Eine Sekunde, vielleicht zwei, starrte sie ihn an, dann aber wurde sie durch den Klang von Berts Stimme aus ihren Betrachtungen gerissen. Er kam, gefolgt von mehreren anderen Streikenden, auf dem Bürgersteig vor ihrem Hause gelaufen, und rief aus voller Kehle: »Vorwärts, Mohikaner! Jetzt haben wir sie an den Mast genagelt!«
In der Linken hielt er eine eiserne Stange, in der Rechten einen Revolver, der schon verschossen war, denn er spannte vergebens den Hahn im Laufen. Plötzlich blieb er stehen, warf die Stange hin und drehte sich so, dass er sich Saxons Tür zukehrte. Er wollte ins Knie sinken, schleuderte aber den Revolver einem Streikbrecher ins Gesicht, der auf ihn lossprang. Dann schwankte er und sank gleichzeitig in Knien und Hüften zusammen. Langsam, mit unendlicher Anstrengung, griff er mit der Rechten nach einem Pfahl im Zaun und sank ins Knie, während der ganze Schwarm von Streikenden, deren Anführer er gewesen war, an ihm vorbeihastete.
Es war ein Kampf ohne Gnade – ein Blutbad. Die Streikbrecher und ihre Beschützer, die völlig umzingelt waren und mit dem Rücken gegen Saxons Haus standen, kämpften wie rasend, konnten sich aber der fast hundert Mann, die sich auf sie stürzten, nicht erwehren. Knüppel und Axtschäfte wurden geschwungen, Revolver knallten, und Pflastersteine wurden herausgerissen und in das wilde Handgemenge geschleudert. Saxon sah den jungen Frank Davis, einen Freund Berts, der vor wenigen Monaten Vater geworden war, die Mündung seines Revolvers einem Streikbrecher auf den Leib setzen und abdrücken. Laute Flüche und erbittertes Knurren, wilde Schreckensschreie und Schmerzensausbrüche ertönten. Mercedes hatte recht. Das waren keine Menschen. Es waren wilde Tiere, die um den Knochen kämpften und einander vernichteten.
Ihr Knochen heißt Arbeit; ihr Knochen heißt Arbeit. Dieser Satz klang immer wieder durch Saxons Bewusstsein. Selbst wenn sie gewollt hätte, würde sie doch nicht die Kraft gehabt haben, sich jetzt vom Fenster zurückzuziehen. Sie war wie gelähmt. Ihr Gehirn arbeitete nicht mehr. Mit starren Augen, außerstande, sich zu bewegen oder irgend etwas zu unternehmen, sah sie auf all den Schrecken, der wie ein wildgewordenes lebendes Bild hastig an ihr vorbeizog. Sie sah die Detektive, die Polizisten und Streikenden stürzen. Einem Streikbrecher, der von einer Hand, die ihn an der Kehle packte, gegen den Zaun gepresst wurde, wurde das Gesicht vollkommen von einem Revolverkolben zerschmettert. Immer wieder, ohne Aufhören, hob und senkte sich der Revolver, und Saxon kannte den Mann, der ihn schwang – Chester Johnson. Sie hatte ihn in den Tagen vor ihrer Verheiratung auf Bällen getroffen und mit ihm getanzt. Er war immer ein netter, gutmütiger Mensch gewesen. Unmöglich konnte dies derselbe Chester Johnson sein. Und während sie hier stand und zusah, merkte sie, wie der dickbäuchige Anführer, der immer noch, mit dem Kopf in ihrem Garten, in den Zaun eingekeilt war, mit der freien Hand einen Revolver zog und die Mündung Chester in die Seite presste. Sie versuchte, einen warnenden Ruf auszustoßen. Es wurde nur ein Angstschrei, und Chester sah auf und erkannte sie. Im selben Augenblick ging der Revolver los, und er brach über dem Streikbrecher zusammen. Jetzt hingen drei Männerkörper auf ihrem Zaun.
Sie war nun auf alles vorbereitet, und ohne das geringste Erstaunen sah sie die Streikenden über den Zaun springen und ihre armen Pelargonien und Stiefmütterchen zertrampeln, als sie zwischen ihrem Haus und dem der Mercedes hindurchflüchteten. Die Straße herauf kam von den Eisenbahnwerkstätten unter beständigem Feuer ein großes Aufgebot von Bahnpolizei und Detektiven. Und von der anderen Seite kamen mit Lärmen, Rattern und Klappern von Pferdehufen drei Patrouillenwagen voll Polizei. Die Streikenden waren in einer Falle gefangen. Sie hatten nur die Möglichkeit, zwischen den Häusern hindurch über die Zäune in die Hinterhöfe zu entschlüpfen. Aber es waren ihrer zu viele in der engen Gasse, als dass alle entkommen konnten. Ein halbes Dutzend wurde in dem Winkel zwischen ihrer Hausfassade und den Stufen eingeklemmt. Und wie sie gegen andere gehandelt hatten, so wurde jetzt gegen sie gehandelt. Verhaftungen wurden nicht vorgenommen. Sie wurden von diesen Handlangern der Ordnung, die wütend über die Behandlung waren, die ihren Kollegen zuteil geworden war, bis auf den letzten Mann niedergeschossen und mit Knüppeln niedergeschlagen.
Alles war vorbei, und Saxon ging wie eine Schlafwandlerin die Stufen hinab und klammerte sich an den Zaun. Der dickbäuchige Anführer schielte sie immer noch an und winkte mit der einen Hand, obwohl zwei große Polizisten sich über ihn beugten, um ihn herauszuziehen. Die Pforte war aus den Angeln gerissen, was ihr merkwürdig erschien, denn sie hatte den ganzen Kampf verfolgt und es nicht geschehen sehen.
Berts Augen waren geschlossen. Seine Lippen waren mit Blut befleckt, und aus seiner Kehle kam ein Röcheln, als wollte er etwas sagen. Als sie sich über ihn beugte und ihm mit ihrem Taschentuch das Blut von der Backe wischte – irgendjemand hatte ihn daraufgetreten –, schlug er die Augen auf. Sie leuchteten trotzig wie in alten Tagen. Er erkannte sie nicht. Die Lippen bewegten sich, und mit schwacher Stimme murmelte er, wie eine Lektion, die er wiederholte: »Die letzten Mohikaner! Die letzten Mohikaner!« Dann stöhnte er, und die Augen schlossen sich wieder. Er war nicht tot. Die Brust hob und senkte sich, und das Röcheln kam immer noch aus seiner Kehle.
Sie sah auf. Mercedes stand neben ihr. Die Augen der alten Frau waren sehr klar, und ihre blassen Wangen hatten Farbe bekommen.
»Wollen Sie mir helfen, ihn hineinzutragen?« fragte Saxon.
Mercedes nickte, wandte sich dann zu einem Polizisten und richtete dieselbe Frage an ihn. Der Polizist warf einen hastigen Blick auf Bert, und in seinen Augen war ein erbitterter und wütender Ausdruck, als er antwortete:
»Er kann zum Teufel gehen! Wir haben genug mit unsern eigenen Leuten zu tun.«
»Vielleicht können wir beide es tun«, sagte Saxon.
»Machen Sie keine Dummheiten.« Mercedes gab Frau Olsen auf der anderen Seite der Straße ein Zeichen. »Gehen Sie jetzt wieder hinein, Sie kleine, angehende Mutter. Wir werden ihn schon hineintragen. Dort kommt Frau Olsen, und wir können auch Maggie Donahue holen.«
Saxon zeigte ihnen den Weg in die nach dem Hofe gelegene Schlafkammer, die Billy durchaus hatte möblieren wollen. Als sie die Tür öffnete, war es, als flöge der Teppich hoch und schlüge ihr ins Gesicht. Denn sie erinnerte sich, dass Bert es gewesen war, der den Teppich gelegt hatte. Und während die Frauen ihn auf das Bett hoben, musste sie daran denken, dass sie und Bert gemeinsam an einem Sonntagmorgen das Bett hereingestellt hatten.
Dann aber fühlte sie einen merkwürdigen Schwindel und sah mit Erstaunen, dass Mercedes sie forschend betrachtete. Ihr Schwindel nahm zu, und sie tauchte nieder in die Hölle der Leiden, die zu kennen nur Frauen gegeben ist. Sie wurde in das Bett im anderen Schlafzimmer getragen. Viele Gesichter waren um sie her – Mercedes, Frau Olsen, Maggie Donahue. Sie hatte das Gefühl, dass sie Frau Olsen fragen musste, ob der kleine Emil gerettet war, aber Mercedes schickte Frau Olsen zu Bert hinein, und Maggie Donahue ging, um zu öffnen, denn es war an die Haustür geklopft worden. Von der Straße her ertönten Lärm und das Summen vieler Stimmen, unterbrochen von Rufen und Kommandoworten, und von Zeit zu Zeit konnten sie Kranken- und Patrouillenwagen hupen hören. Dann tauchte das fette, vergnügte Gesicht Martha Skeltons auf, und kurz darauf kam Doktor Hentley. Einmal, in einem ihrer lichten Augenblicke, konnte Saxon durch die dünne Wand die schrille Stimme Marys hysterisch schreien hören. Und dann wieder hörte sie Mary ein über das andere Mal wiederholen: »Ich gehe nie wieder in die Plätterei. Nie! Nie!«
Billy konnte in dieser Zeit den Schrecken über Saxons Veränderung nicht überwinden. Morgen auf Morgen und Abend auf Abend, wenn er von der Arbeit kam, ging er in das Zimmer, wo sie lag und kämpfte einen schweren Kampf mit sich, um seine Bewegung zu verbergen und zu tun, als sei er froh und wohlgemut. Sie sah so klein aus, wie sie dalag, so klein, eingefallen und müde, und doch gleichzeitig so kindlich in ihrer Kleinheit. Er setzte sich an ihr Bett, fasste zärtlich und behutsam ihre weiße Hand und streichelte den schmalen, durchsichtigen Arm, wobei er sich wunderte, wie zart und fein ihre Knochen waren.
Eine der ersten Fragen, die sie stellte – eine Frage, die weder Billy noch Mary verstehen konnten – lautete:
»Ist der kleine Emil Olsen gerettet?«
Und als sie dann erzählte, wie er ganz allein die vierundzwanzig kampfbereiten Männer angegriffen, da hatte Billys Gesicht direkt gestrahlt vor Begeisterung.
»Der kleine Strolch!« sagte er. »Ja, auf solch einen Bengel kann man stolz sein.«
Er hielt verlegen inne, so offensichtlich besorgt, dass er Saxon weh getan hätte, dass sie ganz gerührt war. Sie reichte ihm die Hand.
»Billy«, begann sie, wartete dann aber, bis Mary die Stube verlassen hatte. »Ich habe noch nie gefragt – und es ist ja auch einerlei – jetzt. Aber ich hatte gedacht, dass du es mir sagen würdest. War es …?«
Er schüttelte den Kopf.
»Nein, es war ein Mädchen. Ein kräftiges kleines Mädchen. Aber … es war zu früh.«
Sie drückte ihm die Hand, und es war fast, als tröstete sie ihn in seinem Kummer.
»Ich habe es dir nie gesagt, Billy – du warst so darauf versessen, dass es ein Junge sein sollte. Aber ich hatte doch daran gedacht, wenn es ein Mädchen wäre, es Daisy zu nennen. Du weißt, so hieß meine Mutter.«
Er nickte beifällig.
»Weißt du, Saxon, dass ich verflucht gern einen Jungen gehabt hätte – aber jetzt ist es mir gleichgültig. Ich bin ebenso versessen auf ein Mädel, und, nun ja, das nächste … ja, du hast wohl nichts dagegen?«
»Wogegen?«
»Dass es ebenso heißen wird: Daisy?«
»Ach, Billy, ich dachte gerade daran.«
Aber dann wurde sein Gesicht plötzlich hart und streng, und er fuhr fort:
»Aber es gibt kein ›nächstes‹. Ich wusste nicht, dass das Kinderkriegen so war. Das darfst du nicht noch einmal durchmachen.«
»Hör nur, wie der große, starke Mann redet!« neckte sie ihn mit einem schwachen, müden Lächeln. »Davon verstehst du nichts. Wie solltest du auch? Du bist ja nur ein Mann. Es wäre ausgezeichnet gegangen, wenn … wenn der Kampf nicht gewesen wäre. Wo haben sie Bert begraben?«
»Du wusstest es also?«
»Ja, ich hab es die ganze Zeit gewusst. Und wo ist Mercedes? Sie ist zwei Tage nicht hier gewesen.«
»Der alte Barry ist krank. Sie ist bei ihm.«
Er erzählte ihr nicht, dass der alte Nachtwächter wenige Meter entfernt im Sterben lag.
Saxons Lippen bebten, und sie begann zu weinen, während sie in ihrer Schwäche Billys Hand mit ihren beiden umklammerte.
»Ich – ich kann nichts dafür«, schluchzte sie. »Es ist gleich wieder vorbei … Unser kleines Mädelchen, Billy! Denk – dass ich es nie gesehen habe!«
*
Als Saxon wieder zu Kräften kam, wollte sie mehr über die Tragödie wissen, die sich vor ihrer Tür abgespielt hatte. Billy erzählte ihr, dass gleich Militär gerufen worden war und jetzt am Ende der Pine Street auf dem unbebauten Grundstück neben den Eisenbahnwerkstätten lagerte. Von den Streikenden saßen fünfzehn im Gefängnis. Die Polizei hatte die ganze Nachbarschaft Haus für Haus durchsucht und dabei die fünfzehn, die alle verwundet waren, gefangengenommen. Es würde ihnen schlimm ergehen, sagte Billy finster. Die Zeitungen forderten Blut für Blut, und alle Geistlichen in Oakland hatten erbitterte Predigten gegen die Streikenden gehalten. Die Eisenbahngesellschaft hatte alle Stellen besetzt, und es war allgemein bekannt, dass die Streikenden nicht nur ihre Stellungen nicht wiederbekamen, sondern bei allen Eisenbahngesellschaften in den Vereinigten Staaten auf dem Schwarzen Brett standen. Sie hatten schon angefangen, sich in alle Winde zu zerstreuen.
Mit heimlicher Angst versuchte Saxon, Billys Meinung über das Geschehene zu erforschen.
»Da sieht man, was bei so gewaltsamen Methoden wie denen Berts herauskommt«, sagte sie.
Er schüttelte besonnen und ernst den Kopf.
»Chester Johnson wird jedenfalls gehängt«, antwortete er, ohne näher auf die Sache einzugehen. »Du kennst ihn doch. Du hast mir selbst erzählt, dass du oft mit ihm getanzt hast. Er wurde auf frischer Tat ertappt, über der Leiche des Streikbrechers, den er totgeprügelt hatte. ›Dickbauch‹ hatte selbst drei Revolverkugeln im Leibe. Aber er stirbt diesmal nicht, und er hat sich Chester gemerkt. Sie hängen ihn sicher auf das Zeugnis Dickbauchs hin. Das stand in allen Zeitungen.«
Saxon schauderte. Dickbauch war der Mann mit der Glatze und dem von Tabak befleckten Bart gewesen.
»Ja«, sagte sie, »ich sah alles. Mir schien, dass er mehrere Stunden dort gehangen hätte.«
»Und doch dauerte die ganze Geschichte nur fünf Minuten.«
»Mir kam es wie eine Ewigkeit vor.«
»Dickbauch sicher auch, als er am Gitter hing.« Billy lächelte barsch. »Aber er ist zäh. Er ist Dutzende von Malen angeschossen und gestochen worden. Aber jetzt sagen sie, dass er für Lebenszeit Krüppel ist – dass er an Krücken gehen oder in einem Rollstuhl sitzen muss. Da kann er keine Dreckarbeit mehr für die Eisenbahn tun. Er war einer von den besten Raufbrüdern – immer Feuer und Flamme, wenn auf der Straße was los war. Er hat sich nie vor etwas auf zwei Beinen gefürchtet – das muss man ihm lassen.«
»Ist er verheiratet?«
»Seine Frau habe ich nie gesehen, aber er hat einen Sohn, Jack, der Lokomotivführer ist. Ich habe ihn einmal kennengelernt – er ist ein tüchtiger Boxer. Und er hat noch einen Sohn, der Lehrer an der Hochschule ist. Er heißt Paul. Ich kannte ihn, als wir beide kleine Burschen waren.«
Saxon lehnte sich in dem großen Sessel zurück, um sich auszuruhen und nachzudenken. Das Problem war verwickelter als je. Der ältliche, dickbäuchige, glatzköpfige Mann hatte also auch Frau und Kinder. Und Frank Davis, der kaum ein Jahr verheiratet war, hatte einen kleinen Jungen. Vielleicht hatte der Streikbrecher, den er in den Bauch schoss, auch Frau und Kinder. Es war, als wären sie Mitglieder einer großen Familie, und doch hämmerten sie aufeinander los und töteten einander um ihrer Familien willen. Sie hatte gesehen, wie Chester Johnson einen Streikbrecher erschlug, und jetzt sollte Chester Johnson gehängt werden, Chester Johnson, der Mann Kitty Bradys, mit der sie vor mehreren Jahren zusammen in der Kartonagenfabrik gearbeitet hatte.
Saxon wartete vergebens, dass Billy seine Missbilligung über die Ermordung der Streikbrecher aussprechen sollte.
»Es war nun doch falsch«, sagte sie schließlich vorsichtig.
»Sie haben Bert getötet«, antwortete er, »und eine Menge anderer. Und Frank Davis. Wusstest du, dass er tot war? Ihm wurde der ganze Unterkiefer weggeschossen – er starb im Krankenwagen, ehe sie ihn ins Hospital geschafft hatten.«
»Aber es war ihr eigener Fehler«, fuhr sie fort. »Sie haben angefangen. Es war Mord.«
Billy antwortete nicht, aber sie hörte ihn etwas vor sich hinmurmeln. Sie wusste, dass er sagte: »Das verfluchte Pack«; als sie aber fragte: »Was sagst du?« antwortete er nicht. Sein Blick war finster. Die Linien um seinen Mund waren hart geworden, und sein Ausdruck war zornig und streng.
Ihr war es wie ein Stich ins Herz. War er denn auch wie alle anderen? War auch er ein wildes Tier, einer der Hunde, die ihren erbitterten Kampf um den Knochen kämpften?
Sie seufzte. Das Leben war ein seltsames Rätsel. Vielleicht hatte Mercedes Higgins recht, wenn sie das ganze Dasein brutal über einen Kamm schor.
»Nun wenn schon?« sagte Billy mit einem harten Lachen, wie als Antwort auf ihre unausgesprochenen Gedanken. »Ein Hund frisst den anderen – so ist es immer gewesen.«
»Aber die Arbeiter können auf diese Art nicht siegen, Billy! Du sagst selbst, dass sie sich jede Gewinnchance verdorben haben.«
»Nein, das können sie wohl nicht«, gab er widerstrebend zu. »Aber ich sehe keine andere Möglichkeit. Das nächste Mal sind wir an der Reihe.«
»Doch nicht die Fuhrleute?« rief sie erschrocken.
Er nickte finster.
»Die Chefs machen Ausfälle rechts und links und schlagen einen mächtigen Lärm. Sie sagen, sie wollen uns in die Knie zwingen, bis wir angekrochen kommen und um Arbeit betteln. Seit der Prügelei neulich tun sie mächtig geschwollen. Dass das Militär abkommandiert wurde, hat ihnen das Rückgrat gesteift, und dazu haben sie die Pfaffen und die Zeitungen und das ganze große Publikum hinter sich. Sie haben schon große Töne geredet, was sie machen wollen … ja, sie bereiten sich vor. Zunächst werden sie Chester Johnson und so viele von den anderen fünfzehn hängen, wie sie können. Das sagen sie mit klaren Worten. Sie haben es alle auf die Gewerkschaften abgesehen. Der Teufel kann alle Arbeiterorganisationen holen.«
»Sieh uns an. Es ist jetzt nicht mehr Sympathiestreik für die Fabrikarbeiter. Wir haben unsere eigenen Beschwerden. Sie haben vier von unseren besten Leuten weggejagt – die immer im Vorstand saßen und mit dabei waren, wenn es zu beraten galt und so weiter. Und sie haben es ohne Grund getan. Sie wollen nur Krach, sage ich, und den kriegen sie auch, wenn sie sich nicht vorsehen. Uns ist die Marschroute von den vereinigten Hafenarbeitern von San Franzisko vorgezeichnet. Wenn wir die im Rücken haben, kommt es ein gutes Stück vorwärts.«
»Heißt das, dass ihr … streiken wollt?« fragte Saxon.
Er beugte den Kopf.
»Aber ist das nicht gerade das, was sie wollen? – Dazu wollen sie euch bringen.«
»Es kommt wohl ungefähr auf eines hinaus.« Billy zuckte die Achseln und fuhr hastig fort: »Es ist besser zu streiken, als weggejagt zu werden. Wir zwingen sie dazu, und wir fangen sie, ehe sie bereit sind. Glaubst du, wir wüssten nicht, was sie vorhaben? Sie sammeln alle möglichen Kutscher und Eseltreiber rings in den Staaten. Sie haben schon vierzig Stück, denen sie Kost und Logis in einem Hotel in Stockton geben, die können sie also direkt hineinwerfen – die und mehrere Hundert vom selben Schlage. Der Wochenlohn, den ich Sonnabend heimbringe, wird also vorläufig der letzte sein.«
Saxon schloss die Augen und saß fünf Minuten ganz still da, während sie nachdachte. Sie pflegte sich nicht leicht aufzuregen. Die Kaltblütigkeit und das Gleichgewicht, die Bill so an ihr bewunderte, verließen sie nie, wenn es darauf ankam. Ihr war klar, dass sie selber nur ein Atom war, das in diesen verwirrenden, unfassbaren Streit zwischen vielen Atomen hineingeraten war.
»Dann müssen wir also unser Spargeld angreifen, um diesen Monat die Miete zu bezahlen«, sagte sie heiter. Billy sah ganz verdutzt aus.
»Wir haben nicht so viel auf der Bank, wie du glaubst«, sagte er schließlich. »Bert musste doch begraben werden, und ich musste zuschießen, was die anderen nicht zahlen konnten.«
»Wie viel war es?«
»Vierzig Dollar. Ich wusste, dass du nichts dagegen hättest. Und das hast du auch nicht, nicht wahr?«
Sie lächelte mutig und kämpfte ebenso mutig mit dem Gefühl der Hoffnungslosigkeit, das sich auf sie herabsenkte.
»Es war das einzig richtige, Billy. Ich hätte dasselbe getan, und Bert hätte es für dich und mich getan, wenn es über uns gekommen wäre.«
Er bekam vor Freude einen heißen Kopf.
»Ja, Saxon, auf dich kann man sich verlassen. Du bist meine rechte Hand. Und deshalb sage ich: keine Kinder mehr. Wenn ich dich verliere, werde ich zum Krüppel auf Lebenszeit.«
»Wir müssen uns natürlich einschränken«, sagte sie nachdenklich und nickte leise. »Wie viel ist noch auf der Bank?«
»Etwa dreißig Dollar. Siehst du, ich musste Martha Skelton bezahlen und … ein paar andere Kleinigkeiten. – Es sieht übrigens so aus, als wollten auch die Straßenbahnschaffner mitmachen. Dan Fallon ist sogar von New York hergekommen. Er versuchte, sich einzuschleichen, aber die Kameraden waren benachrichtigt, wann er New York verlassen hatte, und behielten ihn die ganze Zeit unterwegs im Auge. Und das war wohl auch nötig. Er hat ein ganzes Heer von Streikbrechern und schickt sie mit Extrazügen überall hin, wo man sie braucht. Oakland hat noch nie solche Arbeiterunruhen gesehen wie diesmal, und es wird noch schlimmer. Es sieht nach einem Höllenspektakel aus.«
»Dann nimm dich gut in acht, Billy. Ich will dich nicht verlieren.«
»Ach, hab keine Angst. Ich werde schon aufpassen. Und glaub nicht, dass wir einfach stillhalten, wenn sie uns ohrfeigen. Wir haben gute Chancen.«
»Aber wenn es Blutvergießen gibt, verliert ihr, nicht wahr?«
»Ja, davor müssen wir uns hüten.«
»Keine Gewalt.«
»Kein Schießen und kein Dynamit«, räumte er ein. »Aber es wird eine ganze Menge von Streikbrechern geben, denen die Köpfe zerschlagen werden. Das geht nun einmal nicht anders.«
»Aber so was willst du doch nicht mitmachen, Billy!«
»Nicht so, dass die Schwätzer den Richtern erzählen können, sie hätten mich gesehen.« Dann aber schlug er hastig ein anderes Thema an. »Der alte Barry Higgins ist gestorben. Ich wollte es dir erzählen, wenn du außer Bett warst. Sie haben ihn vor einer Woche begraben. Seine alte Frau zieht nach San Franzisko. Sie sagte, dass sie kommen und sich von dir verabschieden wollte. Nun ja, sie hat die ersten Tage gut für dich gesorgt, und sie hat Martha Skelton ein paar Dinge gelehrt, die sie noch nicht kannte. Martha stand direkt mit offenem Mund dabei.«
*
Jetzt, da Billy streikte und beständig Streikwache gehen musste, war Saxon so viel allein, dass sich schließlich, trotz ihrem gesunden Naturell, eine gewisse Krankhaftigkeit bei ihr entwickelte. Ihre Einsamkeit wurde durch Mercedes’ Fortzug und Berts Tod noch vermehrt, und selbst Mary war fortgezogen, mit dem ziemlich vagen Bescheid, dass sie eine »Stellung« bei einer Familie in Piedmont angenommen hätte.
Billy konnte Saxon in dieser schweren Zeit nicht viel Trost schenken. Er hatte das unklare Gefühl, dass sie litt. Aber wie groß dieses Leiden war, und wie tief es ging, das fasste er nicht. Er war zu männlich praktisch, und seinem Geschlecht zufolge wusste er nichts von der seelischen Tragödie, die in ihr Leben eingegriffen hatte. Er war nur ein Außenstehender, ein freundlich Außenstehender, der nicht viel sah. Für sie war das kleine Kind wirklich und lebendig gewesen. Es war immer noch wirklich und lebendig. Das war das Unglück. So sehr sie sich auch anstrengte, konnte sie doch nicht die klaffende Leere ausfüllen, die der Umstand, dass es nicht lebte, in ihrem Dasein geschaffen hatte. Zuweilen war es fast wie eine Halluzination, so wirklich erschien ihr alles. Irgendwo musste sie es immer suchen. Zuweilen konnte sie sich dabei ertappen, wie sie mit angespannten Sinnen auf den Schrei lauschte, den sie nie gehört, aber in Gedanken in den glücklichen Monaten vorher tausendmal zu hören gemeint hatte.
Eines Tages setzte sich in der Straßenbahn eine junge Mutter mit einem plaudernden Kindchen auf dem Schoß neben sie. Und sie sagte zu ihr:
»Ich hatte einmal ein kleines Kind. Es starb.«
Die junge Mutter sah sie erschrocken an und presste ihr Kind an sich, in Eifersucht oder vielleicht in Angst; dann aber wurde ihr Herz gerührt und sie sagte:
»Sie Ärmste.«
»Ja«, nickte Saxon. »Es starb.«
Ihr traten Tränen in die Augen, aber ihr war, als hätte es ihr einige Linderung verschafft, von ihrem Kummer zu sprechen. Und den ganzen Tag musste sie mit einem fast überwältigenden Drang kämpfen, jedermann von ihrem Kummer zu erzählen – dem Kassierer in der Bank, dem ältlichen Inspektor von Salinger, der blinden Frau, die Harmonika spielte und von einem kleinen Knaben an der Hand geführt wurde, kurz allen, außer Schutzleuten. Schutzleute waren in ihren Augen neue und schreckliche Geschöpfe. Sie hatte gesehen, wie sie die Streikenden ebenso unbarmherzig niederschlugen, wie die Streikenden die Streikbrecher niedergeschlagen hatten. Und im Gegensatz zu den Streikenden war es der Beruf der Polizei, totzuschlagen. Sie kämpften nicht, um Arbeit zu bekommen. Sie taten es, weil es ihre Arbeit war. Sie hätten die Streikenden an jenem Tage an der Ecke zwischen ihrer Treppe und dem Hause festnehmen können. Aber das hatten sie nicht getan. Jedes Mal, wenn sie in die Nähe von Schutzleuten kam, drückte sie sich unwillkürlich an die Häuser, umso weit wie möglich von ihnen fortzukommen.
An der Ecke der Achten Straße und des Broadways, wo sie auf die Straßenbahn wartete, die sie heimbringen sollte, stand ein Schutzmann, der sie kannte und grüßte. Sie wurde leichenblass, und ihr Herz klopfte, dass es schmerzte. Es war nur Ned Hermanmann, dicker, breiter im Gesicht und gemütlicher als je. Er hatte ganze drei Jahre mit ihr auf einer Schulbank gesessen. Später war Ned Hermanmann Schutzmann geworden und hatte Lena Highland geheiratet, und Saxon hatte gehört, dass sie fünf Kinder hätten.
Er war also Schutzmann geworden, und Billy befand sich jetzt unter den Streikenden. Und war es nicht denkbar, dass Ned Hermanmann eines Tages mit Knüppel und Revolver auf Billy losging, wie die anderen Polizisten auf die Streikenden in ihrem Vordergarten losgegangen waren?
»Was gibt es, Saxon?« fragte er. »Bist du krank?«
Sie nickte mit einem würgenden Gefühl in der Kehle, ohne ein Wort hervorbringen zu können, und ging auf die Straßenbahn zu, die jetzt gerade hielt.
»Darf ich dir helfen?« erbot er sich.
Sie schauderte bei der Berührung seiner Hand zurück.
»Nein, es ist nichts«, sagte sie hastig und schöpfte Atem. »Ich fahre nicht mit der Straßenbahn. Ich habe noch etwas vergessen.«
Schwindlig bog sie von dem Broadway in die Neunte ein. Zwei Straßen weiter bog sie in die Clay Street ein und kam wieder in die Achte, wo sie auf die nächste Straßenbahn wartete.
*
Die Sommermonate vergingen, und die Lage auf dem Industriemarkt verschlimmerte sich immer mehr. Es war, als hätte sich das Kapital des ganzen Landes diese Stadt erwählt, um seinen Kampf gegen die Arbeiterorganisationen auszufechten. Viele Leute in Oakland waren wegen Streiks oder Aussperrung arbeitslos, und viele konnten nicht arbeiten, weil sie irgendwie von den Streikenden abhängig waren, und deshalb war es sehr schwer, Gelegenheitsarbeit zu finden. Billy verdiente hin und wieder einen Tagelohn, aber es genügte nicht, ihre Ausgaben zu decken, trotz dem kleinen Betrage, den sie anfangs wöchentlich aus der Streikkasse erhielten, und trotz der Sparsamkeit, die er sowohl wie Saxon übten.
Das Essen, das sie ihm jetzt vorsetzte, war sehr ungleich dem im ersten Jahre ihrer Ehe. Nicht nur war alles von schlechterer Qualität, viele Dinge waren überhaupt verschwunden. Fleisch, selbst das billigste, kam selten auf ihren Tisch. Frischgemolkene Milch war kondensierter gewichen. Wenn sie überhaupt Butter hatten, so musste ein halbes Pfund fünf- bis sechsmal solange reichen als früher. Hatte Billy früher drei Tassen Kaffee zum Frühstück getrunken, so trank er jetzt nur eine. Saxon brauchte zum Kochen dieses Kaffees unverhältnismäßig lange Zeit, und sie bezahlte zwanzig Cent für das Pfund. Das ganze Viertel war wie gelähmt von den schweren Zeiten. Familien, die nicht direkt von den Streiks berührt wurden, litten doch unter dieser Wirkung, oder weil in irgendeinem Beruf, von dem sie abhängig waren, keine Arbeit mehr zu haben war. Viele unverheiratete Männer, die bei verschiedenen Familien gewohnt hatten, waren jetzt in alle Winde verstreut, sodass die Miete sich für jeden einzelnen erhöhte.