Jack London – Gesammelte Werke

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»Aus dir könn­te ein gu­ter Volks­red­ner wer­den«, mein­te Tom, »wenn du nur ein biss­chen mehr Form hin­ein­krie­gen könn­test.«

»Es klingt sehr rich­tig, Bert«, sag­te Bil­ly, »ist es aber nicht. Je­der kann heu­te reich wer­den.«

»Ja, oder Prä­si­dent der Ve­rei­nig­ten Staa­ten«, sag­te Bert ge­reizt – »ge­wiss kann man es. Aber ich habe noch nicht ge­hört, dass du Aus­sicht zum Mil­lio­när oder zum Prä­si­den­ten hast. Wa­rum nicht? Weil du nicht vom rech­ten Schla­ge bist. Du bist ein Esel! Ein ar­mes Tier, das ist es. Weg mit dir! Weg mit uns al­len!«

Beim Mit­ta­ges­sen sprach Tom von den Freu­den des Land­le­bens, das er als Kna­be und jun­ger Mann ge­kannt hat­te. Und er ver­trau­te ih­nen an, dass es sein Traum sei, weg­zu­ge­hen und ein Stück Bo­den zu pach­ten, wie sei­ne Vor­fah­ren es ge­tan hat­ten. Aber lei­der war Sa­rah, wie er er­klär­te, so fest­ge­wur­zelt, dass es sein Traum blei­ben muss­te.

Et­was spä­ter, als Bert ge­ra­de wie­der mit sei­nem La­men­to an­ge­fan­gen hat­te, er­tapp­te Bil­ly sich da­bei, wie er Ver­glei­che an­stell­te. Die­ses Haus war nicht wie sein Heim. Hier war kei­ne an­ge­neh­me At­mo­sphä­re. Es war, als läge Dis­har­mo­nie über al­lem. Er dach­te dar­an, dass die Früh­stück­stel­ler noch nicht auf­ge­wa­schen wa­ren, als sie ka­men. Män­ner be­ach­ten sel­ten sol­che Ein­zel­hei­ten, und er tat es sonst auch nicht. Aber er hat­te doch durch tau­send Din­ge im Lau­fe des Vor­mit­tags den fes­ten Ein­druck er­hal­ten, dass Mary als Haus­frau nicht so tüch­tig war wie Sa­xon. Ja, das war eine Frau! Aber sei­ne Ge­dan­ken wur­den durch Bert un­ter­bro­chen.

»Heh, Bil­ly, ich glau­be, du denkst, dass ich ver­är­gert bin. Ge­wiss. Das bin ich. Ich habe mei­ne Er­fah­run­gen ge­macht. Du bist im­mer Kut­scher ge­we­sen und hast ein schö­nes Geld mit dei­nem Bo­xen ver­dient. Du hast kei­nen Streik durch­ge­macht, du hast kei­ne alte Mut­ter zu ver­sor­gen ge­habt und warst da­her nicht ge­zwun­gen ih­ret­we­gen jede Ar­beit zu über­neh­men. Erst als sie tot war, konn­te ich tun und las­sen, was ich woll­te.

Zum Bei­spiel, als ich es bei der Stra­ßen­bahn ver­such­te, ja, da könnt ihr se­hen, was ein Ar­beit­s­tier sich ge­fal­len las­sen muss. Der Ober­chi­ne­se misst mich von Kopf bis zu Fuß, stellt eine Men­ge Fra­gen und gibt mir ein For­mu­lar zum Aus­fül­len. Ich fül­le es aus und be­zah­le ei­nem Dok­tor, zu dem sie mich schi­cken, einen Dol­lar, da­mit er mir ein At­test gibt. Dann gehe ich zu ei­nem Fo­to­gra­fen und krie­ge mein Ge­sicht ver­ewigt – für das Ver­bre­cher­al­bum der Ge­sell­schaft. Und für das Ge­sicht muss ich einen Dol­lar her­aus­rücken. Der ers­te Mann an der Sprit­ze nimmt For­mu­lar, ärzt­li­ches At­test und Fo­to­gra­fie und bom­bar­diert mich mit neu­en Fra­gen. Ob ich Ge­werk­schafts­mit­glied bin? – Ich? Na­tür­lich lüge ich, dass ich es nicht sei. Ich brauch­te die Ar­beit. Der Kauf­mann woll­te mir kei­nen Kre­dit mehr ge­ben, und es han­del­te sich ja auch um mei­ne Mut­ter.

Hm, sage ich bei mir, jetzt bin ich also rich­ti­ger Stra­ßen­bahn­schaff­ner. Jetzt kann ich auf der Platt­form ste­hen und die fei­nen Da­men ab­fer­ti­gen. Ja­wohl! Zwei Dol­lar, bit­te! Ja, zwei Dol­lar für ein Zinn­schild. Und dann die Uni­form – neun­zehn fünf­zig, und über­all kriegt man sie für fünf­zehn. Aber die soll­te ich von mei­nem ers­ten Mo­nats­lohn be­zah­len. Und fünf Dol­lar muss­te ich in der Ta­sche ha­ben – Wech­sel­geld – laut Re­gle­ment. Ich lieh mir die fünf von Tom Do­no­van, dem Schutz­mann. Und was dann? Zwei Wo­chen lie­ßen sie mich ohne Lohn ar­bei­ten – da­mit ich den Be­ruf lern­te.«

»Ka­men vie­le fei­ne Da­men?« neck­te Sa­xon ihn.

Bert schüt­tel­te fins­ter den Kopf.

»Ich ar­bei­te­te nur einen Mo­nat. Dann or­ga­ni­sier­ten wir uns, und sie spreng­ten die Ge­werk­schaft, so­dass es aus war.«

»Und eben­so wird die Ei­sen­bahn eure Ge­werk­schaf­ten spren­gen, wenn ihr streikt, ihr Idio­ten!« er­klär­te Mary.

»Das hab ich ja die gan­ze Zeit ge­sagt«, sag­te Bert. »Wir ha­ben nicht die ge­rings­te Chan­ce.«

»Aber warum tut ihr es dann?« frag­te Sa­xon.

Er sah sie einen Au­gen­blick mit ei­nem merk­wür­dig er­lo­sche­nen Blick an und ant­wor­te­te dann:

»Wa­rum wur­den mei­ne bei­den On­kel bei Get­tys­burg ge­tö­tet?«

*

Sa­xon be­sorg­te ihre Haus­ar­beit in großer Un­ru­he. Sie ver­wand­te ihre Zeit nicht mehr dar­auf, hüb­sche Din­ge zu ver­fer­ti­gen. Das Ma­te­ri­al kos­te­te Geld, und sie wag­te es nicht. Die Dro­hun­gen Berts hat­ten sie be­rührt, und sei­ne Be­mer­kun­gen pei­nig­ten sie wie ein Speer, der sich in ei­ner of­fe­nen Wun­de dreht. Sie und Bil­ly wa­ren ver­ant­wort­lich für das neue klei­ne Men­schen­kind. War es nun auch si­cher, dass sie ihm Nah­rung und Klei­dung ver­schaf­fen und ihm sei­nen Weg in die Welt bah­nen konn­ten? Sie er­in­ner­te sich dun­kel, wie in al­ten Ta­gen schlech­te Zei­ten die Exis­tenz gan­zer Fa­mi­li­en ver­nich­tet hat­ten, und die Kla­gen von Vä­tern und Müt­tern tauch­ten wie­der in ih­rem Kop­fe auf und er­hiel­ten neue Be­deu­tung. Ihr schi­en fast, als könn­te sie das ewi­ge Jam­mern Sa­rahs ver­ste­hen.

Man fühl­te die schlech­ten Zei­ten schon in der Nach­bar­schaft, wo die strei­ken­den Ei­sen­bah­ner wohn­ten. In den klei­nen Ge­schäf­ten, wo Sa­xon ihre täg­li­chen Ein­käu­fe mach­te, konn­te man die Hoff­nungs­lo­sig­keit spü­ren. Alle Freu­de und Hei­ter­keit schi­en ver­schwun­den. Über­all herrsch­te eine düs­te­re Stim­mung. Die Müt­ter von Kin­dern, die auf der Stra­ße spiel­ten, zeig­ten deut­lich ihre trau­ri­ge Stim­mung in ih­ren Ge­sich­tern. Wenn sie des Abends an den Gar­ten­pfor­ten oder auf den Stu­fen vor den Häu­sern schwatz­ten, wa­ren ihre Stim­men lei­se, und we­ni­ger La­chen als sonst er­tön­te.

Mag­gie Do­na­hue, die sonst drei Li­ter Milch ge­kauft hat­te, kauf­te jetzt nur einen. Nie mehr war die Rede von Fa­mi­li­en­aus­flü­gen ins Kino. Fleisch­ab­fäl­le wa­ren beim Schlach­ter fast nicht zu be­kom­men. Nora De­la­ney, die zwei Häu­ser wei­ter in der Stra­ße wohn­te, kauf­te kei­nen fri­schen Fisch mehr am Frei­tag. Jetzt be­gnüg­te sich die Fa­mi­lie mit Stock­fisch, und nicht ein­mal von der bes­ten Sor­te. Die ge­sun­den Kin­der, die zwi­schen den Mahl­zei­ten mit mäch­ti­gen Brot­schnit­ten mit But­ter und Zu­cker auf der Stra­ße her­um­ge­lau­fen wa­ren, er­hiel­ten jetzt dün­ne­re Brot­schnit­ten mit dün­ne­rer But­ter und ohne Zu­cker. Selbst der Brauch mit den Brot­schnit­ten woll­te aus­ster­ben, und ei­ni­ge der Kin­der hat­ten schon auf­ge­hört, et­was zwi­schen den Mahl­zei­ten zu ver­lan­gen.

Über­all gab es ein ewi­ges Knau­sern und Spa­ren, und die Aus­ga­ben wur­den im­mer mehr ein­ge­schränkt. Und das er­zeug­te eine im­mer wach­sen­de Reiz­bar­keit. Frau­en wur­den viel schnel­ler als frü­her ge­gen­ein­an­der und ge­gen ihre Kin­der auf­ge­bracht, und Sa­xon wuss­te, dass Bert und Mary sich un­un­ter­bro­chen zank­ten.

»Wenn sie doch nur ver­ste­hen woll­te, dass ich auch mei­ne Sor­gen habe«, be­klag­te Bert sich bei Sa­xon.

Sie sah ihn for­schend an, und eine un­be­stimm­te, na­men­lo­se Angst er­griff sie. Sei­ne schwar­zen Au­gen flamm­ten mit der Glut des Wahn­sinns. Das brau­ne Ge­sicht war ma­ge­rer ge­wor­den, und die Haut lag straff über den Ba­cken­kno­chen. Sein Mund hat­te sich ver­zerrt, war gleich­sam in Bit­ter­keit er­starrt. Selbst sei­ne Hal­tung und die Art, wie er sei­nen Hut auf­setz­te, ver­rie­ten Gleich­gül­tig­keit und Hef­tig­keit.

Zu­wei­len, an den lan­gen Nach­mit­tagen, wenn Sa­xon, die Hän­de im Schoß, am Fens­ter saß, er­tapp­te sie sich da­bei, wie sie sich die Wan­de­rung ih­rer Fa­mi­lie über Prä­rie, Ber­ge und Wüs­ten nach dem Lan­de des Son­nen­un­ter­gangs am west­li­chen Mee­re vor­zu­stel­len ver­such­te. Und oft träum­te sie von dem idyl­li­schen Le­ben ih­rer Fa­mi­lie in je­nen Ta­gen, als sie nicht in Städ­ten wohn­ten und nicht von Ge­werk­schaf­ten und Ar­beit­ge­ber­ver­bän­den ge­pei­nigt wur­den. Sie er­in­ner­te sich der al­ten Er­zäh­lun­gen, wie sie ihr ei­ge­nes Ge­mü­se ge­baut hat­ten, ihre ei­ge­nen Schmie­de und Zim­mer­leu­te ge­we­sen wa­ren, ihre ei­ge­nen Schu­he ver­fer­tigt hat­ten – ja, und ihre ei­ge­nen Klei­der ge­spon­nen und ge­webt hat­ten. Und ihr schi­en, sie könn­te noch den träu­me­ri­schen Aus­druck in Toms Ge­sicht se­hen, als er da­von ge­spro­chen hat­te, dass es sein höchs­ter Wunsch ge­we­sen war, ein Stück Bo­den vom Staat zu pach­ten. Ja, das Le­ben ei­nes Land­manns muss herr­lich sein, dach­te sie bei sich. Wie konn­ten die Men­schen nur in Städ­ten le­ben? Hat­te es in al­ten Ta­gen ge­nug ge­ge­ben, warum dann nicht jetzt? Wa­rum muss­ten Män­ner sich zan­ken, strei­ken, kämp­fen, nur um sich Ar­beit zu ver­schaf­fen? Wa­rum gab es nicht ge­nug für alle? Erst heu­te Mor­gen – und ihr schau­der­te bei dem Ge­dan­ken – hat­te sie ge­se­hen, wie zwei Streik­bre­cher auf dem Wege zur Ar­beit von den Strei­ken­den zu­schan­den ge­prü­gelt wur­den, von Män­nern, die sie dem Aus­se­hen, ei­ni­ge auch dem Na­men nach, kann­te, und die ganz in ih­rer Nach­bar­schaft wohn­ten. Es war roh, so bru­tal ge­we­sen – ein Dut­zend Män­ner ge­gen zwei. Schutz­leu­te wa­ren mit ge­la­de­nen Re­vol­vern hin­zu­ge­kom­men, und die Strei­ken­den hat­ten sich in die Häu­ser und die Gäss­chen zwi­schen den Häu­sern zu­rück­ge­zo­gen. Ei­nen der Streik­bre­cher hat­te man im Kran­ken­wa­gen fort­ge­schafft; der an­de­re, der von der Haus­po­li­zei der Ei­sen­bahn Hil­fe be­kom­men hat­te, war nach den Werk­stät­ten ge­bracht wor­den. Mag­gie Do­na­hue, die, ihr Kind auf dem Arm, auf den Stu­fen vor ih­rem Hau­se stand, hat­te ihn mit Schimpf­wor­ten über­schüt­tet, die Sa­xon die Scham­rö­te in die Wan­gen ge­trie­ben hat­ten. Auf den Stu­fen des an­de­ren Nach­bar­hau­ses hat­te Sa­xon mit­ten in der Schlä­ge­rei Mer­ce­des ge­se­hen, wie sie die Kämp­fen­den mit ei­nem selt­sa­men Lä­cheln be­trach­te­te. Ja, sie hat­te of­fen­bar mit großem Ei­fer zu­ge­se­hen, und ihre Na­sen­flü­gel hat­ten ge­bebt, als ob sie hef­tig at­me­te. Es war Sa­xon auf­ge­fal­len, dass die alte Frau nicht im ge­rings­ten ängst­lich, nur neu­gie­rig war.

 

Zu Mer­ce­des, die in al­lem, was die Lie­be be­traf, so klug war, ging Sa­xon, um eine Er­klä­rung zu er­hal­ten, was mit der Welt los war. Aber was die alte Frau über in­dus­tri­el­le und öko­no­mi­sche Fra­gen zu sa­gen hat­te, war zu un­ver­ständ­lich und ge­fiel ihr nicht.

»La la, mein Kind, das ist ganz ein­fach. Die meis­ten Men­schen sind dumm ge­bo­ren. Sie sind Skla­ven. Ei­ni­ge we­ni­ge sind klug ge­bo­ren. Das sind die Her­ren der an­de­ren. So hat Gott wohl die Men­schen er­schaf­fen.«

»Aber was sagt Gott zu der furcht­ba­ren Prü­ge­lei drü­ben?«

»Ich fürch­te, dass sie ihn nicht im ge­rings­ten in­ter­es­siert«, lä­chel­te Mer­ce­des. »Ich zweifle so­gar, dass er über­haupt et­was da­von weiß.«

»Ich hat­te eine To­des­angst«, er­klär­te Sa­xon. »Ich wur­de ganz krank da­von. Aber Sie – ich sah Sie – Sie sa­hen ganz ru­hig zu, als wäre es eine Thea­ter­vor­stel­lung.«

»Es war auch eine Thea­ter­vor­stel­lung, mein Kind.«

»Ach, wie kön­nen Sie das sa­gen?«

»La, la, ich habe frü­her schon ge­se­hen, wie Män­ner ge­tö­tet wur­den. Da­bei ist nichts Merk­wür­di­ges. Alle Men­schen müs­sen ster­ben wie Och­sen, sie wis­sen sel­ber nicht, wes­halb. Es ist bei­na­he ko­misch, das zu se­hen. Sie fah­ren mit Fäus­ten und Keu­len auf­ein­an­der los und zer­schla­gen sich die Köp­fe. Es ist ein plum­pes Spiel. Sie sind wie Hun­de, die sich um einen Kno­chen schla­gen. Nur dass ihr Kno­chen Ar­beit heißt. Se­hen Sie, wenn sie um Frau­en oder um Idea­le oder um Gold in Bar­ren oder um Dia­man­ten von fa­bel­haf­tem Wert kämpf­ten, dann wäre es groß­ar­tig. Aber nein, sie sind nur hung­rig und schla­gen sich um die Kru­men zur Stil­lung ih­res Hun­gers.«

»Ach, wenn ich das doch nur ver­ste­hen könn­te«, mur­mel­te Sa­xon und rang ver­zwei­felt die Hän­de, weil sie nicht ver­ste­hen konn­te und doch so gern woll­te.

»Da gibt es nichts zu ver­ste­hen. Es ist so klar wie der Tag. Es hat im­mer dum­me Men­schen und klu­ge Men­schen, Skla­ven und Her­ren, Bau­ern und Fürs­ten ge­ge­ben. Und so wird es blei­ben.«

»Ja, aber warum?«

»Wa­rum ist ein Bau­er ein Bau­er, mein Kind? Eben weil er ein Bau­er ist. Wa­rum ist eine Flie­ge eine Flie­ge?«

Sa­xon warf ge­reizt den Kopf zu­rück.

»Aber, mein Kind, ich habe Ih­nen doch geant­wor­tet. Alle phi­lo­so­phi­schen Sys­te­me der Welt kön­nen kei­ne bes­se­re Ant­wort ge­ben. Wa­rum wol­len Sie lie­ber Ihren Mann ha­ben als ir­gend­ei­nen an­de­ren? Weil er Ih­nen ge­fällt, wie er ist, das ist al­les. Wa­rum brennt Feu­er, und warum schnei­det Frost? Wa­rum gibt es klu­ge Män­ner und dum­me Män­ner? Her­ren und Skla­ven? Ar­beit­ge­ber und Ar­bei­ter? Wa­rum ist schwarz schwarz? Beant­wor­ten Sie das, und Sie wer­den al­les be­ant­wor­tet ha­ben.«

»Aber es ist nicht recht, dass Men­schen hun­gern und mü­ßig ge­hen sol­len, wenn sie be­reit sind zu ar­bei­ten, we­nigs­tens un­ter an­stän­di­gen Be­din­gun­gen«, pro­tes­tier­te Sa­xon.

»Nun ja, das ist rich­tig, aber auf die­sel­be Art und Wei­se, wie es rich­tig ist, dass Stei­ne nicht wie Holz bren­nen, dass Sand kein Zu­cker ist, dass Dor­nen ste­chen, dass Was­ser nass ist und dass Rauch hoch­steigt, dass die Din­ge her­un­ter- und nicht hin­auf­fal­len.«

»Aber dann ha­ben wir ja we­der Frei­heit noch Un­ab­hän­gig­keit«, rief Sa­xon lei­den­schaft­lich. »Der eine ist nicht so gut wie der an­de­re. Mein Kind hat nicht das­sel­be Recht zum Le­ben wie das Kind ei­ner rei­chen Mut­ter.«

»Nein, selbst­ver­ständ­lich hat es das nicht«, ant­wor­te­te Mer­ce­des.

»Und doch ha­ben mei­ne Vor­fah­ren für all die­se Din­ge ge­kämpft«, er­ei­fer­te sich Sa­xon, die sich des Ge­schichts­un­ter­richts in der Schu­le und des Schwer­tes ih­res Va­ters er­in­ner­te.

»De­mo­kra­tie – der Traum der dum­men Men­schen. La, la, mein Kind, De­mo­kra­tie ist eine Lüge, um die Ar­beit­s­tie­re froh und hei­ter zu hal­ten, wie in al­ten Ta­gen die Re­li­gi­on sie froh und hei­ter hielt. Wenn sie un­ter Mü­hen und Be­schwer­den stöhn­ten, dann über­re­de­te man sie, mit ih­ren Mü­hen und Be­schwer­den aus­zu­hal­ten, in­dem man ih­nen hüb­sche Ge­schich­ten von ei­nem Land er­zähl­te, wo sie in Freu­de und Herr­lich­keit le­ben soll­ten, wäh­rend die Klu­gen über ewi­gem Feu­er brie­ten. Wie die Klu­gen ge­lacht ha­ben müs­sen! Und als die Lüge ver­braucht war und man von der De­mo­kra­tie zu träu­men be­gann, da sorg­ten die Klu­gen da­für, dass sie in Wahr­heit ein Traum wur­de und nichts als ein Traum. Die Welt ge­hört den Gro­ßen und Klu­gen.«

»Aber Sie ge­hö­ren doch selbst der Ar­bei­ter­klas­se an«, sag­te Sa­xon.

Die alte Frau rich­te­te sich fast zor­nig auf.

»Ich? Der Ar­bei­ter­klas­se? Mein Kind, wenn ich auch mein Geld durch Spe­ku­la­tio­nen ver­lo­ren habe, wenn ich auch zu alt bin, um die stol­zen jun­gen Män­ner zu ge­win­nen, wenn ich auch die Män­ner über­lebt habe, die ich in mei­ner Ju­gend kann­te, und wenn ich auch mit Bar­ry Higg­ins hier im Ghet­to woh­ne und mich auf den Tod vor­be­rei­te – so bin ich doch un­ter den Herr­schern ge­bo­ren, mein Kind, und habe all mei­ne Tage den Fuß auf den Na­cken der Dum­men ge­setzt. Ich habe sel­te­ne Wei­ne ge­trun­ken und an Gast­mäh­lern teil­ge­nom­men, die un­se­re Nach­bar­schaft ein gan­zes Men­schen­al­ter hät­ten er­näh­ren kön­nen. Dick Gol­den und ich – es war Dicks Geld, aber es hät­te mei­nes sein kön­nen – Dick Gol­den und ich ver­lo­ren vier­hun­dert­tau­send Frank in ei­ner Wo­che an den Spiel­ti­schen von Mon­te Car­lo. Er war Jude, aber er ver­stand, Geld aus­zu­ge­ben. In In­di­en habe ich Ju­we­len ge­tra­gen, die Tau­sen­de von Fa­mi­li­en vom Hun­ger­to­de hät­ten er­ret­ten kön­nen –, die Tau­sen­de, die vor mei­nen Au­gen star­ben.«

»Sie sa­hen sie ster­ben? Und ta­ten nichts für sie?« frag­te Sa­xon ent­setzt.

»Ich be­hielt mei­ne Ju­we­len – la la, und ehe das Jahr um war, wur­den sie mir von ei­nem rus­si­schen Of­fi­zier ge­stoh­len.«

»Und Sie lie­ßen sie ster­ben?« wie­der­hol­te Sa­xon.

»Es war elen­des Ge­würm. Sie wim­meln und ver­meh­ren sich wie die Ma­den. Sie sind nichts wert – nichts, mein Kind. Sie wa­ren nicht mehr wert als die Ar­bei­ter hier, de­ren größ­te Dumm­heit ist, dass sie wei­ter Nach­kom­men­schaft in die Welt set­zen, da­mit auch die für die Her­ren schuf­ten kann.«

So kam es, dass Sa­xon, die, wenn sie an­de­re hör­te, hin und wie­der ein we­nig Sinn ins Da­sein brin­gen konn­te, kei­nen Sinn in dem fin­den konn­te, was die furcht­ba­re alte Frau sag­te. Mit den Wo­chen wur­den die strei­ken­den Ei­sen­bah­ner im­mer wü­ten­der und er­bit­ter­ter, und Bil­ly schüt­tel­te den Kopf und gab zu, dass es ihm nicht mög­lich war, einen Sinn in dem Un­glück zu fin­den, das den Ho­ri­zont des gan­zen Ar­bei­ter­stan­des ver­fins­ter­te.

»Ich kann es nicht be­grei­fen«, sag­te er zu Sa­xon. »Es ist al­les so ver­wirrt. Es ist wie eine Prü­ge­lei im Dun­keln. Zum Bei­spiel die Fuhr­leu­te! Die fan­gen jetzt an, da­von zu re­den, dass wir einen Sym­pa­thie­streik für die Ma­schi­nen­ar­bei­ter ma­chen sol­len. Die sind jetzt seit ei­ner Wo­che ar­beits­los. Die meis­ten ih­rer Stel­lun­gen sind von an­de­ren be­setzt, und wenn wir Fuhr­leu­te den Fa­bri­ken die Wa­ren wei­ter zu­füh­ren, dann ist der Streik ver­lo­ren.«

»Aber als man euch den Lohn kürz­te, dach­tet ihr doch nicht an einen Streik«, sag­te Sa­xon stirn­run­zelnd.

»Ach, da­mals ging es uns nicht so, dass wir es uns leis­ten konn­ten. Aber jetzt sind die Fuhr­leu­te und die ver­ei­nig­ten Ha­fen­ar­bei­ter in San Fran­zis­ko be­reit, uns zu stüt­zen. Das sagt man je­den­falls au­gen­blick­lich. Und wenn wir an­fan­gen, kön­nen wir selbst­ver­ständ­lich se­hen, dass sie uns den Lohn die zehn Pro­zent wie­der her­auf­set­zen.« –

»Es ist eine fau­le Po­li­tik«, sag­te er ein an­der­mal. »Al­les ist faul, auch die Men­schen. Wenn wir nur so klug wä­ren, dass wir uns auf einen ehr­li­chen Mann ei­nig­ten –«

»Aber wenn du und Bert und Tom euch nicht ei­ni­gen könnt, wie kannst du dann er­war­ten, dass alle an­de­ren sich ei­ni­gen sol­len?« frag­te Sa­xon.

»Nein, das ist es eben«, gab er zu. »Man kann ganz ver­rückt wer­den, wenn man über all das nach­denkt. Und da­bei ist es so ein­fach, wie nur et­was sein kann. Ein paar ehr­li­che Leu­te im po­li­ti­schen Le­ben, dann geht al­les von sel­ber. Ehr­li­che Leu­te wer­den ehr­li­che Ge­set­ze ma­chen. Und dann be­kämen an­de­re ehr­li­che Leu­te, was ih­nen zu­kommt. Aber Bert will al­les zer­schla­gen, und Tom raucht sei­ne Pfei­fe und träumt von ei­ner Zu­kunft, in der alle Men­schen ihr Los selbst be­stim­men.«

»Was ist los?« frag­te er, und sei­ne Stim­me wur­de ganz hei­ser vor Angst. »Du bist doch nicht krank – oder – oder so et­was?«

Sie hat­te die eine Hand ge­gen ihr Herz ge­presst, aber der er­schro­cke­ne Aus­druck ih­rer Au­gen wich schnell ei­ner tie­fen, in­ni­gen Freu­de, und ein ge­heim­nis­vol­les lei­ses Lä­cheln um­spiel­te ih­ren Mund. Es war, als hät­te sie die An­we­sen­heit ih­res Man­nes ganz ver­ges­sen und lausch­te auf eine Bot­schaft aus wei­ter Fer­ne, die nicht für sei­ne Ohren be­stimmt war. Dann trat ein Aus­druck in­ni­ger Freu­de und Ver­wun­de­rung in ihr Ge­sicht. Sie streck­te Bil­ly die Hand ent­ge­gen.

»Es lebt«, flüs­ter­te sie. »Ich füh­le, dass es lebt. Ich bin so froh, so froh.«

Als Bil­ly am nächs­ten Abend von der Ar­beit heim­kam, brach­te Sa­xon einen Ge­gen­stand zur Spra­che, der ihm gleich ein stär­ke­res Ge­fühl von der Verant­wor­tung gab, die mit der Va­ter­schaft ver­bun­den war.

»Ich habe dar­über nach­ge­dacht, Bil­ly«, be­gann sie, »und ich bin so ge­sund und stark, dass es nicht teu­er zu wer­den braucht. Da ist zum Bei­spiel Mar­tha Skel­ton – sie ist eine tüch­ti­ge Heb­am­me.«

Aber Bil­ly schüt­tel­te den Kopf.

»Nicht zu ma­chen, Sa­xon. Du wirst Dok­tor Hent­ley neh­men. Er ist Bill Mur­phys Arzt, und Bill schwört auf ihn. Er ist ein al­tes Ekel, aber er ver­steht sei­ne Sa­che.«

»Aber sie hat doch Mag­gie Do­na­hue ge­hol­fen«, wand­te Sa­xon ein. »Und sieh nur sie und ihr Kind.«

»Nun ja, aber dir wird sie nicht hel­fen – nie.«

»Aber der Arzt nimmt fünf­und­zwan­zig Dol­lar«, fuhr Sa­xon fort, »und er wird ver­lan­gen, dass ich eine Kran­ken­schwes­ter neh­me, weil ich kei­ne weib­li­chen Ver­wand­ten zur Hil­fe habe. Mar­tha Skel­ton wür­de al­les tun, und es wäre viel bil­li­ger.«

Aber Bil­ly schloss sie zärt­lich in die Arme und sag­te:

»Hör mich jetzt an, Frau­chen. Die Fa­mi­lie Ro­berts ge­hört nicht zu de­nen, die auf den Pfen­nig se­hen. Das darfst du nie ver­ges­sen. Du sollst das Kind be­kom­men. Da­ran hast du zu den­ken, und das ist ge­nug für dich. Mei­ne Sa­che ist es, da­für zu sor­gen, dass das Geld da ist, und auf dich zu ach­ten. Das Bes­te ist nicht zu gut für dich. Ich will mich nicht der Ge­fahr aus­set­zen, dass dir auch nur das All­er­ge­rings­te zu­stie­ße – nein, nicht um eine Mil­li­on. Du bist es, die hier auf dem Spie­le steht. Und Dol­lars sind ein Dreck. Du meinst viel­leicht, dass ich mich mör­de­risch auf das Kind freue. Ja, das tue ich. Ich den­ke im­mer dar­an – den gan­zen Tag. Ich bin ganz wild nach ihm. Und doch, Sa­xon, das schwö­re ich dir, eher möch­te ich es tot und be­gra­ben se­hen, als dass dir das Ge­rings­te zu­stie­ße. Und du brauchst kei­ne Kran­ken­schwes­ter. Dok­tor Hent­ley wird je­den Tag kom­men, und Mary kann das Haus und dich ver­sor­gen, wie du es für sie tä­test, wenn es nö­tig wäre.«

Die Tage und Wo­chen ver­gin­gen, und Sa­xon wur­de sich be­wusst, dass ihre Brüs­te sich in stol­zem Mut­ter­ge­fühl spann­ten. Der Ge­dan­ke, dass sie Mut­ter wer­den soll­te, er­füll­te sie mit ei­ner tie­fen, lei­den­schaft­li­chen Freu­de. Al­ler­dings hat­te sie auch ihre Stun­den der Angst, aber sie wa­ren so vor­über­ge­hend und zähl­ten so we­nig im Ver­hält­nis zu dem üb­ri­gen, dass sie eher dazu bei­tru­gen, sie noch glück­li­cher zu ma­chen.

Nur ei­nes ängs­tig­te sie wirk­lich, und das wa­ren die Ge­fah­ren, die dem Ar­bei­ter­stan­de droh­ten, und die nie­mand, sie am we­nigs­ten, ver­ste­hen konn­te.

 

»Es ist im­mer die Rede da­von, wie viel mehr mit den Ma­schi­nen, die wir jetzt ha­ben, ge­leis­tet wird als frü­her«, sag­te sie zu ih­rem Bru­der Tom. »Aber warum be­kom­men wir dann nicht mehr für un­se­re Ar­beit?«

»Jetzt bist du auf dem rich­ti­gen Wege«, ant­wor­te­te er. »Es wird nicht lan­ge dau­ern, so ver­stehst du den So­zia­lis­mus.«

Aber Sa­xon hat­te nur Sinn für die Be­dürf­nis­se des Au­gen­blicks.

»Tom, seit wann bist du So­zia­list?«

»Seit acht Jah­ren.«

»Und du hast nichts da­mit er­reicht?«

»Nein, aber es wird schon kom­men – mit der Zeit.«

»Wenn es wei­ter so geht, kannst du ja vor der Zeit tot sein.«

Tom seufz­te.

»Das fürch­te ich. Die­se Din­ge ge­hen so lang­sam.«

Wie­der seufz­te er. Sie be­merk­te den ge­dul­di­gen, mü­den Aus­druck in sei­nem Ge­sicht, die ge­beug­ten Schul­tern, die ab­ge­ar­bei­te­ten Hän­de, und ihr er­schi­en das al­les als ein Sym­bol der Sinn­lo­sig­keit sei­nes so­zia­len Glau­bens­be­kennt­nis­ses.

*

Es be­gann ganz ru­hig, wie ver­häng­nis­vol­le un­er­war­te­te Er­eig­nis­se so oft be­gin­nen. Kin­der je­den Al­ters und je­der Grö­ße spiel­ten auf der Stra­ße, und Sa­xon stand am of­fe­nen Fens­ter und sah ih­rem Spiel zu, wäh­rend sie von dem Kind träum­te, das bald kom­men soll­te. Der Son­nen­schein wich fried­lich dem Abend, und eine leich­te Bri­se von der Bucht kühl­te die Luft und ver­lieh ihr einen sal­zi­gen Ge­schmack. Da zeig­te ei­nes der Kin­der die Stra­ße hin­auf. Alle Kin­der hör­ten auf zu spie­len. Es sam­mel­ten sich Grup­pen, die grö­ße­ren Kna­ben von zehn bis zwölf für sich, wäh­rend die äl­te­ren Mäd­chen be­sorgt die klei­nen Kin­der an die Hand oder auf den Arm nah­men.

Sa­xon konn­te die Ur­sa­che all die­ser Auf­re­gung nicht se­hen, aber sie konn­te sie er­ra­ten, da sie die grö­ße­ren Kna­ben zu den Rinn­stei­nen ei­len und Stei­ne auf­le­sen sah, wor­auf sie sich in die Gän­ge zwi­schen den Häu­sern schli­chen. Die klei­ne­ren Kna­ben ver­such­ten, es ih­nen nach­zu­ma­chen. Die Mäd­chen, die eif­rig die ganz Klei­nen fort­schlepp­ten, ris­sen Gar­ten­pfor­ten auf und eil­ten die Stu­fen zu den klei­nen Häu­sern hin­auf. Die Tü­ren schlu­gen hin­ter ih­nen zu, und bald war die Stra­ße öde und ver­las­sen, wenn auch hier und da eine Gar­di­ne sich hob, um be­sorg­te Frau­en hin­aus­se­hen zu las­sen. Sa­xon hör­te den Zug, der schnau­fend und rau­chend zum Zen­tre-Street-Bahn­hof hin­aus­fuhr. Dann er­tön­te aus der Sieb­ten Stra­ße das hei­se­re Ge­brüll vie­ler tiefer Män­ner­stim­men. Sie konn­te im­mer noch nichts se­hen, und sie dach­te an Mer­ce­des Higg­ins’ Wor­te: »Sie sind wie Hun­de, die sich um einen Kno­chen schla­gen. Nur dass ihr Kno­chen Ar­beit heißt.«

Das Ge­brüll nä­her­te sich, und als Sa­xon sich aus dem Fens­ter lehn­te, sah sie ein Dut­zend Streik­bre­cher, die von eben­so vie­len De­tek­ti­ven und Schutz­leu­ten es­kor­tiert wur­den, auf dem ge­gen­über­lie­gen­den Bür­ger­steig an­ge­wan­dert kom­men. Sie gin­gen in ge­schlos­se­nem Trupp wie eine dis­zi­pli­nier­te Streit­macht, wäh­rend hin­ter ih­nen, heu­lend und durch­ein­an­der, neun­zig bis hun­dert strei­ken­de Ei­sen­bah­ner gin­gen, die sich hin und wie­der bück­ten und Stei­ne auf­ho­ben. Sa­xon fühl­te, dass sie vor Angst zit­ter­te, aber sie zwang sich, ru­hig zu sein. Es half ihr auch et­was, als sie Mer­ce­des Higg­ins sah. Die alte Frau öff­ne­te die Haus­tür, zog einen Stuhl her­aus und setz­te sich ru­hig auf den klei­nen Trep­pen­ab­satz.

Die Po­li­zei war mit Knüp­peln be­waff­net. Die De­tek­ti­ve lie­ßen kei­ne Waf­fen se­hen. Die Strei­ken­den, die von hin­ten nach­dräng­ten, schie­nen sich da­mit be­gnü­gen zu wol­len, ih­rer Wut in lau­tem Ge­heul und in Dro­hun­gen Luft zu ma­chen, und es wa­ren die Kin­der, die den ei­gent­li­chen An­stoß zu der Schlä­ge­rei ga­ben. Aus dem Gang zwi­schen den bei­den ge­gen­über­lie­gen­den Häu­sern, wo die Fa­mi­li­en Ol­sen und Is­ham wohn­ten, kam plötz­lich ein Re­gen von Stei­nen. Die meis­ten Stei­ne flo­gen vor­bei, aber ei­ner traf einen Streik­bre­cher am Kopf. Der Mann be­fand sich nicht mehr als zwan­zig Fuß von Sa­xon ent­fernt. Er tau­mel­te ge­gen ih­ren Zaun und zog einen Re­vol­ver. Mit der einen Hand strich er sich über die Au­gen, die von Blut halb ge­blen­det wa­ren, und mit der an­de­ren feu­er­te er sei­ne Waf­fe ge­gen das Is­ham­sche Haus ab. Ei­ner der De­tek­ti­ve pack­te ihn am Arm, um ihn zu ver­hin­dern, den Re­vol­ver wie­der ab­zu­feu­ern, und schlepp­te ihn mit sich fort. Im sel­ben Au­gen­blick aber er­tön­te ein noch wil­de­res Ge­brüll von den Strei­ken­den, wäh­rend ein Schau­er von Stei­nen aus dem Gang zwi­schen Sa­x­ons und Mag­gie Do­na­hues Haus kam. Die Streik­bre­cher und ihre Be­schüt­zer mach­ten halt und ent­si­cher­ten ihre Re­vol­ver. An dem har­ten, wil­lens­star­ken Aus­druck in ih­ren Ge­sich­tern konn­te Sa­xon se­hen, dass Blut­ver­gie­ßen und Tod be­vor­stan­den. Ein äl­te­rer Mann, of­fen­bar ihr An­füh­rer, nahm sei­nen wei­chen schwar­zen Hut ab und wisch­te sich den Schweiß von der Glat­ze. Er war ein großer dick­bäu­chi­ger Mann, der merk­wür­dig hilf­los aus­sah. Er ließ die Schul­tern hän­gen, und Sa­xon be­merk­te die Schup­pen auf sei­nem Rock­kra­gen.

Ei­ner der Män­ner zeig­te auf die Stra­ße, und meh­re­re von sei­nen Ka­me­ra­den lach­ten. Es war der klei­ne, kaum vier­jäh­ri­ge Ol­sen, der der Mut­ter weg­ge­lau­fen war und jetzt zu den Män­nern kam, die die Fein­de sei­ner wirt­schaft­li­chen Exis­tenz wa­ren. In sei­ner rech­ten Hand hielt er einen Stein, so schwer, dass er ihn kaum he­ben konn­te. Die schwa­che Kin­der­hand droh­te ih­nen mit die­sem Stein; das klei­ne rot­wan­gi­ge Ge­sicht war von Wut ver­zerrt, und er schrie im­mer wie­der: »Ver­fluch­te Streik­bre­cher! Ver­fluch­te Streik­bre­cher!« Das La­chen, mit dem die Män­ner ihn be­grüß­ten, mach­te ihn noch wü­ten­der. Er wank­te auf sie zu und warf mit ei­ner mäch­ti­gen Kraft­an­span­nung den Stein, der kaum sechs Fuß von ihm zu Bo­den fiel.

So viel sah Sa­xon, und sie sah auch, wie die Mut­ter des Kna­ben auf die Stra­ße eil­te, um ihr Kind zu ho­len. Da er­tön­te eine Sal­ve von Pis­to­len­schüs­sen der Strei­ken­den, und Sa­x­ons Auf­merk­sam­keit wand­te sich den Män­nern vor ih­rem Fens­ter zu. Ei­ner von ih­nen stieß einen mäch­ti­gen Fluch aus und un­ter­such­te sei­nen lin­ken Arm, der kraft­los her­ab­hing. Sie sah, wie das Blut über sei­ne Hand tropf­te. Sie wuss­te, dass sie nicht ste­hen­blei­ben durf­te, aber die Erin­ne­rung an ihre kämp­fen­den Vor­fah­ren er­wach­te in ihr, und sie fürch­te­te sich nicht mehr, als je­der nor­ma­le Mensch sich un­ter sol­chen Ver­hält­nis­sen ge­fürch­tet hät­te – eher we­ni­ger. Sie ver­gaß über die­sem Kampf, der so plötz­lich in ih­rer stil­len Stra­ße los­ge­bro­chen war, ihr Kind. Sie ver­gaß die Strei­ken­den und al­les an­de­re über ih­rem Er­stau­nen dar­über, wie es dem dick­bäu­chi­gen, zi­gar­ren­rau­chen­den An­füh­rer er­gan­gen war. Auf ir­gend­ei­ne merk­wür­di­ge Wei­se war sein Kopf in ih­rem Zaun ein­ge­klemmt. Sein Kör­per hing drau­ßen, und die Knie be­rühr­ten den Bo­den nicht ganz. Der Hut war ihm ab­ge­fal­len, und die Son­ne schi­en auf sei­ne Glat­ze und er­zeug­te eine kräf­ti­ge Licht­wir­kung. Die Zi­gar­re war auch ver­schwun­den. Sie sah, dass sein Blick auf sie ge­rich­tet war. Es war, als wink­te er ihr mit der Hand, die durch den Zaun stak, und es sah fast aus, als blin­zel­te er ihr ge­müt­lich zu, ob­wohl sie wuss­te, dass es der furcht­bars­te Schmerz war, der sein Ge­sicht zu ei­nem Grin­sen ver­zerr­te.