Jack London – Gesammelte Werke

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Sie schmieg­te sich en­ger an Bil­ly, und ihre Hand, die sie un­ter sei­nen Arm ge­steckt hat­te, such­te die sei­ne.

»Ach, Bil­ly«, seufz­te sie. »Ich wür­de vor Freu­de ster­ben, wenn ich an ei­nem sol­chen Ort woh­nen könn­te.« Und als der Film zu Ende war, sag­te sie: »Wir ha­ben noch sehr viel Zeit, ehe das Thea­ter an­fängt. Lass uns blei­ben und den Bau­ern­hof noch ein­mal se­hen.«

Sie blie­ben sit­zen und sa­hen die gan­ze Vor­stel­lung noch ein­mal, und als sie zu der Sze­ne im Bau­ern­hof ka­men, wur­de Sa­xon im­mer be­geis­ter­ter, je län­ger sie sie sah. Dies­mal er­fass­te sie noch mehr Ein­zel­hei­ten. Sie sah die Fel­der um den Hof, die wel­len­för­mi­gen Hü­gel im Hin­ter­grund, den be­wölk­ten Him­mel. Sie er­kann­te ei­ni­ge von den Hüh­nern wie­der, na­ment­lich ein al­tes, auf­säs­si­ges Huhn, das böse war, weil die Sau es mit ih­rem Rüs­sel fort­schob. Sa­xon ließ den Blick wie­der über die Fel­der bis zu den Hö­hen und zum Him­mel schwei­fen und at­me­te den großen, frei­en Raum und die Zufrie­den­heit ein, die dar­über ruh­te. Ihre Au­gen füll­ten sich mit Trä­nen, und sie wein­te still vor lau­ter Freu­de.

»Und jetzt weiß ich auch, wo wir hin­wol­len, wenn wir Oa­k­land ver­las­sen«, sag­te sie.

»Wo­hin denn?«

»Dor­thin.«

Er sah sie an und folg­te dann der Rich­tung ih­res Blicks, der sich im­mer noch auf die Lein­wand hef­te­te.

»So«, sag­te er und füg­te nach kur­z­em Be­den­ken hin­zu: »Nun ja, warum nicht?«

»Ach, Bil­ly willst du wirk­lich?«

Ihre Lip­pen beb­ten, so eif­rig war sie, und ihre Stim­me zit­ter­te so stark, dass er ihr lei­ses Flüs­tern kaum hö­ren konn­te.

»Aber ge­wiss«, sag­te er. Es war ihr großer Tag, und er woll­te mit kö­nig­li­cher Frei­ge­big­keit schen­ken. »Was du dir wünschst, sollst du ha­ben, und wenn ich mir die Nä­gel von den Fin­gern ar­bei­ten muss, um es dir zu ge­ben. Und ich habe selbst im­mer große Lust ge­habt, auf dem Lan­de zu woh­nen.«

*

Es war früh am Abend, als sie an der Ecke der Pine Street auf dem Heim­weg vom Bell Thea­ter aus der Stra­ßen­bahn stie­gen. Zu­erst mach­ten sie ge­mein­sam Ein­käu­fe, und dann trenn­ten sie sich an der Ecke – Sa­xon soll­te heim­ge­hen und das Abendes­sen be­rei­ten, und Bil­ly woll­te nach den Ka­me­ra­den, den strei­ken­den Fuhr­leu­ten, se­hen, die in dem Mo­nat, den er aus al­lem her­aus­ge­we­sen war, ge­treu­lich wei­ter­ge­kämpft hat­ten.

»Nimm dich in acht, Bil­ly«, rief sie ihm nach.

»Ge­wiss«, sag­te er und blick­te zu­rück.

Ihr Herz klopf­te hef­tig, als sie sein Lä­cheln sah. Das war das alte, un­be­fleck­te, ver­lieb­te Lä­cheln, das sie stets auf sei­nem Ge­sicht zu se­hen ge­wünscht, das Lä­cheln, das sich zu be­wah­ren, sie – be­waff­net mit ih­rem ei­ge­nen Wis­sen und dem, das Mer­ce­des ihr ge­schenkt hat­te – bis zum äu­ßers­ten kämp­fen woll­te. Der Ge­dan­ke hieran flog ihr durch den Kopf, und mit ei­nem stol­zen klei­nen Lä­cheln er­in­ner­te sie sich all der hüb­schen klei­nen Din­ge, die sie da­heim im Toi­let­ten­tisch und in der Kom­mo­de ver­wahr­te.

Drei­vier­tel Stun­den war­te­te Sa­xon, der Abend­tisch war ge­deckt, nur die Lamm­ko­te­let­te fehl­ten noch, die sie erst auf­set­zen woll­te, wenn sie Bil­ly kom­men hör­te. Da wur­de die Gar­ten­pfor­te zu­ge­schla­gen, aber statt sei­ner hör­te sie das wir­re Durchein­an­der vie­ler Stim­men. Sie flog zur Tür. Es war Bil­ly, der vor ihr stand, aber ein Bil­ly weit ver­schie­den von dem Bil­ly, von dem sie sich erst vor kur­z­em ver­ab­schie­det hat­te. Ne­ben ihm ging ein klei­ner Jun­ge, der sei­nen Hut hielt. Sein Ge­sicht war frisch ge­wa­schen oder viel­mehr mit Was­ser über­gos­sen, denn sein Hemd und sei­ne Schul­tern wa­ren nass. Sein hel­les Haar war feucht und kleb­te am Kopf, hie und da si­cker­te Blut hin­durch und mach­te es dun­kel. Bei­de Arme hin­gen kraft­los her­ab, aber sein Ge­sicht war ru­hig, und er lach­te.

»Mach dir nichts dar­aus«, sag­te er be­ru­hi­gend zu Sa­xon. »Ich habe mich zum Nar­ren ge­macht. Ein biss­chen be­schä­digt, aber im­mer noch be­reit, es mit je­dem auf­zu­neh­men.« Er trat vor­sich­tig in die Stu­be. »Kommt, Ka­me­ra­den, wir sind eine schö­ne Ge­sell­schaft von Schwach­köp­fen.«

Hin­ter ihm her ka­men der klei­ne Jun­ge mit sei­nem Hut, Bud Stro­ters, noch ein Kut­scher, den sie kann­te, und zwei Frem­de. Die Frem­den wa­ren große, bar­sche, dumm drein­schau­en­de Män­ner, und sie starr­ten Sa­xon an, als ob sie sich vor ihr fürch­te­ten.

»Hab kei­ne Angst, Sa­xon«, sag­te Bil­ly wie­der. Aber Bud Stro­ters un­ter­brach ihn.

»Zu­erst müs­sen wir ihn ins Bett le­gen und ihm die Klei­der ab­schnei­den. Ihm sind bei­de Arme ge­bro­chen, und hier sind die Idio­ten, die es ge­tan ha­ben.«

Er zeig­te auf die bei­den Frem­den, die vor lau­ter Ver­le­gen­heit mit den Fü­ßen scharr­ten und düm­mer als je aus­sa­hen.

Bil­ly setz­te sich aufs Bett, und wäh­rend Sa­xon die Lam­pe hielt, be­gan­nen Bud und die bei­den Frem­den, ihm Rock, Hemd und Un­ter­ja­cke ab­zu­schnei­den.

»Er woll­te nicht ins Kran­ken­haus«, sag­te Bud zu Sa­xon.

»Nein, ich den­ke nicht dar­an«, er­klär­te Bil­ly. »Ich ließ sie nach Dok­tor Hent­ley schi­cken. Er kann je­den Au­gen­blick kom­men. Die­se bei­den Arme sind al­les, was ich auf der Welt habe.«

»Aber wie ist es denn zu­ge­gan­gen?« frag­te Sa­xon und sah von Bil­ly auf die bei­den Frem­den – of­fen­bar au­ßer­stan­de, das freund­schaft­li­che Ver­hält­nis zwi­schen ih­nen zu ver­ste­hen.

»Ach, es ist nicht ihre Schuld«, ant­wor­te­te Bil­ly schnell. »Sie mein­ten es gut. Sie sind Fuhr­leu­te aus San Fran­zis­ko, die ge­kom­men sind, um uns zu hel­fen.«

Es sah aus, als be­leb­ten sich die bei­den Kut­scher bei die­ser Be­mer­kung Bil­lys ein we­nig, und sie nick­ten.

»Ja«, sag­te der eine mit tiefer, hei­se­rer Stim­me. »Wir ha­ben uns ge­irrt – ja, wir ha­ben uns schön bla­miert.«

Sa­xon war nicht auf­ge­regt. Was ge­sche­hen war, hat­te sie nur er­war­ten kön­nen. Es ent­sprach al­lem, was Oa­k­land ihr und den Ihren schon an­ge­tan hat­te, und au­ßer­dem war Bil­ly nicht ge­fähr­lich ver­letzt. Arm­brü­che und ein Loch im Kopf wa­ren Din­ge, die bald heil­ten. Sie hol­te Stüh­le und bat alle, sich zu set­zen.

»Aber jetzt er­zählt mir, was ge­sche­hen ist«, bat sie. »Ich ver­ste­he nicht ein Wort von der gan­zen Ge­schich­te. Wie hängt es zu­sam­men, dass ihr großen Lüm­mel zu­erst mei­nem Mann die Arme brecht und ihn hin­ter­her in al­ler Freund­schaft nach Hau­se bringt?«

»Ja, es ist nur Ihr gu­tes Recht, dass Sie das er­fah­ren«, ver­si­cher­te Bud Stro­ters. »Es ging so zu –«

»Halt das Maul, Bud«, fiel Bil­ly ihm ins Wort. »Du warst doch nicht da­bei.«

Sa­xon sah die San Fran­zis­ko­er Fuhr­leu­te an.

»Wir wa­ren her­ge­kom­men, um zu hel­fen, denn die Fuhr­leu­te in Oa­k­land kön­nen ja nicht al­lein fer­tig wer­den«, sag­te der eine, »und wir ha­ben ih­nen auch gut ge­hol­fen, die Streik­bre­cher zu leh­ren, dass es manch bes­se­res Hand­werk in der Welt gibt, als Kut­scher zu spie­len. Na ja, ich und Jack­son hier – wir schnüf­feln her­um, um zu se­hen, was wir ent­de­cken kön­nen, als Ihr Mann an­kommt. Als er sah –«

»Wart mal«, un­ter­brach Jack­son ihn. »Du musst al­les von An­fang an er­klä­ren. Wir mei­nen doch alle dem Aus­se­hen nach zu ken­nen. Aber Ihren Mann ha­ben wir noch nie ge­se­hen, weil er –«

»Weil er, wenn ich so sa­gen darf, für eine Wei­le aus dem Spiel ge­setzt war«, fuhr der ers­te Kut­scher fort. »Als wir also einen Kerl, den wir für einen Streik­bre­cher hal­ten, durch­schlüp­fen und durch die Gas­se ab­bie­gen se­hen –«

»Die Gas­se hin­ter Camp­bells Krä­mer­la­den«, er­läu­ter­te Bil­ly.

»Ja, hin­ter dem Krä­mer­la­den«, fuhr der ers­te Kut­scher fort. »Se­hen Sie, da wa­ren wir ganz si­cher, dass es ei­ner von den ver­fluch­ten Streik­bre­chern war, die von Mur­ray und Rea­dy ein­ge­stellt sind, und die sich hin­ten her­um in die Stäl­le ein­schlei­chen wol­len.«

»Ja, da ha­ben wir sel­ber mal einen er­wi­scht, Bil­ly und ich«, warf Bud ein.

»Wir also gleich drauf­los«, wand­te Jack­son sich zu Sa­xon. »Wir sind frü­her schon mit da­bei ge­we­sen und wis­sen Be­scheid, und zwar gründ­lich. Und so fan­gen wir denn Ihren Mann di­rekt in der Gas­se –«

»Ich guck­te mich nach Bud um«, sag­te Bil­ly. »Die an­de­ren sag­ten, ich wür­de ihn am an­de­ren Ende der Gas­se fin­den. Und da kommt die­ser Jack­son hier und fragt, ob ich ihm ein Streich­holz ge­ben kann.«

»Und dann ver­rich­te­te ich mei­ne hüb­sche klei­ne Ar­beit«, nahm der ers­te Kut­scher sei­nen Be­richt wie­der auf.

»Wie denn?« frag­te Sa­xon.

»Das da.« Der Mann zeig­te auf die Wun­de, die Bil­ly am Kop­fe hat­te. »Ich lang­te nach ihm aus. Er fiel um wie ein Stier, und dann kam er auf die Knie, tau­mel­te und schwatz­te et­was von ei­nem, der wohl nicht rich­tig im Kop­fe sei. Er war nicht recht bei sich. Und da ta­ten wir es.«

Der Mann schwieg – er war jetzt mit sei­nem Be­richt fer­tig.

»Sie bra­chen ihm bei­de Arme mit ei­nem Brech­ei­sen«, warf Bud ein.

»Ja, bei­de Arme«, be­stä­tig­te Bil­ly. »Und da stan­den nun die bei­den und er­zähl­ten mir was. ›Da­von kannst du lan­ge Nut­zen und Freu­de ha­ben‹, sagt Jack­son. Und An­son sagt: ›Mit den Ar­men möch­te ich dich kut­schie­ren se­hen.‹ Und dann sagt Jack­son: ›Wir wol­len ihm noch eine Klei­nig­keit mit auf den Weg ge­ben.‹ Und im sel­ben Au­gen­blick haut er mir eine run­ter.«

»Nein«, be­rich­tig­te An­son, »das war ich.«

»Na ja, und die schick­te mich wie­der ins Traum­land«, seufz­te Bil­ly. »Und als ich wie­der zu mir kam, stan­den Bud und An­son und Jack­son da und be­gos­sen mich mit Was­ser aus ei­nem Trog. Und dann ris­sen wir ei­nem Re­por­ter aus und gin­gen alle zu­sam­men her.«

 

Bud Stro­ters hob die Hand und zeig­te fri­sche Schram­men auf den Knö­cheln.

»Der Idi­ot von Re­por­ter woll­te durch­aus Be­kannt­schaft hier­mit ma­chen«, wand­te er sich zu Bil­ly, »des­halb hol­te ich euch erst in der Sieb­ten ein.«

Ein paar Mi­nu­ten dar­auf kam Dok­tor Hent­ley und warf die Män­ner hin­aus. Sie war­te­ten, bis er mit sei­ner Un­ter­su­chung fer­tig war, um sich zu ver­ge­wis­sern, dass es nichts Erns­tes mit Bil­ly war, und gin­gen dann. In der Kü­che wusch Dok­tor Hent­ley sich die Hän­de und gab Sa­xon die letz­ten An­wei­sun­gen. Wäh­rend er sich ab­trock­ne­te, be­gann er her­um­zu­schnüf­feln und sah nach dem Herd, wo ein Topf koch­te.

»Mu­scheln?« frag­te er. »Wo ha­ben Sie die ge­kauft?«

»Ich habe sie nicht ge­kauft«, sag­te Sa­xon. »Ich habe sie selbst ge­sam­melt.«

»Doch nicht im Sumpf?« frag­te er ge­spannt.

»Doch.«

»Dann wer­fen Sie sie weg. Sie sind Tod und Ver­der­ben. Ty­phus – ich habe schon drei Fäl­le ge­habt, und alle sind auf die Mu­scheln und den Sumpf zu­rück­zu­füh­ren.«

Als er ge­gan­gen war, tat Sa­xon, wie er ge­sagt hat­te. Das ist ein neu­es Übel an Oa­k­land, dach­te sie bei sich – Oa­k­land, die Men­schen­fal­le, die ver­gif­te­te, wen sie nicht aus­hun­gern konn­te.

»Ja, ob das nicht ge­nüg­te, einen zum Säu­fer zu ma­chen«, stöhn­te Bil­ly, als Sa­xon wie­der zu ihm kam. »Hast du je von ei­nem sol­chen Pech ge­hört? Bei all mei­nem Bo­xen nie einen Kno­chen zer­schla­gen. Und jetzt – eins, zwei, drei – sind bei­de Arme ka­putt.«

»Ach, es hät­te noch schlim­mer ge­hen kön­nen«, lä­chel­te Sa­xon hei­ter.

»Da möch­te ich schon wis­sen, wie­so.«

»Na, wäre es nicht schlim­mer ge­we­sen, wenn du in Oa­k­land hät­test blei­ben wol­len, wo es je­den Au­gen­blick wie­der ge­sche­hen könn­te?«

»Ich kann schon se­hen, wie ich Bau­er wer­de und mit ei­nem Paar Pfei­fen­roh­ren, wie die­sen hier, her­um­ge­he und pflü­ge«, fuhr er fort.

»Dok­tor Hent­ley sagt, dass sie dort, wo sie ge­bro­chen sind, stär­ker wer­den als je. Aber jetzt schließ die Au­gen und schlaf. Du bist schreck­lich her­un­ter und brauchst Ruhe. Lass das Den­ken.«

Er schloss ge­hor­sam die Au­gen, und sie leg­te ihm ihre küh­le Hand un­ter den Na­cken.

»Das ist ein schö­nes Ge­fühl«, mur­mel­te er. »Du bist so kühl, Sa­xon – dei­ne Hand und dei­ne gan­ze klei­ne Per­son. Bei dir zu sein ist, wie wenn man in die Nacht­küh­le hin­aus­kommt, nach­dem man in ei­nem er­hitz­ten Lo­kal ge­tanzt hat.«

Als er ein paar Mi­nu­ten still­ge­le­gen hat­te, be­gann er, lei­se zu la­chen.

»Was gibt es?« frag­te sie.

»Ach, nichts – ich dach­te nur an die Idio­ten, die mich ver­prü­gelt ha­ben, – mich, der ich mehr Streik­bre­cher ver­prü­gelt habe, als ich zäh­len kann.«

*

Am nächs­ten Mor­gen er­wach­te Bil­ly in be­deu­tend bes­se­rer Stim­mung. In der Kü­che konn­te Sa­xon hö­ren, wie er ei­ni­ge merk­wür­di­ge ge­sang­li­che Akro­ba­ten­kunst­stücke ver­such­te.

»Ich kann ein neu­es Lied, das du noch nie ge­hört hast«, er­zähl­te er, als sie mit ei­ner Tas­se Kaf­fee kam. »Aber ich kann nur den Re­frain. Der Alte re­det mit ei­nem Land­strei­cher von Ta­ge­löh­ner, der sei­ne Toch­ter hei­ra­ten will. Ma­mie – das war ein Mä­del, mit dem Bil­ly Mur­phy ging, ehe er hei­ra­te­te – sang es oft. Es ist so schön rühr­se­lig. Ma­mie heul­te im­mer da­bei.«

Und mit großer Fei­er­lich­keit und so falsch, dass es eine Qual war, ihm zu­zu­hö­ren, sang Bil­ly das Lied.

Aber sie fürch­te­te, dass der Kaf­fee kalt wer­den wür­de, und zwang Bil­ly, ihn zu trin­ken. Hilf­los, wie er mit sei­nen bei­den ge­bro­che­nen Ar­men war, muss­te er wie ein klei­nes Kind ge­füt­tert wer­den, und wäh­rend sie ihn füt­ter­te, spra­chen sie mit­ein­an­der.

»Ei­nes will ich dir sa­gen«, sag­te Bil­ly zwi­schen zwei Schlu­cken. »So­bald wir auf dem Lan­de zur Ruhe ge­kom­men sind, sollst du das Pferd ha­ben, das du dir dein gan­zes Le­ben ge­wünscht hast. Und es soll dein ei­ge­nes Pferd sein, das du rei­ten oder fah­ren oder ver­kau­fen – kurz, mit dem du ma­chen kannst, was du willst.«

Dann wie­der grü­bel­te er: »Ei­nes wird groß­ar­tig sein, wenn wir auf dem Lan­de woh­nen«, sag­te er schließ­lich, »näm­lich, dass ich so gut mit Pfer­den Be­scheid weiß. Da­mit kann man gut in Gang kom­men. Ich kann ja im­mer mit Pfer­den zu tun krie­gen – wo es kei­ne Ge­werk­schafts­löh­ne gibt. Und al­les, was man sonst von der Bau­er­n­ar­beit wis­sen muss, kann ich doch si­cher schnell ler­nen.«

Sa­xon muss­te sehr mit sich kämp­fen, um die Trä­nen zu­rück­zu­hal­ten. Es war, als woll­te ihr Herz vor Glück bre­chen, und sie er­in­ner­te sich vie­ler Din­ge – der Ver­hei­ßung ei­nes gan­zen Le­bens mit Bil­ly aus den Ta­gen, ehe die schwe­re Zeit be­gann. Jetzt kam die­se Ver­hei­ßung wie­der. Und da das Le­ben ih­nen kei­ne Er­fül­lung der Ver­hei­ßung ge­bracht hat­te, so woll­ten sie jetzt selbst aus­zie­hen und die Er­fül­lung su­chen.

Eine Furcht, die je­doch nicht ganz echt war, ließ sie sich in das Schlaf­zim­mer hin­ter der Kü­che schlei­chen, wo Bert ge­stor­ben war, und im Spie­gel des Toi­let­ten­ti­sches stu­dier­te sie ihr Ge­sicht. Nein, sie war nicht sehr ver­än­dert. Schön war sie nicht. Das wuss­te sie gut. Aber hat­te Mer­ce­des nicht ge­sagt, dass die großen Frau­en in der Ge­schich­te, die die Lie­be der Män­ner er­run­gen hat­ten, nicht schön ge­we­sen wa­ren? Und doch war sie al­les eher als häss­lich, wie Sa­xon sich sag­te, als sie ihr Spie­gel­bild be­trach­te­te. Sie sah ihre großen grau­en Au­gen, die so tief­grau wa­ren und im­mer so le­ben­dig blick­ten, und auf de­ren Ober­flä­che wie in de­ren grau­er Tie­fe im­mer un­aus­ge­spro­che­ne Ge­dan­ken schwam­men, Ge­dan­ken, die zu Bo­den san­ken und sich auf­lös­ten, um neu­en Ge­dan­ken Platz zu ma­chen. Die Brau­en wa­ren schön, dar­über war sie sich ganz klar – fein ge­zeich­net, et­was dunk­ler als das hell­brau­ne Haar, und sie pass­ten aus­ge­zeich­net zu ih­rer un­re­gel­mä­ßi­gen Nase, die aus­ge­prägt weib­lich, aber nicht schwach, eher pi­kant war und ein biss­chen keck wirk­te. Sie konn­te se­hen, dass ihr Ge­sicht et­was ma­ger war, und ihre Lip­pen wa­ren nicht ganz so rot wie frü­her; sie hat­ten et­was von ih­rer fri­schen Far­be ver­lo­ren. Aber al­les das konn­te wie­der­kom­men. Ihr Mund war kei­ne Ro­sen­knos­pe – wie man es in den Ma­ga­zi­nen sah. Sie be­trach­te­te ihn be­son­ders auf­merk­sam. Es war ein lus­ti­ger Mund, ein Mund, ge­schaf­fen, froh zu sein, zu la­chen und an­de­re zum La­chen zu brin­gen. Und sie wuss­te, dass ihr Lä­cheln auch bei an­de­ren Lä­cheln zu er­zeu­gen pfleg­te. Sie lach­te mit den Au­gen al­lein – das war ei­ner ih­rer klei­nen Tricks. Dann warf sie den Kopf zu­rück und lach­te mit Au­gen und Mund zu­gleich, und zwi­schen den halb­ge­öff­ne­ten Lip­pen ka­men die bei­den Rei­hen star­ker wei­ßer Zäh­ne zum Vor­schein.

Und sie er­in­ner­te sich, wie Bil­ly an dem Abend in der Ger­ma­nia-Hal­le, als er Char­ley Long ab­ge­fer­tigt hat­te, ihre Zäh­ne ge­lobt hat­te. »Nicht groß und auch nicht dum­me klei­ne Kin­der­zäh­ne«, hat­te Bil­ly ge­sagt. »Gera­de so, wie sie sein sol­len, und sie pas­sen zu Ih­nen.«

Wie­der ließ sie den Blick über ihr Spie­gel­bild schwei­fen. Ja, sie konn­te es schon mit man­cher auf­neh­men. War Bil­ly pracht­voll als Mann, so war sie ihm auf ihre Art eben­bür­tig. Sie kann­te ge­nau ih­ren Wert und eben­so ge­nau den sei­nen. Wenn er wie frü­her war, rich­tig der alte, nicht von Sor­gen ge­quält, nicht von der Fal­le ge­pei­nigt, nicht durch Trin­ken von Sin­nen ge­bracht, wenn er er war, ihr jun­ger Lieb­ha­ber, dann war er reich­lich das wert, was sie ihm ge­ben konn­te.

Sa­xon warf sich einen letz­ten Blick im Spie­gel zu. Nein, sie war nicht tot. So we­nig, wie Bil­lys Lie­be und ihre Lie­be tot war. Al­les, was sie brauch­ten, war der rech­te Bo­den – dann wuchs und blüh­te ihre Lie­be wie­der. Und jetzt kehr­ten sie Oa­k­land den Rücken und wan­der­ten fort, um den rech­ten Bo­den zu fin­den.

»Ach, Bil­ly!« rief sie durch die Wand hin­durch, wäh­rend sie im­mer noch auf dem Stuhl stand und mit der einen Hand den Spie­gel hin- und her­wipp­te, so­dass sie den Blick von ih­ren Fuß­ge­len­ken und Wa­den bis zu dem Ge­sicht mit der war­men Far­be und dem schel­mi­schen Aus­druck schwei­fen las­sen konn­te.

»Nun, was gibt es?« hör­te sie ihn ant­wor­ten.

»Ich ma­che mir selbst den Hof«, rief sie zu­rück.

»Was sind das nun für Dumm­hei­ten?« frag­te er ver­blüfft. »Wa­rum bist du so ver­liebt in dich?«

»Weil du mich liebst«, ant­wor­te­te sie. »Ich lie­be je­des biss­chen von mir selbst, Bil­ly, weil … weil … nun ja, weil du je­des biss­chen von mir liebst.«

*

Die Tage flo­gen in Glück und Freu­de für Sa­xon da­hin, die mehr als ge­nug da­mit zu tun hat­te, Bil­ly zu es­sen zu ge­ben und zu pfle­gen, ihre Haus­ar­beit zu ver­rich­ten, Plä­ne zu schmie­den und ih­ren klei­nen Vor­rat an fei­nen Hand­ar­bei­ten zu ver­kau­fen. Es war schwer ge­nug ge­we­sen, Bil­lys Ein­wil­li­gung zum Ver­kauf all der hüb­schen Din­ge zu er­hal­ten. Schließ­lich aber glück­te es ihr doch, sie ihm ab­zu­lis­ten.

»Es sind nur die Din­ge, die ich selbst nicht brau­che«, sag­te sie ein­dring­lich. »Und ich kann im­mer wie­der neue ma­chen, wenn wir uns ir­gend­wo nie­der­ge­las­sen ha­ben.«

Was sie nicht ver­kauf­te, gab sie Tom zur Auf­be­wah­rung, dazu die Haus­wä­sche und ihre und Bil­lys über­flüs­si­ge Gar­de­ro­be.

»Mach nur zu«, sag­te Bil­ly. »Du ver­wal­test das Ge­schäft. Was du sagst, soll gel­ten. Hast du schon be­stimmt, wo­hin wir rei­sen?«

Sie schüt­tel­te den Kopf.

»Oder wie?«

Sie hob erst den einen Fuß, dann den an­de­ren mit den so­li­den Stra­ßen­schu­hen, die sie an die­sem Mor­gen in Ge­brauch ge­nom­men hat­te.

»Auf Schus­ters Rap­pen, nicht wahr?«

»So ist un­ser Ge­schlecht nach dem Wes­ten ge­kom­men«, sag­te sie stolz.

»Ja, dann sind wir aber die rei­nen Va­ga­bun­den«, wand­te er ein. »Und ich habe nie von ei­ner wan­dern­den Frau ge­hört.«

»Nun, dann hörst du jetzt da­von. Und, Bil­ly, es ist kei­ne Schan­de zu wan­dern. Mei­ne Mut­ter wan­der­te fast den gan­zen Weg über die Prä­rie. Und bei­na­he alle an­de­ren Müt­ter sind in je­nen Ta­gen ge­wan­dert. Mir ist es gleich­gül­tig, was die Leu­te den­ken.«

Nach ein paar Ta­gen, als die Kopf­wun­de ge­heilt war, stand Bil­ly auf und be­gann um­her­zu­ge­hen. Na­tür­lich aber war er ganz hilf­los, so­lan­ge er noch bei­de Arme im Gips­ver­band trug.

Dok­tor Hent­ley ging nicht al­lein dar­auf ein, dass sie mit dem Be­zah­len sei­ner Rech­nung auf bes­se­re Zei­ten war­ten soll­ten, son­dern schlug es ih­nen di­rekt vor. Von Staats­bo­den er­klär­te er, auf Sa­x­ons eif­ri­ge Fra­ge, nichts zu wis­sen, nur hät­te er eine dunkle Vor­stel­lung, dass die Tage, da man Bo­den vom Staa­te be­kam, vor­bei sei­en.

Tom hin­ge­gen war voll­kom­men über­zeugt, dass der Staat eine Men­ge Bo­den hat­te. Er sprach vom Ho­ney Lake, von Shas­ta Coun­ty und von Hum­boldt.

»Aber ihr könnt zu die­ser Jah­res­zeit nicht dar­an den­ken. Der Win­ter steht vor der Tür«, sag­te er zu Sa­xon. »Ihr müsst nach Sü­den wan­dern, bis ihr dort­hin kommt, wo es wär­mer ist, zum Bei­spiel an der Küs­te. Dort schneit es nicht. Ich will euch sa­gen, was ihr tun sollt. Ihr geht über San José und Sa­li­nas, bis ihr an die Küs­te bei Mon­te­rey kommt. Süd­lich da­von wer­det ihr zwi­schen ge­schütz­tem Wald und me­xi­ka­ni­schen Bau­ern­hö­fen Staats­bo­den fin­den. Es ist ziem­lich wild dort, und es gibt kei­ne Wege. Sie züch­ten nur Vieh. Aber es gibt schö­ne Rie­sen­tan­nen­ca­ny­ons dort und gu­ten Acker­bo­den, der di­rekt bis ans Meer reicht. Ich sprach vo­ri­ges Jahr einen Mann, der das al­les ge­se­hen hat. Und ich wür­de auch hin­zie­hen wie du und Bil­ly, aber Sa­rah will durch­aus nichts da­von hö­ren. Es gibt auch Gold dort. Eine gan­ze Men­ge Men­schen ge­hen hin, um nach Gold zu su­chen; es gibt je­den­falls ein paar gute Mi­nen. Aber das ist wei­ter weg und ein Stück von der Küs­te ent­fernt. Ihr könnt euch ja im­mer­hin da­nach um­se­hen.«

Sa­xon schüt­tel­te den Kopf. »Wir su­chen nicht Gold, son­dern Hüh­ner und Fe­der­vieh und ein Stück Land, wo wir Ge­mü­se bau­en kön­nen. Un­se­re Vor­fah­ren konn­ten ja in der ers­ten Zeit Gold su­chen, und ihr seht, was da­bei her­aus­ge­kom­men ist.«

 

»Ja, da hast du si­cher recht«, gab Tom zu. »Sie spiel­ten zu hoch und er­grif­fen nicht die Tau­sen­de klei­ner Chan­cen, die ih­nen di­rekt vor der Nase la­gen. Nimm zum Bei­spiel On­kel Will. Er hat­te so­viel Bau­ern­hö­fe, dass er nicht wuss­te, was er da­mit ma­chen soll­te. Aber war er zu­frie­den? Nein, ge­wiss nicht – er woll­te durch­aus ein großer Vieh­kö­nig sein, und er starb als Nacht­wäch­ter in Los An­ge­les mit vier­zig Dol­lar mo­nat­lich. Es gibt et­was, das Ver­stand heißt, und der Zeit­geist hat sich ver­än­dert. Jetzt ist al­les Groß­han­del, und wir sind die klei­nen Leu­te. Frü­her konn­te je­der­mann einen Hof be­kom­men. Er brauch­te nur sei­ne Och­sen ins Joch zu span­nen und ih­nen zu fol­gen, der Stil­le Ozean lag vie­le Mei­len west­lich, und all die Bau­ern­hö­fe war­te­ten nur auf sie.

Das war der Geist je­ner Zeit – Land um­sonst und in großen Men­gen. Als wir aber zum Stil­len Ozean ka­men, da war die Zeit auch vor­bei. Da be­gann der Groß­han­del. Und mit dem Groß­han­del ka­men große Ge­schäfts­leu­te. Und je­der große Ge­schäfts­mann be­deu­tet Tau­sen­de klei­ner Leu­te, die kein Ge­schäft ha­ben und nur für die Gro­ßen ar­bei­ten. Und wenn es ih­nen nicht passt, dann kön­nen sie es las­sen, aber da­von ha­ben sie auch kei­ne Freu­de. Sie kön­nen ih­ren Och­sen nicht das Joch auf­le­gen und aus­wan­dern, denn sie kön­nen nir­gends hin­wan­dern.«

»Ja, aber die großen Leu­te wa­ren tüch­ti­ger«, warf Sa­xon ein.

»Sie hat­ten mehr Glück«, be­haup­te­te Tom. »Ei­ni­ge ge­wan­nen, aber vie­le ver­lo­ren, und die Män­ner, die ver­lo­ren, wa­ren eben­so gut wie die an­de­ren. Nun, es gab auch wel­che, die weit in die Zu­kunft schau­ten. Sieh, wenn dein Va­ter ein Herz- oder ein Nie­ren­lei­den oder die Gicht be­kom­men hät­te, so hät­te er nicht Ex­pe­di­tio­nen und Kriegs­zü­ge in der gan­zen Welt un­ter­neh­men kön­nen, ja, dann wür­de er sich na­tür­lich in San Fran­zis­ko nie­der­ge­las­sen ha­ben – dazu wäre er ge­zwun­gen ge­we­sen –, Grund­stücke ge­kauft, Dampf­schiffs­ree­de­rei­en ge­grün­det, an der Bör­se ge­spielt und Ei­sen­bah­nen und Tun­nels ge­baut ha­ben und der­glei­chen mehr.

Ja, er wäre selbst ein großer Ge­schäfts­mann ge­wor­den. Ich kann­te ihn. Er war der ener­gischs­te Mann, den ich je ge­trof­fen habe, er dach­te so schnell wie der Blitz, so kalt wie ein Eis­zap­fen und so wild wie ein Ti­ger. Aber er war so er­füllt vom Zeit­geist, dass er fast platz­te, er war lau­ter Feu­er und Flam­me und konn­te nir­gends blei­ben. Dein Va­ter be­kam im rich­ti­gen Au­gen­blick kei­ne Gicht – das ist al­les.«

Sa­xon seufz­te, lä­chel­te dann aber wie­der.

»Aber des­halb habe ich doch et­was, das die an­de­ren nicht ha­ben«, sag­te sie. »Sie kön­nen kei­ne Bo­xer hei­ra­ten, und das habe ich ge­tan.«

Tom sah sie an, als wüss­te er nicht recht, was er glau­ben soll­te, dann aber be­gann sein Ge­sicht vor Be­wun­de­rung zu leuch­ten.

»Ja, ich will dir nur ei­nes sa­gen«, er­klär­te er mit großer Fei­er­lich­keit, »näm­lich, dass Bil­ly Glück hat, und dass er sel­ber gar nicht weiß, wie viel.«

*

Erst als Dok­tor Hent­ley es er­laub­te, wur­de der Gips­ver­band von Bil­lys Ar­men ge­nom­men, und Sa­xon drang dar­auf, dass sie noch vier­zehn Tage war­ten soll­ten, um ganz si­cher zu ge­hen. Mit den vier­zehn Ta­gen wur­den es zwei Mo­na­te Mie­te, und der Wirt hat­te ver­spro­chen, sich zu ge­dul­den, bis Bil­ly wie­der zu Geld kam.

Sa­lin­gers war­te­ten bis zu dem mit Sa­xon ver­ein­bar­ten Tag mit dem Ab­ho­len der Mö­bel, und dann zahl­ten sie Bil­ly noch fünf­und­sieb­zig Dol­lar zu­rück. »Den Rest be­trach­ten wir als Mie­te«, sag­te der Ein­kas­sie­rer zu Sa­xon, »und die Mö­bel sind jetzt ja auch ge­braucht. Es ist ein Ver­lust für Sa­lin­gers, und sie brauch­ten es ei­gent­lich nicht zu tun – das wis­sen Sie wohl. Aber den­ken Sie dar­an, dass wir ku­lant ge­gen Sie ge­we­sen sind, und ge­hen Sie nicht an un­se­rer Tür vor­bei, wenn Sie sich wie­der ein­rich­ten.«

Mit die­sem Geld und mit dem, wel­ches Sa­xon für ihre fei­nen Din­ge er­ziel­te, konn­ten sie all ihre klei­nen Rech­nun­gen be­zah­len und hat­ten so­gar noch ein paar Dol­lar üb­rig.

»Ich has­se es, Geld zu schul­den – ich has­se es wie die Pest«, sag­te Bil­ly zu Sa­xon. »Und jetzt sind wir doch kei­nem Men­schen et­was schul­dig – au­ßer dem Wirt und Dok­tor Hent­ley.«

»Und kei­ner von ih­nen soll län­ger war­ten als durch­aus not­wen­dig«, sag­te sie.

»Das sol­len sie auch nicht«, ant­wor­te­te Bil­ly ru­hig.

Sa­xon lä­chel­te bei­fäl­lig, denn sie teil­te Bil­lys Schre­cken vor Schul­den, und in die­ser Be­zie­hung hat­ten sie bei­de die­sel­be stren­ge Moral wie die ers­ten Pio­nie­re, die sich im Wes­ten nie­der­ge­las­sen hat­ten.

Als Bil­ly ein­mal aus­ge­gan­gen war, be­nutz­te Sa­xon die Ge­le­gen­heit, die Kom­mo­de, die mit dem Se­gel­schiff über den At­lan­ti­schen Ozean und mit Och­sen­kar­ren über die Prä­rie be­för­dert wor­den war, zu pa­cken. Sie be­trach­te­te noch ein­mal den Holz­schnitt von den Wi­kin­gern, die mit dem Schwert in der Hand auf den eng­li­schen Strand spran­gen. Und wie­der glaub­te sie, in ei­nem der Wi­kin­ger Bil­ly zu se­hen, und eine Wei­le saß sie da und dach­te, wie wun­der­bar weit die Saat ver­streut war, von der sie stamm­te. Sie dach­te an die Er­zäh­lung ih­rer Mut­ter, wie das ver­hei­ße­ne Land vor ih­ren Au­gen er­schi­en, als ihre mit­ge­nom­me­nen Kar­ren und mü­den Och­sen über die Sier­ra mit dem frü­hen Win­ter­schnee in das präch­ti­ge Son­nen­land Ka­li­for­ni­en mit all sei­nen Blu­men ka­men. Sie sah in Ge­dan­ken von den schnee­be­deck­ten Hö­hen her­ab, wie ihre Mut­ter als neun­jäh­ri­ges Mäd­chen von ih­nen hin­ab­ge­se­hen ha­ben muss­te.

Dann seufz­te sie glück­lich und wisch­te sich die Au­gen. Vi­el­leicht wa­ren die schwe­ren Zei­ten jetzt über­stan­den. Vi­el­leicht war es ihre »Prä­rie« ge­we­sen, und viel­leicht wa­ren sie und Bil­ly jetzt gut hin­über­ge­kom­men und klet­ter­ten in eben die­sem Au­gen­blick über die Sier­ra, von wo sie in den herr­li­chen Tal­strich ge­lang­ten.

*

Neu­gie­ri­ge Nach­barn guck­ten hin­ter den Gar­di­nen, als Bil­ly und Sa­xon die Stra­ße hin­ab­schrit­ten, und die Kin­der gaff­ten ih­nen über­rascht nach. Bil­ly trug ihr Bett­zeug in ei­nem be­mal­ten Se­gel­tuch­über­zug auf dem Rücken. In die­sem Pa­cken hat­te er auch ihre rei­ne Wä­sche und ver­schie­de­ne an­de­re not­wen­di­ge Din­ge. Oben­drauf wa­ren eine Brat­pfan­ne und eine Kas­se­rol­le ge­bun­den. In der Hand trug er die Kaf­fee­kan­ne. Sa­xon hat­te in der einen Hand einen Ruck­sack und auf dem Rücken die Ukulélé im Fut­te­ral.

»Wir müs­sen ge­fähr­lich aus­se­hen«, brumm­te Bil­ly, der zu­sam­men­fuhr, so­oft ihn je­mand an­sah.

»Wenn wir nur eine große Fuß­wan­de­rung mach­ten, wäre nicht das ge­rings­te Lä­cher­li­che da­bei«, trös­te­te Sa­xon ihn.

»Aber wir ma­chen ja kei­ne.«

»Sie wis­sen es je­den­falls nicht«, fuhr sie fort. »Nur du weißt es, und was du glaubst, dass sie den­ken, das den­ken sie gar nicht. Sie den­ken ver­mut­lich, dass wir eine Fuß­wan­de­rung ma­chen. Und das bes­te ist, dass es ja auch stimmt. Wir tun es! Wir tun es!«

Das er­hei­ter­te Bil­ly ein Weil­chen, wenn er auch et­was mur­mel­te, dass er je­dem, der un­ver­schämt ge­gen sie zu sein wag­te, den Kopf zer­schla­gen wür­de. Dann warf er einen Blick auf Sa­xon. Ihre Wan­gen wa­ren rot, und ihre Au­gen leuch­te­ten.

»Weißt du«, sag­te er plötz­lich, »ich habe ein­mal eine Oper ge­hört, in der die Bur­schen mit Gi­tar­ren auf dem Rücken durch das gan­ze Land wan­der­ten – ge­nau so gehst du mit dei­nem Klim­per­ding. Sie san­gen die gan­ze Zeit im Ge­hen.«