»Und was meinst du dazu?«
»Oh, ich weiß nicht«, warf sie leicht hin, begegnete aber seinem Blick mit einem neuen trägen Lächeln. »Ich weiß nur, dass es gut ist, einen Tag wie diesen zu erleben.«
»Mit einer Ausfahrt wie heute – ja, da hast du recht«, fügte er schnell hinzu.
*
Um ein Uhr bog Billy von der Landstraße ab und fuhr in eine Lichtung unter den Bäumen. »Hier essen wir«, verkündete er. »Ich dachte, es wäre besser, selbst das Frühstück zu machen, als in einem Wirtshaus an der Landstraße zu essen. Und jetzt will ich die Pferde abschirren. Wir haben massenhaft Zeit. Wir können den Frühstückskorb auspacken.«
Als Saxon den Korb ausgepackt hatte, war sie über seine Verschwendung entsetzt. Sie holte ein verblüffendes Arsenal von Butterbroten mit Schinken, Krabbensalat, hartgekochte Eier, Schweinsfüße in Gelee, reife Oliven, Essiggurken in Dill, Schweizerkäse, Salzmandeln, Apfelsinen, Ananas und mehrere Flaschen Bier hervor. Nicht allein die Menge verblüffte sie, sondern auch die Vielfältigkeit. Es machte auf sie den Eindruck, als hätte er kühn versucht, ein ganzes Delikatessengeschäft aufzukaufen.
»Es war doch nicht nötig, soviel zu kaufen«, sagte sie, als sie sich neben ihn gesetzt hatte. »Das ist ja genug für ein Dutzend Maurer.«
»Aber es ist gut, nicht wahr?« fragte er.
»Ja«, gab sie zu. »Nur zu viel.«
»Dann ist es also richtig«, entschied er. »Ich habe immer gern alles reichlich. Lass uns mit einem Schluck Bier den Staub aus dem Hals spülen, ehe wir uns ans Essen machen. Sei vorsichtig mit den Gläsern. Ich muss sie zurückgeben.«
Als sie mit dem Essen fertig waren, legte er sich auf den Rücken, rauchte eine Zigarette und fragte sie nach ihrer Vergangenheit aus. Sie hatte ihm gerade von ihrem Leben im Hause ihres Bruders erzählt, wo sie viereinhalb Dollar wöchentlich bezahlte. Mit fünfzehn Jahren hatte sie die Gemeindeschule verlassen und dann Arbeit in der Jutefabrik für vier Dollar wöchentlich gefunden, von denen sie Sarah drei bezahlte.
»Aber dieser Gastwirt?« fragte Billy. »Wie ging es zu, dass er dich zu sich nahm?«
Sie zuckte die Achseln. »Ich weiß es eigentlich nicht – vielleicht, weil es der Familie schlecht ging. Sie schienen nicht weiterkommen zu können. Sie konnten sich gerade durchschlagen, aber mehr auch nicht. Cady – der Gastwirt – hatte in der Kompagnie meines Vaters gestanden, und er schwor auf Kapitän Kit, das war der Spitzname meines Vaters. Mein Vater hatte die Ärzte verhindert, ihm das Bein zu amputieren, und das vergaß er ihm nie. Er verdiente viel Geld mit seinem Hotel und seiner Wirtschaft, und später erfuhr ich, dass er geholfen hatte, die Ärzterechnungen für meine Mutter und ihre Beisetzung neben meinem Vater zu bezahlen. Ich hätte eigentlich bei Onkel Will leben sollen – das war der Wunsch meiner Mutter; aber es hatte Unruhen in den Venturabergen gegeben, wo er eine Viehranch hatte, und einige Männer waren getötet worden. Es war etwas mit der Markscheide, Viehhürden oder dergleichen, und wie es nun zuging, jedenfalls kam er ins Gefängnis und saß lange, und als er herauskam, hatten die Rechtsanwälte ihm seine Farm genommen. Er war damals schon alt und gebrochen, seine Frau wurde krank, und er bekam eine Stellung als Nachtwächter für vierzig Dollar den Monat. Er konnte also nichts für mich tun, und so nahm Cady mich zu sich.
Cady war ein guter Mann, wenn er auch nur Gastwirt war. Seine Frau war groß und hübsch, und ich glaube, sie war nicht, wie sie sein sollte – das habe ich später gehört. Aber zu mir war sie gut. Als er starb, ging sie ganz vor die Hunde, und dann kam ich ins Waisenhaus. Da war es nicht gerade angenehm, und ich war drei Jahre lang dort. Dann aber hatte Tom sich verheiratet und feste Arbeit bekommen, und er nahm mich heraus, und seitdem habe ich stets für mein tägliches Brot arbeiten müssen.«
Sie sah traurig über die Felder hinaus, bis ihr Blick auf einem Gatter haften blieb, an dem flammender Mohn wuchs. Billy, der auf dem Rücken gelegen, zu ihr aufgesehen und seinen Blick mit Wohlbehagen auf dem feinen Oval des schmalen Mädchenantlitzes hatte ruhen lassen, streckte jetzt langsam die Hand aus und murmelte: »Armes Tierchen.«
Seine Hand schloss sich im innigen Mitgefühl um ihren rechten Unterarm, und als ihr Blick den seinen suchte, las sie sowohl Überraschung wie Freude darin.
»Nein«, sagte er, »wie kühl deine Haut ist. Fühl mich an, ich bin immer warm. Fühl meine Hand an.«
Die Hand war warm und feucht, und jetzt bemerkte sie auch winzige Schweißperlen auf seiner Stirn und seiner glattrasierten Oberlippe.
»Aber, Lieber, du bist ja ganz verschwitzt.«
Sie beugte sich über ihn und wischte ihm mit ihrem Taschentuch Stirn und Lippen und dann die Handflächen ab.
»Ich atme durch die Haut, glaube ich«, erklärte er. »Die klugen Leute auf dem Trainingsplatz und in den Turnsälen sagen, dass das gute Gesundheit bedeutet. Aber augenblicklich schwitze ich doch mehr als gewöhnlich. Komisch, nicht wahr?«
Um ihm den Schweiß von der Stirn zu wischen, hatte sie ihren Arm freimachen müssen; als sie aber fertig war, nahm er ihn wieder.
»Aber wie kühl doch deine Haut ist«, wiederholte er mit derselben Bewunderung als früher. »Und so weich wie Samt und so glatt wie Seide anzufühlen.«
Sanft und untersuchend ließ er seine Hand von ihrem Handgelenk bis zum Ellbogen und wieder zurück gleiten. Der lange Vormittag im Sonnenschein hatte sie müde und schläfrig gemacht; sie gab sich dem Wohlbehagen hin, das sie bei dieser Berührung fühlte, und ertappte sich dabei, wie sie sich halb träumend sagte, dass hier der Mann war, den sie lieben konnte, ihn, seine Hände und seinen ganzen Körper.
Sanft ließ er seine Hand ihren Arm hinaufgleiten, und während sie auf seine Lippen sah, dachte sie an das bange Beben, das sie bei ihrer ersten Begegnung gefühlt hatte.
»Sprich weiter«, fuhr er nach etwa fünf Minuten seligen Schweigens fort. »Ich sehe so gern deine Lippen, wenn du sprichst. Es ist merkwürdig, aber jede Bewegung, die du machst, ist wie ein kleiner Kuss.«
»Wenn ich etwas sage, so weiß ich nicht, ob es dir gefallen wird.«
»Nur los«, drang er in sie. »Du kannst nichts sagen, was mir nicht gefiele.«
»Nun ja, drüben an der Hecke steht Mohn, den ich gern pflücken möchte.«
»Ich lasse dich gleich los«, lachte er. »Aber ich will dir etwas sagen – du musst ›Wenn die Tage des Herbstes vorbei‹ singen und mich dabei den anderen deiner kühlen Arme halten lassen, und dann fahren wir.«
Als sie das Lied gesungen hatte, befreite sie ihren Arm und erhob sich.
Die Sonne ging schon unter, als sie in einem großen Bogen nach Osten und Süden die Wasserscheide der Contra-Costa-Berge erreichten und den langen Hügel, der an Redwood Peak vorbei nach Fruitvale führte, hinabzufahren begannen. Unter ihnen glitt die flache Küste in die Bucht hinaus, wie ein Schachbrett in Felder und Städte eingeteilt – Elmhurst, San Leandro und Haywards. Der Rauch von Oakland verschleierte den westlichen Horizont wie ein dunkler Nebel, und auf der anderen Seite der Bucht sahen sie San Franzisko.
Die Dunkelheit senkte sich auf sie herab, und Billy war so merkwürdig schweigsam. In der letzten halben Stunde hatte er anscheinend ihre Existenz ganz vergessen, nur dass er einmal sie und sich zum Schutz gegen den kalten Abendwind fester in die Decke wickelte. Saxon saß eng neben ihm. Die Wärme ihrer Körper vermischte sich, und ein inniges Gefühl von Ruhe und Freude überkam sie.
»Hör mal, Saxon«, begann er plötzlich. »Es hat keinen Zweck, dass ich länger schweige. Ich hab es den ganzen Tag auf den Lippen gehabt – seit dem Frühstück. Was meinst du dazu, mich zu heiraten?«
Sie wusste – und es war Sicherheit und Freude in dem Gefühl –, dass es sein Ernst war. Instinktiv aber fühlte sie den Drang, ihn zurückzuhalten, ihn ein wenig zu quälen, sich kostbar und dadurch noch begehrenswerter zu machen, ehe sie nachgab. Außerdem waren ihr Feingefühl und ihr weiblicher Stolz ein wenig verletzt. Billys Draufgängertum war beinahe abstoßend. Aber doch sehnte sie sich wieder schrecklich nach ihm – wie sehr, wusste sie erst jetzt.
»Nun, so sag doch etwas, Saxon. Lass es mich wissen, gut oder böse. Aber lass es mich wissen. Und noch eins. Denk daran, dass ich dich liebe. Bei Gott, ich liebe dich ganz wahnsinnig, Saxon. Natürlich, das muss ich ja, wenn ich dich frage, ob du mich heiraten willst; denn das habe ich noch nie ein Mädchen gefragt.«
Wieder trat Schweigen ein, und Saxon fühlte, wie ihre Gedanken um den warmen, zitternden Körper unter der Decke zu kreisen begannen. Als sie merkte, wo diese Gedanken sie hinführen wollten, wurde sie in der Dunkelheit glühend rot.
»Wie alt bist du, Billy?« fragte sie so unerwartet, dass er jetzt ebenso verblüfft war, wie sie bei seinen ersten Worten gewesen.
»Zweiundzwanzig«, antwortete er.
»Ich bin vierundzwanzig.«
»Als ob ich das nicht wüsste! Wenn ich weiß, wie alt du warst, als du das Waisenhaus verließest, und wie lange du in der Jutefabrik, in der Konservenfabrik, in der Kartonagenfabrik und in der Plätterei arbeitetest, glaubst du, ich könnte das nicht zusammenrechnen? Ich wusste dein Alter bis auf deinen Geburtstag genau.«
»Das ändert nichts an der Tatsache, dass ich zwei Jahre älter bin.«
»Und wenn schon? Wenn das etwas zu bedeuten hätte, so würde ich dich nicht lieben, nicht wahr? Deine Mutter hatte recht. Liebe ist alles. Nur darauf kommt es an. Kannst du das nicht einsehen? Ich liebe dich, und ich muss dich haben. Das ist doch so natürlich, sollte ich meinen. Es gibt keine andere Möglichkeit, Saxon, ich muss dich haben, und Gott weiß, mein innigster Wunsch ist, dass auch du mich haben möchtest. Mag sein, dass meine Hände nicht so weich sind wie die des Buchhalters und die des Kommis, aber sie können für dich arbeiten und sich für dich schlagen wie der Teufel, und, Saxon, sie können dich lieben.«
Der instinktive Trieb, sich zu wehren, den sie bisher stets Männern gegenüber gefühlt hatte, schien diesmal verschwunden zu sein. Dies war kein Kampf. Es war, worauf sie gewartet, wovon sie geträumt hatte. Billy gegenüber war sie wehrlos. Sie konnte ihm nichts abschlagen. Und aus diesem großen Gefühl erwuchs ein anderes, das noch größer war – er war nicht so.
Sie sagte nichts. Aber während ihr eine Flamme durch Leib und Seele schoss, legte sie ihre Hand auf seine Linke und versuchte, sie von den Zügeln fortzuziehen. Er verstand das nicht; als sie aber nicht losließ, legte er die Zügel in die rechte Hand und ließ ihr mit der anderen ihren Willen. Sie beugte sich darüber und küsste die harte Haut in seiner Kutscherfaust.
Einen Augenblick saß er wie vom Himmel gefallen da. »Ist das wahr?« stammelte er.
Statt zu antworten, küsste sie zum zweiten Mal seine Hand und murmelte:
»Ich liebe deine Hände, Billy. In meinen Augen sind es die schönsten Hände der Welt, und ich brauchte viele Stunden, um dir alles zu sagen, was sie mir bedeuten.«
»Prrr!« sagte er zu den Pferden.
Er brachte sie zum Stehen, sprach ihnen beruhigend zu und befestigte die Zügel am Peitschenstiel. Dann wandte er sich zu ihr, umschlang sie mit den Armen und drückte seine Lippen auf die ihren.
»Ach, Billy, ich will dir eine gute Frau sein«, schluchzte sie, als er sie losließ.
Er küsste ihre nassen Augen und fand ihre Lippen wieder.
»Jetzt weißt du, woran ich dachte, und warum ich so schwitzte beim Lunch. Ich konnte es nicht länger aushalten, ich musste es dir sagen. Du weißt ja, dass du mir vom ersten Augenblick an gefielst.«
»Und ich glaube, ich habe dich auch vom ersten Tage an geliebt, Billy. Ich war den ganzen Tag so stolz auf dich, denn du warst so gut, rücksichtsvoll und so stark, und alle Männer hatten solchen Respekt vor dir, und die Mädchen waren in dich verliebt. Einen Mann, auf den ich nicht stolz wäre, könnte ich weder lieben noch heiraten. Und ich bin so stolz auf dich, ach, so stolz.«
»Nicht halb so stolz, wie ich es selber jetzt auf mich bin«, antwortete er, »und zwar, weil ich dich gewonnen habe. Das ist alles zu schön, um wahr zu sein, und in zwei Minuten wird vielleicht der Wecker rasseln und mich wecken. Nun, selbst wenn es so ist, so will ich doch jedenfalls so viel wie möglich von diesen beiden Minuten haben.«
Er schloss sie in seine Arme und presste sie so an sich, dass es fast schmerzte. Nach einer kleinen Weile, die für sie wie eine ewige Seligkeit war, ließ er sie los, und es war, als müsste er sich gewaltsam hierzu aufraffen.
»Und noch hat die Uhr nicht geweckt«, flüsterte er an ihrer Wange. »Und es ist dunkle Nacht, und dort vor uns liegt Fruitvale und stehen King und Prince mitten auf dem Wege. Ich kann dich nicht loslassen, und wir haben noch ein Stück zu fahren. Gift und Galle, aber wir müssen weiter.«
Er ließ sie ganz los, stopfte die Decke um sie fest und gab den ungeduldigen Pferden einen kleinen Schmitz mit der Peitsche.
Eine halbe Stunde später sagte er: »Prrr!«
»Jetzt weiß ich, dass ich wach bin, aber ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich all das andere nicht geträumt habe, und ich muss meiner Sache sicher sein.«
Und wieder machte er die Zügel fest und schloss sie in seine Arme.
*
Die Tage vergingen Saxon im Fluge. Sie arbeitete wie gewöhnlich in der Plätterei und leistete sogar noch mehr Überarbeit als sonst, aber jede Stunde, die sie frei hatte, war den Vorbereitungen zu der großen Veränderung und – Billy gewidmet. Als allsiegender Liebender von Gottes Gnaden hatte er bestimmt verlangt, dass sie schon am Tage nach dem Antrag ihre Hochzeit feiern sollten, und mehr als eine Woche Aufschub weigerte er sich kategorisch zu bewilligen.
»Warum sollten wir warten?« fragte er. »Wir werden nicht jünger, und denk an alles, was wir uns mit jedem Tage, den wir warten, entgehen lassen.«
Zuletzt gab er sich mit einem Monat zufrieden, und das war ein Glück, denn vierzehn Tage darauf wurde er mit einem Dutzend anderer Kutscher nach den großen Ställen von Corberly & Morrison in West-Oakland versetzt. Damit erübrigte sich alles Wohnungssuchen am anderen Ende der Stadt, und sie wählten die Pine Street in unmittelbarer Nähe von den Werkstätten der Süd-Pazifik-Bahn, wo Billy und Saxon ein hübsches Häuschen mit vier kleinen Zimmern für zehn Dollar monatlich mieteten.
»Das nenne ich geschenkt, wenn ich daran denke, wie ich für die Löcher, in denen ich bisher wohnte, bluten musste«, erklärte Billy. »Für das zum Beispiel, das ich zur Zeit bewohne – es ist nicht einmal so groß wie das kleinste von diesen – bezahle ich sechs Dollar monatlich.«
»Aber es ist möbliert«, wandte Saxon ein. »Das ist der Unterschied. Verstehst du?«
Aber das verstand Billy nicht.
»Mit meiner Gelehrsamkeit ist es nicht weit her, Saxon. Aber ein einfaches Rechenexempel kann ich doch lösen. Es ist schon vorgekommen, dass ich meine Uhr versetzen musste, wenn ich in der Klemme war, und ich weiß, was Zinsen sind. Wie viel, meinst du, wird es kosten, das Haus hier zu möblieren, mit Teppichen auf dem Fußboden, Linoleum in der Küche und allem anderen?«
»Für dreihundert Dollar können wir es wirklich hübsch machen«, antwortete sie. »Ich habe darüber nachgedacht und glaube bestimmt, dass es dafür zu machen ist.«
»Dreihundert«, murmelte er und runzelte die Stirn vor lauter Eifer. »Dreihundert, sagen wir, zu sechs Prozent. Das macht sechs Cent auf einen Dollar, sechzig Cent auf zehn Dollar, sechs Dollar auf hundert Dollar. Kannst du sehen, dass ich fabelhaft mit zehn multiplizieren kann? Jetzt achtzehn durch zwölf, das macht einen Dollar fünfzig monatlich.« Er hielt inne, zufrieden, dass er seine Behauptung bewiesen hatte. Dann fiel ihm etwas anderes ein. »Ho! Wir sind noch nicht fertig. Was machen die Zinsen, wenn man vier Zimmer möbliert. Also – was macht ein Dollar fünfzig durch vier?«
»Fünfzehn durch vier – drei und drei im Kopf«, begann Saxon mit großer Zungenfertigkeit. »Dreißig durch vier sind sieben, achtundzwanzig, zwei im Kopf, und zwei Viertel ist ein halb. Da hast du’s.«
»Na ja, du scheinst es auch zu können.« Er besann sich einen Augenblick. »Ich bin nicht mitgekommen. Wie viel, sagst du, macht es?«
»Siebenunddreißigeinhalb Cent.«
»Schön. Lass uns jetzt sehen, wie viel man mir für mein eines Zimmer abgenommen hat. Zehn Dollar monatlich für vier Zimmer macht zweieinhalb für eines. Dazu siebenunddreißigeinhalb Cent für die Möbel, macht zwei Dollar und siebenundachtzigeinhalb Cent, abgezogen von sechs Dollar – –«
»Drei Dollar und zwölfeinhalb Cent«, warf sie hastig ein.
»Richtig! Um drei Dollar und zwölfeinhalb Cent werde ich also für das Zimmer, in dem ich wohne, betrogen. Da siehst du es! Es ist direkt eine Ersparnis, wenn man heiratet. Nicht wahr?«
»Aber die Möbel werden abgenutzt, Billy.«
»Ja, Teufel auch, daran dachte ich nicht. Das muss man selbstverständlich mitrechnen. Na, was denn! Es ist nun doch rein geschenkt, und Sonnabend musst du sehen, dass du früh in der Plätterei fertig wirst, damit wir die Ausstattung kaufen können. Ich war gestern Abend bei Salingers. Ich soll fünfzig anzahlen und den Rest mit zehn Dollar monatlich abtragen. Fünfundzwanzig Monate, dann gehört alles uns. Und vergiss nicht, Saxon, nimm und kauf alles, wozu du Lust hast – einerlei, was es kostet. Keine Knauserei, wenn es für dich und mich ist. Verstehst du?«
Sie nickte, und nichts in ihrem Gesicht verriet die Unzahl von Ersparnissen, die sie zu machen gedachte. Ein feuchter Glanz trat in ihre Augen.
»Du bist so gut zu mir, Billy«, murmelte sie und trat zu ihm, und seine Arme waren gleich bereit, sie zu empfangen.
»Also hast du es doch getan«, meinte Mary eines Morgens in der Wäscherei. Sie hatten noch keine zehn Minuten gearbeitet, als ihre Augen auch schon den Topasring am Ringfinger von Saxons linker Hand gesehen hatten. »Wer ist der Glückliche? Charley Long oder Billy Roberts?«
»Billy«, lautete die Antwort.
»Huh! Du willst also einen jungen Menschen haben, den du dir erziehen kannst?«
Saxons Gesicht zeigte deutlich, dass die boshafte Bemerkung getroffen hatte, und Mary bereute sie sofort.
»Kannst du keinen Spaß verstehen. Ich freue mich schrecklich. Billy ist ein fabelhafter Mann, und ich freue mich, dass er dich haben soll. Ihr seid wie für einander geschaffen, und du wirst eine bessere Frau für ihn sein als jede, die ich kenne. Wann steigt es?«
Ein paar Tage darauf traf Saxon Charley Long auf dem Heimweg von der Plätterei. Er versperrte ihr den Weg und begann, mit ihr zu reden.
»So, du gehst also mit einem Boxer?« knurrte er. »Wo das hinführt, kann man ja mit einem halben Auge sehen.«
Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte Saxon keine Furcht vor diesem schwergliedrigen dunklen Mann mit den schwarzen Brauen und den behaarten Händen und Fingern. Sie hob ihre linke Hand.
»Sieh her! Den konntest du mir nicht an den Finger stecken, so groß und stark du auch bist. Aber Billy Roberts konnte es – und das in weniger als einer Woche. Er hat dich besiegt, Charley Long, und mich obendrein. Er ist nicht so einer wie du. Er ist durch und durch ein Mann – ein feiner Mann mit einem reinen Leben.«
Long lachte heiser.
»Ich könnte dir vielleicht etwas anderes von ihm erzählen. Offen gesagt, Saxon, er ist nicht der, für den er sich ausgibt. Wenn ich erzählen wollte, was ich weiß –«
»Geh lieber«, unterbrach sie ihn, »sonst sage ich es ihm wieder, und du weißt, was es dann setzt, du großer Lümmel.«
Long verzog sich unwillig mit widerstrebenden, schleppenden Schritten.
»Ja, du bist gefährlich«, sagte er halb bewundernd.
»Das ist Billy Roberts auch«, lachte sie und ging weiter. Als sie ein Dutzend Schritte gegangen war, blieb sie stehen. »He!« rief sie.
Der große Mann machte sofort kehrt.
»An der Ecke«, sagte sie, »sah ich einen Mann mit einem Hüftschaden. Den solltest du niederschlagen.«
Eine einzige Ausschweifung erlaubte sich Saxon in ihrer kurzen Verlobungszeit. Sie opferte einen ganzen Tageslohn auf ein halbes Dutzend Kabinettfotografien von sich. Billy hatte erklärt, dass er nicht leben könnte ohne ein Bild von ihr, das er ansehen könnte, ehe er zu Bett ginge und sobald er des Morgens aufstände. Dafür war ihr Spiegel mit zwei Fotografien von ihm geschmückt, einer im Werktagszeug und einer im Boxertrikot. Während sie die letztere ansah, fiel ihr die Geschichte ein, die ihre herrliche Mutter von den alten Sachsen und ihren Raubzügen an den Küsten Englands erzählt hatte. Aus der Kommode, die die Reise über die Prärie mitgemacht hatte, nahm sie eine ihrer teuren Reliquien – ein Poesiealbum, das ihrer Mutter gehört hatte, und in das viele gedruckte Verse aus der kalifornischen Pionierzeit eingeklebt waren. Es enthielt auch verschiedene Reproduktionen von Gemälden und alten Holzschnitten aus Magazinen, die eine Generation oder länger zurücklagen.
Saxon blätterte mit geübten Fingern darin, bis sie das Bild fand, das sie suchte. Zwischen stolzen Felsen und unter einem grauen, wolkigen Sturmhimmel sah man ein Dutzend Boote, lange, schmale und dunkle Boote mit Steven wie gewaltige Vogelschnäbel, die an einem sandigen, schaumweißen Strand landen wollten. Die Männer in den Booten waren halbnackt, muskulös, abgehärtet und trugen Flügelhelme. Schwerter und Speere hielten sie in den Händen, und sie sprangen bis zu den Hüften in die Brandung und wateten an Land. Fellbekleidete Wilde, die jedoch nicht Indianern glichen, hatten sich in Scharen am Strande versammelt und gingen bis zu den Knien ins Wasser, um sie an der Landung zu verhindern. Die ersten Hiebe waren gewechselt, und hie und da sah man schon Tote und Verwundete in der Brandung. Ein blondlockiger Strandräuber lag über der Reling eines der Boote; der Pfeil in seiner Brust erzählte, dass er tot war. Aber über ihn hinweg sprang in das Wasser, das Schwert in der Hand, ihr Billy. Ein Irrtum war nicht möglich. Die verblüffende Blondheit, das Gesicht, die Augen, der Mund, es war Billy. Der Gesichtsausdruck war der Billys an jenem Festtage, als er die drei wilden Irländer in Schach hielt.
Von diesen kriegerischen Recken müssen Billys Vorfahren abstammen und meine auch, dachte sie, als sie das Buch schloss und wieder in die Kommode legte. Und irgendeiner dieser Vorfahren hatte eine alte mitgenommene Kommode verfertigt, die über das Salzmeer und die Prärie gereist und im Kampfe mit den Indianern bei Little Meadow von einer Kugel durchbohrt war. Sie meinte fast, die Frauen sehen zu können, die ihren Staat und ihre hausgewebten Beiderwandstoffe1 in diesen Laden aufbewahrt hatten – die Frauen dieser wandernden Geschlechter, die die Großmütter und Urgroßmütter und Urahnen ihrer eigenen Mutter gewesen waren. Nun ja, seufzte sie, es ist jedenfalls eine gute Rasse, von der man abstammt, eine Rasse, gleich geeignet für Arbeit und Kampf. Sie dachte, wie ihr Leben sich wohl gestaltet hätte, wenn sie eine Chinesin oder eine der kleinen, schwerfälligen, dunkelhäutigen Italienerinnen gewesen wäre, die sie so oft barhaupt oder mit bunten Kopftüchern gesehen hatte, wenn sie mit großen Treibholzlasten auf dem Kopfe vom Strande kamen. Dann musste sie über ihre eigene Torheit lachen, sie dachte an Billy und das Vierzimmerhaus in der Pine Street und ging zu Bett, zum hundertsten Male den Kopf voll von Gedanken an die künftige Wohnung.
*
»Unser Vieh war ganz abgetrieben«, sagte Saxon, »und der Winter war so nah, dass wir nicht den Versuch wagten, durch die große amerikanische Wüste zu gehen; unsere Karawane blieb deshalb den Winter über in Salt Lake City. Die Mormonen waren damals noch vernünftig und behandelten uns gut.«
»Du redest, als wärest du selbst mit dabei gewesen«, meinte Bert.
»Meine Mutter war mit dabei«, sagte Saxon stolz. »Sie war damals acht Jahre alt.«
Sie saßen am Küchentisch in dem kleinen Haus in der Pine Street bei einem aus Butterbrot, Tamalen und Bier bestehenden kalten Lunch. Es war Sonntag, sodass sie alle vier ihren freien Tag hatten, und sie waren früh gekommen, um Fenster zu putzen, Wände zu waschen, Fußböden zu scheuern, Teppiche und Linoleum zu legen, Gardinen aufzuhängen, den Herd zu montieren, Küchengeräte und Teller zu ordnen und die Möbel aufzustellen.
»Erzähl nur weiter, Saxon«, bat Mary. »Ich bin ganz versessen darauf, mehr zu hören. Und Bert, du wirst gefälligst stillsitzen und zuhören.«
»Schön. Es war im Winter, als Del Hancock auftauchte. Er war in Kentucky geboren, lebte aber seit vielen Jahren im Westen. Sein Weg führte ihn durch Salt Lake City – er sollte irgendwohin und einige Rocky-Mountain-Fänger zusammenbringen, mit denen er an einem neuen Ort, den er kannte, Biber jagen wollte. Er war ein schöner Mann. Er trug langes Haar, wie man es auf Bildern sieht, und eine seidene Schärpe um den Leib – das hatte er von den Spaniern in Kalifornien gelernt – sowie zwei Revolver im Gürtel. Er gehörte zu den Männern, in die sich alle Frauen auf den ersten Blick verlieben. Nun, er sah Sadie, die älteste Schwester meiner Mutter, und sie gefiel ihm wohl, denn er blieb in Salt Lake City. Er war der Schrecken der Indianer, und ich erinnere mich von klein auf, wie Tante Villa sagte, dass er die schwärzesten, funkelndsten Augen hatte, und dass sein Blick an den eines Adlers erinnerte. Er fürchtete sich vor nichts.
Sadie war eine Schönheit. Sie flirtete mit ihm und machte ihn ganz verrückt. Eines Abends kam er angeritten. ›Sadie‹, sagte er, ›wenn du mir nicht versprichst, mich morgen zu heiraten, schieße ich mich noch heute Abend hier hinter der Wagenburg tot.‹ Und er hätte es auch getan, und Sadie wusste das und sagte ja. War nicht Schwung in der Liebe jener Tage?«
»Ach, ich weiß nicht recht«, sagte Mary verächtlich. »Eine Woche, nachdem du Billy das erstemal gesehen hast, wart ihr verlobt. Sagte Billy, dass er sich hinter der Plätterei erschießen wollte, wenn du ihm einen Korb gäbst?«
»Ich gab ihm keine Gelegenheit dazu«, gestand Saxon. »Aber Del Hancock und Tante Sadie heirateten am selben Tage. Und sie waren sehr glücklich. Aber dann starb sie. Und viele Jahre später wurde er von den Indianern getötet. Er war damals ein alter Mann, aber ich glaube schon, dass er eine ganze Anzahl Indianer tötete, ehe sie ihn abtaten. Männer seines Schlages sterben immer kämpfend und nehmen die mit, die sie töten. So ging es auch mit Al Stanley, den ich kannte, als ich klein war. Er wurde am Tische sitzend von einem Eisenarbeiter in den Rücken geschossen. Und der Schuss tötete ihn. Er starb im Laufe von wenigen Sekunden. Aber ehe er starb, zog er noch den Revolver und schoss drei Kugeln ab auf den Mann, der ihn tötete.«
»Ich kann keinen Kampf leiden«, protestierte Mary. »Das macht mich nervös – Bert sucht immer Krakeel – es hat keinen Sinn.«
»Ich gebe keinen sauren Hering für einen Mann, der nicht den Mut hat, zu kämpfen«, antwortete Saxon. »Wir würden heute nicht hier sitzen, wenn unsere Väter nicht zu kämpfen verstanden hätten.«
»Du hast ja auch einen Mann bekommen, der zu kämpfen versteht«, versicherte Bert. »Unverfälscht durch und durch. Billy ist ein Mohikaner, dem die Skalpe vom Gürtel herabhängen. Und wenn sein Gesicht mürrisch wird, ist es ratsam, sich schleunigst zu verziehen, sonst fällt der Hammer – bums!«
»Eben«, bekräftigte Mary.
Billy, der sich nicht an der Unterhaltung beteiligt hatte, stand plötzlich auf und guckte in die Schlafkammer neben der Wohnstube; dann kam er wieder, blieb mit zusammengezogenen Brauen stehen und starrte in die Schlafkammer neben der Küche.