Jack London – Gesammelte Werke

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Eine Se­kun­de, viel­leicht zwei, starr­te sie ihn an, dann aber wur­de sie durch den Klang von Berts Stim­me aus ih­ren Be­trach­tun­gen ge­ris­sen. Er kam, ge­folgt von meh­re­ren an­de­ren Strei­ken­den, auf dem Bür­ger­steig vor ih­rem Hau­se ge­lau­fen, und rief aus vol­ler Keh­le: »Vor­wärts, Mo­hi­ka­ner! Jetzt ha­ben wir sie an den Mast ge­na­gelt!«

In der Lin­ken hielt er eine ei­ser­ne Stan­ge, in der Rech­ten einen Re­vol­ver, der schon ver­schos­sen war, denn er spann­te ver­ge­bens den Hahn im Lau­fen. Plötz­lich blieb er ste­hen, warf die Stan­ge hin und dreh­te sich so, dass er sich Sa­x­ons Tür zu­kehr­te. Er woll­te ins Knie sin­ken, schleu­der­te aber den Re­vol­ver ei­nem Streik­bre­cher ins Ge­sicht, der auf ihn loss­prang. Dann schwank­te er und sank gleich­zei­tig in Kni­en und Hüf­ten zu­sam­men. Lang­sam, mit un­end­li­cher An­stren­gung, griff er mit der Rech­ten nach ei­nem Pfahl im Zaun und sank ins Knie, wäh­rend der gan­ze Schwarm von Strei­ken­den, de­ren An­füh­rer er ge­we­sen war, an ihm vor­bei­has­te­te.

Es war ein Kampf ohne Gna­de – ein Blut­bad. Die Streik­bre­cher und ihre Be­schüt­zer, die völ­lig um­zin­gelt wa­ren und mit dem Rücken ge­gen Sa­x­ons Haus stan­den, kämpf­ten wie ra­send, konn­ten sich aber der fast hun­dert Mann, die sich auf sie stürz­ten, nicht er­weh­ren. Knüp­pel und Axt­schäf­te wur­den ge­schwun­gen, Re­vol­ver knall­ten, und Pflas­ter­stei­ne wur­den her­aus­ge­ris­sen und in das wil­de Hand­ge­men­ge ge­schleu­dert. Sa­xon sah den jun­gen Frank Da­vis, einen Freund Berts, der vor we­ni­gen Mo­na­ten Va­ter ge­wor­den war, die Mün­dung sei­nes Re­vol­vers ei­nem Streik­bre­cher auf den Leib set­zen und ab­drücken. Lau­te Flü­che und er­bit­ter­tes Knur­ren, wil­de Schre­ckens­schreie und Schmer­zens­aus­brü­che er­tön­ten. Mer­ce­des hat­te recht. Das wa­ren kei­ne Men­schen. Es wa­ren wil­de Tie­re, die um den Kno­chen kämpf­ten und ein­an­der ver­nich­te­ten.

Ihr Kno­chen heißt Ar­beit; ihr Kno­chen heißt Ar­beit. Die­ser Satz klang im­mer wie­der durch Sa­x­ons Be­wusst­sein. Selbst wenn sie ge­wollt hät­te, wür­de sie doch nicht die Kraft ge­habt ha­ben, sich jetzt vom Fens­ter zu­rück­zu­zie­hen. Sie war wie ge­lähmt. Ihr Ge­hirn ar­bei­te­te nicht mehr. Mit star­ren Au­gen, au­ßer­stan­de, sich zu be­we­gen oder ir­gend et­was zu un­ter­neh­men, sah sie auf all den Schre­cken, der wie ein wild­ge­wor­de­nes le­ben­des Bild has­tig an ihr vor­bei­zog. Sie sah die De­tek­ti­ve, die Po­li­zis­ten und Strei­ken­den stür­zen. Ei­nem Streik­bre­cher, der von ei­ner Hand, die ihn an der Keh­le pack­te, ge­gen den Zaun ge­presst wur­de, wur­de das Ge­sicht voll­kom­men von ei­nem Re­vol­ver­kol­ben zer­schmet­tert. Im­mer wie­der, ohne Auf­hö­ren, hob und senk­te sich der Re­vol­ver, und Sa­xon kann­te den Mann, der ihn schwang – Che­s­ter John­son. Sie hat­te ihn in den Ta­gen vor ih­rer Ver­hei­ra­tung auf Bäl­len ge­trof­fen und mit ihm ge­tanzt. Er war im­mer ein net­ter, gut­mü­ti­ger Mensch ge­we­sen. Un­mög­lich konn­te dies der­sel­be Che­s­ter John­son sein. Und wäh­rend sie hier stand und zu­sah, merk­te sie, wie der dick­bäu­chi­ge An­füh­rer, der im­mer noch, mit dem Kopf in ih­rem Gar­ten, in den Zaun ein­ge­keilt war, mit der frei­en Hand einen Re­vol­ver zog und die Mün­dung Che­s­ter in die Sei­te press­te. Sie ver­such­te, einen war­nen­den Ruf aus­zu­sto­ßen. Es wur­de nur ein Angst­schrei, und Che­s­ter sah auf und er­kann­te sie. Im sel­ben Au­gen­blick ging der Re­vol­ver los, und er brach über dem Streik­bre­cher zu­sam­men. Jetzt hin­gen drei Män­ner­kör­per auf ih­rem Zaun.

Sie war nun auf al­les vor­be­rei­tet, und ohne das ge­rings­te Er­stau­nen sah sie die Strei­ken­den über den Zaun sprin­gen und ihre ar­men Pe­lar­go­ni­en und Stief­müt­ter­chen zer­tram­peln, als sie zwi­schen ih­rem Haus und dem der Mer­ce­des hin­durch­flüch­te­ten. Die Stra­ße her­auf kam von den Ei­sen­bahn­werk­stät­ten un­ter be­stän­di­gem Feu­er ein großes Auf­ge­bot von Bahn­po­li­zei und De­tek­ti­ven. Und von der an­de­ren Sei­te ka­men mit Lär­men, Rat­tern und Klap­pern von Pfer­de­hu­fen drei Pa­trouil­len­wa­gen voll Po­li­zei. Die Strei­ken­den wa­ren in ei­ner Fal­le ge­fan­gen. Sie hat­ten nur die Mög­lich­keit, zwi­schen den Häu­sern hin­durch über die Zäu­ne in die Hinter­hö­fe zu ent­schlüp­fen. Aber es wa­ren ih­rer zu vie­le in der en­gen Gas­se, als dass alle ent­kom­men konn­ten. Ein hal­b­es Dut­zend wur­de in dem Win­kel zwi­schen ih­rer Haus­fassa­de und den Stu­fen ein­ge­klemmt. Und wie sie ge­gen an­de­re ge­han­delt hat­ten, so wur­de jetzt ge­gen sie ge­han­delt. Ver­haf­tun­gen wur­den nicht vor­ge­nom­men. Sie wur­den von die­sen Hand­lan­gern der Ord­nung, die wü­tend über die Be­hand­lung wa­ren, die ih­ren Kol­le­gen zu­teil ge­wor­den war, bis auf den letz­ten Mann nie­der­ge­schos­sen und mit Knüp­peln nie­der­ge­schla­gen.

Al­les war vor­bei, und Sa­xon ging wie eine Schlaf­wand­le­rin die Stu­fen hin­ab und klam­mer­te sich an den Zaun. Der dick­bäu­chi­ge An­füh­rer schiel­te sie im­mer noch an und wink­te mit der einen Hand, ob­wohl zwei große Po­li­zis­ten sich über ihn beug­ten, um ihn her­aus­zu­zie­hen. Die Pfor­te war aus den An­geln ge­ris­sen, was ihr merk­wür­dig er­schi­en, denn sie hat­te den gan­zen Kampf ver­folgt und es nicht ge­sche­hen se­hen.

Berts Au­gen wa­ren ge­schlos­sen. Sei­ne Lip­pen wa­ren mit Blut be­fleckt, und aus sei­ner Keh­le kam ein Rö­cheln, als woll­te er et­was sa­gen. Als sie sich über ihn beug­te und ihm mit ih­rem Ta­schen­tuch das Blut von der Ba­cke wisch­te – ir­gend­je­mand hat­te ihn dar­auf­ge­tre­ten –, schlug er die Au­gen auf. Sie leuch­te­ten trot­zig wie in al­ten Ta­gen. Er er­kann­te sie nicht. Die Lip­pen be­weg­ten sich, und mit schwa­cher Stim­me mur­mel­te er, wie eine Lek­ti­on, die er wie­der­hol­te: »Die letz­ten Mo­hi­ka­ner! Die letz­ten Mo­hi­ka­ner!« Dann stöhn­te er, und die Au­gen schlos­sen sich wie­der. Er war nicht tot. Die Brust hob und senk­te sich, und das Rö­cheln kam im­mer noch aus sei­ner Keh­le.

Sie sah auf. Mer­ce­des stand ne­ben ihr. Die Au­gen der al­ten Frau wa­ren sehr klar, und ihre blas­sen Wan­gen hat­ten Far­be be­kom­men.

»Wol­len Sie mir hel­fen, ihn hin­ein­zu­tra­gen?« frag­te Sa­xon.

Mer­ce­des nick­te, wand­te sich dann zu ei­nem Po­li­zis­ten und rich­te­te die­sel­be Fra­ge an ihn. Der Po­li­zist warf einen has­ti­gen Blick auf Bert, und in sei­nen Au­gen war ein er­bit­ter­ter und wü­ten­der Aus­druck, als er ant­wor­te­te:

»Er kann zum Teu­fel ge­hen! Wir ha­ben ge­nug mit un­sern ei­ge­nen Leu­ten zu tun.«

»Vi­el­leicht kön­nen wir bei­de es tun«, sag­te Sa­xon.

»Ma­chen Sie kei­ne Dumm­hei­ten.« Mer­ce­des gab Frau Ol­sen auf der an­de­ren Sei­te der Stra­ße ein Zei­chen. »Ge­hen Sie jetzt wie­der hin­ein, Sie klei­ne, an­ge­hen­de Mut­ter. Wir wer­den ihn schon hin­ein­tra­gen. Dort kommt Frau Ol­sen, und wir kön­nen auch Mag­gie Do­na­hue ho­len.«

Sa­xon zeig­te ih­nen den Weg in die nach dem Hofe ge­le­ge­ne Schlaf­kam­mer, die Bil­ly durch­aus hat­te mö­blie­ren wol­len. Als sie die Tür öff­ne­te, war es, als flö­ge der Tep­pich hoch und schlü­ge ihr ins Ge­sicht. Denn sie er­in­ner­te sich, dass Bert es ge­we­sen war, der den Tep­pich ge­legt hat­te. Und wäh­rend die Frau­en ihn auf das Bett ho­ben, muss­te sie dar­an den­ken, dass sie und Bert ge­mein­sam an ei­nem Sonn­tag­mor­gen das Bett her­ein­ge­stellt hat­ten.

Dann aber fühl­te sie einen merk­wür­di­gen Schwin­del und sah mit Er­stau­nen, dass Mer­ce­des sie for­schend be­trach­te­te. Ihr Schwin­del nahm zu, und sie tauch­te nie­der in die Höl­le der Lei­den, die zu ken­nen nur Frau­en ge­ge­ben ist. Sie wur­de in das Bett im an­de­ren Schlaf­zim­mer ge­tra­gen. Vie­le Ge­sich­ter wa­ren um sie her – Mer­ce­des, Frau Ol­sen, Mag­gie Do­na­hue. Sie hat­te das Ge­fühl, dass sie Frau Ol­sen fra­gen muss­te, ob der klei­ne Emil ge­ret­tet war, aber Mer­ce­des schick­te Frau Ol­sen zu Bert hin­ein, und Mag­gie Do­na­hue ging, um zu öff­nen, denn es war an die Haus­tür ge­klopft wor­den. Von der Stra­ße her er­tön­ten Lärm und das Sum­men vie­ler Stim­men, un­ter­bro­chen von Ru­fen und Kom­man­do­wor­ten, und von Zeit zu Zeit konn­ten sie Kran­ken- und Pa­trouil­len­wa­gen hu­pen hö­ren. Dann tauch­te das fet­te, ver­gnüg­te Ge­sicht Mar­tha Skel­tons auf, und kurz dar­auf kam Dok­tor Hent­ley. Ein­mal, in ei­nem ih­rer lich­ten Au­gen­bli­cke, konn­te Sa­xon durch die dün­ne Wand die schril­le Stim­me Ma­rys hys­te­risch schrei­en hö­ren. Und dann wie­der hör­te sie Mary ein über das an­de­re Mal wie­der­ho­len: »Ich gehe nie wie­der in die Plät­te­rei. Nie! Nie!«

Bil­ly konn­te in die­ser Zeit den Schre­cken über Sa­x­ons Ver­än­de­rung nicht über­win­den. Mor­gen auf Mor­gen und Abend auf Abend, wenn er von der Ar­beit kam, ging er in das Zim­mer, wo sie lag und kämpf­te einen schwe­ren Kampf mit sich, um sei­ne Be­we­gung zu ver­ber­gen und zu tun, als sei er froh und wohl­ge­mut. Sie sah so klein aus, wie sie dalag, so klein, ein­ge­fal­len und müde, und doch gleich­zei­tig so kind­lich in ih­rer Klein­heit. Er setz­te sich an ihr Bett, fass­te zärt­lich und be­hut­sam ihre wei­ße Hand und strei­chel­te den schma­len, durch­sich­ti­gen Arm, wo­bei er sich wun­der­te, wie zart und fein ihre Kno­chen wa­ren.

Eine der ers­ten Fra­gen, die sie stell­te – eine Fra­ge, die we­der Bil­ly noch Mary ver­ste­hen konn­ten – lau­te­te:

»Ist der klei­ne Emil Ol­sen ge­ret­tet?«

Und als sie dann er­zähl­te, wie er ganz al­lein die vier­und­zwan­zig kampf­be­rei­ten Män­ner an­ge­grif­fen, da hat­te Bil­lys Ge­sicht di­rekt ge­strahlt vor Be­geis­te­rung.

»Der klei­ne Strolch!« sag­te er. »Ja, auf solch einen Ben­gel kann man stolz sein.«

Er hielt ver­le­gen inne, so of­fen­sicht­lich be­sorgt, dass er Sa­xon weh ge­tan hät­te, dass sie ganz ge­rührt war. Sie reich­te ihm die Hand.

 

»Bil­ly«, be­gann sie, war­te­te dann aber, bis Mary die Stu­be ver­las­sen hat­te. »Ich habe noch nie ge­fragt – und es ist ja auch ei­ner­lei – jetzt. Aber ich hat­te ge­dacht, dass du es mir sa­gen wür­dest. War es …?«

Er schüt­tel­te den Kopf.

»Nein, es war ein Mäd­chen. Ein kräf­ti­ges klei­nes Mäd­chen. Aber … es war zu früh.«

Sie drück­te ihm die Hand, und es war fast, als trös­te­te sie ihn in sei­nem Kum­mer.

»Ich habe es dir nie ge­sagt, Bil­ly – du warst so dar­auf ver­ses­sen, dass es ein Jun­ge sein soll­te. Aber ich hat­te doch dar­an ge­dacht, wenn es ein Mäd­chen wäre, es Dai­sy zu nen­nen. Du weißt, so hieß mei­ne Mut­ter.«

Er nick­te bei­fäl­lig.

»Weißt du, Sa­xon, dass ich ver­flucht gern einen Jun­gen ge­habt hät­te – aber jetzt ist es mir gleich­gül­tig. Ich bin eben­so ver­ses­sen auf ein Mä­del, und, nun ja, das nächs­te … ja, du hast wohl nichts da­ge­gen?«

»Wo­ge­gen?«

»Dass es eben­so hei­ßen wird: Dai­sy?«

»Ach, Bil­ly, ich dach­te ge­ra­de dar­an.«

Aber dann wur­de sein Ge­sicht plötz­lich hart und streng, und er fuhr fort:

»Aber es gibt kein ›nächs­tes‹. Ich wuss­te nicht, dass das Kin­der­krie­gen so war. Das darfst du nicht noch ein­mal durch­ma­chen.«

»Hör nur, wie der große, star­ke Mann re­det!« neck­te sie ihn mit ei­nem schwa­chen, mü­den Lä­cheln. »Da­von ver­stehst du nichts. Wie soll­test du auch? Du bist ja nur ein Mann. Es wäre aus­ge­zeich­net ge­gan­gen, wenn … wenn der Kampf nicht ge­we­sen wäre. Wo ha­ben sie Bert be­gra­ben?«

»Du wuss­test es also?«

»Ja, ich hab es die gan­ze Zeit ge­wusst. Und wo ist Mer­ce­des? Sie ist zwei Tage nicht hier ge­we­sen.«

»Der alte Bar­ry ist krank. Sie ist bei ihm.«

Er er­zähl­te ihr nicht, dass der alte Nacht­wäch­ter we­ni­ge Me­ter ent­fernt im Ster­ben lag.

Sa­x­ons Lip­pen beb­ten, und sie be­gann zu wei­nen, wäh­rend sie in ih­rer Schwä­che Bil­lys Hand mit ih­ren bei­den um­klam­mer­te.

»Ich – ich kann nichts da­für«, schluchz­te sie. »Es ist gleich wie­der vor­bei … Un­ser klei­nes Mä­del­chen, Bil­ly! Denk – dass ich es nie ge­se­hen habe!«

*

Als Sa­xon wie­der zu Kräf­ten kam, woll­te sie mehr über die Tra­gö­die wis­sen, die sich vor ih­rer Tür ab­ge­spielt hat­te. Bil­ly er­zähl­te ihr, dass gleich Mi­li­tär ge­ru­fen wor­den war und jetzt am Ende der Pine Street auf dem un­be­bau­ten Grund­stück ne­ben den Ei­sen­bahn­werk­stät­ten la­ger­te. Von den Strei­ken­den sa­ßen fünf­zehn im Ge­fäng­nis. Die Po­li­zei hat­te die gan­ze Nach­bar­schaft Haus für Haus durch­sucht und da­bei die fünf­zehn, die alle ver­wun­det wa­ren, ge­fan­gen­ge­nom­men. Es wür­de ih­nen schlimm er­ge­hen, sag­te Bil­ly fins­ter. Die Zei­tun­gen for­der­ten Blut für Blut, und alle Geist­li­chen in Oa­k­land hat­ten er­bit­ter­te Pre­dig­ten ge­gen die Strei­ken­den ge­hal­ten. Die Ei­sen­bahn­ge­sell­schaft hat­te alle Stel­len be­setzt, und es war all­ge­mein be­kannt, dass die Strei­ken­den nicht nur ihre Stel­lun­gen nicht wie­der­be­ka­men, son­dern bei al­len Ei­sen­bahn­ge­sell­schaf­ten in den Ve­rei­nig­ten Staa­ten auf dem Schwar­zen Brett stan­den. Sie hat­ten schon an­ge­fan­gen, sich in alle Win­de zu zer­streu­en.

Mit heim­li­cher Angst ver­such­te Sa­xon, Bil­lys Mei­nung über das Ge­sche­he­ne zu er­for­schen.

»Da sieht man, was bei so ge­walt­sa­men Metho­den wie de­nen Berts her­aus­kommt«, sag­te sie.

Er schüt­tel­te be­son­nen und ernst den Kopf.

»Che­s­ter John­son wird je­den­falls ge­hängt«, ant­wor­te­te er, ohne nä­her auf die Sa­che ein­zu­ge­hen. »Du kennst ihn doch. Du hast mir selbst er­zählt, dass du oft mit ihm ge­tanzt hast. Er wur­de auf fri­scher Tat er­tappt, über der Lei­che des Streik­bre­chers, den er tot­ge­prü­gelt hat­te. ›Dick­bauch‹ hat­te selbst drei Re­vol­ver­ku­geln im Lei­be. Aber er stirbt dies­mal nicht, und er hat sich Che­s­ter ge­merkt. Sie hän­gen ihn si­cher auf das Zeug­nis Dick­bauchs hin. Das stand in al­len Zei­tun­gen.«

Sa­xon schau­der­te. Dick­bauch war der Mann mit der Glat­ze und dem von Ta­bak be­fleck­ten Bart ge­we­sen.

»Ja«, sag­te sie, »ich sah al­les. Mir schi­en, dass er meh­re­re Stun­den dort ge­han­gen hät­te.«

»Und doch dau­er­te die gan­ze Ge­schich­te nur fünf Mi­nu­ten.«

»Mir kam es wie eine Ewig­keit vor.«

»Dick­bauch si­cher auch, als er am Git­ter hing.« Bil­ly lä­chel­te barsch. »Aber er ist zäh. Er ist Dut­zen­de von Ma­len an­ge­schos­sen und ge­sto­chen wor­den. Aber jetzt sa­gen sie, dass er für Le­bens­zeit Krüp­pel ist – dass er an Krücken ge­hen oder in ei­nem Roll­stuhl sit­zen muss. Da kann er kei­ne Dreck­ar­beit mehr für die Ei­sen­bahn tun. Er war ei­ner von den bes­ten Rauf­brü­dern – im­mer Feu­er und Flam­me, wenn auf der Stra­ße was los war. Er hat sich nie vor et­was auf zwei Bei­nen ge­fürch­tet – das muss man ihm las­sen.«

»Ist er ver­hei­ra­tet?«

»Sei­ne Frau habe ich nie ge­se­hen, aber er hat einen Sohn, Jack, der Lo­ko­mo­tiv­füh­rer ist. Ich habe ihn ein­mal ken­nen­ge­lernt – er ist ein tüch­ti­ger Bo­xer. Und er hat noch einen Sohn, der Leh­rer an der Hoch­schu­le ist. Er heißt Paul. Ich kann­te ihn, als wir bei­de klei­ne Bur­schen wa­ren.«

Sa­xon lehn­te sich in dem großen Ses­sel zu­rück, um sich aus­zu­ru­hen und nach­zu­den­ken. Das Pro­blem war ver­wi­ckel­ter als je. Der ält­li­che, dick­bäu­chi­ge, glatz­köp­fi­ge Mann hat­te also auch Frau und Kin­der. Und Frank Da­vis, der kaum ein Jahr ver­hei­ra­tet war, hat­te einen klei­nen Jun­gen. Vi­el­leicht hat­te der Streik­bre­cher, den er in den Bauch schoss, auch Frau und Kin­der. Es war, als wä­ren sie Mit­glie­der ei­ner großen Fa­mi­lie, und doch häm­mer­ten sie auf­ein­an­der los und tö­te­ten ein­an­der um ih­rer Fa­mi­li­en wil­len. Sie hat­te ge­se­hen, wie Che­s­ter John­son einen Streik­bre­cher er­schlug, und jetzt soll­te Che­s­ter John­son ge­hängt wer­den, Che­s­ter John­son, der Mann Kit­ty Bra­dys, mit der sie vor meh­re­ren Jah­ren zu­sam­men in der Kar­to­na­gen­fa­brik ge­ar­bei­tet hat­te.

Sa­xon war­te­te ver­ge­bens, dass Bil­ly sei­ne Miss­bil­li­gung über die Er­mor­dung der Streik­bre­cher aus­spre­chen soll­te.

»Es war nun doch falsch«, sag­te sie schließ­lich vor­sich­tig.

»Sie ha­ben Bert ge­tö­tet«, ant­wor­te­te er, »und eine Men­ge an­de­rer. Und Frank Da­vis. Wuss­test du, dass er tot war? Ihm wur­de der gan­ze Un­ter­kie­fer weg­ge­schos­sen – er starb im Kran­ken­wa­gen, ehe sie ihn ins Ho­spi­tal ge­schafft hat­ten.«

»Aber es war ihr ei­ge­ner Feh­ler«, fuhr sie fort. »Sie ha­ben an­ge­fan­gen. Es war Mord.«

Bil­ly ant­wor­te­te nicht, aber sie hör­te ihn et­was vor sich hin­mur­meln. Sie wuss­te, dass er sag­te: »Das ver­fluch­te Pack«; als sie aber frag­te: »Was sagst du?« ant­wor­te­te er nicht. Sein Blick war fins­ter. Die Li­ni­en um sei­nen Mund wa­ren hart ge­wor­den, und sein Aus­druck war zor­nig und streng.

Ihr war es wie ein Stich ins Herz. War er denn auch wie alle an­de­ren? War auch er ein wil­des Tier, ei­ner der Hun­de, die ih­ren er­bit­ter­ten Kampf um den Kno­chen kämpf­ten?

Sie seufz­te. Das Le­ben war ein selt­sa­mes Rät­sel. Vi­el­leicht hat­te Mer­ce­des Higg­ins recht, wenn sie das gan­ze Da­sein bru­tal über einen Kamm schor.

»Nun wenn schon?« sag­te Bil­ly mit ei­nem har­ten La­chen, wie als Ant­wort auf ihre un­aus­ge­spro­che­nen Ge­dan­ken. »Ein Hund frisst den an­de­ren – so ist es im­mer ge­we­sen.«

»Aber die Ar­bei­ter kön­nen auf die­se Art nicht sie­gen, Bil­ly! Du sagst selbst, dass sie sich jede Ge­winn­chan­ce ver­dor­ben ha­ben.«

»Nein, das kön­nen sie wohl nicht«, gab er wi­der­stre­bend zu. »Aber ich sehe kei­ne an­de­re Mög­lich­keit. Das nächs­te Mal sind wir an der Rei­he.«

»Doch nicht die Fuhr­leu­te?« rief sie er­schro­cken.

Er nick­te fins­ter.

»Die Chefs ma­chen Aus­fäl­le rechts und links und schla­gen einen mäch­ti­gen Lärm. Sie sa­gen, sie wol­len uns in die Knie zwin­gen, bis wir an­ge­kro­chen kom­men und um Ar­beit bet­teln. Seit der Prü­ge­lei neu­lich tun sie mäch­tig ge­schwol­len. Dass das Mi­li­tär ab­kom­man­diert wur­de, hat ih­nen das Rück­grat ge­steift, und dazu ha­ben sie die Pfaf­fen und die Zei­tun­gen und das gan­ze große Pub­li­kum hin­ter sich. Sie ha­ben schon große Töne ge­re­det, was sie ma­chen wol­len … ja, sie be­rei­ten sich vor. Zu­nächst wer­den sie Che­s­ter John­son und so vie­le von den an­de­ren fünf­zehn hän­gen, wie sie kön­nen. Das sa­gen sie mit kla­ren Wor­ten. Sie ha­ben es alle auf die Ge­werk­schaf­ten ab­ge­se­hen. Der Teu­fel kann alle Ar­bei­ter­or­ga­ni­sa­tio­nen ho­len.«

»Sieh uns an. Es ist jetzt nicht mehr Sym­pa­thie­streik für die Fa­brik­ar­bei­ter. Wir ha­ben un­se­re ei­ge­nen Be­schwer­den. Sie ha­ben vier von un­se­ren bes­ten Leu­ten weg­ge­jagt – die im­mer im Vor­stand sa­ßen und mit da­bei wa­ren, wenn es zu be­ra­ten galt und so wei­ter. Und sie ha­ben es ohne Grund ge­tan. Sie wol­len nur Krach, sage ich, und den krie­gen sie auch, wenn sie sich nicht vor­se­hen. Uns ist die Marsch­rou­te von den ver­ei­nig­ten Ha­fen­ar­bei­tern von San Fran­zis­ko vor­ge­zeich­net. Wenn wir die im Rücken ha­ben, kommt es ein gu­tes Stück vor­wärts.«

»Heißt das, dass ihr … strei­ken wollt?« frag­te Sa­xon.

Er beug­te den Kopf.

»Aber ist das nicht ge­ra­de das, was sie wol­len? – Dazu wol­len sie euch brin­gen.«

»Es kommt wohl un­ge­fähr auf ei­nes hin­aus.« Bil­ly zuck­te die Ach­seln und fuhr has­tig fort: »Es ist bes­ser zu strei­ken, als weg­ge­jagt zu wer­den. Wir zwin­gen sie dazu, und wir fan­gen sie, ehe sie be­reit sind. Glaubst du, wir wüss­ten nicht, was sie vor­ha­ben? Sie sam­meln alle mög­li­chen Kut­scher und Esel­trei­ber rings in den Staa­ten. Sie ha­ben schon vier­zig Stück, de­nen sie Kost und Lo­gis in ei­nem Ho­tel in Stock­ton ge­ben, die kön­nen sie also di­rekt hin­ein­wer­fen – die und meh­re­re Hun­dert vom sel­ben Schla­ge. Der Wo­chen­lohn, den ich Sonn­abend heim­brin­ge, wird also vor­läu­fig der letz­te sein.«

Sa­xon schloss die Au­gen und saß fünf Mi­nu­ten ganz still da, wäh­rend sie nach­dach­te. Sie pfleg­te sich nicht leicht auf­zu­re­gen. Die Kalt­blü­tig­keit und das Gleich­ge­wicht, die Bill so an ihr be­wun­der­te, ver­lie­ßen sie nie, wenn es dar­auf an­kam. Ihr war klar, dass sie sel­ber nur ein Atom war, das in die­sen ver­wir­ren­den, un­fass­ba­ren Streit zwi­schen vie­len Ato­men hin­ein­ge­ra­ten war.

»Dann müs­sen wir also un­ser Spar­geld an­grei­fen, um die­sen Mo­nat die Mie­te zu be­zah­len«, sag­te sie hei­ter. Bil­ly sah ganz ver­dutzt aus.

»Wir ha­ben nicht so viel auf der Bank, wie du glaubst«, sag­te er schließ­lich. »Bert muss­te doch be­gra­ben wer­den, und ich muss­te zu­schie­ßen, was die an­de­ren nicht zah­len konn­ten.«

»Wie viel war es?«

»Vier­zig Dol­lar. Ich wuss­te, dass du nichts da­ge­gen hät­test. Und das hast du auch nicht, nicht wahr?«

Sie lä­chel­te mu­tig und kämpf­te eben­so mu­tig mit dem Ge­fühl der Hoff­nungs­lo­sig­keit, das sich auf sie her­ab­senk­te.

»Es war das ein­zig rich­ti­ge, Bil­ly. Ich hät­te das­sel­be ge­tan, und Bert hät­te es für dich und mich ge­tan, wenn es über uns ge­kom­men wäre.«

Er be­kam vor Freu­de einen hei­ßen Kopf.

»Ja, Sa­xon, auf dich kann man sich ver­las­sen. Du bist mei­ne rech­te Hand. Und des­halb sage ich: kei­ne Kin­der mehr. Wenn ich dich ver­lie­re, wer­de ich zum Krüp­pel auf Le­bens­zeit.«

»Wir müs­sen uns na­tür­lich ein­schrän­ken«, sag­te sie nach­denk­lich und nick­te lei­se. »Wie viel ist noch auf der Bank?«

»Etwa drei­ßig Dol­lar. Siehst du, ich muss­te Mar­tha Skel­ton be­zah­len und … ein paar an­de­re Klei­nig­kei­ten. – Es sieht üb­ri­gens so aus, als woll­ten auch die Stra­ßen­bahn­schaff­ner mit­ma­chen. Dan Fal­lon ist so­gar von New York her­ge­kom­men. Er ver­such­te, sich ein­zu­schlei­chen, aber die Ka­me­ra­den wa­ren be­nach­rich­tigt, wann er New York ver­las­sen hat­te, und be­hiel­ten ihn die gan­ze Zeit un­ter­wegs im Auge. Und das war wohl auch nö­tig. Er hat ein gan­zes Heer von Streik­bre­chern und schickt sie mit Ex­tra­zü­gen über­all hin, wo man sie braucht. Oa­k­land hat noch nie sol­che Ar­bei­te­run­ru­hen ge­se­hen wie dies­mal, und es wird noch schlim­mer. Es sieht nach ei­nem Höl­len­spek­ta­kel aus.«

 

»Dann nimm dich gut in acht, Bil­ly. Ich will dich nicht ver­lie­ren.«

»Ach, hab kei­ne Angst. Ich wer­de schon auf­pas­sen. Und glaub nicht, dass wir ein­fach still­hal­ten, wenn sie uns ohr­fei­gen. Wir ha­ben gute Chan­cen.«

»Aber wenn es Blut­ver­gie­ßen gibt, ver­liert ihr, nicht wahr?«

»Ja, da­vor müs­sen wir uns hü­ten.«

»Kei­ne Ge­walt.«

»Kein Schie­ßen und kein Dy­na­mit«, räum­te er ein. »Aber es wird eine gan­ze Men­ge von Streik­bre­chern ge­ben, de­nen die Köp­fe zer­schla­gen wer­den. Das geht nun ein­mal nicht an­ders.«

»Aber so was willst du doch nicht mit­ma­chen, Bil­ly!«

»Nicht so, dass die Schwät­zer den Rich­tern er­zäh­len kön­nen, sie hät­ten mich ge­se­hen.« Dann aber schlug er has­tig ein an­de­res The­ma an. »Der alte Bar­ry Higg­ins ist ge­stor­ben. Ich woll­te es dir er­zäh­len, wenn du au­ßer Bett warst. Sie ha­ben ihn vor ei­ner Wo­che be­gra­ben. Sei­ne alte Frau zieht nach San Fran­zis­ko. Sie sag­te, dass sie kom­men und sich von dir ver­ab­schie­den woll­te. Nun ja, sie hat die ers­ten Tage gut für dich ge­sorgt, und sie hat Mar­tha Skel­ton ein paar Din­ge ge­lehrt, die sie noch nicht kann­te. Mar­tha stand di­rekt mit of­fe­nem Mund da­bei.«

*

Jetzt, da Bil­ly streik­te und be­stän­dig Streik­wa­che ge­hen muss­te, war Sa­xon so viel al­lein, dass sich schließ­lich, trotz ih­rem ge­sun­den Na­tu­rell, eine ge­wis­se Krank­haf­tig­keit bei ihr ent­wi­ckel­te. Ihre Ein­sam­keit wur­de durch Mer­ce­des’ Fort­zug und Berts Tod noch ver­mehrt, und selbst Mary war fort­ge­zo­gen, mit dem ziem­lich va­gen Be­scheid, dass sie eine »Stel­lung« bei ei­ner Fa­mi­lie in Pied­mont an­ge­nom­men hät­te.

Bil­ly konn­te Sa­xon in die­ser schwe­ren Zeit nicht viel Trost schen­ken. Er hat­te das un­kla­re Ge­fühl, dass sie litt. Aber wie groß die­ses Lei­den war, und wie tief es ging, das fass­te er nicht. Er war zu männ­lich prak­tisch, und sei­nem Ge­schlecht zu­fol­ge wuss­te er nichts von der see­li­schen Tra­gö­die, die in ihr Le­ben ein­ge­grif­fen hat­te. Er war nur ein Au­ßen­ste­hen­der, ein freund­lich Au­ßen­ste­hen­der, der nicht viel sah. Für sie war das klei­ne Kind wirk­lich und le­ben­dig ge­we­sen. Es war im­mer noch wirk­lich und le­ben­dig. Das war das Un­glück. So sehr sie sich auch an­streng­te, konn­te sie doch nicht die klaf­fen­de Lee­re aus­fül­len, die der Um­stand, dass es nicht leb­te, in ih­rem Da­sein ge­schaf­fen hat­te. Zu­wei­len war es fast wie eine Hal­lu­zi­na­ti­on, so wirk­lich er­schi­en ihr al­les. Ir­gend­wo muss­te sie es im­mer su­chen. Zu­wei­len konn­te sie sich da­bei er­tap­pen, wie sie mit an­ge­spann­ten Sin­nen auf den Schrei lausch­te, den sie nie ge­hört, aber in Ge­dan­ken in den glück­li­chen Mo­na­ten vor­her tau­send­mal zu hö­ren ge­meint hat­te.

Ei­nes Ta­ges setz­te sich in der Stra­ßen­bahn eine jun­ge Mut­ter mit ei­nem plau­dern­den Kind­chen auf dem Schoß ne­ben sie. Und sie sag­te zu ihr:

»Ich hat­te ein­mal ein klei­nes Kind. Es starb.«

Die jun­ge Mut­ter sah sie er­schro­cken an und press­te ihr Kind an sich, in Ei­fer­sucht oder viel­leicht in Angst; dann aber wur­de ihr Herz ge­rührt und sie sag­te:

»Sie Ärms­te.«

»Ja«, nick­te Sa­xon. »Es starb.«

Ihr tra­ten Trä­nen in die Au­gen, aber ihr war, als hät­te es ihr ei­ni­ge Lin­de­rung ver­schafft, von ih­rem Kum­mer zu spre­chen. Und den gan­zen Tag muss­te sie mit ei­nem fast über­wäl­ti­gen­den Drang kämp­fen, je­der­mann von ih­rem Kum­mer zu er­zäh­len – dem Kas­sie­rer in der Bank, dem ält­li­chen In­spek­tor von Sa­lin­ger, der blin­den Frau, die Har­mo­ni­ka spiel­te und von ei­nem klei­nen Kna­ben an der Hand ge­führt wur­de, kurz al­len, au­ßer Schutz­leu­ten. Schutz­leu­te wa­ren in ih­ren Au­gen neue und schreck­li­che Ge­schöp­fe. Sie hat­te ge­se­hen, wie sie die Strei­ken­den eben­so un­barm­her­zig nie­der­schlu­gen, wie die Strei­ken­den die Streik­bre­cher nie­der­ge­schla­gen hat­ten. Und im Ge­gen­satz zu den Strei­ken­den war es der Be­ruf der Po­li­zei, tot­zu­schla­gen. Sie kämpf­ten nicht, um Ar­beit zu be­kom­men. Sie ta­ten es, weil es ihre Ar­beit war. Sie hät­ten die Strei­ken­den an je­nem Tage an der Ecke zwi­schen ih­rer Trep­pe und dem Hau­se fest­neh­men kön­nen. Aber das hat­ten sie nicht ge­tan. Je­des Mal, wenn sie in die Nähe von Schutz­leu­ten kam, drück­te sie sich un­will­kür­lich an die Häu­ser, umso weit wie mög­lich von ih­nen fort­zu­kom­men.

An der Ecke der Ach­ten Stra­ße und des Broad­ways, wo sie auf die Stra­ßen­bahn war­te­te, die sie heim­brin­gen soll­te, stand ein Schutz­mann, der sie kann­te und grüß­te. Sie wur­de lei­chen­blass, und ihr Herz klopf­te, dass es schmerz­te. Es war nur Ned Her­man­mann, di­cker, brei­ter im Ge­sicht und ge­müt­li­cher als je. Er hat­te gan­ze drei Jah­re mit ihr auf ei­ner Schul­bank ge­ses­sen. Spä­ter war Ned Her­man­mann Schutz­mann ge­wor­den und hat­te Lena High­land ge­hei­ra­tet, und Sa­xon hat­te ge­hört, dass sie fünf Kin­der hät­ten.

Er war also Schutz­mann ge­wor­den, und Bil­ly be­fand sich jetzt un­ter den Strei­ken­den. Und war es nicht denk­bar, dass Ned Her­man­mann ei­nes Ta­ges mit Knüp­pel und Re­vol­ver auf Bil­ly los­ging, wie die an­de­ren Po­li­zis­ten auf die Strei­ken­den in ih­rem Vor­der­gar­ten los­ge­gan­gen wa­ren?

»Was gibt es, Sa­xon?« frag­te er. »Bist du krank?«

Sie nick­te mit ei­nem wür­gen­den Ge­fühl in der Keh­le, ohne ein Wort her­vor­brin­gen zu kön­nen, und ging auf die Stra­ßen­bahn zu, die jetzt ge­ra­de hielt.

»Darf ich dir hel­fen?« er­bot er sich.

Sie schau­der­te bei der Berüh­rung sei­ner Hand zu­rück.

»Nein, es ist nichts«, sag­te sie has­tig und schöpf­te Atem. »Ich fah­re nicht mit der Stra­ßen­bahn. Ich habe noch et­was ver­ges­sen.«

Schwind­lig bog sie von dem Broad­way in die Neun­te ein. Zwei Stra­ßen wei­ter bog sie in die Clay Street ein und kam wie­der in die Ach­te, wo sie auf die nächs­te Stra­ßen­bahn war­te­te.

*

Die Som­mer­mo­na­te ver­gin­gen, und die Lage auf dem In­dus­trie­markt ver­schlim­mer­te sich im­mer mehr. Es war, als hät­te sich das Ka­pi­tal des gan­zen Lan­des die­se Stadt er­wählt, um sei­nen Kampf ge­gen die Ar­bei­ter­or­ga­ni­sa­tio­nen aus­zu­fech­ten. Vie­le Leu­te in Oa­k­land wa­ren we­gen Streiks oder Auss­per­rung ar­beits­los, und vie­le konn­ten nicht ar­bei­ten, weil sie ir­gend­wie von den Strei­ken­den ab­hän­gig wa­ren, und des­halb war es sehr schwer, Ge­le­gen­heits­ar­beit zu fin­den. Bil­ly ver­dien­te hin und wie­der einen Ta­ge­lohn, aber es ge­nüg­te nicht, ihre Aus­ga­ben zu de­cken, trotz dem klei­nen Be­tra­ge, den sie an­fangs wö­chent­lich aus der Streik­kas­se er­hiel­ten, und trotz der Spar­sam­keit, die er so­wohl wie Sa­xon üb­ten.

Das Es­sen, das sie ihm jetzt vor­setz­te, war sehr un­gleich dem im ers­ten Jah­re ih­rer Ehe. Nicht nur war al­les von schlech­te­rer Qua­li­tät, vie­le Din­ge wa­ren über­haupt ver­schwun­den. Fleisch, selbst das bil­ligs­te, kam sel­ten auf ih­ren Tisch. Frisch­ge­mol­ke­ne Milch war kon­den­sier­ter ge­wi­chen. Wenn sie über­haupt But­ter hat­ten, so muss­te ein hal­b­es Pfund fünf- bis sechs­mal so­lan­ge rei­chen als frü­her. Hat­te Bil­ly frü­her drei Tas­sen Kaf­fee zum Früh­stück ge­trun­ken, so trank er jetzt nur eine. Sa­xon brauch­te zum Ko­chen die­ses Kaf­fees un­ver­hält­nis­mä­ßig lan­ge Zeit, und sie be­zahl­te zwan­zig Cent für das Pfund. Das gan­ze Vier­tel war wie ge­lähmt von den schwe­ren Zei­ten. Fa­mi­li­en, die nicht di­rekt von den Streiks be­rührt wur­den, lit­ten doch un­ter die­ser Wir­kung, oder weil in ir­gend­ei­nem Be­ruf, von dem sie ab­hän­gig wa­ren, kei­ne Ar­beit mehr zu ha­ben war. Vie­le un­ver­hei­ra­te­te Män­ner, die bei ver­schie­de­nen Fa­mi­li­en ge­wohnt hat­ten, wa­ren jetzt in alle Win­de ver­streut, so­dass die Mie­te sich für je­den ein­zel­nen er­höh­te.