»Aus dir könnte ein guter Volksredner werden«, meinte Tom, »wenn du nur ein bisschen mehr Form hineinkriegen könntest.«
»Es klingt sehr richtig, Bert«, sagte Billy, »ist es aber nicht. Jeder kann heute reich werden.«
»Ja, oder Präsident der Vereinigten Staaten«, sagte Bert gereizt – »gewiss kann man es. Aber ich habe noch nicht gehört, dass du Aussicht zum Millionär oder zum Präsidenten hast. Warum nicht? Weil du nicht vom rechten Schlage bist. Du bist ein Esel! Ein armes Tier, das ist es. Weg mit dir! Weg mit uns allen!«
Beim Mittagessen sprach Tom von den Freuden des Landlebens, das er als Knabe und junger Mann gekannt hatte. Und er vertraute ihnen an, dass es sein Traum sei, wegzugehen und ein Stück Boden zu pachten, wie seine Vorfahren es getan hatten. Aber leider war Sarah, wie er erklärte, so festgewurzelt, dass es sein Traum bleiben musste.
Etwas später, als Bert gerade wieder mit seinem Lamento angefangen hatte, ertappte Billy sich dabei, wie er Vergleiche anstellte. Dieses Haus war nicht wie sein Heim. Hier war keine angenehme Atmosphäre. Es war, als läge Disharmonie über allem. Er dachte daran, dass die Frühstücksteller noch nicht aufgewaschen waren, als sie kamen. Männer beachten selten solche Einzelheiten, und er tat es sonst auch nicht. Aber er hatte doch durch tausend Dinge im Laufe des Vormittags den festen Eindruck erhalten, dass Mary als Hausfrau nicht so tüchtig war wie Saxon. Ja, das war eine Frau! Aber seine Gedanken wurden durch Bert unterbrochen.
»Heh, Billy, ich glaube, du denkst, dass ich verärgert bin. Gewiss. Das bin ich. Ich habe meine Erfahrungen gemacht. Du bist immer Kutscher gewesen und hast ein schönes Geld mit deinem Boxen verdient. Du hast keinen Streik durchgemacht, du hast keine alte Mutter zu versorgen gehabt und warst daher nicht gezwungen ihretwegen jede Arbeit zu übernehmen. Erst als sie tot war, konnte ich tun und lassen, was ich wollte.
Zum Beispiel, als ich es bei der Straßenbahn versuchte, ja, da könnt ihr sehen, was ein Arbeitstier sich gefallen lassen muss. Der Oberchinese misst mich von Kopf bis zu Fuß, stellt eine Menge Fragen und gibt mir ein Formular zum Ausfüllen. Ich fülle es aus und bezahle einem Doktor, zu dem sie mich schicken, einen Dollar, damit er mir ein Attest gibt. Dann gehe ich zu einem Fotografen und kriege mein Gesicht verewigt – für das Verbrecheralbum der Gesellschaft. Und für das Gesicht muss ich einen Dollar herausrücken. Der erste Mann an der Spritze nimmt Formular, ärztliches Attest und Fotografie und bombardiert mich mit neuen Fragen. Ob ich Gewerkschaftsmitglied bin? – Ich? Natürlich lüge ich, dass ich es nicht sei. Ich brauchte die Arbeit. Der Kaufmann wollte mir keinen Kredit mehr geben, und es handelte sich ja auch um meine Mutter.
Hm, sage ich bei mir, jetzt bin ich also richtiger Straßenbahnschaffner. Jetzt kann ich auf der Plattform stehen und die feinen Damen abfertigen. Jawohl! Zwei Dollar, bitte! Ja, zwei Dollar für ein Zinnschild. Und dann die Uniform – neunzehn fünfzig, und überall kriegt man sie für fünfzehn. Aber die sollte ich von meinem ersten Monatslohn bezahlen. Und fünf Dollar musste ich in der Tasche haben – Wechselgeld – laut Reglement. Ich lieh mir die fünf von Tom Donovan, dem Schutzmann. Und was dann? Zwei Wochen ließen sie mich ohne Lohn arbeiten – damit ich den Beruf lernte.«
»Kamen viele feine Damen?« neckte Saxon ihn.
Bert schüttelte finster den Kopf.
»Ich arbeitete nur einen Monat. Dann organisierten wir uns, und sie sprengten die Gewerkschaft, sodass es aus war.«
»Und ebenso wird die Eisenbahn eure Gewerkschaften sprengen, wenn ihr streikt, ihr Idioten!« erklärte Mary.
»Das hab ich ja die ganze Zeit gesagt«, sagte Bert. »Wir haben nicht die geringste Chance.«
»Aber warum tut ihr es dann?« fragte Saxon.
Er sah sie einen Augenblick mit einem merkwürdig erloschenen Blick an und antwortete dann:
»Warum wurden meine beiden Onkel bei Gettysburg getötet?«
*
Saxon besorgte ihre Hausarbeit in großer Unruhe. Sie verwandte ihre Zeit nicht mehr darauf, hübsche Dinge zu verfertigen. Das Material kostete Geld, und sie wagte es nicht. Die Drohungen Berts hatten sie berührt, und seine Bemerkungen peinigten sie wie ein Speer, der sich in einer offenen Wunde dreht. Sie und Billy waren verantwortlich für das neue kleine Menschenkind. War es nun auch sicher, dass sie ihm Nahrung und Kleidung verschaffen und ihm seinen Weg in die Welt bahnen konnten? Sie erinnerte sich dunkel, wie in alten Tagen schlechte Zeiten die Existenz ganzer Familien vernichtet hatten, und die Klagen von Vätern und Müttern tauchten wieder in ihrem Kopfe auf und erhielten neue Bedeutung. Ihr schien fast, als könnte sie das ewige Jammern Sarahs verstehen.
Man fühlte die schlechten Zeiten schon in der Nachbarschaft, wo die streikenden Eisenbahner wohnten. In den kleinen Geschäften, wo Saxon ihre täglichen Einkäufe machte, konnte man die Hoffnungslosigkeit spüren. Alle Freude und Heiterkeit schien verschwunden. Überall herrschte eine düstere Stimmung. Die Mütter von Kindern, die auf der Straße spielten, zeigten deutlich ihre traurige Stimmung in ihren Gesichtern. Wenn sie des Abends an den Gartenpforten oder auf den Stufen vor den Häusern schwatzten, waren ihre Stimmen leise, und weniger Lachen als sonst ertönte.
Maggie Donahue, die sonst drei Liter Milch gekauft hatte, kaufte jetzt nur einen. Nie mehr war die Rede von Familienausflügen ins Kino. Fleischabfälle waren beim Schlachter fast nicht zu bekommen. Nora Delaney, die zwei Häuser weiter in der Straße wohnte, kaufte keinen frischen Fisch mehr am Freitag. Jetzt begnügte sich die Familie mit Stockfisch, und nicht einmal von der besten Sorte. Die gesunden Kinder, die zwischen den Mahlzeiten mit mächtigen Brotschnitten mit Butter und Zucker auf der Straße herumgelaufen waren, erhielten jetzt dünnere Brotschnitten mit dünnerer Butter und ohne Zucker. Selbst der Brauch mit den Brotschnitten wollte aussterben, und einige der Kinder hatten schon aufgehört, etwas zwischen den Mahlzeiten zu verlangen.
Überall gab es ein ewiges Knausern und Sparen, und die Ausgaben wurden immer mehr eingeschränkt. Und das erzeugte eine immer wachsende Reizbarkeit. Frauen wurden viel schneller als früher gegeneinander und gegen ihre Kinder aufgebracht, und Saxon wusste, dass Bert und Mary sich ununterbrochen zankten.
»Wenn sie doch nur verstehen wollte, dass ich auch meine Sorgen habe«, beklagte Bert sich bei Saxon.
Sie sah ihn forschend an, und eine unbestimmte, namenlose Angst ergriff sie. Seine schwarzen Augen flammten mit der Glut des Wahnsinns. Das braune Gesicht war magerer geworden, und die Haut lag straff über den Backenknochen. Sein Mund hatte sich verzerrt, war gleichsam in Bitterkeit erstarrt. Selbst seine Haltung und die Art, wie er seinen Hut aufsetzte, verrieten Gleichgültigkeit und Heftigkeit.
Zuweilen, an den langen Nachmittagen, wenn Saxon, die Hände im Schoß, am Fenster saß, ertappte sie sich dabei, wie sie sich die Wanderung ihrer Familie über Prärie, Berge und Wüsten nach dem Lande des Sonnenuntergangs am westlichen Meere vorzustellen versuchte. Und oft träumte sie von dem idyllischen Leben ihrer Familie in jenen Tagen, als sie nicht in Städten wohnten und nicht von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden gepeinigt wurden. Sie erinnerte sich der alten Erzählungen, wie sie ihr eigenes Gemüse gebaut hatten, ihre eigenen Schmiede und Zimmerleute gewesen waren, ihre eigenen Schuhe verfertigt hatten – ja, und ihre eigenen Kleider gesponnen und gewebt hatten. Und ihr schien, sie könnte noch den träumerischen Ausdruck in Toms Gesicht sehen, als er davon gesprochen hatte, dass es sein höchster Wunsch gewesen war, ein Stück Boden vom Staat zu pachten. Ja, das Leben eines Landmanns muss herrlich sein, dachte sie bei sich. Wie konnten die Menschen nur in Städten leben? Hatte es in alten Tagen genug gegeben, warum dann nicht jetzt? Warum mussten Männer sich zanken, streiken, kämpfen, nur um sich Arbeit zu verschaffen? Warum gab es nicht genug für alle? Erst heute Morgen – und ihr schauderte bei dem Gedanken – hatte sie gesehen, wie zwei Streikbrecher auf dem Wege zur Arbeit von den Streikenden zuschanden geprügelt wurden, von Männern, die sie dem Aussehen, einige auch dem Namen nach, kannte, und die ganz in ihrer Nachbarschaft wohnten. Es war roh, so brutal gewesen – ein Dutzend Männer gegen zwei. Schutzleute waren mit geladenen Revolvern hinzugekommen, und die Streikenden hatten sich in die Häuser und die Gässchen zwischen den Häusern zurückgezogen. Einen der Streikbrecher hatte man im Krankenwagen fortgeschafft; der andere, der von der Hauspolizei der Eisenbahn Hilfe bekommen hatte, war nach den Werkstätten gebracht worden. Maggie Donahue, die, ihr Kind auf dem Arm, auf den Stufen vor ihrem Hause stand, hatte ihn mit Schimpfworten überschüttet, die Saxon die Schamröte in die Wangen getrieben hatten. Auf den Stufen des anderen Nachbarhauses hatte Saxon mitten in der Schlägerei Mercedes gesehen, wie sie die Kämpfenden mit einem seltsamen Lächeln betrachtete. Ja, sie hatte offenbar mit großem Eifer zugesehen, und ihre Nasenflügel hatten gebebt, als ob sie heftig atmete. Es war Saxon aufgefallen, dass die alte Frau nicht im geringsten ängstlich, nur neugierig war.
Zu Mercedes, die in allem, was die Liebe betraf, so klug war, ging Saxon, um eine Erklärung zu erhalten, was mit der Welt los war. Aber was die alte Frau über industrielle und ökonomische Fragen zu sagen hatte, war zu unverständlich und gefiel ihr nicht.
»La la, mein Kind, das ist ganz einfach. Die meisten Menschen sind dumm geboren. Sie sind Sklaven. Einige wenige sind klug geboren. Das sind die Herren der anderen. So hat Gott wohl die Menschen erschaffen.«
»Aber was sagt Gott zu der furchtbaren Prügelei drüben?«
»Ich fürchte, dass sie ihn nicht im geringsten interessiert«, lächelte Mercedes. »Ich zweifle sogar, dass er überhaupt etwas davon weiß.«
»Ich hatte eine Todesangst«, erklärte Saxon. »Ich wurde ganz krank davon. Aber Sie – ich sah Sie – Sie sahen ganz ruhig zu, als wäre es eine Theatervorstellung.«
»Es war auch eine Theatervorstellung, mein Kind.«
»Ach, wie können Sie das sagen?«
»La, la, ich habe früher schon gesehen, wie Männer getötet wurden. Dabei ist nichts Merkwürdiges. Alle Menschen müssen sterben wie Ochsen, sie wissen selber nicht, weshalb. Es ist beinahe komisch, das zu sehen. Sie fahren mit Fäusten und Keulen aufeinander los und zerschlagen sich die Köpfe. Es ist ein plumpes Spiel. Sie sind wie Hunde, die sich um einen Knochen schlagen. Nur dass ihr Knochen Arbeit heißt. Sehen Sie, wenn sie um Frauen oder um Ideale oder um Gold in Barren oder um Diamanten von fabelhaftem Wert kämpften, dann wäre es großartig. Aber nein, sie sind nur hungrig und schlagen sich um die Krumen zur Stillung ihres Hungers.«
»Ach, wenn ich das doch nur verstehen könnte«, murmelte Saxon und rang verzweifelt die Hände, weil sie nicht verstehen konnte und doch so gern wollte.
»Da gibt es nichts zu verstehen. Es ist so klar wie der Tag. Es hat immer dumme Menschen und kluge Menschen, Sklaven und Herren, Bauern und Fürsten gegeben. Und so wird es bleiben.«
»Ja, aber warum?«
»Warum ist ein Bauer ein Bauer, mein Kind? Eben weil er ein Bauer ist. Warum ist eine Fliege eine Fliege?«
Saxon warf gereizt den Kopf zurück.
»Aber, mein Kind, ich habe Ihnen doch geantwortet. Alle philosophischen Systeme der Welt können keine bessere Antwort geben. Warum wollen Sie lieber Ihren Mann haben als irgendeinen anderen? Weil er Ihnen gefällt, wie er ist, das ist alles. Warum brennt Feuer, und warum schneidet Frost? Warum gibt es kluge Männer und dumme Männer? Herren und Sklaven? Arbeitgeber und Arbeiter? Warum ist schwarz schwarz? Beantworten Sie das, und Sie werden alles beantwortet haben.«
»Aber es ist nicht recht, dass Menschen hungern und müßig gehen sollen, wenn sie bereit sind zu arbeiten, wenigstens unter anständigen Bedingungen«, protestierte Saxon.
»Nun ja, das ist richtig, aber auf dieselbe Art und Weise, wie es richtig ist, dass Steine nicht wie Holz brennen, dass Sand kein Zucker ist, dass Dornen stechen, dass Wasser nass ist und dass Rauch hochsteigt, dass die Dinge herunter- und nicht hinauffallen.«
»Aber dann haben wir ja weder Freiheit noch Unabhängigkeit«, rief Saxon leidenschaftlich. »Der eine ist nicht so gut wie der andere. Mein Kind hat nicht dasselbe Recht zum Leben wie das Kind einer reichen Mutter.«
»Nein, selbstverständlich hat es das nicht«, antwortete Mercedes.
»Und doch haben meine Vorfahren für all diese Dinge gekämpft«, ereiferte sich Saxon, die sich des Geschichtsunterrichts in der Schule und des Schwertes ihres Vaters erinnerte.
»Demokratie – der Traum der dummen Menschen. La, la, mein Kind, Demokratie ist eine Lüge, um die Arbeitstiere froh und heiter zu halten, wie in alten Tagen die Religion sie froh und heiter hielt. Wenn sie unter Mühen und Beschwerden stöhnten, dann überredete man sie, mit ihren Mühen und Beschwerden auszuhalten, indem man ihnen hübsche Geschichten von einem Land erzählte, wo sie in Freude und Herrlichkeit leben sollten, während die Klugen über ewigem Feuer brieten. Wie die Klugen gelacht haben müssen! Und als die Lüge verbraucht war und man von der Demokratie zu träumen begann, da sorgten die Klugen dafür, dass sie in Wahrheit ein Traum wurde und nichts als ein Traum. Die Welt gehört den Großen und Klugen.«
»Aber Sie gehören doch selbst der Arbeiterklasse an«, sagte Saxon.
Die alte Frau richtete sich fast zornig auf.
»Ich? Der Arbeiterklasse? Mein Kind, wenn ich auch mein Geld durch Spekulationen verloren habe, wenn ich auch zu alt bin, um die stolzen jungen Männer zu gewinnen, wenn ich auch die Männer überlebt habe, die ich in meiner Jugend kannte, und wenn ich auch mit Barry Higgins hier im Ghetto wohne und mich auf den Tod vorbereite – so bin ich doch unter den Herrschern geboren, mein Kind, und habe all meine Tage den Fuß auf den Nacken der Dummen gesetzt. Ich habe seltene Weine getrunken und an Gastmählern teilgenommen, die unsere Nachbarschaft ein ganzes Menschenalter hätten ernähren können. Dick Golden und ich – es war Dicks Geld, aber es hätte meines sein können – Dick Golden und ich verloren vierhunderttausend Frank in einer Woche an den Spieltischen von Monte Carlo. Er war Jude, aber er verstand, Geld auszugeben. In Indien habe ich Juwelen getragen, die Tausende von Familien vom Hungertode hätten erretten können –, die Tausende, die vor meinen Augen starben.«
»Sie sahen sie sterben? Und taten nichts für sie?« fragte Saxon entsetzt.
»Ich behielt meine Juwelen – la la, und ehe das Jahr um war, wurden sie mir von einem russischen Offizier gestohlen.«
»Und Sie ließen sie sterben?« wiederholte Saxon.
»Es war elendes Gewürm. Sie wimmeln und vermehren sich wie die Maden. Sie sind nichts wert – nichts, mein Kind. Sie waren nicht mehr wert als die Arbeiter hier, deren größte Dummheit ist, dass sie weiter Nachkommenschaft in die Welt setzen, damit auch die für die Herren schuften kann.«
So kam es, dass Saxon, die, wenn sie andere hörte, hin und wieder ein wenig Sinn ins Dasein bringen konnte, keinen Sinn in dem finden konnte, was die furchtbare alte Frau sagte. Mit den Wochen wurden die streikenden Eisenbahner immer wütender und erbitterter, und Billy schüttelte den Kopf und gab zu, dass es ihm nicht möglich war, einen Sinn in dem Unglück zu finden, das den Horizont des ganzen Arbeiterstandes verfinsterte.
»Ich kann es nicht begreifen«, sagte er zu Saxon. »Es ist alles so verwirrt. Es ist wie eine Prügelei im Dunkeln. Zum Beispiel die Fuhrleute! Die fangen jetzt an, davon zu reden, dass wir einen Sympathiestreik für die Maschinenarbeiter machen sollen. Die sind jetzt seit einer Woche arbeitslos. Die meisten ihrer Stellungen sind von anderen besetzt, und wenn wir Fuhrleute den Fabriken die Waren weiter zuführen, dann ist der Streik verloren.«
»Aber als man euch den Lohn kürzte, dachtet ihr doch nicht an einen Streik«, sagte Saxon stirnrunzelnd.
»Ach, damals ging es uns nicht so, dass wir es uns leisten konnten. Aber jetzt sind die Fuhrleute und die vereinigten Hafenarbeiter in San Franzisko bereit, uns zu stützen. Das sagt man jedenfalls augenblicklich. Und wenn wir anfangen, können wir selbstverständlich sehen, dass sie uns den Lohn die zehn Prozent wieder heraufsetzen.« –
»Es ist eine faule Politik«, sagte er ein andermal. »Alles ist faul, auch die Menschen. Wenn wir nur so klug wären, dass wir uns auf einen ehrlichen Mann einigten –«
»Aber wenn du und Bert und Tom euch nicht einigen könnt, wie kannst du dann erwarten, dass alle anderen sich einigen sollen?« fragte Saxon.
»Nein, das ist es eben«, gab er zu. »Man kann ganz verrückt werden, wenn man über all das nachdenkt. Und dabei ist es so einfach, wie nur etwas sein kann. Ein paar ehrliche Leute im politischen Leben, dann geht alles von selber. Ehrliche Leute werden ehrliche Gesetze machen. Und dann bekämen andere ehrliche Leute, was ihnen zukommt. Aber Bert will alles zerschlagen, und Tom raucht seine Pfeife und träumt von einer Zukunft, in der alle Menschen ihr Los selbst bestimmen.«
»Was ist los?« fragte er, und seine Stimme wurde ganz heiser vor Angst. »Du bist doch nicht krank – oder – oder so etwas?«
Sie hatte die eine Hand gegen ihr Herz gepresst, aber der erschrockene Ausdruck ihrer Augen wich schnell einer tiefen, innigen Freude, und ein geheimnisvolles leises Lächeln umspielte ihren Mund. Es war, als hätte sie die Anwesenheit ihres Mannes ganz vergessen und lauschte auf eine Botschaft aus weiter Ferne, die nicht für seine Ohren bestimmt war. Dann trat ein Ausdruck inniger Freude und Verwunderung in ihr Gesicht. Sie streckte Billy die Hand entgegen.
»Es lebt«, flüsterte sie. »Ich fühle, dass es lebt. Ich bin so froh, so froh.«
Als Billy am nächsten Abend von der Arbeit heimkam, brachte Saxon einen Gegenstand zur Sprache, der ihm gleich ein stärkeres Gefühl von der Verantwortung gab, die mit der Vaterschaft verbunden war.
»Ich habe darüber nachgedacht, Billy«, begann sie, »und ich bin so gesund und stark, dass es nicht teuer zu werden braucht. Da ist zum Beispiel Martha Skelton – sie ist eine tüchtige Hebamme.«
Aber Billy schüttelte den Kopf.
»Nicht zu machen, Saxon. Du wirst Doktor Hentley nehmen. Er ist Bill Murphys Arzt, und Bill schwört auf ihn. Er ist ein altes Ekel, aber er versteht seine Sache.«
»Aber sie hat doch Maggie Donahue geholfen«, wandte Saxon ein. »Und sieh nur sie und ihr Kind.«
»Nun ja, aber dir wird sie nicht helfen – nie.«
»Aber der Arzt nimmt fünfundzwanzig Dollar«, fuhr Saxon fort, »und er wird verlangen, dass ich eine Krankenschwester nehme, weil ich keine weiblichen Verwandten zur Hilfe habe. Martha Skelton würde alles tun, und es wäre viel billiger.«
Aber Billy schloss sie zärtlich in die Arme und sagte:
»Hör mich jetzt an, Frauchen. Die Familie Roberts gehört nicht zu denen, die auf den Pfennig sehen. Das darfst du nie vergessen. Du sollst das Kind bekommen. Daran hast du zu denken, und das ist genug für dich. Meine Sache ist es, dafür zu sorgen, dass das Geld da ist, und auf dich zu achten. Das Beste ist nicht zu gut für dich. Ich will mich nicht der Gefahr aussetzen, dass dir auch nur das Allergeringste zustieße – nein, nicht um eine Million. Du bist es, die hier auf dem Spiele steht. Und Dollars sind ein Dreck. Du meinst vielleicht, dass ich mich mörderisch auf das Kind freue. Ja, das tue ich. Ich denke immer daran – den ganzen Tag. Ich bin ganz wild nach ihm. Und doch, Saxon, das schwöre ich dir, eher möchte ich es tot und begraben sehen, als dass dir das Geringste zustieße. Und du brauchst keine Krankenschwester. Doktor Hentley wird jeden Tag kommen, und Mary kann das Haus und dich versorgen, wie du es für sie tätest, wenn es nötig wäre.«
Die Tage und Wochen vergingen, und Saxon wurde sich bewusst, dass ihre Brüste sich in stolzem Muttergefühl spannten. Der Gedanke, dass sie Mutter werden sollte, erfüllte sie mit einer tiefen, leidenschaftlichen Freude. Allerdings hatte sie auch ihre Stunden der Angst, aber sie waren so vorübergehend und zählten so wenig im Verhältnis zu dem übrigen, dass sie eher dazu beitrugen, sie noch glücklicher zu machen.
Nur eines ängstigte sie wirklich, und das waren die Gefahren, die dem Arbeiterstande drohten, und die niemand, sie am wenigsten, verstehen konnte.
»Es ist immer die Rede davon, wie viel mehr mit den Maschinen, die wir jetzt haben, geleistet wird als früher«, sagte sie zu ihrem Bruder Tom. »Aber warum bekommen wir dann nicht mehr für unsere Arbeit?«
»Jetzt bist du auf dem richtigen Wege«, antwortete er. »Es wird nicht lange dauern, so verstehst du den Sozialismus.«
Aber Saxon hatte nur Sinn für die Bedürfnisse des Augenblicks.
»Tom, seit wann bist du Sozialist?«
»Seit acht Jahren.«
»Und du hast nichts damit erreicht?«
»Nein, aber es wird schon kommen – mit der Zeit.«
»Wenn es weiter so geht, kannst du ja vor der Zeit tot sein.«
Tom seufzte.
»Das fürchte ich. Diese Dinge gehen so langsam.«
Wieder seufzte er. Sie bemerkte den geduldigen, müden Ausdruck in seinem Gesicht, die gebeugten Schultern, die abgearbeiteten Hände, und ihr erschien das alles als ein Symbol der Sinnlosigkeit seines sozialen Glaubensbekenntnisses.
*
Es begann ganz ruhig, wie verhängnisvolle unerwartete Ereignisse so oft beginnen. Kinder jeden Alters und jeder Größe spielten auf der Straße, und Saxon stand am offenen Fenster und sah ihrem Spiel zu, während sie von dem Kind träumte, das bald kommen sollte. Der Sonnenschein wich friedlich dem Abend, und eine leichte Brise von der Bucht kühlte die Luft und verlieh ihr einen salzigen Geschmack. Da zeigte eines der Kinder die Straße hinauf. Alle Kinder hörten auf zu spielen. Es sammelten sich Gruppen, die größeren Knaben von zehn bis zwölf für sich, während die älteren Mädchen besorgt die kleinen Kinder an die Hand oder auf den Arm nahmen.
Saxon konnte die Ursache all dieser Aufregung nicht sehen, aber sie konnte sie erraten, da sie die größeren Knaben zu den Rinnsteinen eilen und Steine auflesen sah, worauf sie sich in die Gänge zwischen den Häusern schlichen. Die kleineren Knaben versuchten, es ihnen nachzumachen. Die Mädchen, die eifrig die ganz Kleinen fortschleppten, rissen Gartenpforten auf und eilten die Stufen zu den kleinen Häusern hinauf. Die Türen schlugen hinter ihnen zu, und bald war die Straße öde und verlassen, wenn auch hier und da eine Gardine sich hob, um besorgte Frauen hinaussehen zu lassen. Saxon hörte den Zug, der schnaufend und rauchend zum Zentre-Street-Bahnhof hinausfuhr. Dann ertönte aus der Siebten Straße das heisere Gebrüll vieler tiefer Männerstimmen. Sie konnte immer noch nichts sehen, und sie dachte an Mercedes Higgins’ Worte: »Sie sind wie Hunde, die sich um einen Knochen schlagen. Nur dass ihr Knochen Arbeit heißt.«
Das Gebrüll näherte sich, und als Saxon sich aus dem Fenster lehnte, sah sie ein Dutzend Streikbrecher, die von ebenso vielen Detektiven und Schutzleuten eskortiert wurden, auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig angewandert kommen. Sie gingen in geschlossenem Trupp wie eine disziplinierte Streitmacht, während hinter ihnen, heulend und durcheinander, neunzig bis hundert streikende Eisenbahner gingen, die sich hin und wieder bückten und Steine aufhoben. Saxon fühlte, dass sie vor Angst zitterte, aber sie zwang sich, ruhig zu sein. Es half ihr auch etwas, als sie Mercedes Higgins sah. Die alte Frau öffnete die Haustür, zog einen Stuhl heraus und setzte sich ruhig auf den kleinen Treppenabsatz.
Die Polizei war mit Knüppeln bewaffnet. Die Detektive ließen keine Waffen sehen. Die Streikenden, die von hinten nachdrängten, schienen sich damit begnügen zu wollen, ihrer Wut in lautem Geheul und in Drohungen Luft zu machen, und es waren die Kinder, die den eigentlichen Anstoß zu der Schlägerei gaben. Aus dem Gang zwischen den beiden gegenüberliegenden Häusern, wo die Familien Olsen und Isham wohnten, kam plötzlich ein Regen von Steinen. Die meisten Steine flogen vorbei, aber einer traf einen Streikbrecher am Kopf. Der Mann befand sich nicht mehr als zwanzig Fuß von Saxon entfernt. Er taumelte gegen ihren Zaun und zog einen Revolver. Mit der einen Hand strich er sich über die Augen, die von Blut halb geblendet waren, und mit der anderen feuerte er seine Waffe gegen das Ishamsche Haus ab. Einer der Detektive packte ihn am Arm, um ihn zu verhindern, den Revolver wieder abzufeuern, und schleppte ihn mit sich fort. Im selben Augenblick aber ertönte ein noch wilderes Gebrüll von den Streikenden, während ein Schauer von Steinen aus dem Gang zwischen Saxons und Maggie Donahues Haus kam. Die Streikbrecher und ihre Beschützer machten halt und entsicherten ihre Revolver. An dem harten, willensstarken Ausdruck in ihren Gesichtern konnte Saxon sehen, dass Blutvergießen und Tod bevorstanden. Ein älterer Mann, offenbar ihr Anführer, nahm seinen weichen schwarzen Hut ab und wischte sich den Schweiß von der Glatze. Er war ein großer dickbäuchiger Mann, der merkwürdig hilflos aussah. Er ließ die Schultern hängen, und Saxon bemerkte die Schuppen auf seinem Rockkragen.
Einer der Männer zeigte auf die Straße, und mehrere von seinen Kameraden lachten. Es war der kleine, kaum vierjährige Olsen, der der Mutter weggelaufen war und jetzt zu den Männern kam, die die Feinde seiner wirtschaftlichen Existenz waren. In seiner rechten Hand hielt er einen Stein, so schwer, dass er ihn kaum heben konnte. Die schwache Kinderhand drohte ihnen mit diesem Stein; das kleine rotwangige Gesicht war von Wut verzerrt, und er schrie immer wieder: »Verfluchte Streikbrecher! Verfluchte Streikbrecher!« Das Lachen, mit dem die Männer ihn begrüßten, machte ihn noch wütender. Er wankte auf sie zu und warf mit einer mächtigen Kraftanspannung den Stein, der kaum sechs Fuß von ihm zu Boden fiel.
So viel sah Saxon, und sie sah auch, wie die Mutter des Knaben auf die Straße eilte, um ihr Kind zu holen. Da ertönte eine Salve von Pistolenschüssen der Streikenden, und Saxons Aufmerksamkeit wandte sich den Männern vor ihrem Fenster zu. Einer von ihnen stieß einen mächtigen Fluch aus und untersuchte seinen linken Arm, der kraftlos herabhing. Sie sah, wie das Blut über seine Hand tropfte. Sie wusste, dass sie nicht stehenbleiben durfte, aber die Erinnerung an ihre kämpfenden Vorfahren erwachte in ihr, und sie fürchtete sich nicht mehr, als jeder normale Mensch sich unter solchen Verhältnissen gefürchtet hätte – eher weniger. Sie vergaß über diesem Kampf, der so plötzlich in ihrer stillen Straße losgebrochen war, ihr Kind. Sie vergaß die Streikenden und alles andere über ihrem Erstaunen darüber, wie es dem dickbäuchigen, zigarrenrauchenden Anführer ergangen war. Auf irgendeine merkwürdige Weise war sein Kopf in ihrem Zaun eingeklemmt. Sein Körper hing draußen, und die Knie berührten den Boden nicht ganz. Der Hut war ihm abgefallen, und die Sonne schien auf seine Glatze und erzeugte eine kräftige Lichtwirkung. Die Zigarre war auch verschwunden. Sie sah, dass sein Blick auf sie gerichtet war. Es war, als winkte er ihr mit der Hand, die durch den Zaun stak, und es sah fast aus, als blinzelte er ihr gemütlich zu, obwohl sie wusste, dass es der furchtbarste Schmerz war, der sein Gesicht zu einem Grinsen verzerrte.