
»Aber natürlich, was hab’ ich Ihnen denn geraten? Wenn das Tauwetter kommt, steigen die Gummistiefel ins Aschgraue, habe ich Ihnen gesagt. Dies Jahr kommen sie auf drei Unzen Gold das Paar, sonst fress’ ich alle alten Besen in Dawson City. Heute können Sie sie noch für eine Unze das Paar kaufen.«
»Der Teufel soll Sie und Ihre Gummischuhe holen!«
Aber damit war die Kunst für diesen Abend erledigt, und man sprach wieder von reelleren Dingen.
Gregory St. Vincent brachte Frona nach Hause. Als sie allein in der eiskalten Winterluft standen, schüttelte er sich, als müsste er alles abwerfen, was ihn da drin umgeben hatte, und sagte mit einem tiefen Seufzer: »Endlich!«
»Was endlich?«
»Endlich kann ich Ihnen sagen, wie wundervoll Sie die Nora gespielt haben! Vielleicht haben Sie Perlen vor die Säue geworfen, aber ich wenigstens war so ergriffen, dass ich selbst kaum weiterspielen konnte. Bei der großen Szene, in der Sie für immer aus meinem Dasein verschwinden …«
»… was war da?«
»Ja, da waren Sie nicht Nora, und ich war nicht Torwald, sondern wir waren Frona und Gregory. Wie Sie da auf einmal in Hut und Mantel vor mich treten und mit der Reisetasche in der Hand abgehen, da hat mir das Herz geblutet.«
Frona antwortete nicht. Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander. Der Zauber dieses Abends lag noch über ihnen; von der Begeisterung, mit der sie der Kunst gedient hatten, war noch etwas in ihrem Blut. Es war ein klarer Abend, nicht übermäßig kalt für zwei junge Menschen in dicken Wolfspelzen, die beide auf das Außen nicht achteten. Das Land lag ringsum in Licht gebadet, ein weiches Licht, dessen Quelle weder Stern noch Mond war. Am Horizont spannte sich von Südost nach Nordwest ein blassgrünes, leuchtendes Band; von ihm ging der matte Strahlenglanz aus. Plötzlich zeichnete sich, wie das Licht eines Scheinwerfers, ein Bündel weißer Strahlen auf dem nachtschwarzen Himmel. Für einen Augenblick war gespenstischer Tag; dann senkte sich noch tiefer die schwarze Nacht auf die Erde herab. Nur im Osten gärte es aus einem grünlichen, leuchtenden Nebelschleier, lichte Dämpfe brodelten empor, fielen wieder, als versuchten mächtige, körperlose Hände, den Äther an sich zu reißen. Einmal schoss eine zyklopische Rakete in feuriger Bahn vom Horizont bis zum Zenit empor und fiel wie in zitternder Flucht wieder auf die Erde herab.
Im Augenblick dieses flammenden Triumphes brach die Stille auf der Erde. Zehntausend Wolfshunde heulten zugleich all ihre Sehnsucht und ihren Hunger in die Luft. Frona schauerte zusammen. St. Vincent legte den Arm um sie. Jetzt jammerten die Wolfshunde nur noch leise, ihr Winseln war noch fürchterlicher als das einstimmige Klagegeheul. Es war, als ginge durch diese ganze Welt eine große unbezwingbare Furcht, als bebte aller Schmerz der Kreatur durch das Tal.
Frona legte sich fester in St. Vincents Arm und schloss die Augen. Da spürte sie die Furcht der Kreatur nicht mehr. Es zitterte in ihren Nerven von einem ganz neuen, fremden Gefühl, und das war Wonne.
»Muss ich noch Worte zu dir sprechen?« fragte er mit seiner tiefen Stimme, die eben erst alle Zuhörer im Theater entzückt hatte, und die jetzt so gedämpft, so ganz allein für sie klang.
»Nein, Gregory!«
*
»Ich kann dir so wenig bieten, Geliebte!« sagte der Mann, als er Frona bis zur Tür ihres Vaterhauses gebracht hatte. »Das unsichere Los eines immer wandernden Zigeuners …«
Sie nahm seine Hand, presste sie an ihr Herz und sprach die Worte, die eine große Frau vor ihr gesprochen hatte:
»Ein Zelt und eine Brotkruste, die ich mit dir teile! Damit werde ich immer glücklich sein!«
*
»Herein!«
Matt McCarthy drückte die Klinke herunter und öffnete die Tür und schloss sie sorgfältig wieder hinter sich.
»Ach, Sie sind’s!« St. Vincent betrachtete seinen Gast mit einem düsteren, zerstreuten Blick, dann aber nahm er sich zusammen und reichte ihm die Hand.
»Hallo, Matt, Alter! Meine Gedanken waren tausend Meilen weit von hier, als Sie kamen. Nehmen Sie sich einen Stuhl und machen Sie es sich bequem. Dort neben Ihnen steht Tabak. Versuchen Sie ihn und lassen Sie uns hören, was Sie wollen.«
»Ja, da hat er schon recht, dass seine Gedanken tausend Meilen weit von hier sind«, sagte Matt bei sich. Aber laut sagte er: »Nun ja, Sie waren wohl in süße Träume versunken. Und das ist ja auch kein Wunder.«
»Wieso?« fragte der Korrespondent heiter.
»Sie sind ein verfluchter Kerl, Vincent, und haben ein mächtiges Glück bei den Mädchen – darüber ist nicht zu streiten. Sie haben manchen Kuss im Vorbeigehen geschnappt und manches Herz gebrochen. Aber Vincent, mein Junge, haben Sie je das Richtige gekannt?«
»Wie meinen Sie das?«
»Das Richtige, das Richtige, das heißt – nun ja, sind Sie je Vater gewesen?«
St. Vincent schüttelte den Kopf.
»Ich auch nicht. Aber haben Sie je väterliche Liebe gefühlt?«
»Das weiß ich nicht recht. Ich glaube nicht.«
»Da haben wir’s ja. Und das ist das Richtige, sag’ ich Ihnen. Wenn ein Mann je ein Kind gesäugt hat, dann habe ich’s getan, oder doch jedenfalls so was Ähnliches. Es war ein Mädel, und jetzt ist sie ausgewachsen, und wenn möglich liebe ich sie noch mehr als ihr leiblicher Vater. Außer ihr habe ich leider nur eine einzige Frau getroffen, die ich hätte lieben können, und die war schon mit einem anderen verheiratet, als ich sie traf. Ich habe keinem Menschen je ein Wort davon gesagt, o nein, nicht einmal ihr selbst. Aber sie ist tot. Gott sei ihrer Seele gnädig.«
Das Kinn sank ihm auf die Brust, und seine Gedanken gingen zurück zu der blonden Frau, die sich einst wie ein Sonnenstrahl in die Hütte am Dyea-River verirrt hatte. Er blickte plötzlich auf und sah St. Vincent mit leeren Blicken vor sich hinstarren, als dächte er an ganz etwas anderes.
»Aber lassen Sie es jetzt genug sein mit den Dummheiten, Vincent.«
Der Korrespondent nahm sich zusammen, und er merkte, dass die kleinen blauen Augen des Iren sich in die seinen bohrten.
»Sind Sie ein tapferer Mann, Vincent?«
Eine Sekunde lang sahen sie sich an, als wollte einer die Seele des anderen erforschen. Und in dieser Sekunde hätte Matt schwören können, dass er es ganz leise in den Augen des anderen flackern sah. Triumphierend schlug er mit der Faust auf den Tisch, dass es klatschte. »Weiß Gott, das sind Sie nicht.«
Der Korrespondent zog die Tabakdose zu sich heran und drehte sich eine Zigarette. Er drehte sie sich mit großer Sorgfalt, und das feine Reispapier knisterte in seiner geübten Hand; dabei stieg ihm das rote Blut unter dem Hemdkragen empor und verbreitete sich, stärker an den Höhlungen und wieder schwächer an den Backenknochen, immer mehr über seine Wangen, bis sein Gesicht flammte.
»Das ist gut! Und vielleicht erübrigt sich dadurch, dass ich meine Finger mit einer ekelhaften Arbeit beschmutze. Vincent, das Mädel, das jetzt ausgewachsen ist, schläft diese Nacht in Dawson. Gott helfe uns, Ihnen und mir. Aber wir werden nie unsern Kopf so rein und unbeschmutzt wie sie auf das Kissen legen können. Vincent, ich will Ihnen einen vernünftigen Rat geben, strecken Sie nie die Hand nach ihr aus, weder mit noch ohne Segen der Kirche.
Sie sind mir unsympathisch. Meine Gründe behalte ich für mich, die sind ja auch einerlei. Aber hören Sie jetzt, was ich sage: Wenn Sie je so töricht sein sollten, sie zu Ihrer Frau zu machen, so werden Sie nie das Ende des verfluchten Tages sehen oder sich über den Anblick Ihres Brautbettes freuen. Mensch, ich könnte Sie mit meinen bloßen Fäusten erschlagen, wenn es nötig wäre. Aber ich hoffe, dass ich es ein wenig eleganter tue. Seien Sie ganz ruhig – das verspreche ich Ihnen.«
»Du irisches Schwein!« Ganz plötzlich war in St. Vincent der Teufel wach geworden.
McCarthy sah plötzlich in den Lauf eines Revolvers hinein. »Ist er geladen?« fragte er ruhig.
»Gewiss«, sagte St. Vincent zornig.
»Ich glaube Ihnen. Aber worauf warten Sie. Drücken Sie ab, hören Sie.«
Der Finger, der abdrücken sollte, bewegte sich, und ein verdächtiges Klicken ertönte.
»So ziehen Sie durch. Ziehen Sie durch!« sage ich. »Als ob Sie das könnten, bei dem Flackern in Ihren Augen.«
St. Vincent versuchte den Kopf abzuwenden.
»Sehen Sie mich an, Mann!« kommandierte McCarthy. »Sehen Sie mir in die Augen, wenn Sie es tun.« Wider Willen musste der Korrespondent den Kopf wieder drehen, sodass seine Augen denen des Irländers begegneten. »Jetzt!«
Zähneknirschend drückte St. Vincent ab – wenigstens glaubte er es zu tun. Sein Wille war bereit und gab den Befehl, aber die Angst in seiner Seele hielt ihn zurück.
»Wohl gelähmt, der arme, kleine, zitternde Finger, was?« grinste Matt dem gepeinigten Mann ins Gesicht. »Dann dreh ihn jetzt nach der anderen Seite, so, und leg ihn weg, vorsichtig … vorsichtig … vorsichtig.« Seine Stimme wurde zu einem knurrenden, beruhigenden Flüstern.