»Herr Richter«, sagte Watson am nächsten Tage zu dem Dorfrichter, einem wohlhabenden Farmer, der vor dreißig Jahren sein Examen an einer landwirtschaftlichen Hochschule gemacht hatte, »da dieser Sol Witberg sich veranlasst gesehen hat, mich wegen gewalttätigen Überfalls anzuzeigen, nachdem ich ihn wegen desselben Delikts angezeigt habe, beantrage ich, dass beide Sachen zusammengelegt werden. Zeugen und Tatsachen sind in beiden Sachen dieselben.«
Der Richter willigte ein, und die Verhandlung nahm ihren Anfang. Watson betrat als Angeklagter zuerst den Zeugenstand und machte seine Aussagen.
»Ich pflückte Blumen«, erklärte er. »Pflückte Blumen auf meinem eigenen Grund und Boden und witterte kein Unheil. Plötzlich sprang dieser Mann aus seinem Versteck hinter den Bäumen auf mich los. ›Ich bin Dodo‹, sagte er, ›und ich kann Hackfleisch aus dir machen. Hebe die Hände hoch!‹
Ich lächelte, aber im selben Augenblick schlug er zu, warf mich zu Boden und verdarb meine Blumen. Die Sprache, die er mir gegenüber führte, war entsetzlich. Es war ein ganz grundloser, brutaler Überfall. Sehen Sie nur meine Backe! Sehen Sie meine Nase! Ich konnte es überhaupt nicht begreifen. Er muss betrunken gewesen sein. Ehe ich mich von meiner Überraschung erholte, hatte er mir schon diesen Schlag zugefügt. Ich fühlte mein Leben bedroht und musste mich verteidigen. Das ist alles, Herr Richter, aber ich muss noch einmal gestehen, dass ich mich von meiner Überraschung gar nicht erholen kann. Warum hat er sich Dodo genannt? Warum hat er mich so leichtfertig angegriffen?«
Und so erhielt Sol Witberg eine gründliche Belehrung in der Kunst, einen Meineid zu schwören.
Er hatte oft auf seinem hohen Richterstuhl im Schnellgericht nachsichtig meineidigen Zeugenaussagen und erdichteten Geschichten gelauscht; aber zum ersten Mal richtete sich jetzt eine meineidige Aussage gegen ihn selbst, und diesmal saß er nicht mit Gerichtsdienern, Polizeiknüppeln und Gefängniszellen hinter sich auf dem Richterstuhl.
»Herr Richter«, rief er, »ich habe noch nie eine solche Sammlung von Lügen und einen so frechen Lügner gehört –«
Aber im selben Augenblick sprang Watson auf. »Herr Richter, ich protestiere. Es ist Sache des hohen Gerichtshofes, zwischen Wahrheit und Lüge zu unterscheiden. Der Zeuge hat nur über die wirklichen Geschehnisse auszusagen. Seine persönliche Meinung von den Dingen im Allgemeinen und von mir im besonderen hat nicht das geringste mit der Sache zu tun.«
Der Richter kratzte sich den Kopf und wurde aufgeregt, ohne jedoch seine Ruhe zu verlieren.
»Der Protest ist berechtigt«, entschied er. »Ich bin erstaunt, dass Sie, Herr Witberg, der Sie Richter und wohlbewandert in Gesetz und Recht sein wollen, sich eines so wenig korrekten Benehmens schuldig machen. Wir sind hier, um festzustellen, wer zuerst geschlagen hat, und Ihre Ansichten über den persönlichen Charakter des Herrn Watson interessieren uns nicht. Fahren Sie in Ihrer Darstellung fort.«
Sol Witberg würde sich vor Wut gern in seine zerschlagene und geschwollene Lippe gebissen haben, wenn es nicht so weh getan hätte, aber er beherrschte sich und erstattete einen klaren, aufrechten und wahren Bericht.
»Herr Richter«, sagte Watson. »Ich beantrage, ihn zu fragen, was er auf meinem Grund und Boden zu tun hatte.«
»Eine sehr berechtigte Frage. Was hatten Sie, mein Herr, auf Herrn Watsons Grund und Boden zu tun?«
»Ich wusste nicht, dass es sein Grund und Boden war.«
»Es war eine Übertretung meines gegen Unbefugte erlassenen Verbots, Herr Richter«, rief Watson. »Die entsprechenden Schilder sind in auffälliger Weise angebracht.«
»Ich habe kein solches Schild gesehen«, sagte Sol Witberg.
»Ich habe sie selbst gesehen«, warf der Richter grimmig ein. »Sie sind sehr auffällig. Und zur Warnung will ich Sie, mein Herr, wissen lassen, dass Sie, wenn Sie in solchen Kleinigkeiten leichtfertig mit der Wahrheit umgehen, Gefahr laufen, auch auf Ihre bedeutsameren Aussagen ein schlechtes Licht zu werfen. Warum haben Sie Herrn Watson geschlagen?«
»Herr Richter, wie ich unter Eid ausgesagt habe, habe ich ihm nicht einen einzigen Schlag gegeben.«
Der Richter betrachtete Carter Watsons zerschlagenes und geschwollenes Gesicht, wandte sich dann um und blickte Sol Witberg an.
»Sehen Sie die Backe des Mannes«, donnerte er. »Wenn Sie ihm keinen Schlag gegeben haben, wie kommt es dann, dass er so zugerichtet ist?«
»Wie ich unter Eid ausgesagt habe –«
»Nehmen Sie sich in acht!« warnte der Richter.
»Ich werde mich schon in acht nehmen. Ich gedenke nichts zu sagen als die reine Wahrheit. Er hat sich selbst mit einem Stein geschlagen. Er hat sich mit zwei verschiedenen Steinen geschlagen.«
»Ist es wahrscheinlich, dass irgendein Mensch, der nicht wahnsinnig ist, sich selber so zurichten soll, indem er die weichen, empfindlichen Teile seines Gesichts mit einem Stein zerschrammt?« fragte Carter Watson.
»Es klingt wie ein Märchen«, meinte der Richter. »Herr Witberg, hatten Sie getrunken?« – »Nein.«
»Trinken Sie nie?« »Gelegentlich.«
Der Richter dachte mit schlauer, tiefsinniger Miene über diese Antwort nach.
Watson benutzte die Gelegenheit, um Sol Witberg gemütlich anzublinzeln, aber dieser arg missbrauchte Herr sah nichts Humoristisches in der Situation.
»Sehr merkwürdig, sehr merkwürdig«, erklärte der Richter und ging daran, sein Urteil zu fällen.
»Die Aussagen der beiden Parteien widersprechen einander vollkommen. Außer den beiden Hauptpersonen sind keine Zeugen vorhanden. Jeder behauptet, dass der andere ihn überfallen hat, und ich bin außerstande, rechtsgültig zu entscheiden, wer von Ihnen die Wahrheit spricht. Aber ich habe meine persönliche Ansicht, Herr Witberg, und ich möchte Ihnen raten, sich in Zukunft von Herrn Watsons Grund und Boden und überhaupt aus dieser Gegend fernzuhalten –«
»Das ist eine Beleidigung!« brauste Witberg auf.
»Setzen Sie sich«, donnerte der Richter ihn an. »Wenn Sie das Gericht noch einmal auf diese Weise unterbrechen, nehme ich Sie in Strafe wegen achtungswidrigen Benehmens, und ich sage Ihnen jetzt schon, dass ich Sie streng bestrafen werde! Sie sind selbst Richter und müssten die Achtung kennen, die die Würde des Gerichts fordert. Und jetzt fälle ich mein Urteil: Es ist ein Grundsatz des Gesetzes, dass der Zweifel dem Angeklagten zugute kommt. Wie schon gesagt, bin ich nicht imstande, rechtsgültig zu entscheiden, wer zuerst geschlagen hat. Deshalb bin ich zu meinem größten Bedauern –« hier machte er eine Pause und starrte Sol Witberg an – »genötigt, in beiden Fällen dem Angeklagten den herrschenden Zweifel zugute kommen lassen zu müssen. Meine Herren; Sie sind freigesprochen.«
»Lassen Sie uns darauf einen genehmigen«, sagte Watson zu Witberg, als sie den Gerichtssaal verließen. Der bestürzte Mann aber weigerte sich, Arm in Arm mit ihm in die nächste Gastwirtschaft zu gehen.
Der Tisch war aus ungehobelten Brettern verfertigt, und es wurde daher den Männern, die an ihm saßen und spielten, oft schwer genug, ihre Stiche auf der rauen Fläche einzuheimsen. Obgleich alle in Hemdsärmeln dasaßen, perlte doch der Schweiß auf ihren Gesichtern, was indessen nicht verhinderte, dass ihre Füße, die in Mokassins und dicke, wollene Strümpfe gehüllt waren, vor Kälte schmerzten. So groß war der Temperaturunterschied zwischen der Luft am Fußboden und der höher im Raum, obwohl die Decke niedrig war. Der gusseiserne Yukonofen glühte und summte, aber auf dem Fleischgerüst, das nur acht Fuß von ihm unten am Fußboden neben der Tür angebracht war, lagen große Stücke Elchfleisch und Bacon, die völlig gefroren waren. Das unterste Drittel der Tür war mit einer dicken Eiskruste bedeckt. Durch die Ritzen zwischen den Planken hinter den Betten sah man den weißglitzernden Schnee draußen. Ein Fenster aus Ölpapier ließ das Licht herein. Den unteren Teil des Papiers hatte der Atem der Männer auf der Innenseite einen Zoll dick mit gefrorener Feuchtigkeit beschlagen.
Sie spielten einen höchst spannenden Rubber-Whist,1 denn das Paar, das ihn verlor, hatte durch die sieben Fuß dicke Eis- und Schneekruste des Yukons ein Loch zum Fischen zu bohren.
»Es ist auch verflucht selten, dass wir im März solche Kälte haben«, bemerkte der Mann, der gerade mischte. »Wie viel meinst du, sind es heute, Bob?«
»Na, fünfundfünfzig bis sechzig Grad unter Null, denke ich. Mehr nicht. Was meinen Sie, Doktor?«
Der Doktor wandte den Kopf und betrachtete den unteren Teil der Tür mit einem prüfenden Blick.
»Nicht um ein Tüttelchen mehr als fünfzig Grad. Wenn das nicht genau stimmen sollte, so ist es eher ein bisschen wärmer – neunundvierzig vielleicht! Guckt euch das Eis an der Tür an. Es ist gerade bei der Marke für fünfzig Grad angelangt, aber der obere Rand ist, wie ihr seht, nicht ganz regelmäßig. Als es seinerzeit siebzig Grad waren, stieg das Eis um vier Zoll höher.« Er nahm seine Karten, und während er sie sortierte, rief er, als an die Tür geklopft wurde, laut »Herein!«
Der Mann, der jetzt eintrat, war ein großer, breitschultriger Schwede. Freilich erkannte man seine Nationalität erst, als er seine Mütze mit den Ohrenklappen abgenommen und das Eis aufgetaut hatte, das sich in seinem Bart gebildet und sein Gesicht unkenntlich gemacht hatte. Unterdessen spielten die Männer ruhig weiter.
»Ich hab’ gehört, dass es einen Doktor hier in diesem Lager gibt«, sagte der Schwede fragend und sah ängstlich von einem zum anderen. Sein Gesicht war abgemagert und durch andauernde starke Schmerzen verzerrt. »Ich habe einen weiten Weg hinter mir. Ich komme aus der Gegend nördlich von Whyo.«
»Ich bin der Doktor! Was ist denn mit Ihnen los?«
Als Antwort hob der Mann seine linke Hand, deren Zeigefinger furchtbar angeschwollen war. Gleichzeitig begann er eine weitschweifige, ziemlich unzusammenhängende Geschichte über Zeit und Art seines Unfalls zu erzählen.
»Zeigen Sie mal her«, unterbrach ihn der Doktor ungeduldig. »Legen Sie den Finger auf den Tisch. Hier, so!«
Vorsichtig gehorchte der Mann, als sei es ein gefährliches Geschwür.
»Hm«, knurrte der Doktor. »Eine Sehnenzerrung. Und dreihundert Meilen sind Sie gereist, um den Dreck in Ordnung zu kriegen. Ich werde Sie im Handumdrehen kurieren. Passen Sie gut auf, wie ich es mache, dann können Sie es das nächste Mal selber.«
Ohne den Mann gewarnt zu haben, schlug der Arzt mit der Handkante auf den geschwollenen Finger. Der Schwede stieß einen Ruf der Verblüffung und des Schmerzes aus. Es klang eher wie der Schrei eines wilden Tieres, und sein Gesichtsausdruck war so erregt und wütend, als wollte er sich auf den Mann stürzen, der sich diesen Spaß erlaubt hatte.
»Schon in Ordnung«, erklärte der Doktor in scharfem, gebieterischem Ton. »Wie fühlen Sie sich jetzt? Besser, nicht wahr? Selbstverständlich! Das nächste Mal können Sie es selber. Sie geben, Stroters. Ich glaube, die Reihe ist an Ihnen.«
Der Stier von einem Schweden begriff anscheinend schwer. Erst allmählich wurde ihm das Geschehene klar, und er beruhigte sich. Der stechende Schmerz war vorbei, der Finger fühlte sich schon besser an. Er tat auch nicht mehr weh. Er betrachtete neugierig den Finger, seine Augen waren voller Staunen, und er bewegte die Hand hin und her. Dann steckte er sie in die Tasche und holte seinen Geldbeutel hervor.
»Wie viel?«
Der Arzt schüttelte ungeduldig den Kopf. »Nichts, ich praktiziere im Augenblick nicht – Sie spielen aus, Bob!«
Der Schwede trat schwerfällig von einem seiner riesigen Füße auf den anderen, besah sich den Finger wieder und wandte sich dann mit einem bewundernden Blick an den Doktor.
»Sie sind ein guter Mensch. Wie heißen Sie?«
»Linday, Dr. Linday«, antwortete Stroters kurz, als wollte er seinen Spielgegner nicht noch mehr reizen.
»Der Tag ist ja schon halb vorbei«, sagte Dr. Linday zu dem Schweden, als das Spiel fertig war und er die Karten zu mischen begann. »Es ist besser, Sie bleiben die Nacht über hier. Es ist zu kalt zum Fahren heute. Drüben ist eine Reservekoje.«
Er war ein schlanker, dunkelhaariger Mann mit hagerem Gesicht und dünnen Lippen und kräftig gebaut. Sein glattrasiertes Gesicht war blass, aber gesund. Alle seine Bewegungen waren schnell und entschieden. Er suchte nicht, wie die anderen, in seinen Karten. Seine schwarzen Augen hatten einen offenen, scharfen Blick, der den Eindruck machte, als könnte er die Oberfläche aller Sachen durchdringen. Seine Hände waren schlank, fein und nervig. Sie schienen für Arbeiten geschaffen, die Zartheit und feines Empfinden erforderten, und machten dabei doch selbst auf den unerfahrensten Beobachter einen Eindruck von Kraft.
»Gewonnen«, sagte er, als er den letzten Stich einstrich. »Jetzt gilt es den Rubber, und wer das Loch ins Eis machen muss.«
Ein energisches Klopfen an der Tür hatte einen schnellen Ausruf von ihm zu Folge.
»Wir sollen, scheint’s, nie mit diesem Rubber fertig werden«, sagte er, als die Tür sich öffnete. »Was bringen Sie denn?« Diese letzten Worte galten einem Fremden, der soeben eintrat.
Der Ankömmling bemühte sich vergeblich, die Eiskruste von Wangen und Kinn zu entfernen. Es war deutlich zu sehen, dass er lange Stunden und Tage unterwegs gewesen war. Die Haut über den Backenknochen war infolge mehrfacher Erfrierungen schwarz geworden. Das Gesicht war von der Nase bis zum Kinn mit Eis bedeckt. Ein Loch, das sein warmer Atem darin geschmolzen hatte, zeigte, wo sein Mund sein musste. Durch dieses Loch hatte er Kautabaksoße gespien, die, sobald sie den Mund verließ, gefroren war. Es sah deshalb aus, als ob er einen ambrafarbenen Van-Dyck-Bart trüge. Aber es war nur der gefrorene Tabaksaft.
Ohne ein Wort zu sprechen, schüttelte er den Kopf, lächelte freundlich mit den Augen und schob sich näher an den Ofen heran, um sich dort den Mund aufzutauen und dann sein Anliegen vorbringen zu können. Dieses Vorhaben verschaffte ihm reichliche Verwendung für seine Finger, mit denen er sich ganze Eisstücke aus dem Bart riss, die er auf den Ofen warf, wo sie knisterten und zischten.
»Ich bringe gar nichts«, erklärte er schließlich. »Wenn es hier im Lager aber einen Doktor gibt, so brauche ich ihn trotzdem. Am Kleinen Peco liegt ein Mann, der einen Zusammenstoß mit einem Panther gehabt hat, und das Biest ist dabei ganz ruppig mit ihm umgegangen.«
»Ist es weit von hier?« fragte Doktor Linday.
»Na – hundert Meilen mindestens.«
»Und wie lange ist es her?«
»Ich bin drei Tage unterwegs gewesen.«
»Schlimm?«
»Die Schulter ist ausgerenkt. Und einige Rippen sind totsicher gebrochen. Der rechte Arm auch. Und das Fleisch ist fast am ganzen Körper – außer dem Gesicht – bis zu den Knochen abgerissen. Zwei oder drei Stellen haben wir ihm notdürftig zusammengenäht und die Arterien mit Bindfaden abgebunden.«
»Das wird schön sein«, knurrte Linday spöttisch. »Wo sind die Stellen denn?«
»Am Bauch.«
»Dann ist er schon erledigt.«
»Nein, so wahr ich lebe. Wir haben alles, bevor wir ihn nähten, mit desinfizierenden Mitteln gebeizt. Nur bis auf weiteres natürlich. Wir hatten eben nichts anderes als gewöhnlichen Bindfaden, aber wir haben ihn wenigstens gewaschen.«
»Er ist so gut wie tot«, erklärte Dr. Linday, während er ärgerlich mit den Karten herumhantierte.
»Keine Rede davon. Der Mann wird nicht sterben. Er weiß, dass ich den Doktor hole, und wird schon dafür sorgen, dass er noch am Leben ist, wenn ich wiederkomme. Er denkt nicht daran, zu sterben. Ich kenne ihn.«
»Christian Science und kalter Brand, nicht wahr?« knurrte der Arzt. »Nun, ich praktiziere überhaupt nicht. Und außerdem sehe ich nicht ein, warum ich bei einer Temperatur von fünfzig Grad unter Null wegen eines toten Mannes hundert Meilen weit fahren sollte.«
»Aber ich sehe es ein. Es handelt sich um einen Mann, der gar nicht daran denkt, zu sterben …«
Linday schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, dass Sie den weiten Weg umsonst gemacht haben. Es ist besser, Sie bleiben die Nacht über hier.«
»Ausgeschlossen. In zehn Minuten fahre ich ab.«
»Wieso sind Sie Ihrer Sache denn so sicher?« fragte Linday mürrisch.
Und dann kam der Augenblick, da Tom Daw die längste und beste Rede seines Lebens hielt.
»Weil er am Leben bleiben wird, bis Sie kommen, und wenn es eine Woche dauern sollte, Sie zu überreden. Und weil seine Frau bei ihm ist. Und sie heult nicht und weint nicht, sondern hilft ihm ganz still, am Leben zu bleiben, bis Sie kommen. Sie haben einander mächtig lieb, und sie hat genau so einen Willen wie er. Wenn er abfahren wollte, würde sie einfach ihre unsterbliche Seele in seine hineinpusten und ihn wieder lebendig machen. Obgleich es ihm ja gar nicht so schlecht gehen wird. Aber Sie können darauf schwören, dass sie es tun würde. Ich gehe jede Wette ein. Ich halte drei gegen eins, in reinem Gold, dass er noch am Leben ist, wenn Sie hinkommen. Ich habe ein frisches Gespann am Ufer. Sie müssen in zehn Minuten zum Abfahren fertig sein. Und ich glaube, wir brauchen nicht mal drei Tage für die Fahrt, weil der Schnee auf meiner Fährte schon festgefahren ist. Ich gehe jetzt zu den Hunden; in zehn Minuten komme ich und hole Sie ab.«
Tom Daw band sich wieder die Ohrenklappen herunter, zog sich die Fäustlinge an und verschwand.
»Der Teufel soll ihn holen!« rief Dr. Linday und warf einen rachsüchtigen Blick nach der geschlossenen Tür.
Erst lange nach Eintritt der Dunkelheit schlugen Dr. Linday und Tom Daw am selben Abend ihr erstes Lager auf. Sie hatten bereits fünfundzwanzig Meilen zurückgelegt. Das Lagern war eine sehr einfache Sache. Sie machten Feuer im Schnee, neben das Feuer legten sie ihre Schlafsäcke auf eine Unterlage von Fichtenzweigen. Hinter diesem provisorischen Bett wurde ein großes Stück Leinwand aufgehängt, um die Wärme des Feuers zurückzuwerfen. Daw gab den Hunden zu fressen und schlug Eis und Brennholz. Lindays Wangen brannten von der Kälte, als er am Kochtopf hockte. Sie aßen reichlich, rauchten eine Pfeife und plauderten miteinander, während sie ihre Mokassins am Feuer trockneten. Dann krochen sie in ihre Schlafsäcke, um den traumlosen Schlaf der Müden und Gesunden zu schlafen.
Am nächsten Morgen war die ungewöhnliche Kälte vorbei. Linday schätzte die Temperatur auf fünfzehn Grad unter Null, und sie schien sogar noch zu steigen. Daw wurde von schwerer Sorge gequält. Sie würden noch am selben Tag den Cañon erreichen, erklärte er, wenn aber der Frühling mit seinem Tauwetter schon jetzt einsetzte, würde der Cañon mit offenem Wasser gefüllt sein. Die Wände der Schlucht seien indessen nicht weniger als zwischen hundert und tausend Fuß hoch. Man könne sie natürlich besteigen, aber es sei eine verdammt langweilige Arbeit, die viel Zeit erfordere.
Als sie an diesem Abend in der dunklen, unheimlichen Schlucht lagerten und ihre Pfeife rauchten, klagten sie über die Wärme und waren sich einig, dass das Thermometer über Null stehen müsste … und zwar zum ersten Mal seit sechs Monaten.
»Man hat noch nie so weit im Norden etwas von Panthern gehört«, erzählte Daw. »Rocky nannte ihn einen Kuguar. Aber ich habe viele in Curry County geschossen – in Oregon, wo ich her bin, und da nannten wir sie immer Panther. Jedenfalls war es eine größere Katze, als ich je eine gesehen habe. Es war ein richtiges Ungetüm von Katze. Jetzt bleibt nur die Frage übrig, wie, zum Teufel, sie auf einen solchen Jagdausflug abseits von allen gewohnten Pantherwegen gekommen war? Das ist die Frage …«
Linday bemerkte nichts hierzu – er nickte nur zustimmend. Seine Mokassins waren auf kleine Stöcke gehängt und dampften, ohne dass er darauf achtete und sie umdrehte. Die Hunde lagen zusammengekauert wie pelzbekleidete Bälle da und schliefen. Das Knistern der glühenden Scheite machte die überall herrschende Stille nur noch tiefer. Der Doktor erwachte plötzlich aus seinen Träumen und starrte Daw an, der ebenfalls nickte und den fragenden Blick beantwortete. Beide lauschten. Aus weiter Ferne ertönte ein undeutliches Geräusch, das allmählich zu einem gewaltigen, unheimlichen Brüllen anschwoll. Es kam immer näher, es stieg und nahm zu, es hallte von den Gipfeln der Berge und aus den Tiefen der Schluchten wider, der Wald neigte sich unter dem mächtigen Tosen, die schlanken Fichten, deren Wurzeln aus den Spalten in den Wänden des Cañons herauslugten, beugten sich zitternd. Da erkannten sie, was es war. Ein starker und balsamischer Wind wehte zu ihnen herüber und schleuderte glühende Partikel aus dem Feuer wie Sternschnuppen in die milde Luft. Die Hunde erwachten, setzten sich auf und begannen, die schwarzen Schnauzen zum Himmel gehoben, wie Wölfe zu heulen.
»Der Chinook«, sagte Daw.
»Das heißt, denke ich, dass der Weg auf dem Fluss gefährdet ist?«
»Ganz recht. Und zehn Meilen auf dem Fluss sind leichter als eine Meile über die Berge.« Daw blickte Linday eine lange Minute prüfend an. »Wir hätten noch genau fünfzehn Stunden zu gehen«, rief er mit einer Stimme, die den Wind überschrie. Er wartete einen Augenblick auf Antwort. Dann sagte er schließlich: »Doktor – machen Sie mit?«
Statt zu antworten, klopfte Linday seine Pfeife aus und begann sich die dampfenden Mokassins anzuziehen. Es dauerte nur wenige Minuten, so hatten sie, unter dem Druck des Sturmes gebeugt, die Hunde angeschirrt, das Lager abgebrochen und das Kochgerät und die unbenutzten Schlafsäcke auf dem Schlitten verstaut. Dann bogen sie in der Dunkelheit auf den Weg ein, den Daw vor fast einer Woche getreten hatte. Sie hatten eine lange nächtliche Wanderung vor sich. Und immerfort hörten sie den Chinook brüllen und hetzten die müden Hunde und spornten ihre eigenen erschöpften Muskeln an. Zwölf Stunden hielten sie durch. Dann machten sie halt und frühstückten, nachdem sie vierundzwanzig Stunden lang ununterbrochen auf den Beinen gewesen waren.
»Eine Stunde können wir schlafen«, sagte Daw, nachdem sie dicke Streifen Elchfleisch, die mit Räucherspeck gebraten waren, pfundweise verzehrt hatten.
Er ließ seinen Begleiter zwei Stunden schlafen, selbst fürchtete er sich, die Augen zu schließen. Er hielt sich wach, indem er in dem weichen, schon schmelzenden Schnee zeichnete. Im Laufe dieser beiden Stunden sank der Schnee um drei Zoll. Man konnte das Sinken geradezu sehen. Von allen Seiten kam – schwach aus der Ferne, stark in der Nähe – das Geräusch der bisher verborgenen Gewässer, die jetzt hervorsickerten und sich einen Weg bahnten. Trotz dem Brüllen des Frühlingswindes hörte man sie. Der Kleine Peco, der durch viele andere noch kleinere Flüsse Zuwachs erhielt, erhob sich gegen den Zwang des Winters und zersprengte unter Krachen und Knallen das Eis.
Daw berührte Lindays Schulter. Er berührte sie noch einmal. Schüttelte. Und schüttelte noch kräftiger.
»Doktor«, murmelte er voller Bewunderung. »Ich räume ohne weiteres ein, dass Sie gut laufen können.«
Die müden schwarzen Augen unter den schweren Lidern nahmen das Kompliment an.
»Aber darum handelt es sich jetzt nicht! Rocky ist ganz niederträchtig verschandelt worden. Wie ich Ihnen vorher sagte: Ich habe geholfen, ihm die Eingeweide zusammenzunähen, Doktor!« Er schüttelte den Mann, dessen Augen sich schon wieder geschlossen hatten. »Ich sage Ihnen, Doktor. Es handelt sich jetzt nur darum, ob Sie imstande sind weiterzugehen? Hören Sie, was ich sage? Ich frage, ob Sie imstande sind, weiterzugehen?«
Die müden Hunde schnappten nach ihnen und winselten, als sie in ihrem Schlaf gestört wurden. Es ging nur langsam vorwärts. Mehr als zwei Meilen in der Stunde schafften sie nicht, und die Tiere nahmen jede Pause wahr, um sich in den nassen Schnee zu legen.
»Noch zwanzig Meilen, und wir haben die Schlucht hinter uns«, ermunterte Daw seinen Begleiter. »Und wenn wir so weit sind, kann das Eis meinetwegen zum Teufel gehen. Dann können wir am Ufer weitermarschieren und haben nur noch zehn Meilen bis zum Lager, sind also schon beinah da, Doktor! Und wenn Sie Rocky zusammengekleistert haben, können Sie mit einem Kanu in einem Tage zurück sein.«
Aber das Eis wurde immer unsicherer unter ihren Füßen, es begann sich vom Ufer loszureißen und hob sich Zoll um Zoll. An einigen Stellen hielt es noch am Ufer fest; dann lag aber schon Wasser darüber, und sie mussten hindurchwaten. Der Kleine Peco knurrte und murrte. Spalten und Risse bildeten sich überall, während sie sich Meile um Meile vorwärts kämpften, von denen jede einzelne zehn Meilen über die Berge entsprach.
»Legen Sie sich auf den Schlitten, dann können Sie ein bisschen schlafen, Doktor«, meinte Daw.
Der Blick aus den schwarzen Augen verbot ihm, die freundliche Aufforderung zu wiederholen.
Schon gegen Mittag erhielten sie eine Warnung, dass das Ende sich näherte. Eisschollen, die von der rasenden Strömung abwärts geschoben wurden, begannen unter dem Eis, auf dem sie gingen, zu donnern und zu toben. Die Hunde winselten ängstlich und strebten nach dem Ufer.
»Das heißt offenes Wasser weiter oben«, erklärte Daw. »Bald wird irgendwo Packeis kommen, und dann wird der Fluss im Laufe von hundert Minuten um hundert Fuß steigen. Jetzt gilt es für uns, die Hänge zu erklimmen, wenn es uns überhaupt gelingt, eine Stelle zu finden, wo wir aus dieser Mausefalle entschlüpfen können. Na, nur los! Jetzt haben wir die Schweinerei – und da hatte man nun geglaubt, dass der Yukon noch einige Wochen halten würde.«
An dieser Stelle war die Schlucht außergewöhnlich eng, und ihre Wände waren so schroff, dass man sie nicht erklimmen konnte. Daw und Linday mussten deshalb weitergehen – und das taten sie auch, bis die Katastrophe über sie hereinbrach. Mit einem mächtigen Knall zerbarst das Eis unter ihren Füßen und dem Gespann. Die beiden Tiere, die in der Mitte des Geschirrs gingen, stürzten in den Spalt, und die Strömung riss ihre Körper mit solcher Kraft mit, dass sie auch den Leithund ins Wasser zogen. Und als die drei Körper unter der Eiskruste den Strom hinabgezogen wurden, wurden auch die beiden letzten winselnden Hunde, die noch übriggeblieben waren, fortgerissen. Die Männer hielten aus allen Kräften den Schlitten zurück, aber auch sie wurden langsam mitgezogen. Das alles spielte sich im Laufe weniger Sekunden ab. Daw durchschnitt die Sielen des letzten Hundes mit seinem Fahrtenmesser, und das unglückliche Tier schoss über den Eisrand ins Wasser und verschwand. Die Eisfläche, auf der sie standen, zerbrach und wurde zu einer großen, rotierenden Scholle, die gegen das Eis und die Klippen am Ufer geschleudert und dort zersplittert wurde. Aber es gelang ihnen doch noch, den Schlitten ans Land zu ziehen und in Sicherheit zu bringen, unmittelbar bevor die Eisscholle, auf der sie gestanden hatten, umkippte, sank und unter dem Packeis aus ihrem Gesichtskreis verschwand.
Aus Fleisch und Schlafsäcken machten sie jetzt große Bündel und ließen den Schlitten zurück. Linday ärgerte sich, dass Daw das größere Bündel nahm, aber Daw setzte seinen Willen durch.
»Sie müssen, sobald wir da sind, an die Arbeit. Nur weiter!«
Es war gegen ein Uhr nachmittags, als sie zu klettern begannen. Um acht Uhr abends hatten sie den Kamm erreicht, und die nächste halbe Stunde blieben sie liegen, wo sie hingesunken waren. Dann machten sie Feuer, setzten den Kaffeetopf auf und verschlangen eine ungeheure Menge Elchfleisch. Vorher aber hatte Linday die beiden Bündel gehoben und dabei festgestellt, dass das seine um die Hälfte leichter war als dasjenige Daws.