»Gott!« sagte der Schlachter zu Saxon. »Wir von der Arbeiterklasse leiden alle. Vielleicht gehe ich pleite.«
Als Billy sich entschloss, seine Uhr zu versetzen, schlug Saxon ihm vor, sich Geld von Billy Murphy zu leihen.
»Daran habe ich auch schon gedacht«, antwortete Billy. »Aber es geht jetzt nicht. Er hat sich den Arm gebrochen.«
Saxon hatte ihre Morgenzeitung aufgegeben, aber Maggie Donahues Junge, der die »Tribune« austrug, warf gewöhnlich eine Extrazeitung auf ihre Treppe. Aus den Leitartikeln erhielt Saxon den Eindruck, dass die Arbeiterorganisationen das Land zu regieren versuchten und alles in schreckliche Unordnung brachten. Alles war Schuld der Arbeiterpartei – der herrschenden Arbeiterpartei – so lauteten die Leitartikel, Spalte auf Spalte und Tag auf Tag, und Saxon war überzeugt, aber doch, nicht ganz. Das Leben war so verwickelt und das Rätsel, das die sozialen Verhältnisse aufgaben, anscheinend unlösbar.
Der Fuhrleutestreik, der offiziell von den San Franziskoer Fuhrleuten und der Gewerkschaft der San Franziskoer Hafenarbeiter unterstützt wurde, schien sich in die Länge ziehen zu wollen, ob er nun durchgeführt wurde oder nicht. Die Geschirrpasser und Stallknechte von Oakland hatten bis auf wenige Ausnahmen gemeinsame Sache mit den Fuhrleuten gemacht. Die Fuhrherren konnten ihren Verpflichtungen nicht zur Hälfte nachkommen, aber der Arbeitgeberverband half ihnen. In Wirklichkeit stand die Hälfte aller Arbeitgeberverbände an der pazifischen Küste hinter dem Verband von Oakland.
Saxon war einen Monat mit der Miete im Verzug, was, da die Miete vorauszuzahlen war, zwei Monate bedeutete. Auch mit der Abzahlung der Möbel war sie zwei Monate im Rückstand, glücklicherweise aber drängte Salingers Möbelgeschäft nicht sehr mit der Bezahlung.
»Wir helfen Ihnen, soviel wir können«, sagte der Einkassierer. »Ich habe Order, Sie zu drängen und soviel wie möglich aus Ihnen herauszuholen, andererseits aber soll ich auch nicht zu hart vorgehen. Salingers möchten so human wie möglich sein, aber die Zeiten sind ja auch für die Firma nicht gut. Sie ahnen nicht, wie viele Forderungen wir ausstehen haben – von derselben Art wie bei Ihnen. Früher oder später müssen wir Schluss machen – sonst kommen wir selbst auf den Hund. Inzwischen aber versuchen Sie nur, fünf Dollar bis zur nächsten Woche zusammenzubringen – nur, um Ihren guten Willen zu zeigen.«
Einer von den Stallknechten, die nicht mit den Streikenden gegangen waren, ein Mann namens Henderson, arbeitete bei derselben Firma wie Billy. Obgleich seine Chefs ihm ans Herz gelegt hatten, wie die anderen in den Ställen zu essen und zu schlafen, war Henderson doch jeden Morgen nach seinem Häuschen in der Fünften Straße, gerade um die Ecke von Saxons und Billys Wohnung, zurückgekehrt. Sie hatte ihn mehrmals kommen sehen, herausfordernd und seinen Essnapf schwingend, während alle Jungen in der Nachbarschaft ihm in angemessener Entfernung folgten und im Chor heulten, dass er ein Streikbrecher und ein furchtbarer Mensch sei. Eines Abends aber, als er besonders übermütig war, ging er in die Wirtschaft an der Ecke der Siebenten und der Pine Street. Da hatte er das Pech, Otto Frank, einen der streikenden Kutscher desselben Stalles, zu treffen. Wenige Minuten darauf war Henderson, der einen Schädelbruch davongetragen hatte, in einem Krankenwagen unterwegs nach dem Krankenhaus, während ein Patrouillenwagen in nicht geringerer Eile Otto Frank in das Polizeigefängnis brachte.
Es war Maggie Donahue, die Saxon freudestrahlend das Geschehene erzählte.
»Das geschieht ihm recht, dem dreckigen Streikbrecher«, schloss Maggie ihren Bericht.
»Aber seine arme Frau«, sagte Saxon. »Sie ist nicht kräftig. Und die Kinder. Wenn ihr Mann stirbt, kann sie sie nicht versorgen.«
»Oh, das geschieht ihr recht, der verfluchten Schlampe!«
Saxon war entsetzt und gekränkt über die Brutalität der Irländerin. Aber Maggie war unversöhnlich.
»Das ist nur, was sie verdient – sie und die anderen Frauen, die mit Streikbrechern zusammenleben. Und die Kinder! Lass sie hungern, wenn ihr Vater anderer Leute Kindern das Brot aus dem Munde nimmt.«
Frau Olsen nahm es ganz anders auf. Sie zeigte ein gewisses passives, sentimentales Mitgefühl für Hendersons Frau und Kinder, dann aber dachte sie nicht mehr an sie, während sie schwer besorgt um Otto Franks Frau und Kinder war – sie und Frau Frank waren nämlich Schwestern.
»Wenn er stirbt, wird Otto gehängt«, sagte sie. »Und was tut denn die arme Hilda? Sie hat Krampfadern in beiden Beinen und kann unmöglich auf Arbeit gehen. Und ich – ich kann ihr nicht helfen. Ist Karl nicht auch arbeitslos?«
Billy nahm wiederum einen anderen Standpunkt ein.
»Das bringt den Streik nur in Verruf, namentlich wenn Henderson krepiert«, sagte er besorgt, als er nach Hause kam. »Frank hängen sie sicher, wenn sie können. Und dazu müssen wir einen Verteidiger und Gott weiß was bezahlen – und das kostet ein verfluchtes Geld. Das wird ein tüchtiges Loch in unsere Kasse machen. Und hätte der Whisky nicht Frank ganz von Sinnen gebracht, so würde er es nie getan haben – er ist der friedlichste, gutmütigste Mensch, den man sich denken kann.«
Zweimal im Laufe des Abends ging Billy aus, um zu erfahren, ob Henderson gestorben war. Am Morgen gaben ihm die Zeitungen nur wenig Hoffnung, und die Abendzeitungen meldeten seinen Tod. Otto Frank saß im Gefängnis. Die »Tribune« verlangte schnelle Aburteilung und summarische Bestrafung und verweilte eingehend bei der moralischen Wirkung, die ein solches Auftreten auf den gesetzlosen Arbeiterstand ausüben würde. Sie ging noch weiter und betonte, welch nützlichen Einfluss Maschinengewehre auf den Pöbelhaufen haben würden, der sich der schönen Stadt Oakland bemächtigt hätte.
Alle diese Ereignisse trafen Saxon ganz persönlich. Sie, die nichts auf der Welt hatte als Billy, fühlte, dass ihr und sein Leben, ja, auch ihr gemeinsames Liebesleben, bedroht war. Von dem Augenblick an, wenn er das Haus verließ, bis er zurückkam, war sie nicht einen Augenblick ruhig. Eine Gewalttat folgte der anderen, aber er erzählte ihr nichts davon, und sie wusste, dass er daran beteiligt war. Sie hatte ihn mehrmals mit zerschrammten Knöcheln heimkommen sehen, und dann war er ungewöhnlich schweigsam und konnte dasitzen und grübeln, ohne ein Wort zu sagen, oder gleich ins Bett gehen. Sie bemühte sich, sein Vertrauen zu gewinnen. Sie setzte sich auf seinen Schoß und schmiegte sich an ihn an, legte den einen Arm um seinen Hals und strich ihm mit der freien Hand das Haar aus der Stirn oder versuchte, seine Runzeln zu glätten.
»Weißt du, Schatz«, begann sie in besorgtem Tone, »du hast jetzt kein ehrliches Spiel gespielt, und das will ich nicht. Nein!« Sie schloss ihm mit der Hand den Mund. »Jetzt bin ich es, die die ganzen Kosten der Unterhaltung tragen muss, und das kommt daher, dass du in der letzten Zeit so wenig mitteilsam warst. Weißt du nicht mehr, dass wir uns von Anfang an einig waren, über alles miteinander zu reden? Du redest nicht mehr über alles mit mir. Du unternimmst Dinge, von denen du mir nichts erzählst.
Billy, du bist mir teurer als alles andere auf der Welt. Das weißt du gut. Wir haben jeder teil am Leben des anderen, aber eben jetzt gibt es etwas, woran du mich nicht teilnehmen lässt. Jedes Mal, wenn du mit zerschlagenen Knöcheln heimkommst, ist etwas geschehen, woran du mich nicht teilnehmen ließest. Wenn du dich nicht auf mich verlassen kannst, so kannst du es auf keinen anderen Menschen. Und zudem liebe ich dich so sehr, dass ich dich immer lieben werde, was du auch tun magst.«
Billy warf ihr einen zärtlichen, halb ungläubigen Blick zu.
»Und du wirst nicht böse werden?« fragte er.
»Warum sollte ich? Ich bin nicht dein Chef, Billy. Um alles in der Welt würde ich dich nicht kommandieren. Und wenn du mich dich kommandieren ließest, dann würde ich dich nicht halb so sehr lieben.«
Er dachte einen Augenblick über ihre Worte nach und nickte schließlich.
»Nun ja, dann will ich dir erzählen, wie es zuging.« Er hielt inne und lachte ein jungenhaftes, heiteres Lachen, während er sich irgend etwas ins Gedächtnis zurückrief. »Es hängt so zusammen – aber du wirst nicht böse auf mich, nicht wahr? Wir müssen so etwas tun, um uns zu behaupten. Nun ja, es war also ein richtiger Film, nur dass dazu geredet wurde. Da kommt so ein großer Bauernlümmel an – riecht direkt nach Land, mit Händen wie Schinken und Füßen wie Kanonenbooten. Er wiegt wohl anderthalbmal so viel wie ich, und jung ist er auch. Er will keinen Krach machen und ist so unschuldig wie – na ja, er ist der unschuldigste Streikbrecher, der je einem Paar Streikposten in die Hände gefallen ist. Kein richtiger Streikbrecher, weißt du, nur ein großer Bauernlümmel, der die Annonce vom Alten gelesen hat und in die Stadt kommt, um die hohen Löhne zu kriegen.
Und da kommen nun Bud Stroters und ich angegangen. Wir gehen ja immer zu zweit und zuweilen noch zu mehreren. Ich nehme mir den Bauernlümmel aufs Korn. ›He‹, sag ich, ›suchst du Arbeit?‹ ›Darauf kannst du schwören‹, sagt er. ›Kannst du fahren?‹ ›Gewiss‹, sagt er. ›Vier Pferde?‹ ›Zeig mir die vier Pferde‹, sagt er. ›Keine Dummheiten‹, sag ich, ›bist du auch sicher, dass du Lust zum Fahren hast?‹ ›Dazu bin ich ja in die Stadt gekommen‹, sagt er. ›Dann bist du gerade der Mann, den wir suchen. Komm her, wir wollen dir Arbeit geben, und zwar sofort.‹
Siehst du, Saxon, wir können es nicht gleich abmachen, denn ein paar Ecken weiterhin geht Tom Scanion – der rothaarige Polyp, weißt du – und pfeift, um uns zu erzählen, dass wir abschieben sollen, aber er kennt uns nicht. So gehen wir denn alle drei – aber wenn du meinst, dass wir uns unsere Arbeit von dem Lümmel nehmen lassen wollen, dann irrst du dich. Wir gehen also in die Gasse hinter Campwells Krämerladen. Es ist nicht ein Mensch zu sehen. Bud bleibt stehen und der Bauernlümmel und ich auch.
›Ich glaube nicht, dass er Lust hat zu fahren‹, sagt Bud nachdenklich. Und der Bauernlümmel antwortet: ›Doch, darauf könnt ihr Gift nehmen.‹ ›Bist du ganz sicher, dass du die Arbeit haben willst?‹ frage ich. Ja, er ist ganz sicher. Nichts soll ihn verhindern, sich um die Arbeit zu bewerben. Dazu ist er ja in die Stadt gekommen.
›Ja, mein Freund‹, sage ich, ›dann habe ich die schwere Pflicht, dir mitzuteilen, dass du dich geirrt hast.‹ ›Wieso?‹ fragt er. ›Ja, das wollen wir dir gleich zeigen‹, sage ich. Und dann – eins, zwei, drei! Klatsch, klatsch! Tschu, Feuerwerk, vierter Juli! Geradeswegs in die Hölle – bengalisches Licht, Raketen, Höllenfeuer und so! Es dauert nicht sehr lange, wenn man gut ausgebildet und gewohnt ist, zu zweit zu arbeiten. Natürlich ist es nicht angenehm für die Knöchel. Aber weißt du, Saxon, wenn du den Bauernlümmel vorher und nachher gesehen hättest, du würdest geglaubt haben, er sei ein Verwandlungskünstler. Ob es zum Lachen war? Du wärest geplatzt!«
Billy schwieg und ließ seiner eigenen Heiterkeit freien Lauf. Saxon stimmte ein, aber innerlich war sie entsetzt. Mercedes hatte recht. Die dummen Arbeiter stritten und schlugen sich um Arbeit, die klugen Herren fuhren in Automobilen und stritten und schlugen sich nicht. Sie mieteten sich dafür andere dumme Menschen.
»›Ihr Banditen!‹ wimmert der Bauernlümmel, als er endlich wieder auf die Beine kommt«; fuhr Billy fort. »›Hast du immer noch Lust zur Arbeit?‹ frage ich. Er schüttelt den Kopf. ›Du hast nur eines zu tun, du alte Bauernmähre – dir eine Fahrkarte zu kaufen. Verstanden? Eine Fahrkarte. Zurück nach dem Bauernhof mit dir! Und wenn du noch einmal in die Stadt kommst, dann machen wir Ernst mit dir. Diesmal war es nur Spaß. Wenn wir dich aber noch einmal zu fassen kriegen, dann soll deine eigene Mutter dich nicht wiedererkennen, wenn wir mit dir fertig sind.‹ Und – ach, Saxon, du hättest ihn abschieben sehen sollen. Ich bin sicher, er läuft noch. Und wenn er nach Hause kommt und erzählt, wie wir sie in Oakland behandeln, dann möchte ich Dollar gegen Pfeffernüsse wetten, dass nicht ein Bauernlümmel aus seinem Distrikt herzukommen wagt, um zu fahren, nein – und wenn sie ihm zehn Dollar die Stunde geben.«
»Das ist schrecklich!« sagte Saxon und lachte dann mit gut gespielter Bewunderung.
»Ach, das ist noch gar nichts«, fuhr Billy fort. »Einige von den Genossen erwischten heute Morgen einen anderen Burschen. In weniger als zwei Minuten war er der schlimmste Knochenhaufen, der je in ein Hospital gebracht worden ist. Die Abendzeitungen brachten ein Verzeichnis seiner Wunden – gebrochene Nase, drei tüchtige Löcher im Kopf, die Vorderzähne ausgeschlagen, ein gebrochenes Schlüsselbein und zwei gebrochene Rippen. Na ja! Es tat ihm gut. Aber das ist noch gar nichts. Weißt du, was die San Franziskoer Fuhrleute bei dem großen Streik vor dem Erdbeben machten – sie nahmen sich jeden Streikbrecher, den sie kriegen konnten, vor und brachen ihm die Arme. Mit einem Brecheisen. Damit er nicht mehr fahren könnte, verstehst du. Ja, die Krankenhäuser waren voll von ihnen. Und die Fuhrleute gewannen ja auch den Streik.«
»Aber, Billy, ist es denn notwendig, so schrecklich roh zu sein? Ich weiß gut, dass sie Streikbrecher sind und den Kindern der Streikenden das Brot aus dem Munde nehmen, um es ihren Kindern zu geben, und das ist nicht richtig, das weiß ich. Aber ist es denn notwendig, so – roh zu sein?«
»Natürlich ist es das«, antwortete Billy mit Überzeugung. »Wir müssen ihnen einen Schrecken einjagen – wenn wir es tun können, ohne geschnappt zu werden.«
»Und wenn ihr geschnappt werdet?«
»Dann nehmen die Gewerkschaften Rechtsanwälte, um uns zu verteidigen, wenn sie auch nicht viel taugen; denn die Richter sind ziemlich scharf auf uns, und die Zeitungen pauken ihnen immer wieder ein, dass sie uns streng und strenger bestrafen sollen. Aber soviel ist sicher, ehe dieser Streik vorbei ist, gibt es eine ganze Schar von Schwachköpfen, die wünschen, dass sie nie versucht hätten, Streikbrecher zu spielen.«
Im Laufe der nächsten halben Stunde fühlte Saxon ihrem Mann sehr vorsichtig auf den Zahn, um seine wirklichen Anschauungen zu erfahren, ob er nun auch ganz überzeugt war, dass er und die anderen Fuhrleute zu solchen Gewalttaten berechtigt wären. Aber Billys Glaube an die Gerechtigkeit seiner Sache war felsenfest und tief. Für Dynamit und Mord war er jedoch nicht zu haben. Das wollten die Gewerkschaften aber auch nicht. Seine Erklärung war ungeheuer naiv, dass Dynamit und Mord sich nicht lohnten, dass so etwas die öffentliche Meinung gegen die Streiks anfachte und den Streikenden ihre Chancen verdarb. Aber einem Streikbrecher eine tüchtige Tracht Hiebe zu verabreichen oder, wie er sich ausdrückte, ihm einen ordentlichen Schrecken einzujagen – das war vollkommen korrekt und richtig.
»Unsere Eltern haben so etwas nie getan«, sagte Saxon schließlich. »Damals gab es weder Streiks noch Streikbrecher.«
»Nein, das stimmt«, gab Billy zu. »Das war die gute alte Zeit. Ich hätte gern damals gelebt.« Er schöpfte tief Atem und seufzte. »Aber die Zeit kommt nie wieder.«
»Hättest du gern auf dem Lande gelebt?« fragte sie.
»Darauf kannst du dich verlassen.«
»Ja, aber auch jetzt leben eine Menge Menschen auf dem Lande«, sagte sie.
»Aber deshalb kommen sie doch in die Stadt und nehmen uns anderen die Arbeit«, lautete seine Antwort.
Ein Lichtschimmer fiel in ihr Dasein, als Billy Arbeit als Kutscher bei der großen Brücke bekam, die bei Niles gebaut wurde. Ehe er zuschlug, hatte er sich vergewissert, dass bei dem Unternehmen nur Gewerkschaftler beschäftigt waren. Und Gewerkschaftler waren sie auch zwei Tage lang, bis die Zementarbeiter die Arbeit niederlegten. Die Unternehmer, die offenbar hierauf vorbereitet waren, stellten für die Zementarbeit Italiener ein, die nicht in den Gewerkschaften waren, worauf Zimmerleute, Eisenarbeiter und Kutscher sofort die Arbeit niederlegten, und Billy, der kein Geld für die Eisenbahn hatte, den Rest des Tages dazu verwenden musste, nach Hause zu spazieren.
»Ich konnte nicht als Streikbrecher arbeiten«, schloss er seinen Bericht.
»Nein«, sagte Saxon, »du konntest nicht als Streikbrecher arbeiten.«
Aber sie musste doch denken, wie es sein konnte, dass ein Mann gern arbeiten wollte, und dass es Arbeit für ihn gab, und dass er dann nicht arbeiten konnte, weil die Gewerkschaften es nicht erlaubten. Warum gab es Gewerkschaften? Und wenn sie notwendig waren, warum waren dann nicht alle Arbeiter in ihnen? Dann gab es keine Streikbrecher mehr, und Billy hatte jeden Tag Arbeit. Und sie dachte nach, wie sie sich den Sack Mehl verschaffen sollte, denn sie konnte sich längst nicht mehr den Luxus leisten, Brot zu kaufen. Und ebenso ging es vielen anderen Frauen in der Nachbarschaft, sodass der kleine wallisische Bäcker seinen Laden geschlossen hatte und mit seiner Frau und seinen beiden kleinen Töchtern fortgezogen war. Wo sie hinsah, waren Not und Elend die Folge dieses Streits zwischen Arbeitern und Arbeitgebern.
Eines Nachmittags klopfte ein Fremder bei ihr an, und am selben Abend kam Billy mit Neuigkeiten etwas zweifelhafter Art nach Hause. Ihm war ein Angebot gemacht worden. Er brauchte nur zuzuschlagen und konnte als Vorarbeiter mit hundert Dollar monatlich im Stall antreten.
Die Aussicht auf eine solche Summe wirkte beinahe lähmend auf Saxon, die gerade bei einem aus Salzkartoffeln, gewärmten Bohnen und einer kleinen, trockenen, rohen Zwiebel bestehenden Abendbrot saß. Es gab weder Brot noch Kaffee oder Butter. Die Zwiebel hatte Billy aus der Tasche gezogen – er hatte sie auf der Straße gefunden. Hundert Dollar monatlich! Sie befeuchtete sich die Lippen und versuchte, ihre Selbstbeherrschung zu bewahren.
»Warum haben sie es dir angeboten?« fragte sie.
»Das ist ganz einfach. Aus vielen Gründen. Der Bursche, den der Chef King und Prince bewegen lässt, ist ein Schwachkopf, und King lahmt. Außerdem haben sie eine ziemlich deutliche Vorstellung davon, dass ich es bin, der eine ganze Menge von ihren Streikbrechern arbeitsunfähig gemacht hat. Macklin ist seit vielen, vielen Jahren als Vorarbeiter bei ihnen – ich war noch ein kleiner Kerl in kurzen Hosen, als er schon Vorarbeiter war. Und jetzt ist er krank und erledigt. Sie brauchen einen anderen für seine Stellung. Und ich bin ja auch seit vielen Jahren da. Und – was das wichtigste ist – ich kann die Sache übernehmen. Du weißt, ich kenne Pferde von Grund auf.«
»Denk nur, Billy!« sagte sie kaum hörbar. »Hundert Dollar monatlich!«
»Und die anderen im Stich lassen«, sagte er.
Es war keine Frage. Es war auch keine Erklärung. Saxon konnte es verstehen, wie sie wollte. Sie sahen sich an. Sie wartete, dass er etwas sagen sollte, aber er sah sie nur weiter an. Es kam ihr vor, als sei sie an einem Wendepunkt ihres Lebens angelangt, und sie gab sich Mühe, ihr Gleichgewicht zu bewahren. Billy half ihr nicht im geringsten. Wie seine Meinung auch sein mochte, er zeigte es ihr nicht, und sein Gesicht war vollkommen ausdruckslos. Seine Augen verrieten nichts. Er sah sie nur an und wartete.
»Du – du kannst es nicht tun, Billy«, sagte sie schließlich. »Du kannst die anderen nicht im Stich lassen.«
Er streckte ihr die Hand hin, und ein strahlend glücklicher Ausdruck lag über seinem Gesicht.
»Her die Hand!« rief er, und ihre Hände trafen sich in einem festen Druck. »Du bist die treueste, beste kleine Frau, die je ein Mann gehabt hat. Wären alle anderen wie du, so könnten wir jeden Streik gewinnen.«
»Was hättest du getan, wenn du nicht verheiratet gewesen wärest, Billy?«
»Ich hätte sie erst hängen sehen mögen!«
»Dann soll es nichts daran ändern, dass du verheiratet bist. Ich muss alles mit dir teilen. Ich wäre eine schlechte Frau, wenn ich das nicht täte.«
Dann erinnerte sie sich des Gastes, den sie am Nachmittag gehabt hatte, und sie wusste, dass der Augenblick günstig war, ihm davon zu berichten.
»Heute Nachmittag war ein Mann hier, Billy. Er suchte ein Zimmer. Ich sagte, ich wollte mit dir reden. Er sagte, er wolle sechs Dollar für das Schlafzimmer nach dem Hof hinaus bezahlen. Dann könnten wir einen halben Monat auf die Miete abzahlen und einen Sack Mehl kaufen, denn unser Mehl ist ganz ausgegangen.«
Saxon kannte Billys Abneigung dagegen, ein Zimmer zu vermieten, und sie sah ihn besorgt an.
»Das ist wohl einer von den Streikbrechern von der Eisenbahn?«
»Nein, er ist Heizer auf dem Güterzug nach San José. Harmon, sagt er, heißt er, James Harmon. Er ist eben erst hergezogen. Er schläft den größten Teil des Tages, und deshalb möchte er gern in einem ruhigen Haus ohne Kinder wohnen.«
Zuletzt gab Billy nach, aber mit vielen Bedenken, und erst, als Saxon ihm erklärt hatte, wie wenig Arbeit es ihr machen würde. Aber selbst dann protestierte er noch und fügte hinzu, als sei es ihm erst jetzt eingefallen: »Aber ich will nicht, dass du einem fremden Mann das Bett machst. Das ist nicht richtig. Ich sollte für dich sorgen.«
»Das könntest du auch«, antwortete sie schnell, »wenn du die Stellung als Vorarbeiter annimmst. Aber das kannst du doch nicht. Und wenn ich alles mit dir teilen soll, dann ist es doch nur recht und billig, dass du mich tun lässt, was ich kann.«
James Harmon machte noch weniger Mühe, als Saxon erwartet hatte. Für einen Heizer war er außerordentlich sauber, und er wusch sich stets in dem Lokomotivenschuppen, ehe er heimkam. Er hatte einen Schlüssel zur Hintertür und kam und ging immer über die Hintertreppe. Saxon sagte er nur eben guten Tag und Lebewohl, und da er am Tage schlief und nachts arbeitete, war er schon eine ganze Woche im Hause, ehe Billy ihn sah.
Billy kam seit einiger Zeit später nach Hause und ging auch oft nach dem Abendessen allein aus. Er erzählte Saxon nie, wo er hinging, und sie fragte ihn auch nicht. Im übrigen brauchte sie nicht besonders schlau zu sein, um es herauszufinden, denn er roch immer nach Whisky, wenn er heimkam, und seine langsamen, besonnenen Bewegungen waren noch langsamer und besonnener als sonst. Aber der Whisky wirkte auf sein Gehirn, machte seine Lider schwer, die Augen selbst noch gewitterhafter als sonst. Er sagte nicht viel, aber das wenige, was er sagte, war düster und schwer wie ein Orakel. Bei solchen Gelegenheiten war es nicht möglich, seinen Standpunkt zu erschüttern oder mit ihm zu disputieren.
Es war keine ansprechende Seite seines Wesens, die Saxon in diesen Tagen sah. Es war fast, als sei es ein fremder Mann, mit dem sie zusammenleben musste, und so sehr sie sich auch anstrengte, begann ihr doch fast vor ihm zu schaudern. Früher war er immer bemüht gewesen, Streit und Schlägereien zu vermeiden. Jetzt genoss er das, war entzückt, wenn er mit dabei sein konnte, und suchte selbst jeden Anlass, den er finden konnte. Alles das kam deutlich in seinem Gesicht zum Ausdruck. Er war nicht mehr der frohe, lächelnde Junge. Er lächelte selten. Sein Gesicht war das eines Mannes. Die Lippen, die Augen, die Linien um den Mund waren unbarmherzig, wie seine Gedanken unbarmherzig waren.
Er war selten unfreundlich zu Saxon, andererseits war er aber auch selten wirklich freundlich. Seine Haltung ihr gegenüber wurde negativ. Er interessierte sich nicht für sie. Trotz dem Kampf, den sie gemeinsam, Schulter an Schulter, für die Prinzipien der Gewerkschaften kämpften, nahm sie nur einen geringen Raum in seinen Gedanken ein. Wenn er freundlich zu ihr war, konnte sie sehen, dass es rein mechanisch geschah, wie sie sich auch völlig klar darüber war, dass er rein gewohnheitsmäßig zärtlich zu ihr sprach oder sie liebkoste. Die unmittelbare Wärme, die seine Worte und Liebkosungen erfüllt hatte, war jetzt verschwunden. Hin und wieder, wenn er nicht betrunken war, konnte er für Augenblicke der alte Billy sein; aber selbst diese flüchtigen Augenblicke wurden immer seltener. Meistens ging er in seinen eigenen düsteren Gedanken umher. Die schweren Zeiten und der schwere Druck des Kampfes, der zwischen Arbeitern und Arbeitgebern ausgefochten wurde, stellte ihn auf eine harte Probe. Das war besonders auffallend, wenn er schlief; denn dann wurde er von wilden, gesetzlosen Träumen gequält, er stöhnte und murmelte, ballte die Fäuste und knirschte mit den Zähnen, drehte und wand sich unter starken Muskelanspannungen, während sein Gesicht von bösen Leidenschaften verzerrt war und seine Kehle unter furchtbaren Flüchen arbeitete, die in einen merkwürdig scheuernden Laut endeten. Saxon, die neben ihm lag, ängstigte sich vor diesem fremden Mann, den sie nicht kannte, und sie erinnerte sich dessen, was Mary ihr von Bert erzählt hatte. Auch er hatte geflucht und die Fäuste geballt und nachts wieder die Kämpfe des Tages ausgefochten. Aber eines sah Saxon ganz deutlich. Es war nicht Billys Schuld, dass er sich zu diesem anderen, wenig ansprechenden Billy entwickelte. Wäre kein Streik, kein Zank und Streit um die Arbeit gewesen, so würde es nur den alten Billy gegeben haben, den sie so voll und ganz geliebt hatte. Dies Schreckliche, das auf dem Grunde seines Wesens schlummerte, würde weitergeschlummert haben. Wenn aber der Streik andauerte, so fürchtete sie, und das mit gutem Grunde, dass dieses zweite unheimliche Ich Billys stark werden und abschreckendere Formen annehmen würde. Und das, wusste sie, war gleichbedeutend mit dem Untergang ihres Liebeslebens. Einen solchen Billy konnte sie nicht lieben, und ein solcher Billy war seinem Wesen zufolge weder imstande, Liebe zu gewinnen noch zu geben. Und bei dem Gedanken, dass Kinder kommen konnten, wurde sie von einer furchtbaren Angst gepackt. Das wäre zu schrecklich gewesen.
Auch Billy hatte seine Probleme – Fragen, die er nicht beantworten konnte.
»Warum wollen die Bauhandwerker nicht streiken?« lautete eine der Fragen, die er erbittert in die Dunkelheit hinausschleuderte, die die Wege der Menschen und des Lebens verhüllte. »Aber nein, O’Brien will nicht mitstreiken, und er beherrscht die Bauhandwerker vollkommen. Und der Teufel holt den Zusammenschluss der Arbeiter! Du meine Güte – es ist eine Ewigkeit her, dass ich weder eine ordentliche Zigarre noch eine Tasse anständigen Kaffee bekommen habe. Ich habe vergessen, was gutes Essen heißt. Ich ließ mich gestern wiegen. Fünfzehn Pfund abgenommen, seit der Streik begann. Wenn es noch lange dauert, kann ich bald als Mittelgewicht kämpfen. Und das ist alles, was ich davon habe, dass ich die ganzen Jahre meine Gewerkschaftsbeiträge bezahlt habe. Ich kann kein ordentliches Essen kriegen, und meine Frau muss einem fremden Mann das Bett machen. Das macht mich toll. Eines Tages laufe ich rüber und schmeiße den Zimmerherrn raus.«
»Aber es ist doch nicht seine Schuld, Billy«, wandte Saxon ein.
»Wer sagt, dass es seine Schuld sei?« fragte Billy gereizt. »Aber deshalb macht es mich doch toll. Welchen Zweck haben die Gewerkschaften, wenn man nicht zusammenhält? Ich möchte am liebsten die ganze Geschichte an den Nagel hängen und zu den Arbeitgebern übergehen. Aber den Triumph sollen sie doch nicht erleben, die verfluchten Schurken! Wenn sie glauben, sie könnten uns in die Knie zwingen, so lass sie nur ihr Glück versuchen – mehr kann ich nicht sagen. Aber begreifen kann ich es doch nicht. Die ganze Welt ist verrückt geworden. Es ist kein Sinn mehr darin. Was nützt es, eine Gewerkschaft zu unterstützen, die keinen Streik gewinnen kann? Was nützt es, Streikbrechern die Köpfe zu zerschlagen, wenn immer wieder neue kommen?«