Sie schmiegte sich enger an Billy, und ihre Hand, die sie unter seinen Arm gesteckt hatte, suchte die seine.
»Ach, Billy«, seufzte sie. »Ich würde vor Freude sterben, wenn ich an einem solchen Ort wohnen könnte.« Und als der Film zu Ende war, sagte sie: »Wir haben noch sehr viel Zeit, ehe das Theater anfängt. Lass uns bleiben und den Bauernhof noch einmal sehen.«
Sie blieben sitzen und sahen die ganze Vorstellung noch einmal, und als sie zu der Szene im Bauernhof kamen, wurde Saxon immer begeisterter, je länger sie sie sah. Diesmal erfasste sie noch mehr Einzelheiten. Sie sah die Felder um den Hof, die wellenförmigen Hügel im Hintergrund, den bewölkten Himmel. Sie erkannte einige von den Hühnern wieder, namentlich ein altes, aufsässiges Huhn, das böse war, weil die Sau es mit ihrem Rüssel fortschob. Saxon ließ den Blick wieder über die Felder bis zu den Höhen und zum Himmel schweifen und atmete den großen, freien Raum und die Zufriedenheit ein, die darüber ruhte. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und sie weinte still vor lauter Freude.
»Und jetzt weiß ich auch, wo wir hinwollen, wenn wir Oakland verlassen«, sagte sie.
»Wohin denn?«
»Dorthin.«
Er sah sie an und folgte dann der Richtung ihres Blicks, der sich immer noch auf die Leinwand heftete.
»So«, sagte er und fügte nach kurzem Bedenken hinzu: »Nun ja, warum nicht?«
»Ach, Billy willst du wirklich?«
Ihre Lippen bebten, so eifrig war sie, und ihre Stimme zitterte so stark, dass er ihr leises Flüstern kaum hören konnte.
»Aber gewiss«, sagte er. Es war ihr großer Tag, und er wollte mit königlicher Freigebigkeit schenken. »Was du dir wünschst, sollst du haben, und wenn ich mir die Nägel von den Fingern arbeiten muss, um es dir zu geben. Und ich habe selbst immer große Lust gehabt, auf dem Lande zu wohnen.«
*
Es war früh am Abend, als sie an der Ecke der Pine Street auf dem Heimweg vom Bell Theater aus der Straßenbahn stiegen. Zuerst machten sie gemeinsam Einkäufe, und dann trennten sie sich an der Ecke – Saxon sollte heimgehen und das Abendessen bereiten, und Billy wollte nach den Kameraden, den streikenden Fuhrleuten, sehen, die in dem Monat, den er aus allem herausgewesen war, getreulich weitergekämpft hatten.
»Nimm dich in acht, Billy«, rief sie ihm nach.
»Gewiss«, sagte er und blickte zurück.
Ihr Herz klopfte heftig, als sie sein Lächeln sah. Das war das alte, unbefleckte, verliebte Lächeln, das sie stets auf seinem Gesicht zu sehen gewünscht, das Lächeln, das sich zu bewahren, sie – bewaffnet mit ihrem eigenen Wissen und dem, das Mercedes ihr geschenkt hatte – bis zum äußersten kämpfen wollte. Der Gedanke hieran flog ihr durch den Kopf, und mit einem stolzen kleinen Lächeln erinnerte sie sich all der hübschen kleinen Dinge, die sie daheim im Toilettentisch und in der Kommode verwahrte.
Dreiviertel Stunden wartete Saxon, der Abendtisch war gedeckt, nur die Lammkotelette fehlten noch, die sie erst aufsetzen wollte, wenn sie Billy kommen hörte. Da wurde die Gartenpforte zugeschlagen, aber statt seiner hörte sie das wirre Durcheinander vieler Stimmen. Sie flog zur Tür. Es war Billy, der vor ihr stand, aber ein Billy weit verschieden von dem Billy, von dem sie sich erst vor kurzem verabschiedet hatte. Neben ihm ging ein kleiner Junge, der seinen Hut hielt. Sein Gesicht war frisch gewaschen oder vielmehr mit Wasser übergossen, denn sein Hemd und seine Schultern waren nass. Sein helles Haar war feucht und klebte am Kopf, hie und da sickerte Blut hindurch und machte es dunkel. Beide Arme hingen kraftlos herab, aber sein Gesicht war ruhig, und er lachte.
»Mach dir nichts daraus«, sagte er beruhigend zu Saxon. »Ich habe mich zum Narren gemacht. Ein bisschen beschädigt, aber immer noch bereit, es mit jedem aufzunehmen.« Er trat vorsichtig in die Stube. »Kommt, Kameraden, wir sind eine schöne Gesellschaft von Schwachköpfen.«
Hinter ihm her kamen der kleine Junge mit seinem Hut, Bud Stroters, noch ein Kutscher, den sie kannte, und zwei Fremde. Die Fremden waren große, barsche, dumm dreinschauende Männer, und sie starrten Saxon an, als ob sie sich vor ihr fürchteten.
»Hab keine Angst, Saxon«, sagte Billy wieder. Aber Bud Stroters unterbrach ihn.
»Zuerst müssen wir ihn ins Bett legen und ihm die Kleider abschneiden. Ihm sind beide Arme gebrochen, und hier sind die Idioten, die es getan haben.«
Er zeigte auf die beiden Fremden, die vor lauter Verlegenheit mit den Füßen scharrten und dümmer als je aussahen.
Billy setzte sich aufs Bett, und während Saxon die Lampe hielt, begannen Bud und die beiden Fremden, ihm Rock, Hemd und Unterjacke abzuschneiden.
»Er wollte nicht ins Krankenhaus«, sagte Bud zu Saxon.
»Nein, ich denke nicht daran«, erklärte Billy. »Ich ließ sie nach Doktor Hentley schicken. Er kann jeden Augenblick kommen. Diese beiden Arme sind alles, was ich auf der Welt habe.«
»Aber wie ist es denn zugegangen?« fragte Saxon und sah von Billy auf die beiden Fremden – offenbar außerstande, das freundschaftliche Verhältnis zwischen ihnen zu verstehen.
»Ach, es ist nicht ihre Schuld«, antwortete Billy schnell. »Sie meinten es gut. Sie sind Fuhrleute aus San Franzisko, die gekommen sind, um uns zu helfen.«
Es sah aus, als belebten sich die beiden Kutscher bei dieser Bemerkung Billys ein wenig, und sie nickten.
»Ja«, sagte der eine mit tiefer, heiserer Stimme. »Wir haben uns geirrt – ja, wir haben uns schön blamiert.«
Saxon war nicht aufgeregt. Was geschehen war, hatte sie nur erwarten können. Es entsprach allem, was Oakland ihr und den Ihren schon angetan hatte, und außerdem war Billy nicht gefährlich verletzt. Armbrüche und ein Loch im Kopf waren Dinge, die bald heilten. Sie holte Stühle und bat alle, sich zu setzen.
»Aber jetzt erzählt mir, was geschehen ist«, bat sie. »Ich verstehe nicht ein Wort von der ganzen Geschichte. Wie hängt es zusammen, dass ihr großen Lümmel zuerst meinem Mann die Arme brecht und ihn hinterher in aller Freundschaft nach Hause bringt?«
»Ja, es ist nur Ihr gutes Recht, dass Sie das erfahren«, versicherte Bud Stroters. »Es ging so zu –«
»Halt das Maul, Bud«, fiel Billy ihm ins Wort. »Du warst doch nicht dabei.«
Saxon sah die San Franziskoer Fuhrleute an.
»Wir waren hergekommen, um zu helfen, denn die Fuhrleute in Oakland können ja nicht allein fertig werden«, sagte der eine, »und wir haben ihnen auch gut geholfen, die Streikbrecher zu lehren, dass es manch besseres Handwerk in der Welt gibt, als Kutscher zu spielen. Na ja, ich und Jackson hier – wir schnüffeln herum, um zu sehen, was wir entdecken können, als Ihr Mann ankommt. Als er sah –«
»Wart mal«, unterbrach Jackson ihn. »Du musst alles von Anfang an erklären. Wir meinen doch alle dem Aussehen nach zu kennen. Aber Ihren Mann haben wir noch nie gesehen, weil er –«
»Weil er, wenn ich so sagen darf, für eine Weile aus dem Spiel gesetzt war«, fuhr der erste Kutscher fort. »Als wir also einen Kerl, den wir für einen Streikbrecher halten, durchschlüpfen und durch die Gasse abbiegen sehen –«
»Die Gasse hinter Campbells Krämerladen«, erläuterte Billy.
»Ja, hinter dem Krämerladen«, fuhr der erste Kutscher fort. »Sehen Sie, da waren wir ganz sicher, dass es einer von den verfluchten Streikbrechern war, die von Murray und Ready eingestellt sind, und die sich hinten herum in die Ställe einschleichen wollen.«
»Ja, da haben wir selber mal einen erwischt, Billy und ich«, warf Bud ein.
»Wir also gleich drauflos«, wandte Jackson sich zu Saxon. »Wir sind früher schon mit dabei gewesen und wissen Bescheid, und zwar gründlich. Und so fangen wir denn Ihren Mann direkt in der Gasse –«
»Ich guckte mich nach Bud um«, sagte Billy. »Die anderen sagten, ich würde ihn am anderen Ende der Gasse finden. Und da kommt dieser Jackson hier und fragt, ob ich ihm ein Streichholz geben kann.«
»Und dann verrichtete ich meine hübsche kleine Arbeit«, nahm der erste Kutscher seinen Bericht wieder auf.
»Wie denn?« fragte Saxon.
»Das da.« Der Mann zeigte auf die Wunde, die Billy am Kopfe hatte. »Ich langte nach ihm aus. Er fiel um wie ein Stier, und dann kam er auf die Knie, taumelte und schwatzte etwas von einem, der wohl nicht richtig im Kopfe sei. Er war nicht recht bei sich. Und da taten wir es.«
Der Mann schwieg – er war jetzt mit seinem Bericht fertig.
»Sie brachen ihm beide Arme mit einem Brecheisen«, warf Bud ein.
»Ja, beide Arme«, bestätigte Billy. »Und da standen nun die beiden und erzählten mir was. ›Davon kannst du lange Nutzen und Freude haben‹, sagt Jackson. Und Anson sagt: ›Mit den Armen möchte ich dich kutschieren sehen.‹ Und dann sagt Jackson: ›Wir wollen ihm noch eine Kleinigkeit mit auf den Weg geben.‹ Und im selben Augenblick haut er mir eine runter.«
»Nein«, berichtigte Anson, »das war ich.«
»Na ja, und die schickte mich wieder ins Traumland«, seufzte Billy. »Und als ich wieder zu mir kam, standen Bud und Anson und Jackson da und begossen mich mit Wasser aus einem Trog. Und dann rissen wir einem Reporter aus und gingen alle zusammen her.«
Bud Stroters hob die Hand und zeigte frische Schrammen auf den Knöcheln.
»Der Idiot von Reporter wollte durchaus Bekanntschaft hiermit machen«, wandte er sich zu Billy, »deshalb holte ich euch erst in der Siebten ein.«
Ein paar Minuten darauf kam Doktor Hentley und warf die Männer hinaus. Sie warteten, bis er mit seiner Untersuchung fertig war, um sich zu vergewissern, dass es nichts Ernstes mit Billy war, und gingen dann. In der Küche wusch Doktor Hentley sich die Hände und gab Saxon die letzten Anweisungen. Während er sich abtrocknete, begann er herumzuschnüffeln und sah nach dem Herd, wo ein Topf kochte.
»Muscheln?« fragte er. »Wo haben Sie die gekauft?«
»Ich habe sie nicht gekauft«, sagte Saxon. »Ich habe sie selbst gesammelt.«
»Doch nicht im Sumpf?« fragte er gespannt.
»Doch.«
»Dann werfen Sie sie weg. Sie sind Tod und Verderben. Typhus – ich habe schon drei Fälle gehabt, und alle sind auf die Muscheln und den Sumpf zurückzuführen.«
Als er gegangen war, tat Saxon, wie er gesagt hatte. Das ist ein neues Übel an Oakland, dachte sie bei sich – Oakland, die Menschenfalle, die vergiftete, wen sie nicht aushungern konnte.
»Ja, ob das nicht genügte, einen zum Säufer zu machen«, stöhnte Billy, als Saxon wieder zu ihm kam. »Hast du je von einem solchen Pech gehört? Bei all meinem Boxen nie einen Knochen zerschlagen. Und jetzt – eins, zwei, drei – sind beide Arme kaputt.«
»Ach, es hätte noch schlimmer gehen können«, lächelte Saxon heiter.
»Da möchte ich schon wissen, wieso.«
»Na, wäre es nicht schlimmer gewesen, wenn du in Oakland hättest bleiben wollen, wo es jeden Augenblick wieder geschehen könnte?«
»Ich kann schon sehen, wie ich Bauer werde und mit einem Paar Pfeifenrohren, wie diesen hier, herumgehe und pflüge«, fuhr er fort.
»Doktor Hentley sagt, dass sie dort, wo sie gebrochen sind, stärker werden als je. Aber jetzt schließ die Augen und schlaf. Du bist schrecklich herunter und brauchst Ruhe. Lass das Denken.«
Er schloss gehorsam die Augen, und sie legte ihm ihre kühle Hand unter den Nacken.
»Das ist ein schönes Gefühl«, murmelte er. »Du bist so kühl, Saxon – deine Hand und deine ganze kleine Person. Bei dir zu sein ist, wie wenn man in die Nachtkühle hinauskommt, nachdem man in einem erhitzten Lokal getanzt hat.«
Als er ein paar Minuten stillgelegen hatte, begann er, leise zu lachen.
»Was gibt es?« fragte sie.
»Ach, nichts – ich dachte nur an die Idioten, die mich verprügelt haben, – mich, der ich mehr Streikbrecher verprügelt habe, als ich zählen kann.«
*
Am nächsten Morgen erwachte Billy in bedeutend besserer Stimmung. In der Küche konnte Saxon hören, wie er einige merkwürdige gesangliche Akrobatenkunststücke versuchte.
»Ich kann ein neues Lied, das du noch nie gehört hast«, erzählte er, als sie mit einer Tasse Kaffee kam. »Aber ich kann nur den Refrain. Der Alte redet mit einem Landstreicher von Tagelöhner, der seine Tochter heiraten will. Mamie – das war ein Mädel, mit dem Billy Murphy ging, ehe er heiratete – sang es oft. Es ist so schön rührselig. Mamie heulte immer dabei.«
Und mit großer Feierlichkeit und so falsch, dass es eine Qual war, ihm zuzuhören, sang Billy das Lied.
Aber sie fürchtete, dass der Kaffee kalt werden würde, und zwang Billy, ihn zu trinken. Hilflos, wie er mit seinen beiden gebrochenen Armen war, musste er wie ein kleines Kind gefüttert werden, und während sie ihn fütterte, sprachen sie miteinander.
»Eines will ich dir sagen«, sagte Billy zwischen zwei Schlucken. »Sobald wir auf dem Lande zur Ruhe gekommen sind, sollst du das Pferd haben, das du dir dein ganzes Leben gewünscht hast. Und es soll dein eigenes Pferd sein, das du reiten oder fahren oder verkaufen – kurz, mit dem du machen kannst, was du willst.«
Dann wieder grübelte er: »Eines wird großartig sein, wenn wir auf dem Lande wohnen«, sagte er schließlich, »nämlich, dass ich so gut mit Pferden Bescheid weiß. Damit kann man gut in Gang kommen. Ich kann ja immer mit Pferden zu tun kriegen – wo es keine Gewerkschaftslöhne gibt. Und alles, was man sonst von der Bauernarbeit wissen muss, kann ich doch sicher schnell lernen.«
Saxon musste sehr mit sich kämpfen, um die Tränen zurückzuhalten. Es war, als wollte ihr Herz vor Glück brechen, und sie erinnerte sich vieler Dinge – der Verheißung eines ganzen Lebens mit Billy aus den Tagen, ehe die schwere Zeit begann. Jetzt kam diese Verheißung wieder. Und da das Leben ihnen keine Erfüllung der Verheißung gebracht hatte, so wollten sie jetzt selbst ausziehen und die Erfüllung suchen.
Eine Furcht, die jedoch nicht ganz echt war, ließ sie sich in das Schlafzimmer hinter der Küche schleichen, wo Bert gestorben war, und im Spiegel des Toilettentisches studierte sie ihr Gesicht. Nein, sie war nicht sehr verändert. Schön war sie nicht. Das wusste sie gut. Aber hatte Mercedes nicht gesagt, dass die großen Frauen in der Geschichte, die die Liebe der Männer errungen hatten, nicht schön gewesen waren? Und doch war sie alles eher als hässlich, wie Saxon sich sagte, als sie ihr Spiegelbild betrachtete. Sie sah ihre großen grauen Augen, die so tiefgrau waren und immer so lebendig blickten, und auf deren Oberfläche wie in deren grauer Tiefe immer unausgesprochene Gedanken schwammen, Gedanken, die zu Boden sanken und sich auflösten, um neuen Gedanken Platz zu machen. Die Brauen waren schön, darüber war sie sich ganz klar – fein gezeichnet, etwas dunkler als das hellbraune Haar, und sie passten ausgezeichnet zu ihrer unregelmäßigen Nase, die ausgeprägt weiblich, aber nicht schwach, eher pikant war und ein bisschen keck wirkte. Sie konnte sehen, dass ihr Gesicht etwas mager war, und ihre Lippen waren nicht ganz so rot wie früher; sie hatten etwas von ihrer frischen Farbe verloren. Aber alles das konnte wiederkommen. Ihr Mund war keine Rosenknospe – wie man es in den Magazinen sah. Sie betrachtete ihn besonders aufmerksam. Es war ein lustiger Mund, ein Mund, geschaffen, froh zu sein, zu lachen und andere zum Lachen zu bringen. Und sie wusste, dass ihr Lächeln auch bei anderen Lächeln zu erzeugen pflegte. Sie lachte mit den Augen allein – das war einer ihrer kleinen Tricks. Dann warf sie den Kopf zurück und lachte mit Augen und Mund zugleich, und zwischen den halbgeöffneten Lippen kamen die beiden Reihen starker weißer Zähne zum Vorschein.
Und sie erinnerte sich, wie Billy an dem Abend in der Germania-Halle, als er Charley Long abgefertigt hatte, ihre Zähne gelobt hatte. »Nicht groß und auch nicht dumme kleine Kinderzähne«, hatte Billy gesagt. »Gerade so, wie sie sein sollen, und sie passen zu Ihnen.«
Wieder ließ sie den Blick über ihr Spiegelbild schweifen. Ja, sie konnte es schon mit mancher aufnehmen. War Billy prachtvoll als Mann, so war sie ihm auf ihre Art ebenbürtig. Sie kannte genau ihren Wert und ebenso genau den seinen. Wenn er wie früher war, richtig der alte, nicht von Sorgen gequält, nicht von der Falle gepeinigt, nicht durch Trinken von Sinnen gebracht, wenn er er war, ihr junger Liebhaber, dann war er reichlich das wert, was sie ihm geben konnte.
Saxon warf sich einen letzten Blick im Spiegel zu. Nein, sie war nicht tot. So wenig, wie Billys Liebe und ihre Liebe tot war. Alles, was sie brauchten, war der rechte Boden – dann wuchs und blühte ihre Liebe wieder. Und jetzt kehrten sie Oakland den Rücken und wanderten fort, um den rechten Boden zu finden.
»Ach, Billy!« rief sie durch die Wand hindurch, während sie immer noch auf dem Stuhl stand und mit der einen Hand den Spiegel hin- und herwippte, sodass sie den Blick von ihren Fußgelenken und Waden bis zu dem Gesicht mit der warmen Farbe und dem schelmischen Ausdruck schweifen lassen konnte.
»Nun, was gibt es?« hörte sie ihn antworten.
»Ich mache mir selbst den Hof«, rief sie zurück.
»Was sind das nun für Dummheiten?« fragte er verblüfft. »Warum bist du so verliebt in dich?«
»Weil du mich liebst«, antwortete sie. »Ich liebe jedes bisschen von mir selbst, Billy, weil … weil … nun ja, weil du jedes bisschen von mir liebst.«
*
Die Tage flogen in Glück und Freude für Saxon dahin, die mehr als genug damit zu tun hatte, Billy zu essen zu geben und zu pflegen, ihre Hausarbeit zu verrichten, Pläne zu schmieden und ihren kleinen Vorrat an feinen Handarbeiten zu verkaufen. Es war schwer genug gewesen, Billys Einwilligung zum Verkauf all der hübschen Dinge zu erhalten. Schließlich aber glückte es ihr doch, sie ihm abzulisten.
»Es sind nur die Dinge, die ich selbst nicht brauche«, sagte sie eindringlich. »Und ich kann immer wieder neue machen, wenn wir uns irgendwo niedergelassen haben.«
Was sie nicht verkaufte, gab sie Tom zur Aufbewahrung, dazu die Hauswäsche und ihre und Billys überflüssige Garderobe.
»Mach nur zu«, sagte Billy. »Du verwaltest das Geschäft. Was du sagst, soll gelten. Hast du schon bestimmt, wohin wir reisen?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Oder wie?«
Sie hob erst den einen Fuß, dann den anderen mit den soliden Straßenschuhen, die sie an diesem Morgen in Gebrauch genommen hatte.
»Auf Schusters Rappen, nicht wahr?«
»So ist unser Geschlecht nach dem Westen gekommen«, sagte sie stolz.
»Ja, dann sind wir aber die reinen Vagabunden«, wandte er ein. »Und ich habe nie von einer wandernden Frau gehört.«
»Nun, dann hörst du jetzt davon. Und, Billy, es ist keine Schande zu wandern. Meine Mutter wanderte fast den ganzen Weg über die Prärie. Und beinahe alle anderen Mütter sind in jenen Tagen gewandert. Mir ist es gleichgültig, was die Leute denken.«
Nach ein paar Tagen, als die Kopfwunde geheilt war, stand Billy auf und begann umherzugehen. Natürlich aber war er ganz hilflos, solange er noch beide Arme im Gipsverband trug.
Doktor Hentley ging nicht allein darauf ein, dass sie mit dem Bezahlen seiner Rechnung auf bessere Zeiten warten sollten, sondern schlug es ihnen direkt vor. Von Staatsboden erklärte er, auf Saxons eifrige Frage, nichts zu wissen, nur hätte er eine dunkle Vorstellung, dass die Tage, da man Boden vom Staate bekam, vorbei seien.
Tom hingegen war vollkommen überzeugt, dass der Staat eine Menge Boden hatte. Er sprach vom Honey Lake, von Shasta County und von Humboldt.
»Aber ihr könnt zu dieser Jahreszeit nicht daran denken. Der Winter steht vor der Tür«, sagte er zu Saxon. »Ihr müsst nach Süden wandern, bis ihr dorthin kommt, wo es wärmer ist, zum Beispiel an der Küste. Dort schneit es nicht. Ich will euch sagen, was ihr tun sollt. Ihr geht über San José und Salinas, bis ihr an die Küste bei Monterey kommt. Südlich davon werdet ihr zwischen geschütztem Wald und mexikanischen Bauernhöfen Staatsboden finden. Es ist ziemlich wild dort, und es gibt keine Wege. Sie züchten nur Vieh. Aber es gibt schöne Riesentannencanyons dort und guten Ackerboden, der direkt bis ans Meer reicht. Ich sprach voriges Jahr einen Mann, der das alles gesehen hat. Und ich würde auch hinziehen wie du und Billy, aber Sarah will durchaus nichts davon hören. Es gibt auch Gold dort. Eine ganze Menge Menschen gehen hin, um nach Gold zu suchen; es gibt jedenfalls ein paar gute Minen. Aber das ist weiter weg und ein Stück von der Küste entfernt. Ihr könnt euch ja immerhin danach umsehen.«
Saxon schüttelte den Kopf. »Wir suchen nicht Gold, sondern Hühner und Federvieh und ein Stück Land, wo wir Gemüse bauen können. Unsere Vorfahren konnten ja in der ersten Zeit Gold suchen, und ihr seht, was dabei herausgekommen ist.«
»Ja, da hast du sicher recht«, gab Tom zu. »Sie spielten zu hoch und ergriffen nicht die Tausende kleiner Chancen, die ihnen direkt vor der Nase lagen. Nimm zum Beispiel Onkel Will. Er hatte soviel Bauernhöfe, dass er nicht wusste, was er damit machen sollte. Aber war er zufrieden? Nein, gewiss nicht – er wollte durchaus ein großer Viehkönig sein, und er starb als Nachtwächter in Los Angeles mit vierzig Dollar monatlich. Es gibt etwas, das Verstand heißt, und der Zeitgeist hat sich verändert. Jetzt ist alles Großhandel, und wir sind die kleinen Leute. Früher konnte jedermann einen Hof bekommen. Er brauchte nur seine Ochsen ins Joch zu spannen und ihnen zu folgen, der Stille Ozean lag viele Meilen westlich, und all die Bauernhöfe warteten nur auf sie.
Das war der Geist jener Zeit – Land umsonst und in großen Mengen. Als wir aber zum Stillen Ozean kamen, da war die Zeit auch vorbei. Da begann der Großhandel. Und mit dem Großhandel kamen große Geschäftsleute. Und jeder große Geschäftsmann bedeutet Tausende kleiner Leute, die kein Geschäft haben und nur für die Großen arbeiten. Und wenn es ihnen nicht passt, dann können sie es lassen, aber davon haben sie auch keine Freude. Sie können ihren Ochsen nicht das Joch auflegen und auswandern, denn sie können nirgends hinwandern.«
»Ja, aber die großen Leute waren tüchtiger«, warf Saxon ein.
»Sie hatten mehr Glück«, behauptete Tom. »Einige gewannen, aber viele verloren, und die Männer, die verloren, waren ebenso gut wie die anderen. Nun, es gab auch welche, die weit in die Zukunft schauten. Sieh, wenn dein Vater ein Herz- oder ein Nierenleiden oder die Gicht bekommen hätte, so hätte er nicht Expeditionen und Kriegszüge in der ganzen Welt unternehmen können, ja, dann würde er sich natürlich in San Franzisko niedergelassen haben – dazu wäre er gezwungen gewesen –, Grundstücke gekauft, Dampfschiffsreedereien gegründet, an der Börse gespielt und Eisenbahnen und Tunnels gebaut haben und dergleichen mehr.
Ja, er wäre selbst ein großer Geschäftsmann geworden. Ich kannte ihn. Er war der energischste Mann, den ich je getroffen habe, er dachte so schnell wie der Blitz, so kalt wie ein Eiszapfen und so wild wie ein Tiger. Aber er war so erfüllt vom Zeitgeist, dass er fast platzte, er war lauter Feuer und Flamme und konnte nirgends bleiben. Dein Vater bekam im richtigen Augenblick keine Gicht – das ist alles.«
Saxon seufzte, lächelte dann aber wieder.
»Aber deshalb habe ich doch etwas, das die anderen nicht haben«, sagte sie. »Sie können keine Boxer heiraten, und das habe ich getan.«
Tom sah sie an, als wüsste er nicht recht, was er glauben sollte, dann aber begann sein Gesicht vor Bewunderung zu leuchten.
»Ja, ich will dir nur eines sagen«, erklärte er mit großer Feierlichkeit, »nämlich, dass Billy Glück hat, und dass er selber gar nicht weiß, wie viel.«
*
Erst als Doktor Hentley es erlaubte, wurde der Gipsverband von Billys Armen genommen, und Saxon drang darauf, dass sie noch vierzehn Tage warten sollten, um ganz sicher zu gehen. Mit den vierzehn Tagen wurden es zwei Monate Miete, und der Wirt hatte versprochen, sich zu gedulden, bis Billy wieder zu Geld kam.
Salingers warteten bis zu dem mit Saxon vereinbarten Tag mit dem Abholen der Möbel, und dann zahlten sie Billy noch fünfundsiebzig Dollar zurück. »Den Rest betrachten wir als Miete«, sagte der Einkassierer zu Saxon, »und die Möbel sind jetzt ja auch gebraucht. Es ist ein Verlust für Salingers, und sie brauchten es eigentlich nicht zu tun – das wissen Sie wohl. Aber denken Sie daran, dass wir kulant gegen Sie gewesen sind, und gehen Sie nicht an unserer Tür vorbei, wenn Sie sich wieder einrichten.«
Mit diesem Geld und mit dem, welches Saxon für ihre feinen Dinge erzielte, konnten sie all ihre kleinen Rechnungen bezahlen und hatten sogar noch ein paar Dollar übrig.
»Ich hasse es, Geld zu schulden – ich hasse es wie die Pest«, sagte Billy zu Saxon. »Und jetzt sind wir doch keinem Menschen etwas schuldig – außer dem Wirt und Doktor Hentley.«
»Und keiner von ihnen soll länger warten als durchaus notwendig«, sagte sie.
»Das sollen sie auch nicht«, antwortete Billy ruhig.
Saxon lächelte beifällig, denn sie teilte Billys Schrecken vor Schulden, und in dieser Beziehung hatten sie beide dieselbe strenge Moral wie die ersten Pioniere, die sich im Westen niedergelassen hatten.
Als Billy einmal ausgegangen war, benutzte Saxon die Gelegenheit, die Kommode, die mit dem Segelschiff über den Atlantischen Ozean und mit Ochsenkarren über die Prärie befördert worden war, zu packen. Sie betrachtete noch einmal den Holzschnitt von den Wikingern, die mit dem Schwert in der Hand auf den englischen Strand sprangen. Und wieder glaubte sie, in einem der Wikinger Billy zu sehen, und eine Weile saß sie da und dachte, wie wunderbar weit die Saat verstreut war, von der sie stammte. Sie dachte an die Erzählung ihrer Mutter, wie das verheißene Land vor ihren Augen erschien, als ihre mitgenommenen Karren und müden Ochsen über die Sierra mit dem frühen Winterschnee in das prächtige Sonnenland Kalifornien mit all seinen Blumen kamen. Sie sah in Gedanken von den schneebedeckten Höhen herab, wie ihre Mutter als neunjähriges Mädchen von ihnen hinabgesehen haben musste.
Dann seufzte sie glücklich und wischte sich die Augen. Vielleicht waren die schweren Zeiten jetzt überstanden. Vielleicht war es ihre »Prärie« gewesen, und vielleicht waren sie und Billy jetzt gut hinübergekommen und kletterten in eben diesem Augenblick über die Sierra, von wo sie in den herrlichen Talstrich gelangten.
*
Neugierige Nachbarn guckten hinter den Gardinen, als Billy und Saxon die Straße hinabschritten, und die Kinder gafften ihnen überrascht nach. Billy trug ihr Bettzeug in einem bemalten Segeltuchüberzug auf dem Rücken. In diesem Packen hatte er auch ihre reine Wäsche und verschiedene andere notwendige Dinge. Obendrauf waren eine Bratpfanne und eine Kasserolle gebunden. In der Hand trug er die Kaffeekanne. Saxon hatte in der einen Hand einen Rucksack und auf dem Rücken die Ukulélé im Futteral.
»Wir müssen gefährlich aussehen«, brummte Billy, der zusammenfuhr, sooft ihn jemand ansah.
»Wenn wir nur eine große Fußwanderung machten, wäre nicht das geringste Lächerliche dabei«, tröstete Saxon ihn.
»Aber wir machen ja keine.«
»Sie wissen es jedenfalls nicht«, fuhr sie fort. »Nur du weißt es, und was du glaubst, dass sie denken, das denken sie gar nicht. Sie denken vermutlich, dass wir eine Fußwanderung machen. Und das beste ist, dass es ja auch stimmt. Wir tun es! Wir tun es!«
Das erheiterte Billy ein Weilchen, wenn er auch etwas murmelte, dass er jedem, der unverschämt gegen sie zu sein wagte, den Kopf zerschlagen würde. Dann warf er einen Blick auf Saxon. Ihre Wangen waren rot, und ihre Augen leuchteten.
»Weißt du«, sagte er plötzlich, »ich habe einmal eine Oper gehört, in der die Burschen mit Gitarren auf dem Rücken durch das ganze Land wanderten – genau so gehst du mit deinem Klimperding. Sie sangen die ganze Zeit im Gehen.«