Jack London – Gesammelte Werke

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»Hm«, sag­te Bil­ly, als er die gan­ze Gar­de­ro­be des klei­nen Ge­schöp­fes un­ter­sucht hat­te und auf die ge­strick­ten Jäck­chen zu­rück­kam, »die se­hen mehr als al­les nach ei­nem rich­ti­gen Jun­gen aus. Ich kann ihn schon in rich­ti­gem Männ­er­zeug se­hen.«

Sa­xon, de­ren Au­gen sich plötz­lich mit Freu­den­trä­nen füll­ten, drück­te ei­nes der Jäck­chen an sei­ne Lip­pen. Er küss­te es fei­er­lich, aber sein Blick ruh­te in dem Sa­x­ons.

Sa­x­ons Wohl­stand soll­te je­doch bald auf­hö­ren, und zwar auf eine sehr trau­ri­ge und de­mü­ti­gen­de Art. Ei­nes Ta­ges, als ei­nes der großen Wa­ren­häu­ser Aus­ver­kauf hat­te, fuhr sie über die Bucht nach San Fran­zis­ko, um Ein­käu­fe zu ma­chen. Als sie durch die Sut­ter Street ging, wur­de ihr Blick von ei­ni­gen Wa­ren ge­fes­selt, die in ei­nem klei­nen La­den­fens­ter aus­ge­stellt wa­ren. Sie woll­te zu­erst ih­ren Au­gen nicht trau­en, denn dort, auf dem Ehren­platz, stand das herr­li­che Mor­gen­häub­chen, für das Mer­ce­des ihr zwölf Dol­lar ge­ge­ben hat­te. Der Preis, der dar­an stand, be­trug acht­und­zwan­zig Dol­lar. Sa­xon ging hin­ein und sprach mit der Ge­schäfts­in­ha­be­rin, ei­ner ma­ge­ren Frau mitt­le­ren Al­ters mit ei­nem schar­fen Blick und von frem­der Ab­stam­mung.

»Es ist nicht mei­ne Ab­sicht, et­was zu kau­fen. Aber ich ma­che fei­ne Hand­ar­bei­ten von der Art, wie Sie sie ha­ben, und ich möch­te gern wis­sen, was Sie da­für be­zah­len – zum Bei­spiel für das Mor­gen­häub­chen im Fens­ter.«

Die Frau warf einen has­ti­gen, prü­fen­den Blick auf Sa­x­ons lin­ke Hand, be­merk­te die vie­len klei­nen Sti­che der Nähna­del in ih­rem Zei­ge­fin­ger und be­trach­te­te dann for­schend ihre Klei­dung und ihr Ge­sicht.

»Kön­nen Sie so et­was ma­chen?«

Sa­xon nick­te.

»Ich habe der Frau, die das ge­macht hat, zwan­zig Dol­lar be­zahlt.«

Sa­xon schnapp­te un­will­kür­lich nach Luft, be­zwang sich aber und dach­te einen Au­gen­blick über die Sa­che nach. Mer­ce­des hat­te ihr zwölf Dol­lar ge­ge­ben, Mer­ce­des hat­te also acht Dol­lar in die ei­ge­ne Ta­sche ge­steckt, wäh­rend sie, Sa­xon, Ma­te­ri­al und Ar­beit ge­lie­fert hat­te.

»Wol­len Sie so freund­lich sein und mir an­de­re Hand­sti­cke­rei­en zei­gen – Nacht- und Taghem­den und der­glei­chen und mir sa­gen, was Sie da­für be­zah­len?«

»Kön­nen Sie so et­was ma­chen?«

»Ja.«

»Und wol­len Sie es mir ver­kau­fen?«

»Selbst­ver­ständ­lich«, ant­wor­te­te Sa­xon. »Des­halb bin ich ja hier.«

»Wir be­rech­nen uns eine klei­ne Pro­vi­si­on von dem, was wir ver­kau­fen«, fuhr die Frem­de fort. »Wir müs­sen ja Licht und Mie­te und der­glei­chen be­zah­len und schließ­lich auch et­was dar­an ver­die­nen – sonst könn­ten wir das Ge­schäft nicht be­trei­ben.«

»Das ist nicht mehr als bil­lig«, räum­te Sa­xon ein.

Un­ter den schö­nen Din­gen, die Sa­xon jetzt sah, fand sie ein Nacht­hemd und eine Kom­bi­na­ti­on, die sie selbst ver­fer­tigt hat­te. Für das Nacht­hemd hat­te Mer­ce­des ihr acht Dol­lar ge­ge­ben, wäh­rend es hier acht­zehn kos­te­te und die La­den­in­ha­be­rin vier­zehn be­zahlt hat­te; für das an­de­re Stück hat­te Sa­xon sechs Dol­lar be­kom­men, es war mit fünf­zehn aus­ge­zeich­net und mit elf be­zahlt.

»Dan­ke sehr«, sag­te Sa­xon und zog sich die Hand­schu­he an. »Ich wer­de Ih­nen gern et­was von mei­ner Ar­beit zu den Prei­sen ver­kau­fen.«

»Und es wird mir ein Ver­gnü­gen sein, es zu kau­fen – wenn es gut ge­nug ist.« Die Frem­de sah sie streng an. »Aber ver­ges­sen Sie nicht: es muss eben­so gut sein wie dies hier. In die­sem Fall kann ich Ih­nen oft Be­stel­lun­gen zu­kom­men las­sen.«

Mer­ce­des war nicht im ge­rings­ten ver­le­gen, als Sa­xon ihr Vor­wür­fe mach­te.

»Sie sag­ten, dass Sie sich nur eine Pro­vi­si­on be­rech­ne­ten«, sag­te sie an­kla­gend.

»Das sag­te ich, und das habe ich auch ge­tan.«

»Aber ich leis­te­te alle Ar­beit, kauf­te das gan­ze Ma­te­ri­al, und Sie ha­ben noch mehr dar­an ver­dient als ich. Sie ha­ben sich den Lö­wen­an­teil ge­nom­men.«

»Ja, warum soll­te ich das nicht, Kind­chen? Ich war Zwi­schen­händ­ler. So ist nun mal der Gang der Welt. Der Zwi­schen­händ­ler be­kommt den Lö­wen­an­teil.«

»Das fin­de ich sehr un­ge­recht«, sag­te Sa­xon, mehr, weil es sie schmerz­te, als weil sie böse dar­über war.

»Be­kla­gen Sie sich über die Welt, nicht über mich«, ant­wor­te­te Mer­ce­des scharf, schlug aber wie ge­wöhn­lich eben­so plötz­lich um und füg­te sanf­ter hin­zu: »Wir wol­len uns nicht strei­ten, Kind­chen, dazu habe ich Sie viel zu gern. La la, was be­deu­tet das für Sie, die Sie jung und stark sind und einen jun­gen und star­ken Mann ha­ben. Und der alte Bar­ry kann nicht viel für mich tun. Er pfeift auf dem letz­ten Loch. Ver­ges­sen Sie nicht, dass ich ihn be­gra­ben muss. Und ich tue ihm eine große Ehre an, denn er soll sei­nen letz­ten lan­gen Schlaf an mei­ner Sei­te schla­fen. Das Grab ist ge­kauft und be­zahlt – die letz­te Ab­zah­lung habe ich teil­wei­se mit der Pro­vi­si­on ge­macht, die ich mir von Ihren Sa­chen be­rech­ne­te. Und dazu kom­men die Be­gräb­nis­kos­ten. Es soll al­les hübsch wer­den. Ich muss viel dazu spa­ren. Und Bar­ry kann je­den Tag um die Ecke ge­hen.«

Sa­xon zog vor­sich­tig die Luft ein und er­kann­te, dass die alte Frau wie­der ge­trun­ken hat­te.

»Kom­men Sie, Kind, ich will Ih­nen et­was zei­gen.« Sie führ­te Sa­xon an eine große Schiffs­kis­te im Schlaf­zim­mer und hob den De­ckel. Ein fei­ner Duft, wie von Ro­sen­blät­tern, stieg aus der Kis­te auf. »Se­hen Sie, das ist mei­ne Be­gräb­nis­aus­stat­tung. So wer­de ich mit dem Staub ver­ei­nigt wer­den.«

Sa­x­ons Er­stau­nen stieg, als die alte Frau ihr Stück für Stück den leich­tes­ten, feins­ten, ent­zückends­ten Braut­staat mit al­lem, was dazu ge­hör­te, zeig­te. Mer­ce­des hielt ihr einen El­fen­bein­fä­cher vor die Au­gen.

»Den be­kam ich in Ve­ne­dig, Kind­chen. – Se­hen Sie die­sen Schild­patt­kamm – den ver­fer­tig­te Bru­ce Ans­tey für mich eine Wo­che, be­vor er sei­ne letz­te Fla­sche trank und sich eine Ku­gel durch den Kopf schoss – ein tüch­ti­ger und tol­ler Kerl war er – eine Re­vol­ver­ku­gel schwers­ten Ka­li­bers. – Und die­ser Schal: La la, echt Li­ber­ty –«

»Und all das soll mit Ih­nen be­gra­ben wer­den?« sag­te Sa­xon nach­denk­lich. »Ach, wel­che Ver­schwen­dung!«

Mer­ce­des lach­te.

»Wa­rum nicht? Ich will ster­ben, wie ich ge­lebt habe. Das ist nun ein­mal mein Ver­gnü­gen. Wie eine Braut will ich in die Erde ge­senkt wer­den. Ich will kein schma­les, kal­tes Bett. Ich wünsch­te, es wäre ein brei­tes La­ger, be­deckt mit al­len wei­chen Tep­pi­chen und Kis­sen des Ori­ents – un­be­grenz­ten Men­gen von Kis­sen.«

»Aber mit dem hier könn­ten Sie doch zwan­zig Be­gräb­nis­se und Grä­ber be­zah­len«, pro­tes­tier­te Sa­xon, ganz ent­setzt über die­se got­tes­läs­ter­li­che Auf­fas­sung vom Tode – vom Tode, der für alle gleich war. »Das ist doch di­rekt sün­dig.«

»Ja, dann ent­spricht es mei­nem Le­ben«, sag­te Mer­ce­des ru­hig. »Und es wird eine fei­ne Braut sein, die ne­ben dem al­ten Bar­ry liegt.« Sie schloss die Kis­te und seufz­te. »Nun, ich möch­te, es wäre Bru­ce Ans­tey oder ei­ner mei­ner stol­zen jun­gen Män­ner, der in der Dun­kel­heit ne­ben mir läge und mit mir zu­sam­men zu dem Staub ver­wit­ter­te, der der ei­gent­li­che Tod ist.«

»Aber fürch­ten Sie sich denn nicht vor dem Tode – nicht im ge­rings­ten?«

Mer­ce­des schüt­tel­te eif­rig den Kopf.

»Der Tod ist stark und gut und mild. Ich fürch­te den Tod nicht. Die Men­schen sind es, die ich nach dem Tode fürch­te. Des­halb tref­fe ich mei­ne Vor­be­rei­tun­gen. Sie sol­len mich nicht ha­ben, wenn ich tot bin.«

Sa­xon sah sie ver­ständ­nis­los an.

»Aber dann brau­chen die Sie doch nicht mehr!«

»Die brau­chen vie­le«, lau­te­te die Ant­wort. »Wis­sen Sie, was aus ar­men al­ten Men­schen wird, die kein Geld für die Be­er­di­gung ha­ben? Sie wer­den nicht be­gra­ben. Las­sen Sie mich Ih­nen er­zäh­len. Wir stan­den vor großen Tü­ren. Er war ein merk­wür­di­ger Mann, ein Pro­fes­sor, der Räu­ber hät­te sein sol­len, ein Mann, der Stu­den­ten Vor­le­sun­gen hielt, wäh­rend er be­fes­tig­te Städ­te hät­te stür­men oder Ban­ken plün­dern sol­len. Er war schlank wie Don Juan. Sei­ne Hän­de wa­ren stark wie Stahl und sei­ne See­le auch. Und er war toll, ein klein we­nig toll, wie alle mei­ne jun­gen Lieb­ha­ber es wa­ren. ›Komm, Mer­ce­des‹, sag­te er, ›wir wol­len un­se­re Brü­der an­se­hen und uns in De­mut freu­en, dass wir nicht sind wie sie – je­den­falls noch nicht. Und nach­her wer­den wir noch mehr Ap­pe­tit für un­ser Mit­ta­ges­sen ha­ben, und wir wol­len ih­nen in gol­de­nem Wein zu­trin­ken, der dop­pelt gol­den wird, weil wir sie ge­se­hen ha­ben. Komm, Mer­ce­des.‹

Er öff­ne­te die großen Tü­ren, nahm mich bei der Hand und führ­te mich in den Saal. Es war eine trau­ri­ge Ver­samm­lung. Vier­und­zwan­zig Stück, die auf Mar­mor­plat­ten la­gen oder halb sa­ßen, mit ei­ner Stüt­ze im Rücken, wäh­rend vie­le jun­ge Leu­te mit fun­keln­den Au­gen und fun­keln­den klei­nen Mes­sern in den Hän­den neu­gie­rig von ih­rer Ar­beit auf­blick­ten.«

»Sie wa­ren tot?« un­ter­brach Sa­xon sie atem­los.

»Es wa­ren die ar­men To­ten, mein lie­bes Kind. ›Komm, Mer­ce­des‹, sag­te er. ›Ich will dir noch mehr zei­gen, dass wir uns rich­tig un­se­res Le­bens freu­en kön­nen.‹ Und er nahm mich mit – zu den Trö­gen. Zu den Salz­trö­gen, Kind­chen. Ich fürch­te­te mich nicht, als ich sie aber sah, dach­te ich dar­an, wie es mir wohl nach mei­nem Tode ge­hen wür­de. Da la­gen sie wie tote Schwei­ne. Und es kam eine Be­stel­lung auf, eine Frau, eine alte Frau, und der Mann, der dort ar­bei­te­te, griff in die Trö­ge. Das ers­te, was er zu fas­sen be­kam, war ein Mann. Da fisch­te er wie­der und rühr­te in dem Trog her­um. Es kam noch ein Mann. Er wur­de un­ge­dul­dig und ver­fluch­te sein Pech. Dann zog er wie­der et­was aus der Salz­la­ke her­aus; es war eine Frau, und an ih­rem Ge­sicht konn­te er se­hen, dass sie alt war, und da freu­te er sich.«

 

»Das ist nicht wahr!« rief Sa­xon.

»Ich habe es ge­se­hen, mein Kind, und ich weiß es. Und ich sage Ih­nen, Sie brau­chen Got­tes Zorn nicht zu fürch­ten, wenn Sie tot sind. Fürch­ten Sie nur die Salz­trö­ge. Und wäh­rend ich das sah und er mir al­les zeig­te, be­trach­te­te er mich lä­chelnd und frag­te mich aus und mach­te mich ganz toll mit sei­nen irr­sin­ni­gen, schwar­zen Au­gen, die müde vom vie­len Stu­die­ren wa­ren, und da wuss­te ich, dass es mit mei­nem teu­ren Leib nicht so ge­hen soll­te. Mir ist er teu­er, die­ser Leib, teu­er, wie er den an­de­ren ge­we­sen ist. La la, der Salz­trog ist nicht der rech­te Ort für die­se Lip­pen, die so oft ge­küsst wur­den, und für die­sen Leib, an den so viel Lie­be ver­schwen­det wur­de.« Mer­ce­des hob den Kis­ten­de­ckel und warf einen lan­gen, zärt­li­chen Blick auf ih­ren Be­gräb­nis­staat. »Und des­halb will ich mir mein La­ger be­rei­ten, und bald wer­de ich dar­in ru­hen. Ein al­ter Phi­lo­soph hat ge­sagt: ›Wir wis­sen, dass wir ster­ben sol­len, aber wir glau­ben es nicht.‹ Aber alte Leu­te glau­ben es. Ich glau­be es.

Mein lie­bes Mä­del, den­ken Sie an die Salz­trö­ge und sei­en Sie mir nicht böse, weil ich mir eine gute Pro­vi­si­on be­rech­net habe. Es gibt nichts, das ich nicht tun wür­de, um den Salz­trö­gen zu ent­ge­hen – ich wür­de das letz­te Scherf­lein der Wit­we, die Bro­trin­de der Wai­se und den Spar­gro­schen ei­nes To­ten steh­len.«

»Glau­ben Sie an Gott?« frag­te Sa­xon plötz­lich, und trotz der Angst, die sie durch­schau­er­te, hielt sie sich tap­fer.

Mer­ce­des ließ den De­ckel fal­len und zuck­te die Ach­seln.

»Wer weiß? Ich wer­de weich ru­hen.«

»Und die Stra­fe?« frag­te Sa­xon.

»Un­mög­lich, mein Kind! Wie ein al­ter Dich­ter sagt: ›Gott ist ein bra­ver Bur­sche!‹ Gott brau­chen Sie nicht zu fürch­ten. Fürch­ten sie nur die Salz­trö­ge und al­les das, was Men­schen Ihrem schö­nen Kör­per an­tun kön­nen, wenn Sie tot sind.«

Bil­ly schi­en es fast, als gin­ge es ihm bald zu gut. Er hat­te das Ge­fühl, im Ver­hält­nis zu dem Lohn, den er ver­dien­te, zu wohl­ha­bend zu sein. Bei dem Geld, das im­mer auf die Spar­kas­se ge­bracht wur­de, bei der Mie­te und der Ab­zah­lung auf die Mö­bel, bei dem reich­li­chen Ta­schen­geld und der aus­ge­zeich­ne­ten Kost konn­te er nicht ver­ste­hen, wie Sa­xon sich noch das Ma­te­ri­al für all ihre fei­nen Din­ge an­schaf­fen konn­te. Er hat­te mehr­mals er­klärt, dass er nicht be­grei­fen könn­te, wie sie es mach­te, und je­des Mal hat­te Sa­xon ge­lacht, ein ge­heim­nis­vol­les La­chen, das ihn nur noch mehr ver­wirr­te.

»Ich ver­ste­he nicht, wie du das mit dem Geld ma­chen kannst«, sag­te er ei­nes Abends.

Er woll­te noch mehr sa­gen, be­herrsch­te sich aber und grü­bel­te fünf Mi­nu­ten lang mit ge­run­zel­ten Brau­en.

»Hör ein­mal«, sag­te er schließ­lich. »Was ist aus dem Mor­gen­häub­chen mit all den Spit­zen ge­wor­den, an dem du so flei­ßig ar­bei­te­test? Ich habe dich nie da­mit ge­se­hen, und für das Klei­ne war es doch zu groß.«

Sa­xon be­dach­te sich einen Au­gen­blick, wäh­rend sie ihn mit zu­sam­men­ge­press­ten Lip­pen und ei­nem neck­lus­ti­gen Aus­druck in den Au­gen an­sah. Es war ihr im­mer schwer ge­wor­den, eine Un­wahr­heit zu sa­gen, und Bil­ly ge­gen­über war es ihr ganz un­mög­lich. Sie konn­te se­hen, wie ein Sturm in den blau­en Au­gen auf­zog, und wie sein Ge­sicht gleich­sam er­starr­te, wie es im­mer tat, wenn er zor­nig wer­den woll­te.

»Sag mal, Sa­xon – du – du ver­kaufst doch wohl nicht dei­ne Ar­beit?«

Da er­zähl­te sie ihm al­les, auch von Mer­ce­des Higg­ins’ An­teil an dem Ge­schäft und von Mer­ce­des Higg­ins’ wun­der­ba­rem Be­gräb­nis­staat. Aber Bil­ly woll­te sich nicht vom Kern der Sa­che ab­len­ken las­sen. In Aus­drücken, die al­les eher als zwei­deu­tig wa­ren, ver­kün­de­te er Sa­xon, dass sie nicht für Geld ar­bei­ten durf­te.

»Aber ich habe doch so viel freie Zeit, lie­ber Bil­ly«, sag­te sie fle­hent­lich.

Er schüt­tel­te den Kopf.

»Nein, dar­aus wird nichts. Da­von will ich nichts hö­ren. Ich habe dich ge­hei­ra­tet, und ich wer­de auch schon für dich sor­gen. Nie­mand soll sa­gen, dass Bill Ro­berts’ Frau ar­bei­ten muss.«

»Ja, aber Bil­ly –«, be­gann sie wie­der.

»Nein, das ist das ein­zi­ge, was ich mir nicht ge­fal­len las­se, Sa­xon. Nicht, dass mir dei­ne Hand­ar­bei­ten nicht ge­fie­len, aber ich will sie an dir se­hen. Mach du nur wei­ter, was du willst, aber mach es für dich sel­ber – ich wer­de es schon be­zah­len. Sieh, ich pfei­fe den gan­zen Tag vor lau­ter Freu­de bei dem Ge­dan­ken an dich und den Jun­gen, und ich kann dich zu Hau­se all die hüb­schen Din­ge ar­bei­ten se­hen, weil ich weiß, wie glück­lich du bist, wenn du es tust. Aber, weiß Gott, Sa­xon, die gan­ze Freu­de wäre mir ver­dor­ben, wenn ich wüss­te, dass du es für Geld tä­test. Bill Ro­berts’ Frau braucht nicht zu ar­bei­ten.«

»Du bist so gut, Bil­ly«, flüs­ter­te sie und war trotz ih­rer Ent­täu­schung sehr glück­lich.

»Ich will, dass du al­les ha­ben sollst, wor­auf du Lust hast«, fuhr er fort. »Und du sollst es schon be­kom­men, so­lan­ge ich die­se bei­den Fäus­te habe. Ich weiß auch wohl, wie sehr mir die hüb­schen Sa­chen, die du trägst, ge­fal­len. Ich habe, ehe ich dich kann­te, man­ches ge­lernt, was ich bes­ser nicht ge­lernt hät­te. Aber ich weiß, wo­von ich rede, und ich habe nie eine Frau ge­se­hen, de­ren Wä­sche sich mit dei­ner mes­sen konn­te. Ach –«

Er hob ver­zwei­felt die Hän­de, als sei er nicht im­stan­de aus­zu­drücken, was er dach­te und fühl­te. Und dann ver­such­te er es wie­der:

»Es kommt nicht al­lein auf die Sau­ber­keit an, ob­gleich das schon viel be­deu­tet. Es gibt mas­sen­haft Frau­en, die sau­ber sind. Aber das ist es nicht. Es ist mehr und et­was ganz an­de­res. Es ist – nun ja, es ist so, wie es aus­sieht, so weiß und hübsch und le­cker, das setzt sich ei­nem im Kopf fest. Du kannst nach mei­nem Ge­schmack nicht zu viel hüb­sche Din­ge be­kom­men, und du kannst sie auch nicht zu hübsch be­kom­men.

Des­we­gen also, Sa­xon, mach nur wei­ter. Man kann mas­sen­haft Geld ver­die­nen, ganz kin­der­leicht. Bil­ly Mur­phy be­kam fünf­und­sieb­zig blan­ke Dol­lar – und das ist erst eine Wo­che her –, weil er den ›Stolz der Nord­küs­te‹ schlug. Von dem Geld hat er uns die fünf­zig zu­rück­be­zahlt.«

Aber dies­mal war es Sa­xon, die pro­tes­tier­te.

»Oder denk an Karl Hen­sen«, fuhr Bil­ly fort. »›Shar­key den Zwei­ten‹ nen­nen die Idio­ten, die Spor­tre­fe­ren­ten, ihn. Und er nennt sich selbst ›Cham­pi­on der Ma­ri­ne der Ve­rei­nig­ten Staa­ten‹. Nun, den habe ich mir jetzt an­ge­se­hen. Er ist ein rich­ti­ger Bär. Ich habe ihn kämp­fen se­hen, und ich kann ihm einen Schlaf­trunk ge­ben – ganz ein­fach. Der Se­kre­tär des Sport­klubs hat ver­spro­chen, einen Match zwi­schen uns zu ar­ran­gie­ren, und der Ge­win­ner ver­dient hun­dert blan­ke Dol­lar.«

»Wenn ich nicht für Geld ar­bei­ten darf, so darfst du auch nicht bo­xen«, lau­te­te Sa­x­ons Ul­ti­ma­tum, das sie je­doch gleich wie­der zu­rück­nahm. »Aber es soll nicht gleich und gleich zwi­schen uns bei­den hei­ßen. Und wenn du mich auch für Geld ar­bei­ten las­sen woll­test, so wür­de ich dir das Bo­xen doch nicht er­lau­ben. Und wenn du nicht boxt, dann wer­de ich auch nicht mehr für Geld ar­bei­ten – ja, das ist mei­ne Mei­nung. Und mehr noch – ich wer­de nie et­was tun, das du nicht ha­ben willst, Bil­ly.«

»Ein­ver­stan­den«, mein­te Bil­ly. »Aber ich möch­te doch ver­flucht gern ein ein­zi­ges Mal den Och­sen­schä­del Hen­sen ver­hau­en.« Er lä­chel­te ver­gnügt bei dem Ge­dan­ken. »Aber weißt du, lass uns jetzt al­les ver­ges­sen und spiel ›Wenn die Tage des Herbs­tes vor­bei‹ auf dem – ja, zum Teu­fel, wie nennst du doch das In­stru­ment?«

Sie sang das Lied, das er wünsch­te, zur Beglei­tung der Ukulélé, und als sie fer­tig war, schlug sie sein trau­ri­ges Lied »Die Kla­ge des Kuh­hir­ten« vor. So wun­der­bar und un­er­klär­lich sind die Wege der Lie­be, dass sie das ein­zi­ge Lied ih­res Man­nes lieb­ge­won­nen hat­te. Weil er es sang, hat­te sie die­ses sinn­lo­se, lang­wei­li­ge Geis­te­s­pro­dukt gern, am meis­ten aber, so schi­en es ihr, lieb­te sie sei­ne völ­lig hoff­nungs­lo­sen falschen Töne. Sie konn­te es so­gar mit ihm zu­sam­men sin­gen, eben­so gründ­lich und ent­zückend falsch wie er. Und sie er­schüt­ter­te ihn nicht in sei­nem groß­ar­ti­gen Glau­ben an sich.

»Ich fürch­te nur, dass Bert und alle an­de­ren mich ne­cken wer­den«, sag­te er.

»Ja, wir bei­de ma­chen das groß­ar­tig«, sag­te sie, in­dem sie die Wahr­heit vor­sich­tig um­ging. Denn in der­lei Din­gen hielt sie Un­wahr­heit nicht für eine Sün­de.

*

Im Lau­fe des Früh­lings kam der Ei­sen­bah­ner­streik. Am Sonn­tag, be­vor der Streik er­klärt wur­de, aßen Sa­xon und Bil­ly bei Bert. Sa­x­ons Bru­der war auch da, ohne Sa­rah, da er sie nicht dazu hat­te be­we­gen kön­nen, ihre Ta­ges­ar­beit so zu un­ter­bre­chen. Bert be­fand sich in sehr düs­te­rer, pes­si­mis­ti­scher Stim­mung.

Mary ging um­her und be­rei­te­te das Mit­ta­ges­sen mit ei­nem Ge­sicht, das deut­li­cher als Wor­te sag­te, dass sie sehr auf­rüh­re­risch ge­stimmt war, und Sa­xon krem­pel­te sich die Är­mel auf, band sich eine Schür­ze um und be­gann, die Früh­stück­stel­ler auf­zu­wa­schen. Bert hol­te eine Kan­ne schäu­men­des Bier aus der Wirt­schaft an der Ecke, und die drei Män­ner rauch­ten und un­ter­hiel­ten sich über den be­vor­ste­hen­den Streik.

»Er hät­te vor meh­re­ren Jah­ren kom­men sol­len«, er­klär­te Bert. »Je frü­her de­sto bes­ser, sage ich, aber jetzt ist es zu spät. Wir sind zu schlapp ge­wor­den, und jetzt krie­gen die letz­ten Mo­hi­ka­ner, was ih­nen gut tut, und das ge­ra­de auf den Deetz!«

»Ach, ich weiß nicht«, be­gann Tom ver­mit­telnd – er hat­te da­ge­s­es­sen und fei­er­lich sei­ne Pfei­fe ge­raucht. »Die Ar­bei­ter­or­ga­ni­sa­tio­nen wer­den mit je­dem Tage stär­ker. Ich er­in­ne­re mich noch der Zeit, als es in Ka­li­for­ni­en über­haupt kei­ne Ge­werk­schaf­ten gab. Und sieh nur jetzt – Löh­ne, fes­te Ar­beits­zeit und al­les.«

»Du re­dest wie ein Agi­ta­tor«, spot­te­te Bert, »von der Art, die den Idio­ten was er­zäh­len. Aber wir wis­sen bes­ser Be­scheid. Mit al­len Ge­werk­schaf­ten und Nor­mallöh­nen kön­nen wir für un­se­re Ar­beit nicht so viel be­kom­men wie in al­ten Ta­gen, als wir nicht or­ga­ni­siert wa­ren. Sie ha­ben uns in der Klem­me. Denk nur an San Fran­zis­ko – dort be­trei­ben die Ar­bei­ter­füh­rer eine noch dre­cki­ge­re Po­li­tik als die al­ten Par­tei­en, prü­geln sich um Trink­geld und las­sen sich be­ste­chen, wäh­rend – ja, was ma­chen die Zim­mer­leu­te in San Fran­zis­ko? Ich will dir et­was sa­gen, Tom Brown, wenn du dir al­les an­hörst, was ge­sagt wird, dann wirst du er­fah­ren, dass je­der Zim­mer­mann in San Fran­zis­ko Ge­werk­schaft­ler ist und vol­len Ge­werk­schaft­ler­lohn be­kommt. Glaubst du das? Es ist ver­fluch­te Lüge! Es gibt nicht einen Zim­mer­mann, der nicht je­den Sonn­abend dem Un­ter­neh­mer einen ge­wis­sen Pro­zent­satz von sei­nem Lohn ge­ben muss. Und die Füh­rer rei­sen für das Geld, das sie aus den Idio­ten her­aus­pres­sen, nach Eu­ro­pa, wenn sie es nicht an die Rechts­an­wäl­te hin­aus­schmei­ßen müs­sen, um nicht ein­ge­sperrt zu wer­den.«

»Ja, das ist sehr rich­tig«, gab Tom zu. »Nie­mand wird das leug­nen. Das Schlim­me ist, dass den Ar­bei­tern die Au­gen noch nicht ge­öff­net sind. Sie soll­ten sich selbst­ver­ständ­lich mehr um Po­li­tik küm­mern, aber es muss die rich­ti­ge Po­li­tik sein.«

»Man muss wirk­lich ehr­li­che Män­ner fin­den«, sag­te Bil­ly. »Das ist das gan­ze Un­glück. – Nicht, dass ich auf den So­zia­lis­mus hiel­te, denn das tue ich nicht. Alle un­se­re Vor­fah­ren ha­ben seit lan­ger Zeit in Ame­ri­ka ge­lebt, und was mich be­trifft, so will ich mir nicht ge­fal­len las­sen, dass eine Her­de fet­ter Deut­scher oder schmut­zi­ger rus­si­scher Ju­den mir er­zäh­len soll, wie ich mein Land re­gie­ren soll, wenn sie nicht ein­mal mei­ne Spra­che rich­tig spre­chen kön­nen.«

»Dein Land!« rief Bert. »Aber, du Esel, du hast ja gar kein Land. Das ist ja nur et­was, das die Leu­te, die von Be­ste­chung le­ben, dir er­zäh­len, so­oft sie dich noch mehr plün­dern wol­len.«

 

»Aber dann dür­fen wir nicht mehr für die Män­ner stim­men, die von Be­ste­chung le­ben«, er­ei­fer­te Bil­ly sich. »Wenn wir ehr­li­che Män­ner wähl­ten, wür­den sie auch ehr­lich ge­gen uns sein.«

»Ich wünsch­te, du kämest manch­mal zu un­sern Ver­samm­lun­gen, Bil­ly«, sag­te Tom ernst. »Wenn du das tä­test, wür­den dir die Au­gen ge­öff­net wer­den, und du wür­dest bei der nächs­ten Wahl für die So­zia­lis­ten stim­men.«

»Nein, das tue ich nicht, dar­auf kannst du Gift neh­men«, er­klär­te Bil­ly. »Ich lau­fe nicht zu So­zia­lis­ten­ver­samm­lun­gen, ehe sie ge­lernt ha­ben, wie wei­ße Män­ner zu re­den.«

Bert summ­te:

»Wir le­ben in ei­ner ko­mi­schen Zeit,

In der der Dol­lar rollt.«

Mary war zu zor­nig auf ih­ren Mann we­gen des Streiks und sei­ner ket­ze­ri­schen Be­mer­kun­gen, um sich wei­ter mit Sa­xon zu un­ter­hal­ten, die des­halb dar­auf an­ge­wie­sen war, der Dis­kus­si­on der Män­ner zu­zu­hö­ren.

»Aber wo soll das al­les en­den?« frag­te sie mit ei­ner Un­be­sorgt­heit, wel­che die Angst in ih­rem Her­zen ver­de­cken soll­te.

»En­den?« knurr­te Bert. »Es ist ja schon vor­bei.«

»Aber Fleisch und Pe­tro­le­um sind schon wie­der ge­stie­gen«, sag­te sie em­pört. »Und Bil­lys Lohn ist her­ab­ge­setzt und der Lohn der Ei­sen­bah­ner auch vo­ri­ges Jahr. Es muss et­was ge­sche­hen.«

»Es ist nichts zu tun, als wie der Teu­fel zu kämp­fen«, ant­wor­te­te Bert. »Kämp­fen und kämp­fend un­ter­ge­hen. Das ist al­les. Wie es auch ge­hen mag, wir sind er­le­digt, aber wir wol­len doch we­nigs­tens ein biss­chen Ver­gnü­gen da­von ha­ben.«

»So darf man nicht re­den«, sag­te Tom vor­wurfs­voll.

»Die Zeit, da Re­den einen Zweck hat­te, ist über­haupt vor­bei, al­ter Wet­ter­hahn. Jetzt heißt es kämp­fen.«

»Ja, und du hät­test große Aus­sich­ten ge­gen re­gu­lä­re Trup­pen und Ma­schi­nen­ge­weh­re«, ant­wor­te­te Bil­ly.

»Ach, ich mei­ne nicht so. Es gibt et­was wie schmie­ri­ge Stö­cke, die mit großem Lärm in die Luft flie­gen und Lö­cher ma­chen. Es gibt et­was, das Schmir­gel heißt –«

»Ach so«, fiel Mary ihm ins Wort, die Hän­de in die Hüf­ten ge­stemmt. »So, das ist die Mei­nung. Dazu soll­te der Schmir­gel in dei­ner Wes­ten­ta­sche also ge­braucht wer­den?«

Ihr Mann igno­rier­te sie. Tom rauch­te sei­ne Pfei­fe mit be­sorg­tem Aus­druck. Bil­ly war sehr pein­lich be­rührt. Das konn­te man ihm an­se­hen.

»Das machst du doch nicht mit, Bert?« frag­te er, und aus die­ser Fra­ge ging deut­lich her­vor, dass er ein Nein von sei­nem Freund er­war­te­te.

»Na­tür­lich ma­che ich mit, wenn du es durch­aus wis­sen willst. Ich möch­te sie in der Höl­le se­hen, wenn ich könn­te – ja, die gan­ze Ban­de, ehe ich ab­haue.«

»Er ist der rich­ti­ge, blut­dürs­ti­ge An­ar­chist«, klag­te Mary. »Leu­te wie er sind es, die McKin­ley und Gar­field er­mor­det ha­ben. Er wird noch ge­hängt wer­den. Ja, ihr wer­det schon se­hen, dass ich recht be­kom­me.«

»Es ist sein ge­wöhn­li­cher Un­sinn«, trös­te­te Bil­ly sie.

»Er will dich nur ne­cken«, sag­te Sa­xon be­ru­hi­gend. »Er neckt im­mer so gern.«

Aber Mary schüt­tel­te den Kopf.

»Ich weiß es. Ich höre ihn im Schla­fe re­den. Er flucht und zieht vom Le­der, dass es ganz schreck­lich ist, und knirscht mit den Zäh­nen.«

Tom sag­te et­was von Ver­nunft und Ge­rech­tig­keit, und Bert wand­te sich ge­gen ihn.

»Ge­rech­tig­keit, sagst du, Ge­rech­tig­keit? Ja, das ist auch so ein ver­fluch­tes Hirn­ge­spinst. Soll ich dir zei­gen, wel­che Ge­rech­tig­keit es für die ar­bei­ten­de Klas­se gibt? Erin­nert ihr euch an For­bes – J. Al­li­ston For­bes, der das Alta-Ka­li­for­nia-Ver­wal­tungs­in­sti­tut rui­nier­te und zwei Mil­lio­nen in sei­ne ei­ge­ne Ta­sche steck­te? Ges­tern sah ich ihn in ei­nem großen Auto, das ge­ra­des­wegs in die Höl­le fuhr. Was hat er be­kom­men? Acht Jah­re. Wie lan­ge hat er ge­ses­sen? Nicht ein­mal zwei. Ihm wur­de die Stra­fe er­las­sen – aus Ge­sund­heits­rück­sich­ten. Ge­sund­heits­rück­sich­ten – ich will ihn ge­hängt se­hen! Wir sind alle tot und ver­fault, ehe er ab­fährt. Da! Seht aus dem Fens­ter! Könnt ihr die Rück­sei­te des Hau­ses se­hen, wo das Ge­län­der zer­bro­chen ist? Dort wohnt Dana­kers Wit­we. Sie wäscht für an­de­re. Ihr Mann wur­de im Dienst der Ei­sen­bahn ge­tö­tet. Nicht einen Gro­schen Scha­den­er­satz – Un­vor­sich­tig­keit, Nach­läs­sig­keit oder sonst ein Quatsch. Das krieg­te sie bei den Ge­rich­ten her­aus. Ihr Jun­ge, Archie, war sech­zehn Jah­re alt. Er war ein rich­ti­ger klei­ner Va­ga­bund. Er brach in Fres­no ein, und ein Be­trun­ke­ner kam da­bei um. Wollt ihr wis­sen, wie viel er er­wi­sch­te? Zwei Dol­lar und acht­zig Cent. Habt ihr ver­stan­den – zwei Dol­lar – und – acht­zig Cent. Und was ver­setz­ten die Rich­ter ihm? Fünf­zig Jah­re. Er ist jetzt schon seit acht Jah­ren in San Quen­tin. Und dort bleibt er, bis er kre­piert. Sei­ne Mut­ter sagt, dass er Tu­ber­keln hat – die hat er im Ge­fäng­nis ge­kriegt. Aber nie­mand ver­schafft ihm die Frei­heit. Ein Kerl wie Archie stiehlt ei­nem Be­trun­ke­nen zwei Dol­lar und acht­zig Cent und kriegt fünf­zig Jah­re da­für. J. Al­li­ston For­bes be­schwin­delt die Alta um zwei Mil­lio­nen und kriegt nicht ein­mal zwei Jah­re. Wem ge­hört das Land nun, wenn ich fra­gen darf? Euch und Archie? Nein, euch weiß Gott nicht! J. Al­li­ston For­bes –«

Mary, die an die Auf­wasch trat, wo Sa­xon ge­ra­de den letz­ten Tel­ler ge­wa­schen hat­te, band ihr die Schür­ze ab und küss­te sie mit dem Mit­ge­fühl, das nur Frau­en für­ein­an­der he­gen, wenn eine von ih­nen bald Mut­ter sein soll.

»Na, setz dich, Kind. Du darfst dich nicht so er­mü­den – es ist noch lan­ge bis da­hin. Jetzt hol ich dir dein Näh­zeug, und dann kannst du auf das Ge­schwätz der Män­ner hö­ren. Aber höre nicht auf Bert. Er ist ganz ver­rückt.«

Sa­xon näh­te und hör­te zu, und Berts Ge­sicht wur­de fins­ter und bit­ter, als er das Kin­der­zeug sah, das sie auf dem Schoß hielt.

»Ja, so ist es!« rief er plötz­lich. »Kin­der in die Welt set­zen, das könnt ihr, aber ihr habt nicht die ge­rings­te Ge­währ da­für, dass ihr sie er­näh­ren könnt.«

»Du hast heu­te wohl or­dent­lich ein­ge­heizt?« lach­te Tom.

Bert schüt­tel­te den Kopf.

»Nun ja«, sag­te Bil­ly. »Was hilft es, sich die Lau­ne zu ver­der­ben? Es ist doch sonst ein sehr bra­ves Land.«

»Es war ein sehr bra­ves Land«, ant­wor­te­te Bert, »als wir alle noch Mo­hi­ka­ner wa­ren. Aber jetzt nicht mehr. Wir sind be­tro­gen. Wir sind in eine Ecke ge­drängt. Wir ha­ben un­se­re Ohr­fei­gen ab­ge­kriegt und sind raus­ge­schmis­sen. Mei­ne Vor­fah­ren ha­ben für die­ses Land ge­kämpft, das ha­ben eure auch, alle. Wir ga­ben den Ne­gern die Frei­heit, tö­te­ten die In­dia­ner, hun­ger­ten, fro­ren und schwitz­ten und kämpf­ten. Das Land hier ge­fiel uns. Wir ro­de­ten es und be­bau­ten es, leg­ten Wege an und bau­ten Städ­te. Und es gab mehr als ge­nug für uns alle. Und wir schlu­gen uns wei­ter da­für. Ich hat­te zwei On­kel, die bei Get­tys­burg ge­tö­tet wur­den. Aber alle un­se­re Vor­fah­ren hat­ten Bau­ern­hö­fe, Pfer­de und Vieh, auch Ma­rys –«

»Und sie hät­ten klug dar­an ge­tan, es fest­zu­hal­ten«, warf sie ein.

»Ja, das ist si­cher«, fuhr Bert fort. »Das ist es eben. Wir sind aus­ge­plün­dert. Wir konn­ten nicht mit falschen Kar­ten spie­len wie die an­de­ren. Wir sind die Wei­ßen, die um die Ecke ge­gan­gen sind. Seht ihr, die Zei­ten ha­ben sich ge­än­dert. Und es gab zwei­er­lei Men­schen – Lö­wen und Mäh­ren. Die Mäh­ren ra­cker­ten sich ab, und die Lö­wen fra­ßen. Sie fra­ßen die Far­mer, die Mi­nen, die Fa­bri­ken, und jetzt ha­ben sie auch die Re­gie­rung ge­fres­sen. Wir sind ge­schun­den. Ver­steht ihr?«