»Hm«, sagte Billy, als er die ganze Garderobe des kleinen Geschöpfes untersucht hatte und auf die gestrickten Jäckchen zurückkam, »die sehen mehr als alles nach einem richtigen Jungen aus. Ich kann ihn schon in richtigem Männerzeug sehen.«
Saxon, deren Augen sich plötzlich mit Freudentränen füllten, drückte eines der Jäckchen an seine Lippen. Er küsste es feierlich, aber sein Blick ruhte in dem Saxons.
Saxons Wohlstand sollte jedoch bald aufhören, und zwar auf eine sehr traurige und demütigende Art. Eines Tages, als eines der großen Warenhäuser Ausverkauf hatte, fuhr sie über die Bucht nach San Franzisko, um Einkäufe zu machen. Als sie durch die Sutter Street ging, wurde ihr Blick von einigen Waren gefesselt, die in einem kleinen Ladenfenster ausgestellt waren. Sie wollte zuerst ihren Augen nicht trauen, denn dort, auf dem Ehrenplatz, stand das herrliche Morgenhäubchen, für das Mercedes ihr zwölf Dollar gegeben hatte. Der Preis, der daran stand, betrug achtundzwanzig Dollar. Saxon ging hinein und sprach mit der Geschäftsinhaberin, einer mageren Frau mittleren Alters mit einem scharfen Blick und von fremder Abstammung.
»Es ist nicht meine Absicht, etwas zu kaufen. Aber ich mache feine Handarbeiten von der Art, wie Sie sie haben, und ich möchte gern wissen, was Sie dafür bezahlen – zum Beispiel für das Morgenhäubchen im Fenster.«
Die Frau warf einen hastigen, prüfenden Blick auf Saxons linke Hand, bemerkte die vielen kleinen Stiche der Nähnadel in ihrem Zeigefinger und betrachtete dann forschend ihre Kleidung und ihr Gesicht.
»Können Sie so etwas machen?«
Saxon nickte.
»Ich habe der Frau, die das gemacht hat, zwanzig Dollar bezahlt.«
Saxon schnappte unwillkürlich nach Luft, bezwang sich aber und dachte einen Augenblick über die Sache nach. Mercedes hatte ihr zwölf Dollar gegeben, Mercedes hatte also acht Dollar in die eigene Tasche gesteckt, während sie, Saxon, Material und Arbeit geliefert hatte.
»Wollen Sie so freundlich sein und mir andere Handstickereien zeigen – Nacht- und Taghemden und dergleichen und mir sagen, was Sie dafür bezahlen?«
»Können Sie so etwas machen?«
»Ja.«
»Und wollen Sie es mir verkaufen?«
»Selbstverständlich«, antwortete Saxon. »Deshalb bin ich ja hier.«
»Wir berechnen uns eine kleine Provision von dem, was wir verkaufen«, fuhr die Fremde fort. »Wir müssen ja Licht und Miete und dergleichen bezahlen und schließlich auch etwas daran verdienen – sonst könnten wir das Geschäft nicht betreiben.«
»Das ist nicht mehr als billig«, räumte Saxon ein.
Unter den schönen Dingen, die Saxon jetzt sah, fand sie ein Nachthemd und eine Kombination, die sie selbst verfertigt hatte. Für das Nachthemd hatte Mercedes ihr acht Dollar gegeben, während es hier achtzehn kostete und die Ladeninhaberin vierzehn bezahlt hatte; für das andere Stück hatte Saxon sechs Dollar bekommen, es war mit fünfzehn ausgezeichnet und mit elf bezahlt.
»Danke sehr«, sagte Saxon und zog sich die Handschuhe an. »Ich werde Ihnen gern etwas von meiner Arbeit zu den Preisen verkaufen.«
»Und es wird mir ein Vergnügen sein, es zu kaufen – wenn es gut genug ist.« Die Fremde sah sie streng an. »Aber vergessen Sie nicht: es muss ebenso gut sein wie dies hier. In diesem Fall kann ich Ihnen oft Bestellungen zukommen lassen.«
Mercedes war nicht im geringsten verlegen, als Saxon ihr Vorwürfe machte.
»Sie sagten, dass Sie sich nur eine Provision berechneten«, sagte sie anklagend.
»Das sagte ich, und das habe ich auch getan.«
»Aber ich leistete alle Arbeit, kaufte das ganze Material, und Sie haben noch mehr daran verdient als ich. Sie haben sich den Löwenanteil genommen.«
»Ja, warum sollte ich das nicht, Kindchen? Ich war Zwischenhändler. So ist nun mal der Gang der Welt. Der Zwischenhändler bekommt den Löwenanteil.«
»Das finde ich sehr ungerecht«, sagte Saxon, mehr, weil es sie schmerzte, als weil sie böse darüber war.
»Beklagen Sie sich über die Welt, nicht über mich«, antwortete Mercedes scharf, schlug aber wie gewöhnlich ebenso plötzlich um und fügte sanfter hinzu: »Wir wollen uns nicht streiten, Kindchen, dazu habe ich Sie viel zu gern. La la, was bedeutet das für Sie, die Sie jung und stark sind und einen jungen und starken Mann haben. Und der alte Barry kann nicht viel für mich tun. Er pfeift auf dem letzten Loch. Vergessen Sie nicht, dass ich ihn begraben muss. Und ich tue ihm eine große Ehre an, denn er soll seinen letzten langen Schlaf an meiner Seite schlafen. Das Grab ist gekauft und bezahlt – die letzte Abzahlung habe ich teilweise mit der Provision gemacht, die ich mir von Ihren Sachen berechnete. Und dazu kommen die Begräbniskosten. Es soll alles hübsch werden. Ich muss viel dazu sparen. Und Barry kann jeden Tag um die Ecke gehen.«
Saxon zog vorsichtig die Luft ein und erkannte, dass die alte Frau wieder getrunken hatte.
»Kommen Sie, Kind, ich will Ihnen etwas zeigen.« Sie führte Saxon an eine große Schiffskiste im Schlafzimmer und hob den Deckel. Ein feiner Duft, wie von Rosenblättern, stieg aus der Kiste auf. »Sehen Sie, das ist meine Begräbnisausstattung. So werde ich mit dem Staub vereinigt werden.«
Saxons Erstaunen stieg, als die alte Frau ihr Stück für Stück den leichtesten, feinsten, entzückendsten Brautstaat mit allem, was dazu gehörte, zeigte. Mercedes hielt ihr einen Elfenbeinfächer vor die Augen.
»Den bekam ich in Venedig, Kindchen. – Sehen Sie diesen Schildpattkamm – den verfertigte Bruce Anstey für mich eine Woche, bevor er seine letzte Flasche trank und sich eine Kugel durch den Kopf schoss – ein tüchtiger und toller Kerl war er – eine Revolverkugel schwersten Kalibers. – Und dieser Schal: La la, echt Liberty –«
»Und all das soll mit Ihnen begraben werden?« sagte Saxon nachdenklich. »Ach, welche Verschwendung!«
Mercedes lachte.
»Warum nicht? Ich will sterben, wie ich gelebt habe. Das ist nun einmal mein Vergnügen. Wie eine Braut will ich in die Erde gesenkt werden. Ich will kein schmales, kaltes Bett. Ich wünschte, es wäre ein breites Lager, bedeckt mit allen weichen Teppichen und Kissen des Orients – unbegrenzten Mengen von Kissen.«
»Aber mit dem hier könnten Sie doch zwanzig Begräbnisse und Gräber bezahlen«, protestierte Saxon, ganz entsetzt über diese gotteslästerliche Auffassung vom Tode – vom Tode, der für alle gleich war. »Das ist doch direkt sündig.«
»Ja, dann entspricht es meinem Leben«, sagte Mercedes ruhig. »Und es wird eine feine Braut sein, die neben dem alten Barry liegt.« Sie schloss die Kiste und seufzte. »Nun, ich möchte, es wäre Bruce Anstey oder einer meiner stolzen jungen Männer, der in der Dunkelheit neben mir läge und mit mir zusammen zu dem Staub verwitterte, der der eigentliche Tod ist.«
»Aber fürchten Sie sich denn nicht vor dem Tode – nicht im geringsten?«
Mercedes schüttelte eifrig den Kopf.
»Der Tod ist stark und gut und mild. Ich fürchte den Tod nicht. Die Menschen sind es, die ich nach dem Tode fürchte. Deshalb treffe ich meine Vorbereitungen. Sie sollen mich nicht haben, wenn ich tot bin.«
Saxon sah sie verständnislos an.
»Aber dann brauchen die Sie doch nicht mehr!«
»Die brauchen viele«, lautete die Antwort. »Wissen Sie, was aus armen alten Menschen wird, die kein Geld für die Beerdigung haben? Sie werden nicht begraben. Lassen Sie mich Ihnen erzählen. Wir standen vor großen Türen. Er war ein merkwürdiger Mann, ein Professor, der Räuber hätte sein sollen, ein Mann, der Studenten Vorlesungen hielt, während er befestigte Städte hätte stürmen oder Banken plündern sollen. Er war schlank wie Don Juan. Seine Hände waren stark wie Stahl und seine Seele auch. Und er war toll, ein klein wenig toll, wie alle meine jungen Liebhaber es waren. ›Komm, Mercedes‹, sagte er, ›wir wollen unsere Brüder ansehen und uns in Demut freuen, dass wir nicht sind wie sie – jedenfalls noch nicht. Und nachher werden wir noch mehr Appetit für unser Mittagessen haben, und wir wollen ihnen in goldenem Wein zutrinken, der doppelt golden wird, weil wir sie gesehen haben. Komm, Mercedes.‹
Er öffnete die großen Türen, nahm mich bei der Hand und führte mich in den Saal. Es war eine traurige Versammlung. Vierundzwanzig Stück, die auf Marmorplatten lagen oder halb saßen, mit einer Stütze im Rücken, während viele junge Leute mit funkelnden Augen und funkelnden kleinen Messern in den Händen neugierig von ihrer Arbeit aufblickten.«
»Sie waren tot?« unterbrach Saxon sie atemlos.
»Es waren die armen Toten, mein liebes Kind. ›Komm, Mercedes‹, sagte er. ›Ich will dir noch mehr zeigen, dass wir uns richtig unseres Lebens freuen können.‹ Und er nahm mich mit – zu den Trögen. Zu den Salztrögen, Kindchen. Ich fürchtete mich nicht, als ich sie aber sah, dachte ich daran, wie es mir wohl nach meinem Tode gehen würde. Da lagen sie wie tote Schweine. Und es kam eine Bestellung auf, eine Frau, eine alte Frau, und der Mann, der dort arbeitete, griff in die Tröge. Das erste, was er zu fassen bekam, war ein Mann. Da fischte er wieder und rührte in dem Trog herum. Es kam noch ein Mann. Er wurde ungeduldig und verfluchte sein Pech. Dann zog er wieder etwas aus der Salzlake heraus; es war eine Frau, und an ihrem Gesicht konnte er sehen, dass sie alt war, und da freute er sich.«
»Das ist nicht wahr!« rief Saxon.
»Ich habe es gesehen, mein Kind, und ich weiß es. Und ich sage Ihnen, Sie brauchen Gottes Zorn nicht zu fürchten, wenn Sie tot sind. Fürchten Sie nur die Salztröge. Und während ich das sah und er mir alles zeigte, betrachtete er mich lächelnd und fragte mich aus und machte mich ganz toll mit seinen irrsinnigen, schwarzen Augen, die müde vom vielen Studieren waren, und da wusste ich, dass es mit meinem teuren Leib nicht so gehen sollte. Mir ist er teuer, dieser Leib, teuer, wie er den anderen gewesen ist. La la, der Salztrog ist nicht der rechte Ort für diese Lippen, die so oft geküsst wurden, und für diesen Leib, an den so viel Liebe verschwendet wurde.« Mercedes hob den Kistendeckel und warf einen langen, zärtlichen Blick auf ihren Begräbnisstaat. »Und deshalb will ich mir mein Lager bereiten, und bald werde ich darin ruhen. Ein alter Philosoph hat gesagt: ›Wir wissen, dass wir sterben sollen, aber wir glauben es nicht.‹ Aber alte Leute glauben es. Ich glaube es.
Mein liebes Mädel, denken Sie an die Salztröge und seien Sie mir nicht böse, weil ich mir eine gute Provision berechnet habe. Es gibt nichts, das ich nicht tun würde, um den Salztrögen zu entgehen – ich würde das letzte Scherflein der Witwe, die Brotrinde der Waise und den Spargroschen eines Toten stehlen.«
»Glauben Sie an Gott?« fragte Saxon plötzlich, und trotz der Angst, die sie durchschauerte, hielt sie sich tapfer.
Mercedes ließ den Deckel fallen und zuckte die Achseln.
»Wer weiß? Ich werde weich ruhen.«
»Und die Strafe?« fragte Saxon.
»Unmöglich, mein Kind! Wie ein alter Dichter sagt: ›Gott ist ein braver Bursche!‹ Gott brauchen Sie nicht zu fürchten. Fürchten sie nur die Salztröge und alles das, was Menschen Ihrem schönen Körper antun können, wenn Sie tot sind.«
Billy schien es fast, als ginge es ihm bald zu gut. Er hatte das Gefühl, im Verhältnis zu dem Lohn, den er verdiente, zu wohlhabend zu sein. Bei dem Geld, das immer auf die Sparkasse gebracht wurde, bei der Miete und der Abzahlung auf die Möbel, bei dem reichlichen Taschengeld und der ausgezeichneten Kost konnte er nicht verstehen, wie Saxon sich noch das Material für all ihre feinen Dinge anschaffen konnte. Er hatte mehrmals erklärt, dass er nicht begreifen könnte, wie sie es machte, und jedes Mal hatte Saxon gelacht, ein geheimnisvolles Lachen, das ihn nur noch mehr verwirrte.
»Ich verstehe nicht, wie du das mit dem Geld machen kannst«, sagte er eines Abends.
Er wollte noch mehr sagen, beherrschte sich aber und grübelte fünf Minuten lang mit gerunzelten Brauen.
»Hör einmal«, sagte er schließlich. »Was ist aus dem Morgenhäubchen mit all den Spitzen geworden, an dem du so fleißig arbeitetest? Ich habe dich nie damit gesehen, und für das Kleine war es doch zu groß.«
Saxon bedachte sich einen Augenblick, während sie ihn mit zusammengepressten Lippen und einem necklustigen Ausdruck in den Augen ansah. Es war ihr immer schwer geworden, eine Unwahrheit zu sagen, und Billy gegenüber war es ihr ganz unmöglich. Sie konnte sehen, wie ein Sturm in den blauen Augen aufzog, und wie sein Gesicht gleichsam erstarrte, wie es immer tat, wenn er zornig werden wollte.
»Sag mal, Saxon – du – du verkaufst doch wohl nicht deine Arbeit?«
Da erzählte sie ihm alles, auch von Mercedes Higgins’ Anteil an dem Geschäft und von Mercedes Higgins’ wunderbarem Begräbnisstaat. Aber Billy wollte sich nicht vom Kern der Sache ablenken lassen. In Ausdrücken, die alles eher als zweideutig waren, verkündete er Saxon, dass sie nicht für Geld arbeiten durfte.
»Aber ich habe doch so viel freie Zeit, lieber Billy«, sagte sie flehentlich.
Er schüttelte den Kopf.
»Nein, daraus wird nichts. Davon will ich nichts hören. Ich habe dich geheiratet, und ich werde auch schon für dich sorgen. Niemand soll sagen, dass Bill Roberts’ Frau arbeiten muss.«
»Ja, aber Billy –«, begann sie wieder.
»Nein, das ist das einzige, was ich mir nicht gefallen lasse, Saxon. Nicht, dass mir deine Handarbeiten nicht gefielen, aber ich will sie an dir sehen. Mach du nur weiter, was du willst, aber mach es für dich selber – ich werde es schon bezahlen. Sieh, ich pfeife den ganzen Tag vor lauter Freude bei dem Gedanken an dich und den Jungen, und ich kann dich zu Hause all die hübschen Dinge arbeiten sehen, weil ich weiß, wie glücklich du bist, wenn du es tust. Aber, weiß Gott, Saxon, die ganze Freude wäre mir verdorben, wenn ich wüsste, dass du es für Geld tätest. Bill Roberts’ Frau braucht nicht zu arbeiten.«
»Du bist so gut, Billy«, flüsterte sie und war trotz ihrer Enttäuschung sehr glücklich.
»Ich will, dass du alles haben sollst, worauf du Lust hast«, fuhr er fort. »Und du sollst es schon bekommen, solange ich diese beiden Fäuste habe. Ich weiß auch wohl, wie sehr mir die hübschen Sachen, die du trägst, gefallen. Ich habe, ehe ich dich kannte, manches gelernt, was ich besser nicht gelernt hätte. Aber ich weiß, wovon ich rede, und ich habe nie eine Frau gesehen, deren Wäsche sich mit deiner messen konnte. Ach –«
Er hob verzweifelt die Hände, als sei er nicht imstande auszudrücken, was er dachte und fühlte. Und dann versuchte er es wieder:
»Es kommt nicht allein auf die Sauberkeit an, obgleich das schon viel bedeutet. Es gibt massenhaft Frauen, die sauber sind. Aber das ist es nicht. Es ist mehr und etwas ganz anderes. Es ist – nun ja, es ist so, wie es aussieht, so weiß und hübsch und lecker, das setzt sich einem im Kopf fest. Du kannst nach meinem Geschmack nicht zu viel hübsche Dinge bekommen, und du kannst sie auch nicht zu hübsch bekommen.
Deswegen also, Saxon, mach nur weiter. Man kann massenhaft Geld verdienen, ganz kinderleicht. Billy Murphy bekam fünfundsiebzig blanke Dollar – und das ist erst eine Woche her –, weil er den ›Stolz der Nordküste‹ schlug. Von dem Geld hat er uns die fünfzig zurückbezahlt.«
Aber diesmal war es Saxon, die protestierte.
»Oder denk an Karl Hensen«, fuhr Billy fort. »›Sharkey den Zweiten‹ nennen die Idioten, die Sportreferenten, ihn. Und er nennt sich selbst ›Champion der Marine der Vereinigten Staaten‹. Nun, den habe ich mir jetzt angesehen. Er ist ein richtiger Bär. Ich habe ihn kämpfen sehen, und ich kann ihm einen Schlaftrunk geben – ganz einfach. Der Sekretär des Sportklubs hat versprochen, einen Match zwischen uns zu arrangieren, und der Gewinner verdient hundert blanke Dollar.«
»Wenn ich nicht für Geld arbeiten darf, so darfst du auch nicht boxen«, lautete Saxons Ultimatum, das sie jedoch gleich wieder zurücknahm. »Aber es soll nicht gleich und gleich zwischen uns beiden heißen. Und wenn du mich auch für Geld arbeiten lassen wolltest, so würde ich dir das Boxen doch nicht erlauben. Und wenn du nicht boxt, dann werde ich auch nicht mehr für Geld arbeiten – ja, das ist meine Meinung. Und mehr noch – ich werde nie etwas tun, das du nicht haben willst, Billy.«
»Einverstanden«, meinte Billy. »Aber ich möchte doch verflucht gern ein einziges Mal den Ochsenschädel Hensen verhauen.« Er lächelte vergnügt bei dem Gedanken. »Aber weißt du, lass uns jetzt alles vergessen und spiel ›Wenn die Tage des Herbstes vorbei‹ auf dem – ja, zum Teufel, wie nennst du doch das Instrument?«
Sie sang das Lied, das er wünschte, zur Begleitung der Ukulélé, und als sie fertig war, schlug sie sein trauriges Lied »Die Klage des Kuhhirten« vor. So wunderbar und unerklärlich sind die Wege der Liebe, dass sie das einzige Lied ihres Mannes liebgewonnen hatte. Weil er es sang, hatte sie dieses sinnlose, langweilige Geistesprodukt gern, am meisten aber, so schien es ihr, liebte sie seine völlig hoffnungslosen falschen Töne. Sie konnte es sogar mit ihm zusammen singen, ebenso gründlich und entzückend falsch wie er. Und sie erschütterte ihn nicht in seinem großartigen Glauben an sich.
»Ich fürchte nur, dass Bert und alle anderen mich necken werden«, sagte er.
»Ja, wir beide machen das großartig«, sagte sie, indem sie die Wahrheit vorsichtig umging. Denn in derlei Dingen hielt sie Unwahrheit nicht für eine Sünde.
*
Im Laufe des Frühlings kam der Eisenbahnerstreik. Am Sonntag, bevor der Streik erklärt wurde, aßen Saxon und Billy bei Bert. Saxons Bruder war auch da, ohne Sarah, da er sie nicht dazu hatte bewegen können, ihre Tagesarbeit so zu unterbrechen. Bert befand sich in sehr düsterer, pessimistischer Stimmung.
Mary ging umher und bereitete das Mittagessen mit einem Gesicht, das deutlicher als Worte sagte, dass sie sehr aufrührerisch gestimmt war, und Saxon krempelte sich die Ärmel auf, band sich eine Schürze um und begann, die Frühstücksteller aufzuwaschen. Bert holte eine Kanne schäumendes Bier aus der Wirtschaft an der Ecke, und die drei Männer rauchten und unterhielten sich über den bevorstehenden Streik.
»Er hätte vor mehreren Jahren kommen sollen«, erklärte Bert. »Je früher desto besser, sage ich, aber jetzt ist es zu spät. Wir sind zu schlapp geworden, und jetzt kriegen die letzten Mohikaner, was ihnen gut tut, und das gerade auf den Deetz!«
»Ach, ich weiß nicht«, begann Tom vermittelnd – er hatte dagesessen und feierlich seine Pfeife geraucht. »Die Arbeiterorganisationen werden mit jedem Tage stärker. Ich erinnere mich noch der Zeit, als es in Kalifornien überhaupt keine Gewerkschaften gab. Und sieh nur jetzt – Löhne, feste Arbeitszeit und alles.«
»Du redest wie ein Agitator«, spottete Bert, »von der Art, die den Idioten was erzählen. Aber wir wissen besser Bescheid. Mit allen Gewerkschaften und Normallöhnen können wir für unsere Arbeit nicht so viel bekommen wie in alten Tagen, als wir nicht organisiert waren. Sie haben uns in der Klemme. Denk nur an San Franzisko – dort betreiben die Arbeiterführer eine noch dreckigere Politik als die alten Parteien, prügeln sich um Trinkgeld und lassen sich bestechen, während – ja, was machen die Zimmerleute in San Franzisko? Ich will dir etwas sagen, Tom Brown, wenn du dir alles anhörst, was gesagt wird, dann wirst du erfahren, dass jeder Zimmermann in San Franzisko Gewerkschaftler ist und vollen Gewerkschaftlerlohn bekommt. Glaubst du das? Es ist verfluchte Lüge! Es gibt nicht einen Zimmermann, der nicht jeden Sonnabend dem Unternehmer einen gewissen Prozentsatz von seinem Lohn geben muss. Und die Führer reisen für das Geld, das sie aus den Idioten herauspressen, nach Europa, wenn sie es nicht an die Rechtsanwälte hinausschmeißen müssen, um nicht eingesperrt zu werden.«
»Ja, das ist sehr richtig«, gab Tom zu. »Niemand wird das leugnen. Das Schlimme ist, dass den Arbeitern die Augen noch nicht geöffnet sind. Sie sollten sich selbstverständlich mehr um Politik kümmern, aber es muss die richtige Politik sein.«
»Man muss wirklich ehrliche Männer finden«, sagte Billy. »Das ist das ganze Unglück. – Nicht, dass ich auf den Sozialismus hielte, denn das tue ich nicht. Alle unsere Vorfahren haben seit langer Zeit in Amerika gelebt, und was mich betrifft, so will ich mir nicht gefallen lassen, dass eine Herde fetter Deutscher oder schmutziger russischer Juden mir erzählen soll, wie ich mein Land regieren soll, wenn sie nicht einmal meine Sprache richtig sprechen können.«
»Dein Land!« rief Bert. »Aber, du Esel, du hast ja gar kein Land. Das ist ja nur etwas, das die Leute, die von Bestechung leben, dir erzählen, sooft sie dich noch mehr plündern wollen.«
»Aber dann dürfen wir nicht mehr für die Männer stimmen, die von Bestechung leben«, ereiferte Billy sich. »Wenn wir ehrliche Männer wählten, würden sie auch ehrlich gegen uns sein.«
»Ich wünschte, du kämest manchmal zu unsern Versammlungen, Billy«, sagte Tom ernst. »Wenn du das tätest, würden dir die Augen geöffnet werden, und du würdest bei der nächsten Wahl für die Sozialisten stimmen.«
»Nein, das tue ich nicht, darauf kannst du Gift nehmen«, erklärte Billy. »Ich laufe nicht zu Sozialistenversammlungen, ehe sie gelernt haben, wie weiße Männer zu reden.«
Bert summte:
»Wir leben in einer komischen Zeit,
In der der Dollar rollt.«
Mary war zu zornig auf ihren Mann wegen des Streiks und seiner ketzerischen Bemerkungen, um sich weiter mit Saxon zu unterhalten, die deshalb darauf angewiesen war, der Diskussion der Männer zuzuhören.
»Aber wo soll das alles enden?« fragte sie mit einer Unbesorgtheit, welche die Angst in ihrem Herzen verdecken sollte.
»Enden?« knurrte Bert. »Es ist ja schon vorbei.«
»Aber Fleisch und Petroleum sind schon wieder gestiegen«, sagte sie empört. »Und Billys Lohn ist herabgesetzt und der Lohn der Eisenbahner auch voriges Jahr. Es muss etwas geschehen.«
»Es ist nichts zu tun, als wie der Teufel zu kämpfen«, antwortete Bert. »Kämpfen und kämpfend untergehen. Das ist alles. Wie es auch gehen mag, wir sind erledigt, aber wir wollen doch wenigstens ein bisschen Vergnügen davon haben.«
»So darf man nicht reden«, sagte Tom vorwurfsvoll.
»Die Zeit, da Reden einen Zweck hatte, ist überhaupt vorbei, alter Wetterhahn. Jetzt heißt es kämpfen.«
»Ja, und du hättest große Aussichten gegen reguläre Truppen und Maschinengewehre«, antwortete Billy.
»Ach, ich meine nicht so. Es gibt etwas wie schmierige Stöcke, die mit großem Lärm in die Luft fliegen und Löcher machen. Es gibt etwas, das Schmirgel heißt –«
»Ach so«, fiel Mary ihm ins Wort, die Hände in die Hüften gestemmt. »So, das ist die Meinung. Dazu sollte der Schmirgel in deiner Westentasche also gebraucht werden?«
Ihr Mann ignorierte sie. Tom rauchte seine Pfeife mit besorgtem Ausdruck. Billy war sehr peinlich berührt. Das konnte man ihm ansehen.
»Das machst du doch nicht mit, Bert?« fragte er, und aus dieser Frage ging deutlich hervor, dass er ein Nein von seinem Freund erwartete.
»Natürlich mache ich mit, wenn du es durchaus wissen willst. Ich möchte sie in der Hölle sehen, wenn ich könnte – ja, die ganze Bande, ehe ich abhaue.«
»Er ist der richtige, blutdürstige Anarchist«, klagte Mary. »Leute wie er sind es, die McKinley und Garfield ermordet haben. Er wird noch gehängt werden. Ja, ihr werdet schon sehen, dass ich recht bekomme.«
»Es ist sein gewöhnlicher Unsinn«, tröstete Billy sie.
»Er will dich nur necken«, sagte Saxon beruhigend. »Er neckt immer so gern.«
Aber Mary schüttelte den Kopf.
»Ich weiß es. Ich höre ihn im Schlafe reden. Er flucht und zieht vom Leder, dass es ganz schrecklich ist, und knirscht mit den Zähnen.«
Tom sagte etwas von Vernunft und Gerechtigkeit, und Bert wandte sich gegen ihn.
»Gerechtigkeit, sagst du, Gerechtigkeit? Ja, das ist auch so ein verfluchtes Hirngespinst. Soll ich dir zeigen, welche Gerechtigkeit es für die arbeitende Klasse gibt? Erinnert ihr euch an Forbes – J. Alliston Forbes, der das Alta-Kalifornia-Verwaltungsinstitut ruinierte und zwei Millionen in seine eigene Tasche steckte? Gestern sah ich ihn in einem großen Auto, das geradeswegs in die Hölle fuhr. Was hat er bekommen? Acht Jahre. Wie lange hat er gesessen? Nicht einmal zwei. Ihm wurde die Strafe erlassen – aus Gesundheitsrücksichten. Gesundheitsrücksichten – ich will ihn gehängt sehen! Wir sind alle tot und verfault, ehe er abfährt. Da! Seht aus dem Fenster! Könnt ihr die Rückseite des Hauses sehen, wo das Geländer zerbrochen ist? Dort wohnt Danakers Witwe. Sie wäscht für andere. Ihr Mann wurde im Dienst der Eisenbahn getötet. Nicht einen Groschen Schadenersatz – Unvorsichtigkeit, Nachlässigkeit oder sonst ein Quatsch. Das kriegte sie bei den Gerichten heraus. Ihr Junge, Archie, war sechzehn Jahre alt. Er war ein richtiger kleiner Vagabund. Er brach in Fresno ein, und ein Betrunkener kam dabei um. Wollt ihr wissen, wie viel er erwischte? Zwei Dollar und achtzig Cent. Habt ihr verstanden – zwei Dollar – und – achtzig Cent. Und was versetzten die Richter ihm? Fünfzig Jahre. Er ist jetzt schon seit acht Jahren in San Quentin. Und dort bleibt er, bis er krepiert. Seine Mutter sagt, dass er Tuberkeln hat – die hat er im Gefängnis gekriegt. Aber niemand verschafft ihm die Freiheit. Ein Kerl wie Archie stiehlt einem Betrunkenen zwei Dollar und achtzig Cent und kriegt fünfzig Jahre dafür. J. Alliston Forbes beschwindelt die Alta um zwei Millionen und kriegt nicht einmal zwei Jahre. Wem gehört das Land nun, wenn ich fragen darf? Euch und Archie? Nein, euch weiß Gott nicht! J. Alliston Forbes –«
Mary, die an die Aufwasch trat, wo Saxon gerade den letzten Teller gewaschen hatte, band ihr die Schürze ab und küsste sie mit dem Mitgefühl, das nur Frauen füreinander hegen, wenn eine von ihnen bald Mutter sein soll.
»Na, setz dich, Kind. Du darfst dich nicht so ermüden – es ist noch lange bis dahin. Jetzt hol ich dir dein Nähzeug, und dann kannst du auf das Geschwätz der Männer hören. Aber höre nicht auf Bert. Er ist ganz verrückt.«
Saxon nähte und hörte zu, und Berts Gesicht wurde finster und bitter, als er das Kinderzeug sah, das sie auf dem Schoß hielt.
»Ja, so ist es!« rief er plötzlich. »Kinder in die Welt setzen, das könnt ihr, aber ihr habt nicht die geringste Gewähr dafür, dass ihr sie ernähren könnt.«
»Du hast heute wohl ordentlich eingeheizt?« lachte Tom.
Bert schüttelte den Kopf.
»Nun ja«, sagte Billy. »Was hilft es, sich die Laune zu verderben? Es ist doch sonst ein sehr braves Land.«
»Es war ein sehr braves Land«, antwortete Bert, »als wir alle noch Mohikaner waren. Aber jetzt nicht mehr. Wir sind betrogen. Wir sind in eine Ecke gedrängt. Wir haben unsere Ohrfeigen abgekriegt und sind rausgeschmissen. Meine Vorfahren haben für dieses Land gekämpft, das haben eure auch, alle. Wir gaben den Negern die Freiheit, töteten die Indianer, hungerten, froren und schwitzten und kämpften. Das Land hier gefiel uns. Wir rodeten es und bebauten es, legten Wege an und bauten Städte. Und es gab mehr als genug für uns alle. Und wir schlugen uns weiter dafür. Ich hatte zwei Onkel, die bei Gettysburg getötet wurden. Aber alle unsere Vorfahren hatten Bauernhöfe, Pferde und Vieh, auch Marys –«
»Und sie hätten klug daran getan, es festzuhalten«, warf sie ein.
»Ja, das ist sicher«, fuhr Bert fort. »Das ist es eben. Wir sind ausgeplündert. Wir konnten nicht mit falschen Karten spielen wie die anderen. Wir sind die Weißen, die um die Ecke gegangen sind. Seht ihr, die Zeiten haben sich geändert. Und es gab zweierlei Menschen – Löwen und Mähren. Die Mähren rackerten sich ab, und die Löwen fraßen. Sie fraßen die Farmer, die Minen, die Fabriken, und jetzt haben sie auch die Regierung gefressen. Wir sind geschunden. Versteht ihr?«