Jack London – Gesammelte Werke

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»Gott!« sag­te der Schlach­ter zu Sa­xon. »Wir von der Ar­bei­ter­klas­se lei­den alle. Vi­el­leicht gehe ich plei­te.«

Als Bil­ly sich ent­schloss, sei­ne Uhr zu ver­set­zen, schlug Sa­xon ihm vor, sich Geld von Bil­ly Mur­phy zu lei­hen.

»Da­ran habe ich auch schon ge­dacht«, ant­wor­te­te Bil­ly. »Aber es geht jetzt nicht. Er hat sich den Arm ge­bro­chen.«

Sa­xon hat­te ihre Mor­gen­zei­tung auf­ge­ge­ben, aber Mag­gie Do­na­hues Jun­ge, der die »Tri­bu­ne« aus­trug, warf ge­wöhn­lich eine Ex­tra­zei­tung auf ihre Trep­pe. Aus den Leit­ar­ti­keln er­hielt Sa­xon den Ein­druck, dass die Ar­bei­ter­or­ga­ni­sa­tio­nen das Land zu re­gie­ren ver­such­ten und al­les in schreck­li­che Un­ord­nung brach­ten. Al­les war Schuld der Ar­bei­ter­par­tei – der herr­schen­den Ar­bei­ter­par­tei – so lau­te­ten die Leit­ar­ti­kel, Spal­te auf Spal­te und Tag auf Tag, und Sa­xon war über­zeugt, aber doch, nicht ganz. Das Le­ben war so ver­wi­ckelt und das Rät­sel, das die so­zia­len Ver­hält­nis­se auf­ga­ben, an­schei­nend un­lös­bar.

Der Fuhr­leu­te­streik, der of­fi­zi­ell von den San Fran­zis­ko­er Fuhr­leu­ten und der Ge­werk­schaft der San Fran­zis­ko­er Ha­fen­ar­bei­ter un­ter­stützt wur­de, schi­en sich in die Län­ge zie­hen zu wol­len, ob er nun durch­ge­führt wur­de oder nicht. Die Ge­schirr­pas­ser und Stall­knech­te von Oa­k­land hat­ten bis auf we­ni­ge Aus­nah­men ge­mein­sa­me Sa­che mit den Fuhr­leu­ten ge­macht. Die Fuhr­her­ren konn­ten ih­ren Ver­pflich­tun­gen nicht zur Hälf­te nach­kom­men, aber der Ar­beit­ge­ber­ver­band half ih­nen. In Wirk­lich­keit stand die Hälf­te al­ler Ar­beit­ge­ber­ver­bän­de an der pa­zi­fi­schen Küs­te hin­ter dem Ver­band von Oa­k­land.

Sa­xon war einen Mo­nat mit der Mie­te im Ver­zug, was, da die Mie­te vor­aus­zu­zah­len war, zwei Mo­na­te be­deu­te­te. Auch mit der Ab­zah­lung der Mö­bel war sie zwei Mo­na­te im Rück­stand, glück­li­cher­wei­se aber dräng­te Sa­lin­gers Mö­bel­ge­schäft nicht sehr mit der Be­zah­lung.

»Wir hel­fen Ih­nen, so­viel wir kön­nen«, sag­te der Ein­kas­sie­rer. »Ich habe Or­der, Sie zu drän­gen und so­viel wie mög­lich aus Ih­nen her­aus­zu­ho­len, an­de­rer­seits aber soll ich auch nicht zu hart vor­ge­hen. Sa­lin­gers möch­ten so hu­man wie mög­lich sein, aber die Zei­ten sind ja auch für die Fir­ma nicht gut. Sie ah­nen nicht, wie vie­le For­de­run­gen wir aus­ste­hen ha­ben – von der­sel­ben Art wie bei Ih­nen. Frü­her oder spä­ter müs­sen wir Schluss ma­chen – sonst kom­men wir selbst auf den Hund. In­zwi­schen aber ver­su­chen Sie nur, fünf Dol­lar bis zur nächs­ten Wo­che zu­sam­men­zu­brin­gen – nur, um Ihren gu­ten Wil­len zu zei­gen.«

Ei­ner von den Stall­knech­ten, die nicht mit den Strei­ken­den ge­gan­gen wa­ren, ein Mann na­mens Hen­der­son, ar­bei­te­te bei der­sel­ben Fir­ma wie Bil­ly. Ob­gleich sei­ne Chefs ihm ans Herz ge­legt hat­ten, wie die an­de­ren in den Stäl­len zu es­sen und zu schla­fen, war Hen­der­son doch je­den Mor­gen nach sei­nem Häu­schen in der Fünf­ten Stra­ße, ge­ra­de um die Ecke von Sa­x­ons und Bil­lys Woh­nung, zu­rück­ge­kehrt. Sie hat­te ihn mehr­mals kom­men se­hen, her­aus­for­dernd und sei­nen Ess­napf schwin­gend, wäh­rend alle Jun­gen in der Nach­bar­schaft ihm in an­ge­mes­se­ner Ent­fer­nung folg­ten und im Chor heul­ten, dass er ein Streik­bre­cher und ein furcht­ba­rer Mensch sei. Ei­nes Abends aber, als er be­son­ders über­mü­tig war, ging er in die Wirt­schaft an der Ecke der Sie­ben­ten und der Pine Street. Da hat­te er das Pech, Otto Frank, einen der strei­ken­den Kut­scher des­sel­ben Stal­les, zu tref­fen. We­ni­ge Mi­nu­ten dar­auf war Hen­der­son, der einen Schä­del­bruch da­von­ge­tra­gen hat­te, in ei­nem Kran­ken­wa­gen un­ter­wegs nach dem Kran­ken­haus, wäh­rend ein Pa­trouil­len­wa­gen in nicht ge­rin­ge­rer Eile Otto Frank in das Po­li­zei­ge­fäng­nis brach­te.

Es war Mag­gie Do­na­hue, die Sa­xon freu­de­strah­lend das Ge­sche­he­ne er­zähl­te.

»Das ge­schieht ihm recht, dem dre­cki­gen Streik­bre­cher«, schloss Mag­gie ih­ren Be­richt.

»Aber sei­ne arme Frau«, sag­te Sa­xon. »Sie ist nicht kräf­tig. Und die Kin­der. Wenn ihr Mann stirbt, kann sie sie nicht ver­sor­gen.«

»Oh, das ge­schieht ihr recht, der ver­fluch­ten Sch­lam­pe!«

Sa­xon war ent­setzt und ge­kränkt über die Bru­ta­li­tät der Ir­län­de­rin. Aber Mag­gie war un­ver­söhn­lich.

»Das ist nur, was sie ver­dient – sie und die an­de­ren Frau­en, die mit Streik­bre­chern zu­sam­men­le­ben. Und die Kin­der! Lass sie hun­gern, wenn ihr Va­ter an­de­rer Leu­te Kin­dern das Brot aus dem Mun­de nimmt.«

Frau Ol­sen nahm es ganz an­ders auf. Sie zeig­te ein ge­wis­ses pas­si­ves, sen­ti­men­ta­les Mit­ge­fühl für Hen­der­sons Frau und Kin­der, dann aber dach­te sie nicht mehr an sie, wäh­rend sie schwer be­sorgt um Otto Franks Frau und Kin­der war – sie und Frau Frank wa­ren näm­lich Schwes­tern.

»Wenn er stirbt, wird Otto ge­hängt«, sag­te sie. »Und was tut denn die arme Hil­da? Sie hat Krampf­adern in bei­den Bei­nen und kann un­mög­lich auf Ar­beit ge­hen. Und ich – ich kann ihr nicht hel­fen. Ist Karl nicht auch ar­beits­los?«

Bil­ly nahm wie­der­um einen an­de­ren Stand­punkt ein.

»Das bringt den Streik nur in Ver­ruf, na­ment­lich wenn Hen­der­son kre­piert«, sag­te er be­sorgt, als er nach Hau­se kam. »Frank hän­gen sie si­cher, wenn sie kön­nen. Und dazu müs­sen wir einen Ver­tei­di­ger und Gott weiß was be­zah­len – und das kos­tet ein ver­fluch­tes Geld. Das wird ein tüch­ti­ges Loch in un­se­re Kas­se ma­chen. Und hät­te der Whis­ky nicht Frank ganz von Sin­nen ge­bracht, so wür­de er es nie ge­tan ha­ben – er ist der fried­lichs­te, gut­mü­tigs­te Mensch, den man sich den­ken kann.«

Zwei­mal im Lau­fe des Abends ging Bil­ly aus, um zu er­fah­ren, ob Hen­der­son ge­stor­ben war. Am Mor­gen ga­ben ihm die Zei­tun­gen nur we­nig Hoff­nung, und die Abend­zei­tun­gen mel­de­ten sei­nen Tod. Otto Frank saß im Ge­fäng­nis. Die »Tri­bu­ne« ver­lang­te schnel­le Ab­ur­tei­lung und sum­ma­ri­sche Be­stra­fung und ver­weil­te ein­ge­hend bei der mo­ra­li­schen Wir­kung, die ein sol­ches Auf­tre­ten auf den ge­setz­lo­sen Ar­bei­ter­stand aus­üben wür­de. Sie ging noch wei­ter und be­ton­te, welch nütz­li­chen Ein­fluss Ma­schi­nen­ge­weh­re auf den Pö­bel­hau­fen ha­ben wür­den, der sich der schö­nen Stadt Oa­k­land be­mäch­tigt hät­te.

Alle die­se Er­eig­nis­se tra­fen Sa­xon ganz per­sön­lich. Sie, die nichts auf der Welt hat­te als Bil­ly, fühl­te, dass ihr und sein Le­ben, ja, auch ihr ge­mein­sa­mes Lie­bes­le­ben, be­droht war. Von dem Au­gen­blick an, wenn er das Haus ver­ließ, bis er zu­rück­kam, war sie nicht einen Au­gen­blick ru­hig. Eine Ge­walt­tat folg­te der an­de­ren, aber er er­zähl­te ihr nichts da­von, und sie wuss­te, dass er dar­an be­tei­ligt war. Sie hat­te ihn mehr­mals mit zer­schramm­ten Knö­cheln heim­kom­men se­hen, und dann war er un­ge­wöhn­lich schweig­sam und konn­te da­sit­zen und grü­beln, ohne ein Wort zu sa­gen, oder gleich ins Bett ge­hen. Sie be­müh­te sich, sein Ver­trau­en zu ge­win­nen. Sie setz­te sich auf sei­nen Schoß und schmieg­te sich an ihn an, leg­te den einen Arm um sei­nen Hals und strich ihm mit der frei­en Hand das Haar aus der Stirn oder ver­such­te, sei­ne Run­zeln zu glät­ten.

»Weißt du, Schatz«, be­gann sie in be­sorg­tem Tone, »du hast jetzt kein ehr­li­ches Spiel ge­spielt, und das will ich nicht. Nein!« Sie schloss ihm mit der Hand den Mund. »Jetzt bin ich es, die die gan­zen Kos­ten der Un­ter­hal­tung tra­gen muss, und das kommt da­her, dass du in der letz­ten Zeit so we­nig mit­teil­sam warst. Weißt du nicht mehr, dass wir uns von An­fang an ei­nig wa­ren, über al­les mit­ein­an­der zu re­den? Du re­dest nicht mehr über al­les mit mir. Du un­ter­nimmst Din­ge, von de­nen du mir nichts er­zählst.

Bil­ly, du bist mir teu­rer als al­les an­de­re auf der Welt. Das weißt du gut. Wir ha­ben je­der teil am Le­ben des an­de­ren, aber eben jetzt gibt es et­was, wor­an du mich nicht teil­neh­men lässt. Je­des Mal, wenn du mit zer­schla­ge­nen Knö­cheln heim­kommst, ist et­was ge­sche­hen, wor­an du mich nicht teil­neh­men ließest. Wenn du dich nicht auf mich ver­las­sen kannst, so kannst du es auf kei­nen an­de­ren Men­schen. Und zu­dem lie­be ich dich so sehr, dass ich dich im­mer lie­ben wer­de, was du auch tun magst.«

Bil­ly warf ihr einen zärt­li­chen, halb un­gläu­bi­gen Blick zu.

»Und du wirst nicht böse wer­den?« frag­te er.

»Wa­rum soll­te ich? Ich bin nicht dein Chef, Bil­ly. Um al­les in der Welt wür­de ich dich nicht kom­man­die­ren. Und wenn du mich dich kom­man­die­ren ließest, dann wür­de ich dich nicht halb so sehr lie­ben.«

Er dach­te einen Au­gen­blick über ihre Wor­te nach und nick­te schließ­lich.

»Nun ja, dann will ich dir er­zäh­len, wie es zu­ging.« Er hielt inne und lach­te ein jun­gen­haf­tes, hei­te­res La­chen, wäh­rend er sich ir­gend et­was ins Ge­dächt­nis zu­rück­rief. »Es hängt so zu­sam­men – aber du wirst nicht böse auf mich, nicht wahr? Wir müs­sen so et­was tun, um uns zu be­haup­ten. Nun ja, es war also ein rich­ti­ger Film, nur dass dazu ge­re­det wur­de. Da kommt so ein großer Bau­ern­lüm­mel an – riecht di­rekt nach Land, mit Hän­den wie Schin­ken und Fü­ßen wie Ka­no­nen­boo­ten. Er wiegt wohl an­dert­halb­mal so viel wie ich, und jung ist er auch. Er will kei­nen Krach ma­chen und ist so un­schul­dig wie – na ja, er ist der un­schul­digs­te Streik­bre­cher, der je ei­nem Paar Streik­pos­ten in die Hän­de ge­fal­len ist. Kein rich­ti­ger Streik­bre­cher, weißt du, nur ein großer Bau­ern­lüm­mel, der die An­non­ce vom Al­ten ge­le­sen hat und in die Stadt kommt, um die ho­hen Löh­ne zu krie­gen.

Und da kom­men nun Bud Stro­ters und ich an­ge­gan­gen. Wir ge­hen ja im­mer zu zweit und zu­wei­len noch zu meh­re­ren. Ich neh­me mir den Bau­ern­lüm­mel aufs Korn. ›He‹, sag ich, ›suchst du Ar­beit?‹ ›Da­rauf kannst du schwö­ren‹, sagt er. ›Kannst du fah­ren?‹ ›Ge­wiss‹, sagt er. ›Vier Pfer­de?‹ ›Zeig mir die vier Pfer­de‹, sagt er. ›Kei­ne Dumm­hei­ten‹, sag ich, ›bist du auch si­cher, dass du Lust zum Fah­ren hast?‹ ›Da­zu bin ich ja in die Stadt ge­kom­men‹, sagt er. ›Dann bist du ge­ra­de der Mann, den wir su­chen. Komm her, wir wol­len dir Ar­beit ge­ben, und zwar so­fort.‹

 

Siehst du, Sa­xon, wir kön­nen es nicht gleich ab­ma­chen, denn ein paar Ecken wei­ter­hin geht Tom Sca­n­ion – der rot­haa­ri­ge Po­lyp, weißt du – und pfeift, um uns zu er­zäh­len, dass wir ab­schie­ben sol­len, aber er kennt uns nicht. So ge­hen wir denn alle drei – aber wenn du meinst, dass wir uns un­se­re Ar­beit von dem Lüm­mel neh­men las­sen wol­len, dann irrst du dich. Wir ge­hen also in die Gas­se hin­ter Camp­wells Krä­mer­la­den. Es ist nicht ein Mensch zu se­hen. Bud bleibt ste­hen und der Bau­ern­lüm­mel und ich auch.

›Ich glau­be nicht, dass er Lust hat zu fah­ren‹, sagt Bud nach­denk­lich. Und der Bau­ern­lüm­mel ant­wor­tet: ›Doch, dar­auf könnt ihr Gift neh­men.‹ ›Bist du ganz si­cher, dass du die Ar­beit ha­ben willst?‹ fra­ge ich. Ja, er ist ganz si­cher. Nichts soll ihn ver­hin­dern, sich um die Ar­beit zu be­wer­ben. Dazu ist er ja in die Stadt ge­kom­men.

›Ja, mein Freun­d‹, sage ich, ›dann habe ich die schwe­re Pf­licht, dir mit­zu­tei­len, dass du dich ge­irrt hast.‹ ›Wie­so?‹ fragt er. ›Ja, das wol­len wir dir gleich zei­gen‹, sage ich. Und dann – eins, zwei, drei! Klatsch, klatsch! Tschu, Feu­er­werk, vier­ter Juli! Gera­des­wegs in die Höl­le – ben­ga­li­sches Licht, Ra­ke­ten, Höl­len­feu­er und so! Es dau­ert nicht sehr lan­ge, wenn man gut aus­ge­bil­det und ge­wohnt ist, zu zweit zu ar­bei­ten. Na­tür­lich ist es nicht an­ge­nehm für die Knö­chel. Aber weißt du, Sa­xon, wenn du den Bau­ern­lüm­mel vor­her und nach­her ge­se­hen hät­test, du wür­dest ge­glaubt ha­ben, er sei ein Ver­wand­lungs­künst­ler. Ob es zum La­chen war? Du wä­rest ge­platzt!«

Bil­ly schwieg und ließ sei­ner ei­ge­nen Hei­ter­keit frei­en Lauf. Sa­xon stimm­te ein, aber in­ner­lich war sie ent­setzt. Mer­ce­des hat­te recht. Die dum­men Ar­bei­ter strit­ten und schlu­gen sich um Ar­beit, die klu­gen Her­ren fuh­ren in Au­to­mo­bi­len und strit­ten und schlu­gen sich nicht. Sie mie­te­ten sich da­für an­de­re dum­me Men­schen.

»›Ihr Ban­di­ten!‹ wim­mert der Bau­ern­lüm­mel, als er end­lich wie­der auf die Bei­ne kommt«; fuhr Bil­ly fort. »›Hast du im­mer noch Lust zur Ar­beit?‹ fra­ge ich. Er schüt­telt den Kopf. ›Du hast nur ei­nes zu tun, du alte Bau­ern­mäh­re – dir eine Fahr­kar­te zu kau­fen. Ver­stan­den? Eine Fahr­kar­te. Zu­rück nach dem Bau­ern­hof mit dir! Und wenn du noch ein­mal in die Stadt kommst, dann ma­chen wir Ernst mit dir. Dies­mal war es nur Spaß. Wenn wir dich aber noch ein­mal zu fas­sen krie­gen, dann soll dei­ne ei­ge­ne Mut­ter dich nicht wie­der­er­ken­nen, wenn wir mit dir fer­tig sind.‹ Und – ach, Sa­xon, du hät­test ihn ab­schie­ben se­hen sol­len. Ich bin si­cher, er läuft noch. Und wenn er nach Hau­se kommt und er­zählt, wie wir sie in Oa­k­land be­han­deln, dann möch­te ich Dol­lar ge­gen Pfef­fer­nüs­se wet­ten, dass nicht ein Bau­ern­lüm­mel aus sei­nem Distrikt her­zu­kom­men wagt, um zu fah­ren, nein – und wenn sie ihm zehn Dol­lar die Stun­de ge­ben.«

»Das ist schreck­lich!« sag­te Sa­xon und lach­te dann mit gut ge­spiel­ter Be­wun­de­rung.

»Ach, das ist noch gar nichts«, fuhr Bil­ly fort. »Ei­ni­ge von den Ge­nos­sen er­wi­sch­ten heu­te Mor­gen einen an­de­ren Bur­schen. In we­ni­ger als zwei Mi­nu­ten war er der schlimms­te Kno­chen­hau­fen, der je in ein Ho­spi­tal ge­bracht wor­den ist. Die Abend­zei­tun­gen brach­ten ein Ver­zeich­nis sei­ner Wun­den – ge­bro­che­ne Nase, drei tüch­ti­ge Lö­cher im Kopf, die Vor­der­zäh­ne aus­ge­schla­gen, ein ge­bro­che­nes Schlüs­sel­bein und zwei ge­bro­che­ne Rip­pen. Na ja! Es tat ihm gut. Aber das ist noch gar nichts. Weißt du, was die San Fran­zis­ko­er Fuhr­leu­te bei dem großen Streik vor dem Erd­be­ben mach­ten – sie nah­men sich je­den Streik­bre­cher, den sie krie­gen konn­ten, vor und bra­chen ihm die Arme. Mit ei­nem Brech­ei­sen. Da­mit er nicht mehr fah­ren könn­te, ver­stehst du. Ja, die Kran­ken­häu­ser wa­ren voll von ih­nen. Und die Fuhr­leu­te ge­wan­nen ja auch den Streik.«

»Aber, Bil­ly, ist es denn not­wen­dig, so schreck­lich roh zu sein? Ich weiß gut, dass sie Streik­bre­cher sind und den Kin­dern der Strei­ken­den das Brot aus dem Mun­de neh­men, um es ih­ren Kin­dern zu ge­ben, und das ist nicht rich­tig, das weiß ich. Aber ist es denn not­wen­dig, so – roh zu sein?«

»Na­tür­lich ist es das«, ant­wor­te­te Bil­ly mit Über­zeu­gung. »Wir müs­sen ih­nen einen Schre­cken ein­ja­gen – wenn wir es tun kön­nen, ohne ge­schnappt zu wer­den.«

»Und wenn ihr ge­schnappt wer­det?«

»Dann neh­men die Ge­werk­schaf­ten Rechts­an­wäl­te, um uns zu ver­tei­di­gen, wenn sie auch nicht viel tau­gen; denn die Rich­ter sind ziem­lich scharf auf uns, und die Zei­tun­gen pau­ken ih­nen im­mer wie­der ein, dass sie uns streng und stren­ger be­stra­fen sol­len. Aber so­viel ist si­cher, ehe die­ser Streik vor­bei ist, gibt es eine gan­ze Schar von Schwach­köp­fen, die wün­schen, dass sie nie ver­sucht hät­ten, Streik­bre­cher zu spie­len.«

Im Lau­fe der nächs­ten hal­b­en Stun­de fühl­te Sa­xon ih­rem Mann sehr vor­sich­tig auf den Zahn, um sei­ne wirk­li­chen An­schau­un­gen zu er­fah­ren, ob er nun auch ganz über­zeugt war, dass er und die an­de­ren Fuhr­leu­te zu sol­chen Ge­walt­ta­ten be­rech­tigt wä­ren. Aber Bil­lys Glau­be an die Ge­rech­tig­keit sei­ner Sa­che war fel­sen­fest und tief. Für Dy­na­mit und Mord war er je­doch nicht zu ha­ben. Das woll­ten die Ge­werk­schaf­ten aber auch nicht. Sei­ne Er­klä­rung war un­ge­heu­er naiv, dass Dy­na­mit und Mord sich nicht lohn­ten, dass so et­was die öf­fent­li­che Mei­nung ge­gen die Streiks an­fach­te und den Strei­ken­den ihre Chan­cen verd­arb. Aber ei­nem Streik­bre­cher eine tüch­ti­ge Tracht Hie­be zu ver­ab­rei­chen oder, wie er sich aus­drück­te, ihm einen or­dent­li­chen Schre­cken ein­zu­ja­gen – das war voll­kom­men kor­rekt und rich­tig.

»Un­se­re El­tern ha­ben so et­was nie ge­tan«, sag­te Sa­xon schließ­lich. »Da­mals gab es we­der Streiks noch Streik­bre­cher.«

»Nein, das stimmt«, gab Bil­ly zu. »Das war die gute alte Zeit. Ich hät­te gern da­mals ge­lebt.« Er schöpf­te tief Atem und seufz­te. »Aber die Zeit kommt nie wie­der.«

»Hät­test du gern auf dem Lan­de ge­lebt?« frag­te sie.

»Da­rauf kannst du dich ver­las­sen.«

»Ja, aber auch jetzt le­ben eine Men­ge Men­schen auf dem Lan­de«, sag­te sie.

»Aber des­halb kom­men sie doch in die Stadt und neh­men uns an­de­ren die Ar­beit«, lau­te­te sei­ne Ant­wort.

Ein Licht­schim­mer fiel in ihr Da­sein, als Bil­ly Ar­beit als Kut­scher bei der großen Brücke be­kam, die bei Ni­les ge­baut wur­de. Ehe er zu­schlug, hat­te er sich ver­ge­wis­sert, dass bei dem Un­ter­neh­men nur Ge­werk­schaft­ler be­schäf­tigt wa­ren. Und Ge­werk­schaft­ler wa­ren sie auch zwei Tage lang, bis die Ze­ment­ar­bei­ter die Ar­beit nie­der­leg­ten. Die Un­ter­neh­mer, die of­fen­bar hier­auf vor­be­rei­tet wa­ren, stell­ten für die Ze­ment­ar­beit Ita­lie­ner ein, die nicht in den Ge­werk­schaf­ten wa­ren, wor­auf Zim­mer­leu­te, Ei­sen­ar­bei­ter und Kut­scher so­fort die Ar­beit nie­der­leg­ten, und Bil­ly, der kein Geld für die Ei­sen­bahn hat­te, den Rest des Ta­ges dazu ver­wen­den muss­te, nach Hau­se zu spa­zie­ren.

»Ich konn­te nicht als Streik­bre­cher ar­bei­ten«, schloss er sei­nen Be­richt.

»Nein«, sag­te Sa­xon, »du konn­test nicht als Streik­bre­cher ar­bei­ten.«

Aber sie muss­te doch den­ken, wie es sein konn­te, dass ein Mann gern ar­bei­ten woll­te, und dass es Ar­beit für ihn gab, und dass er dann nicht ar­bei­ten konn­te, weil die Ge­werk­schaf­ten es nicht er­laub­ten. Wa­rum gab es Ge­werk­schaf­ten? Und wenn sie not­wen­dig wa­ren, warum wa­ren dann nicht alle Ar­bei­ter in ih­nen? Dann gab es kei­ne Streik­bre­cher mehr, und Bil­ly hat­te je­den Tag Ar­beit. Und sie dach­te nach, wie sie sich den Sack Mehl ver­schaf­fen soll­te, denn sie konn­te sich längst nicht mehr den Lu­xus leis­ten, Brot zu kau­fen. Und eben­so ging es vie­len an­de­ren Frau­en in der Nach­bar­schaft, so­dass der klei­ne wal­li­si­sche Bä­cker sei­nen La­den ge­schlos­sen hat­te und mit sei­ner Frau und sei­nen bei­den klei­nen Töch­tern fort­ge­zo­gen war. Wo sie hin­sah, wa­ren Not und Elend die Fol­ge die­ses Streits zwi­schen Ar­bei­tern und Ar­beit­ge­bern.

Ei­nes Nach­mit­tags klopf­te ein Frem­der bei ihr an, und am sel­ben Abend kam Bil­ly mit Neu­ig­kei­ten et­was zwei­fel­haf­ter Art nach Hau­se. Ihm war ein An­ge­bot ge­macht wor­den. Er brauch­te nur zu­zu­schla­gen und konn­te als Vor­ar­bei­ter mit hun­dert Dol­lar mo­nat­lich im Stall an­tre­ten.

Die Aus­sicht auf eine sol­che Sum­me wirk­te bei­na­he läh­mend auf Sa­xon, die ge­ra­de bei ei­nem aus Salz­kar­tof­feln, ge­wärm­ten Boh­nen und ei­ner klei­nen, tro­ckenen, ro­hen Zwie­bel be­ste­hen­den Abend­brot saß. Es gab we­der Brot noch Kaf­fee oder But­ter. Die Zwie­bel hat­te Bil­ly aus der Ta­sche ge­zo­gen – er hat­te sie auf der Stra­ße ge­fun­den. Hun­dert Dol­lar mo­nat­lich! Sie be­feuch­te­te sich die Lip­pen und ver­such­te, ihre Selbst­be­herr­schung zu be­wah­ren.

»Wa­rum ha­ben sie es dir an­ge­bo­ten?« frag­te sie.

»Das ist ganz ein­fach. Aus vie­len Grün­den. Der Bur­sche, den der Chef King und Prin­ce be­we­gen lässt, ist ein Schwach­kopf, und King lahmt. Au­ßer­dem ha­ben sie eine ziem­lich deut­li­che Vor­stel­lung da­von, dass ich es bin, der eine gan­ze Men­ge von ih­ren Streik­bre­chern ar­beits­un­fä­hig ge­macht hat. Mack­lin ist seit vie­len, vie­len Jah­ren als Vor­ar­bei­ter bei ih­nen – ich war noch ein klei­ner Kerl in kur­z­en Ho­sen, als er schon Vor­ar­bei­ter war. Und jetzt ist er krank und er­le­digt. Sie brau­chen einen an­de­ren für sei­ne Stel­lung. Und ich bin ja auch seit vie­len Jah­ren da. Und – was das wich­tigs­te ist – ich kann die Sa­che über­neh­men. Du weißt, ich ken­ne Pfer­de von Grund auf.«

»Denk nur, Bil­ly!« sag­te sie kaum hör­bar. »Hun­dert Dol­lar mo­nat­lich!«

»Und die an­de­ren im Stich las­sen«, sag­te er.

Es war kei­ne Fra­ge. Es war auch kei­ne Er­klä­rung. Sa­xon konn­te es ver­ste­hen, wie sie woll­te. Sie sa­hen sich an. Sie war­te­te, dass er et­was sa­gen soll­te, aber er sah sie nur wei­ter an. Es kam ihr vor, als sei sie an ei­nem Wen­de­punkt ih­res Le­bens an­ge­langt, und sie gab sich Mühe, ihr Gleich­ge­wicht zu be­wah­ren. Bil­ly half ihr nicht im ge­rings­ten. Wie sei­ne Mei­nung auch sein moch­te, er zeig­te es ihr nicht, und sein Ge­sicht war voll­kom­men aus­drucks­los. Sei­ne Au­gen ver­rie­ten nichts. Er sah sie nur an und war­te­te.

»Du – du kannst es nicht tun, Bil­ly«, sag­te sie schließ­lich. »Du kannst die an­de­ren nicht im Stich las­sen.«

Er streck­te ihr die Hand hin, und ein strah­lend glück­li­cher Aus­druck lag über sei­nem Ge­sicht.

»Her die Hand!« rief er, und ihre Hän­de tra­fen sich in ei­nem fes­ten Druck. »Du bist die treues­te, bes­te klei­ne Frau, die je ein Mann ge­habt hat. Wä­ren alle an­de­ren wie du, so könn­ten wir je­den Streik ge­win­nen.«

»Was hät­test du ge­tan, wenn du nicht ver­hei­ra­tet ge­we­sen wä­rest, Bil­ly?«

»Ich hät­te sie erst hän­gen se­hen mö­gen!«

»Dann soll es nichts dar­an än­dern, dass du ver­hei­ra­tet bist. Ich muss al­les mit dir tei­len. Ich wäre eine schlech­te Frau, wenn ich das nicht täte.«

Dann er­in­ner­te sie sich des Gas­tes, den sie am Nach­mit­tag ge­habt hat­te, und sie wuss­te, dass der Au­gen­blick güns­tig war, ihm da­von zu be­rich­ten.

»Heu­te Nach­mit­tag war ein Mann hier, Bil­ly. Er such­te ein Zim­mer. Ich sag­te, ich woll­te mit dir re­den. Er sag­te, er wol­le sechs Dol­lar für das Schlaf­zim­mer nach dem Hof hin­aus be­zah­len. Dann könn­ten wir einen hal­b­en Mo­nat auf die Mie­te ab­zah­len und einen Sack Mehl kau­fen, denn un­ser Mehl ist ganz aus­ge­gan­gen.«

Sa­xon kann­te Bil­lys Ab­nei­gung da­ge­gen, ein Zim­mer zu ver­mie­ten, und sie sah ihn be­sorgt an.

»Das ist wohl ei­ner von den Streik­bre­chern von der Ei­sen­bahn?«

»Nein, er ist Hei­zer auf dem Gü­ter­zug nach San José. Har­mon, sagt er, heißt er, Ja­mes Har­mon. Er ist eben erst her­ge­zo­gen. Er schläft den größ­ten Teil des Ta­ges, und des­halb möch­te er gern in ei­nem ru­hi­gen Haus ohne Kin­der woh­nen.«

 

Zu­letzt gab Bil­ly nach, aber mit vie­len Be­den­ken, und erst, als Sa­xon ihm er­klärt hat­te, wie we­nig Ar­beit es ihr ma­chen wür­de. Aber selbst dann pro­tes­tier­te er noch und füg­te hin­zu, als sei es ihm erst jetzt ein­ge­fal­len: »Aber ich will nicht, dass du ei­nem frem­den Mann das Bett machst. Das ist nicht rich­tig. Ich soll­te für dich sor­gen.«

»Das könn­test du auch«, ant­wor­te­te sie schnell, »wenn du die Stel­lung als Vor­ar­bei­ter an­nimmst. Aber das kannst du doch nicht. Und wenn ich al­les mit dir tei­len soll, dann ist es doch nur recht und bil­lig, dass du mich tun lässt, was ich kann.«

Ja­mes Har­mon mach­te noch we­ni­ger Mühe, als Sa­xon er­war­tet hat­te. Für einen Hei­zer war er au­ßer­or­dent­lich sau­ber, und er wusch sich stets in dem Lo­ko­mo­ti­ven­schup­pen, ehe er heim­kam. Er hat­te einen Schlüs­sel zur Hin­ter­tür und kam und ging im­mer über die Hin­ter­trep­pe. Sa­xon sag­te er nur eben gu­ten Tag und Le­be­wohl, und da er am Tage schlief und nachts ar­bei­te­te, war er schon eine gan­ze Wo­che im Hau­se, ehe Bil­ly ihn sah.

Bil­ly kam seit ei­ni­ger Zeit spä­ter nach Hau­se und ging auch oft nach dem Abendes­sen al­lein aus. Er er­zähl­te Sa­xon nie, wo er hin­ging, und sie frag­te ihn auch nicht. Im üb­ri­gen brauch­te sie nicht be­son­ders schlau zu sein, um es her­aus­zu­fin­den, denn er roch im­mer nach Whis­ky, wenn er heim­kam, und sei­ne lang­sa­men, be­son­ne­nen Be­we­gun­gen wa­ren noch lang­sa­mer und be­son­ne­ner als sonst. Aber der Whis­ky wirk­te auf sein Ge­hirn, mach­te sei­ne Li­der schwer, die Au­gen selbst noch ge­wit­ter­haf­ter als sonst. Er sag­te nicht viel, aber das we­ni­ge, was er sag­te, war düs­ter und schwer wie ein Ora­kel. Bei sol­chen Ge­le­gen­hei­ten war es nicht mög­lich, sei­nen Stand­punkt zu er­schüt­tern oder mit ihm zu dis­pu­tie­ren.

Es war kei­ne an­spre­chen­de Sei­te sei­nes We­sens, die Sa­xon in die­sen Ta­gen sah. Es war fast, als sei es ein frem­der Mann, mit dem sie zu­sam­men­le­ben muss­te, und so sehr sie sich auch an­streng­te, be­gann ihr doch fast vor ihm zu schau­dern. Frü­her war er im­mer be­müht ge­we­sen, Streit und Schlä­ge­rei­en zu ver­mei­den. Jetzt ge­noss er das, war ent­zückt, wenn er mit da­bei sein konn­te, und such­te selbst je­den An­lass, den er fin­den konn­te. Al­les das kam deut­lich in sei­nem Ge­sicht zum Aus­druck. Er war nicht mehr der fro­he, lä­cheln­de Jun­ge. Er lä­chel­te sel­ten. Sein Ge­sicht war das ei­nes Man­nes. Die Lip­pen, die Au­gen, die Li­ni­en um den Mund wa­ren un­barm­her­zig, wie sei­ne Ge­dan­ken un­barm­her­zig wa­ren.

Er war sel­ten un­freund­lich zu Sa­xon, an­de­rer­seits war er aber auch sel­ten wirk­lich freund­lich. Sei­ne Hal­tung ihr ge­gen­über wur­de ne­ga­tiv. Er in­ter­es­sier­te sich nicht für sie. Trotz dem Kampf, den sie ge­mein­sam, Schul­ter an Schul­ter, für die Prin­zi­pi­en der Ge­werk­schaf­ten kämpf­ten, nahm sie nur einen ge­rin­gen Raum in sei­nen Ge­dan­ken ein. Wenn er freund­lich zu ihr war, konn­te sie se­hen, dass es rein me­cha­nisch ge­sch­ah, wie sie sich auch völ­lig klar dar­über war, dass er rein ge­wohn­heits­mä­ßig zärt­lich zu ihr sprach oder sie lieb­kos­te. Die un­mit­tel­ba­re Wär­me, die sei­ne Wor­te und Lieb­ko­sun­gen er­füllt hat­te, war jetzt ver­schwun­den. Hin und wie­der, wenn er nicht be­trun­ken war, konn­te er für Au­gen­bli­cke der alte Bil­ly sein; aber selbst die­se flüch­ti­gen Au­gen­bli­cke wur­den im­mer sel­te­ner. Meis­tens ging er in sei­nen ei­ge­nen düs­te­ren Ge­dan­ken um­her. Die schwe­ren Zei­ten und der schwe­re Druck des Kamp­fes, der zwi­schen Ar­bei­tern und Ar­beit­ge­bern aus­ge­foch­ten wur­de, stell­te ihn auf eine har­te Pro­be. Das war be­son­ders auf­fal­lend, wenn er schlief; denn dann wur­de er von wil­den, ge­setz­lo­sen Träu­men ge­quält, er stöhn­te und mur­mel­te, ball­te die Fäus­te und knirsch­te mit den Zäh­nen, dreh­te und wand sich un­ter star­ken Mus­kel­an­span­nun­gen, wäh­rend sein Ge­sicht von bö­sen Lei­den­schaf­ten ver­zerrt war und sei­ne Keh­le un­ter furcht­ba­ren Flü­chen ar­bei­te­te, die in einen merk­wür­dig scheu­ern­den Laut en­de­ten. Sa­xon, die ne­ben ihm lag, ängs­tig­te sich vor die­sem frem­den Mann, den sie nicht kann­te, und sie er­in­ner­te sich des­sen, was Mary ihr von Bert er­zählt hat­te. Auch er hat­te ge­flucht und die Fäus­te ge­ballt und nachts wie­der die Kämp­fe des Ta­ges aus­ge­foch­ten. Aber ei­nes sah Sa­xon ganz deut­lich. Es war nicht Bil­lys Schuld, dass er sich zu die­sem an­de­ren, we­nig an­spre­chen­den Bil­ly ent­wi­ckel­te. Wäre kein Streik, kein Zank und Streit um die Ar­beit ge­we­sen, so wür­de es nur den al­ten Bil­ly ge­ge­ben ha­ben, den sie so voll und ganz ge­liebt hat­te. Dies Schreck­li­che, das auf dem Grun­de sei­nes We­sens schlum­mer­te, wür­de wei­ter­ge­schlum­mert ha­ben. Wenn aber der Streik an­dau­er­te, so fürch­te­te sie, und das mit gu­tem Grun­de, dass die­ses zwei­te un­heim­li­che Ich Bil­lys stark wer­den und ab­schre­cken­de­re For­men an­neh­men wür­de. Und das, wuss­te sie, war gleich­be­deu­tend mit dem Un­ter­gang ih­res Lie­bes­le­bens. Ei­nen sol­chen Bil­ly konn­te sie nicht lie­ben, und ein sol­cher Bil­ly war sei­nem We­sen zu­fol­ge we­der im­stan­de, Lie­be zu ge­win­nen noch zu ge­ben. Und bei dem Ge­dan­ken, dass Kin­der kom­men konn­ten, wur­de sie von ei­ner furcht­ba­ren Angst ge­packt. Das wäre zu schreck­lich ge­we­sen.

Auch Bil­ly hat­te sei­ne Pro­ble­me – Fra­gen, die er nicht be­ant­wor­ten konn­te.

»Wa­rum wol­len die Bau­hand­wer­ker nicht strei­ken?« lau­te­te eine der Fra­gen, die er er­bit­tert in die Dun­kel­heit hin­aus­schleu­der­te, die die Wege der Men­schen und des Le­bens ver­hüll­te. »Aber nein, O’Bri­en will nicht mit­strei­ken, und er be­herrscht die Bau­hand­wer­ker voll­kom­men. Und der Teu­fel holt den Zu­sam­menschluss der Ar­bei­ter! Du mei­ne Güte – es ist eine Ewig­keit her, dass ich we­der eine or­dent­li­che Zi­gar­re noch eine Tas­se an­stän­di­gen Kaf­fee be­kom­men habe. Ich habe ver­ges­sen, was gu­tes Es­sen heißt. Ich ließ mich ges­tern wie­gen. Fünf­zehn Pfund ab­ge­nom­men, seit der Streik be­gann. Wenn es noch lan­ge dau­ert, kann ich bald als Mit­tel­ge­wicht kämp­fen. Und das ist al­les, was ich da­von habe, dass ich die gan­zen Jah­re mei­ne Ge­werk­schafts­bei­trä­ge be­zahlt habe. Ich kann kein or­dent­li­ches Es­sen krie­gen, und mei­ne Frau muss ei­nem frem­den Mann das Bett ma­chen. Das macht mich toll. Ei­nes Ta­ges lau­fe ich rü­ber und schmei­ße den Zim­mer­herrn raus.«

»Aber es ist doch nicht sei­ne Schuld, Bil­ly«, wand­te Sa­xon ein.

»Wer sagt, dass es sei­ne Schuld sei?« frag­te Bil­ly ge­reizt. »Aber des­halb macht es mich doch toll. Wel­chen Zweck ha­ben die Ge­werk­schaf­ten, wenn man nicht zu­sam­men­hält? Ich möch­te am liebs­ten die gan­ze Ge­schich­te an den Na­gel hän­gen und zu den Ar­beit­ge­bern über­ge­hen. Aber den Tri­umph sol­len sie doch nicht er­le­ben, die ver­fluch­ten Schur­ken! Wenn sie glau­ben, sie könn­ten uns in die Knie zwin­gen, so lass sie nur ihr Glück ver­su­chen – mehr kann ich nicht sa­gen. Aber be­grei­fen kann ich es doch nicht. Die gan­ze Welt ist ver­rückt ge­wor­den. Es ist kein Sinn mehr dar­in. Was nützt es, eine Ge­werk­schaft zu un­ter­stüt­zen, die kei­nen Streik ge­win­nen kann? Was nützt es, Streik­bre­chern die Köp­fe zu zer­schla­gen, wenn im­mer wie­der neue kom­men?«