Jack London – Gesammelte Werke

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

»Und was meinst du dazu?«

»Oh, ich weiß nicht«, warf sie leicht hin, be­geg­ne­te aber sei­nem Blick mit ei­nem neu­en trä­gen Lä­cheln. »Ich weiß nur, dass es gut ist, einen Tag wie die­sen zu er­le­ben.«

»Mit ei­ner Aus­fahrt wie heu­te – ja, da hast du recht«, füg­te er schnell hin­zu.

*

Um ein Uhr bog Bil­ly von der Land­stra­ße ab und fuhr in eine Lich­tung un­ter den Bäu­men. »Hier es­sen wir«, ver­kün­de­te er. »Ich dach­te, es wäre bes­ser, selbst das Früh­stück zu ma­chen, als in ei­nem Wirts­haus an der Land­stra­ße zu es­sen. Und jetzt will ich die Pfer­de ab­schir­ren. Wir ha­ben mas­sen­haft Zeit. Wir kön­nen den Früh­stücks­korb aus­pa­cken.«

Als Sa­xon den Korb aus­ge­packt hat­te, war sie über sei­ne Ver­schwen­dung ent­setzt. Sie hol­te ein ver­blüf­fen­des Ar­se­nal von But­ter­bro­ten mit Schin­ken, Krab­ben­sa­lat, hart­ge­koch­te Eier, Schweins­fü­ße in Ge­lee, rei­fe Oli­ven, Es­sig­gur­ken in Dill, Schwei­zer­kä­se, Salz­man­deln, Ap­fel­si­nen, Ana­nas und meh­re­re Fla­schen Bier her­vor. Nicht al­lein die Men­ge ver­blüff­te sie, son­dern auch die Viel­fäl­tig­keit. Es mach­te auf sie den Ein­druck, als hät­te er kühn ver­sucht, ein gan­zes De­li­ka­tes­sen­ge­schäft auf­zu­kau­fen.

»Es war doch nicht nö­tig, so­viel zu kau­fen«, sag­te sie, als sie sich ne­ben ihn ge­setzt hat­te. »Das ist ja ge­nug für ein Dut­zend Mau­rer.«

»Aber es ist gut, nicht wahr?« frag­te er.

»Ja«, gab sie zu. »Nur zu viel.«

»Dann ist es also rich­tig«, ent­schied er. »Ich habe im­mer gern al­les reich­lich. Lass uns mit ei­nem Schluck Bier den Staub aus dem Hals spü­len, ehe wir uns ans Es­sen ma­chen. Sei vor­sich­tig mit den Glä­sern. Ich muss sie zu­rück­ge­ben.«

Als sie mit dem Es­sen fer­tig wa­ren, leg­te er sich auf den Rücken, rauch­te eine Zi­ga­ret­te und frag­te sie nach ih­rer Ver­gan­gen­heit aus. Sie hat­te ihm ge­ra­de von ih­rem Le­ben im Hau­se ih­res Bru­ders er­zählt, wo sie vier­ein­halb Dol­lar wö­chent­lich be­zahl­te. Mit fünf­zehn Jah­ren hat­te sie die Ge­mein­de­schu­le ver­las­sen und dann Ar­beit in der Ju­te­fa­brik für vier Dol­lar wö­chent­lich ge­fun­den, von de­nen sie Sa­rah drei be­zahl­te.

»Aber die­ser Gast­wirt?« frag­te Bil­ly. »Wie ging es zu, dass er dich zu sich nahm?«

Sie zuck­te die Ach­seln. »Ich weiß es ei­gent­lich nicht – viel­leicht, weil es der Fa­mi­lie schlecht ging. Sie schie­nen nicht wei­ter­kom­men zu kön­nen. Sie konn­ten sich ge­ra­de durch­schla­gen, aber mehr auch nicht. Cady – der Gast­wirt – hat­te in der Kom­pa­gnie mei­nes Va­ters ge­stan­den, und er schwor auf Ka­pi­tän Kit, das war der Spitz­na­me mei­nes Va­ters. Mein Va­ter hat­te die Ärz­te ver­hin­dert, ihm das Bein zu am­pu­tie­ren, und das ver­gaß er ihm nie. Er ver­dien­te viel Geld mit sei­nem Ho­tel und sei­ner Wirt­schaft, und spä­ter er­fuhr ich, dass er ge­hol­fen hat­te, die Ärz­te­rech­nun­gen für mei­ne Mut­ter und ihre Bei­set­zung ne­ben mei­nem Va­ter zu be­zah­len. Ich hät­te ei­gent­lich bei On­kel Will le­ben sol­len – das war der Wunsch mei­ner Mut­ter; aber es hat­te Un­ru­hen in den Ven­tu­ra­ber­gen ge­ge­ben, wo er eine Viehr­anch hat­te, und ei­ni­ge Män­ner wa­ren ge­tö­tet wor­den. Es war et­was mit der Mark­schei­de, Vieh­hür­den oder der­glei­chen, und wie es nun zu­ging, je­den­falls kam er ins Ge­fäng­nis und saß lan­ge, und als er her­aus­kam, hat­ten die Rechts­an­wäl­te ihm sei­ne Farm ge­nom­men. Er war da­mals schon alt und ge­bro­chen, sei­ne Frau wur­de krank, und er be­kam eine Stel­lung als Nacht­wäch­ter für vier­zig Dol­lar den Mo­nat. Er konn­te also nichts für mich tun, und so nahm Cady mich zu sich.

Cady war ein gu­ter Mann, wenn er auch nur Gast­wirt war. Sei­ne Frau war groß und hübsch, und ich glau­be, sie war nicht, wie sie sein soll­te – das habe ich spä­ter ge­hört. Aber zu mir war sie gut. Als er starb, ging sie ganz vor die Hun­de, und dann kam ich ins Wai­sen­haus. Da war es nicht ge­ra­de an­ge­nehm, und ich war drei Jah­re lang dort. Dann aber hat­te Tom sich ver­hei­ra­tet und fes­te Ar­beit be­kom­men, und er nahm mich her­aus, und seit­dem habe ich stets für mein täg­li­ches Brot ar­bei­ten müs­sen.«

Sie sah trau­rig über die Fel­der hin­aus, bis ihr Blick auf ei­nem Gat­ter haf­ten blieb, an dem flam­men­der Mohn wuchs. Bil­ly, der auf dem Rücken ge­le­gen, zu ihr auf­ge­se­hen und sei­nen Blick mit Wohl­be­ha­gen auf dem fei­nen Oval des schma­len Mäd­chen­ant­lit­zes hat­te ru­hen las­sen, streck­te jetzt lang­sam die Hand aus und mur­mel­te: »Ar­mes Tier­chen.«

Sei­ne Hand schloss sich im in­ni­gen Mit­ge­fühl um ih­ren rech­ten Un­ter­arm, und als ihr Blick den sei­nen such­te, las sie so­wohl Über­ra­schung wie Freu­de dar­in.

»Nein«, sag­te er, »wie kühl dei­ne Haut ist. Fühl mich an, ich bin im­mer warm. Fühl mei­ne Hand an.«

Die Hand war warm und feucht, und jetzt be­merk­te sie auch win­zi­ge Schweiß­per­len auf sei­ner Stirn und sei­ner glat­tra­sier­ten Ober­lip­pe.

»Aber, Lie­ber, du bist ja ganz ver­schwitzt.«

Sie beug­te sich über ihn und wisch­te ihm mit ih­rem Ta­schen­tuch Stirn und Lip­pen und dann die Hand­flä­chen ab.

»Ich atme durch die Haut, glau­be ich«, er­klär­te er. »Die klu­gen Leu­te auf dem Trai­nings­platz und in den Turn­sä­len sa­gen, dass das gute Ge­sund­heit be­deu­tet. Aber au­gen­blick­lich schwit­ze ich doch mehr als ge­wöhn­lich. Ko­misch, nicht wahr?«

Um ihm den Schweiß von der Stirn zu wi­schen, hat­te sie ih­ren Arm frei­ma­chen müs­sen; als sie aber fer­tig war, nahm er ihn wie­der.

»Aber wie kühl doch dei­ne Haut ist«, wie­der­hol­te er mit der­sel­ben Be­wun­de­rung als frü­her. »Und so weich wie Samt und so glatt wie Sei­de an­zu­füh­len.«

Sanft und un­ter­su­chend ließ er sei­ne Hand von ih­rem Hand­ge­lenk bis zum Ell­bo­gen und wie­der zu­rück glei­ten. Der lan­ge Vor­mit­tag im Son­nen­schein hat­te sie müde und schläf­rig ge­macht; sie gab sich dem Wohl­be­ha­gen hin, das sie bei die­ser Berüh­rung fühl­te, und er­tapp­te sich da­bei, wie sie sich halb träu­mend sag­te, dass hier der Mann war, den sie lie­ben konn­te, ihn, sei­ne Hän­de und sei­nen gan­zen Kör­per.

Sanft ließ er sei­ne Hand ih­ren Arm hin­auf­glei­ten, und wäh­rend sie auf sei­ne Lip­pen sah, dach­te sie an das ban­ge Be­ben, das sie bei ih­rer ers­ten Be­geg­nung ge­fühlt hat­te.

»Sprich wei­ter«, fuhr er nach etwa fünf Mi­nu­ten se­li­gen Schwei­gens fort. »Ich sehe so gern dei­ne Lip­pen, wenn du sprichst. Es ist merk­wür­dig, aber jede Be­we­gung, die du machst, ist wie ein klei­ner Kuss.«

»Wenn ich et­was sage, so weiß ich nicht, ob es dir ge­fal­len wird.«

»Nur los«, drang er in sie. »Du kannst nichts sa­gen, was mir nicht ge­fie­le.«

»Nun ja, drü­ben an der He­cke steht Mohn, den ich gern pflücken möch­te.«

»Ich las­se dich gleich los«, lach­te er. »Aber ich will dir et­was sa­gen – du musst ›Wenn die Tage des Herbs­tes vor­bei‹ sin­gen und mich da­bei den an­de­ren dei­ner küh­len Arme hal­ten las­sen, und dann fah­ren wir.«

Als sie das Lied ge­sun­gen hat­te, be­frei­te sie ih­ren Arm und er­hob sich.

Die Son­ne ging schon un­ter, als sie in ei­nem großen Bo­gen nach Os­ten und Sü­den die Was­ser­schei­de der Con­tra-Cos­ta-Ber­ge er­reich­ten und den lan­gen Hü­gel, der an Red­wood Peak vor­bei nach Fruit­va­le führ­te, hin­ab­zu­fah­ren be­gan­nen. Un­ter ih­nen glitt die fla­che Küs­te in die Bucht hin­aus, wie ein Schach­brett in Fel­der und Städ­te ein­ge­teilt – Elm­hurst, San Le­an­dro und Hay­wards. Der Rauch von Oa­k­land ver­schlei­er­te den west­li­chen Ho­ri­zont wie ein dunk­ler Ne­bel, und auf der an­de­ren Sei­te der Bucht sa­hen sie San Fran­zis­ko.

Die Dun­kel­heit senk­te sich auf sie her­ab, und Bil­ly war so merk­wür­dig schweig­sam. In der letz­ten hal­b­en Stun­de hat­te er an­schei­nend ihre Exis­tenz ganz ver­ges­sen, nur dass er ein­mal sie und sich zum Schutz ge­gen den kal­ten Abend­wind fes­ter in die De­cke wi­ckel­te. Sa­xon saß eng ne­ben ihm. Die Wär­me ih­rer Kör­per ver­misch­te sich, und ein in­ni­ges Ge­fühl von Ruhe und Freu­de über­kam sie.

»Hör mal, Sa­xon«, be­gann er plötz­lich. »Es hat kei­nen Zweck, dass ich län­ger schwei­ge. Ich hab es den gan­zen Tag auf den Lip­pen ge­habt – seit dem Früh­stück. Was meinst du dazu, mich zu hei­ra­ten?«

Sie wuss­te – und es war Si­cher­heit und Freu­de in dem Ge­fühl –, dass es sein Ernst war. In­stink­tiv aber fühl­te sie den Drang, ihn zu­rück­zu­hal­ten, ihn ein we­nig zu quä­len, sich kost­bar und da­durch noch be­geh­rens­wer­ter zu ma­chen, ehe sie nach­gab. Au­ßer­dem wa­ren ihr Fein­ge­fühl und ihr weib­li­cher Stolz ein we­nig ver­letzt. Bil­lys Drauf­gän­ger­tum war bei­na­he ab­sto­ßend. Aber doch sehn­te sie sich wie­der schreck­lich nach ihm – wie sehr, wuss­te sie erst jetzt.

»Nun, so sag doch et­was, Sa­xon. Lass es mich wis­sen, gut oder böse. Aber lass es mich wis­sen. Und noch eins. Denk dar­an, dass ich dich lie­be. Bei Gott, ich lie­be dich ganz wahn­sin­nig, Sa­xon. Na­tür­lich, das muss ich ja, wenn ich dich fra­ge, ob du mich hei­ra­ten willst; denn das habe ich noch nie ein Mäd­chen ge­fragt.«

Wie­der trat Schwei­gen ein, und Sa­xon fühl­te, wie ihre Ge­dan­ken um den war­men, zit­tern­den Kör­per un­ter der De­cke zu krei­sen be­gan­nen. Als sie merk­te, wo die­se Ge­dan­ken sie hin­füh­ren woll­ten, wur­de sie in der Dun­kel­heit glü­hend rot.

»Wie alt bist du, Bil­ly?« frag­te sie so un­er­war­tet, dass er jetzt eben­so ver­blüfft war, wie sie bei sei­nen ers­ten Wor­ten ge­we­sen.

»Zwei­und­zwan­zig«, ant­wor­te­te er.

»Ich bin vier­und­zwan­zig.«

»Als ob ich das nicht wüss­te! Wenn ich weiß, wie alt du warst, als du das Wai­sen­haus ver­ließest, und wie lan­ge du in der Ju­te­fa­brik, in der Kon­ser­ven­fa­brik, in der Kar­to­na­gen­fa­brik und in der Plät­te­rei ar­bei­te­test, glaubst du, ich könn­te das nicht zu­sam­men­rech­nen? Ich wuss­te dein Al­ter bis auf dei­nen Ge­burts­tag ge­nau.«

 

»Das än­dert nichts an der Tat­sa­che, dass ich zwei Jah­re äl­ter bin.«

»Und wenn schon? Wenn das et­was zu be­deu­ten hät­te, so wür­de ich dich nicht lie­ben, nicht wahr? Dei­ne Mut­ter hat­te recht. Lie­be ist al­les. Nur dar­auf kommt es an. Kannst du das nicht ein­se­hen? Ich lie­be dich, und ich muss dich ha­ben. Das ist doch so na­tür­lich, soll­te ich mei­nen. Es gibt kei­ne an­de­re Mög­lich­keit, Sa­xon, ich muss dich ha­ben, und Gott weiß, mein in­nigs­ter Wunsch ist, dass auch du mich ha­ben möch­test. Mag sein, dass mei­ne Hän­de nicht so weich sind wie die des Buch­hal­ters und die des Kom­mis, aber sie kön­nen für dich ar­bei­ten und sich für dich schla­gen wie der Teu­fel, und, Sa­xon, sie kön­nen dich lie­ben.«

Der in­stink­ti­ve Trieb, sich zu weh­ren, den sie bis­her stets Män­nern ge­gen­über ge­fühlt hat­te, schi­en dies­mal ver­schwun­den zu sein. Dies war kein Kampf. Es war, wor­auf sie ge­war­tet, wo­von sie ge­träumt hat­te. Bil­ly ge­gen­über war sie wehr­los. Sie konn­te ihm nichts ab­schla­gen. Und aus die­sem großen Ge­fühl er­wuchs ein an­de­res, das noch grö­ßer war – er war nicht so.

Sie sag­te nichts. Aber wäh­rend ihr eine Flam­me durch Leib und See­le schoss, leg­te sie ihre Hand auf sei­ne Lin­ke und ver­such­te, sie von den Zü­geln fort­zu­zie­hen. Er ver­stand das nicht; als sie aber nicht losließ, leg­te er die Zü­gel in die rech­te Hand und ließ ihr mit der an­de­ren ih­ren Wil­len. Sie beug­te sich dar­über und küss­te die har­te Haut in sei­ner Kut­scher­faust.

Ei­nen Au­gen­blick saß er wie vom Him­mel ge­fal­len da. »Ist das wahr?« stam­mel­te er.

Statt zu ant­wor­ten, küss­te sie zum zwei­ten Mal sei­ne Hand und mur­mel­te:

»Ich lie­be dei­ne Hän­de, Bil­ly. In mei­nen Au­gen sind es die schöns­ten Hän­de der Welt, und ich brauch­te vie­le Stun­den, um dir al­les zu sa­gen, was sie mir be­deu­ten.«

»Prrr!« sag­te er zu den Pfer­den.

Er brach­te sie zum Ste­hen, sprach ih­nen be­ru­hi­gend zu und be­fes­tig­te die Zü­gel am Peit­schenstiel. Dann wand­te er sich zu ihr, um­schlang sie mit den Ar­men und drück­te sei­ne Lip­pen auf die ih­ren.

»Ach, Bil­ly, ich will dir eine gute Frau sein«, schluchz­te sie, als er sie losließ.

Er küss­te ihre nas­sen Au­gen und fand ihre Lip­pen wie­der.

»Jetzt weißt du, wor­an ich dach­te, und warum ich so schwitz­te beim Lunch. Ich konn­te es nicht län­ger aus­hal­ten, ich muss­te es dir sa­gen. Du weißt ja, dass du mir vom ers­ten Au­gen­blick an ge­fielst.«

»Und ich glau­be, ich habe dich auch vom ers­ten Tage an ge­liebt, Bil­ly. Ich war den gan­zen Tag so stolz auf dich, denn du warst so gut, rück­sichts­voll und so stark, und alle Män­ner hat­ten sol­chen Re­spekt vor dir, und die Mäd­chen wa­ren in dich ver­liebt. Ei­nen Mann, auf den ich nicht stolz wäre, könn­te ich we­der lie­ben noch hei­ra­ten. Und ich bin so stolz auf dich, ach, so stolz.«

»Nicht halb so stolz, wie ich es sel­ber jetzt auf mich bin«, ant­wor­te­te er, »und zwar, weil ich dich ge­won­nen habe. Das ist al­les zu schön, um wahr zu sein, und in zwei Mi­nu­ten wird viel­leicht der We­cker ras­seln und mich we­cken. Nun, selbst wenn es so ist, so will ich doch je­den­falls so viel wie mög­lich von die­sen bei­den Mi­nu­ten ha­ben.«

Er schloss sie in sei­ne Arme und press­te sie so an sich, dass es fast schmerz­te. Nach ei­ner klei­nen Wei­le, die für sie wie eine ewi­ge Se­lig­keit war, ließ er sie los, und es war, als müss­te er sich ge­walt­sam hier­zu auf­raf­fen.

»Und noch hat die Uhr nicht ge­weckt«, flüs­ter­te er an ih­rer Wan­ge. »Und es ist dunkle Nacht, und dort vor uns liegt Fruit­va­le und ste­hen King und Prin­ce mit­ten auf dem Wege. Ich kann dich nicht los­las­sen, und wir ha­ben noch ein Stück zu fah­ren. Gift und Gal­le, aber wir müs­sen wei­ter.«

Er ließ sie ganz los, stopf­te die De­cke um sie fest und gab den un­ge­dul­di­gen Pfer­den einen klei­nen Schmitz mit der Peit­sche.

Eine hal­be Stun­de spä­ter sag­te er: »Prrr!«

»Jetzt weiß ich, dass ich wach bin, aber ich bin mir nicht ganz si­cher, ob ich all das an­de­re nicht ge­träumt habe, und ich muss mei­ner Sa­che si­cher sein.«

Und wie­der mach­te er die Zü­gel fest und schloss sie in sei­ne Arme.

*

Die Tage ver­gin­gen Sa­xon im Flu­ge. Sie ar­bei­te­te wie ge­wöhn­lich in der Plät­te­rei und leis­te­te so­gar noch mehr Über­ar­beit als sonst, aber jede Stun­de, die sie frei hat­te, war den Vor­be­rei­tun­gen zu der großen Ver­än­de­rung und – Bil­ly ge­wid­met. Als all­sie­gen­der Lie­ben­der von Got­tes Gna­den hat­te er be­stimmt ver­langt, dass sie schon am Tage nach dem An­trag ihre Hoch­zeit fei­ern soll­ten, und mehr als eine Wo­che Auf­schub wei­ger­te er sich ka­te­go­risch zu be­wil­li­gen.

»Wa­rum soll­ten wir war­ten?« frag­te er. »Wir wer­den nicht jün­ger, und denk an al­les, was wir uns mit je­dem Tage, den wir war­ten, ent­ge­hen las­sen.«

Zu­letzt gab er sich mit ei­nem Mo­nat zu­frie­den, und das war ein Glück, denn vier­zehn Tage dar­auf wur­de er mit ei­nem Dut­zend an­de­rer Kut­scher nach den großen Stäl­len von Cor­ber­ly & Mor­ri­son in West-Oa­k­land ver­setzt. Da­mit er­üb­rig­te sich al­les Woh­nungs­su­chen am an­de­ren Ende der Stadt, und sie wähl­ten die Pine Street in un­mit­tel­ba­rer Nähe von den Werk­stät­ten der Süd-Pa­zi­fik-Bahn, wo Bil­ly und Sa­xon ein hüb­sches Häu­schen mit vier klei­nen Zim­mern für zehn Dol­lar mo­nat­lich mie­te­ten.

»Das nen­ne ich ge­schenkt, wenn ich dar­an den­ke, wie ich für die Lö­cher, in de­nen ich bis­her wohn­te, blu­ten muss­te«, er­klär­te Bil­ly. »Für das zum Bei­spiel, das ich zur Zeit be­woh­ne – es ist nicht ein­mal so groß wie das kleins­te von die­sen – be­zah­le ich sechs Dol­lar mo­nat­lich.«

»Aber es ist mö­bliert«, wand­te Sa­xon ein. »Das ist der Un­ter­schied. Ver­stehst du?«

Aber das ver­stand Bil­ly nicht.

»Mit mei­ner Ge­lehr­sam­keit ist es nicht weit her, Sa­xon. Aber ein ein­fa­ches Re­chenexem­pel kann ich doch lö­sen. Es ist schon vor­ge­kom­men, dass ich mei­ne Uhr ver­set­zen muss­te, wenn ich in der Klem­me war, und ich weiß, was Zin­sen sind. Wie viel, meinst du, wird es kos­ten, das Haus hier zu mö­blie­ren, mit Tep­pi­chen auf dem Fuß­bo­den, Lin­ole­um in der Kü­che und al­lem an­de­ren?«

»Für drei­hun­dert Dol­lar kön­nen wir es wirk­lich hübsch ma­chen«, ant­wor­te­te sie. »Ich habe dar­über nach­ge­dacht und glau­be be­stimmt, dass es da­für zu ma­chen ist.«

»Drei­hun­dert«, mur­mel­te er und run­zel­te die Stirn vor lau­ter Ei­fer. »Drei­hun­dert, sa­gen wir, zu sechs Pro­zent. Das macht sechs Cent auf einen Dol­lar, sech­zig Cent auf zehn Dol­lar, sechs Dol­lar auf hun­dert Dol­lar. Kannst du se­hen, dass ich fa­bel­haft mit zehn mul­ti­pli­zie­ren kann? Jetzt acht­zehn durch zwölf, das macht einen Dol­lar fünf­zig mo­nat­lich.« Er hielt inne, zu­frie­den, dass er sei­ne Be­haup­tung be­wie­sen hat­te. Dann fiel ihm et­was an­de­res ein. »Ho! Wir sind noch nicht fer­tig. Was ma­chen die Zin­sen, wenn man vier Zim­mer mö­bliert. Also – was macht ein Dol­lar fünf­zig durch vier?«

»Fünf­zehn durch vier – drei und drei im Kopf«, be­gann Sa­xon mit großer Zun­gen­fer­tig­keit. »Drei­ßig durch vier sind sie­ben, acht­und­zwan­zig, zwei im Kopf, und zwei Vier­tel ist ein halb. Da hast du’s.«

»Na ja, du scheinst es auch zu kön­nen.« Er be­sann sich einen Au­gen­blick. »Ich bin nicht mit­ge­kom­men. Wie viel, sagst du, macht es?«

»Sie­ben­und­drei­ßi­gein­halb Cent.«

»Schön. Lass uns jetzt se­hen, wie viel man mir für mein ei­nes Zim­mer ab­ge­nom­men hat. Zehn Dol­lar mo­nat­lich für vier Zim­mer macht zwei­ein­halb für ei­nes. Dazu sie­ben­und­drei­ßi­gein­halb Cent für die Mö­bel, macht zwei Dol­lar und sie­ben­un­dacht­zi­gein­halb Cent, ab­ge­zo­gen von sechs Dol­lar – –«

»Drei Dol­lar und zwöl­fein­halb Cent«, warf sie has­tig ein.

»Rich­tig! Um drei Dol­lar und zwöl­fein­halb Cent wer­de ich also für das Zim­mer, in dem ich woh­ne, be­tro­gen. Da siehst du es! Es ist di­rekt eine Er­spar­nis, wenn man hei­ra­tet. Nicht wahr?«

»Aber die Mö­bel wer­den ab­ge­nutzt, Bil­ly.«

»Ja, Teu­fel auch, dar­an dach­te ich nicht. Das muss man selbst­ver­ständ­lich mit­rech­nen. Na, was denn! Es ist nun doch rein ge­schenkt, und Sonn­abend musst du se­hen, dass du früh in der Plät­te­rei fer­tig wirst, da­mit wir die Aus­stat­tung kau­fen kön­nen. Ich war ges­tern Abend bei Sa­lin­gers. Ich soll fünf­zig an­zah­len und den Rest mit zehn Dol­lar mo­nat­lich ab­tra­gen. Fün­f­und­zwan­zig Mo­na­te, dann ge­hört al­les uns. Und ver­giss nicht, Sa­xon, nimm und kauf al­les, wozu du Lust hast – ei­ner­lei, was es kos­tet. Kei­ne Knau­se­rei, wenn es für dich und mich ist. Ver­stehst du?«

Sie nick­te, und nichts in ih­rem Ge­sicht ver­riet die Un­zahl von Er­spar­nis­sen, die sie zu ma­chen ge­dach­te. Ein feuch­ter Glanz trat in ihre Au­gen.

»Du bist so gut zu mir, Bil­ly«, mur­mel­te sie und trat zu ihm, und sei­ne Arme wa­ren gleich be­reit, sie zu emp­fan­gen.

»Also hast du es doch ge­tan«, mein­te Mary ei­nes Mor­gens in der Wä­sche­rei. Sie hat­ten noch kei­ne zehn Mi­nu­ten ge­ar­bei­tet, als ihre Au­gen auch schon den To­pas­ring am Ring­fin­ger von Sa­x­ons lin­ker Hand ge­se­hen hat­ten. »Wer ist der Glück­li­che? Char­ley Long oder Bil­ly Ro­berts?«

»Bil­ly«, lau­te­te die Ant­wort.

»Huh! Du willst also einen jun­gen Men­schen ha­ben, den du dir er­zie­hen kannst?«

Sa­x­ons Ge­sicht zeig­te deut­lich, dass die bos­haf­te Be­mer­kung ge­trof­fen hat­te, und Mary be­reu­te sie so­fort.

»Kannst du kei­nen Spaß ver­ste­hen. Ich freue mich schreck­lich. Bil­ly ist ein fa­bel­haf­ter Mann, und ich freue mich, dass er dich ha­ben soll. Ihr seid wie für ein­an­der ge­schaf­fen, und du wirst eine bes­se­re Frau für ihn sein als jede, die ich ken­ne. Wann steigt es?«

Ein paar Tage dar­auf traf Sa­xon Char­ley Long auf dem Heim­weg von der Plät­te­rei. Er ver­sperr­te ihr den Weg und be­gann, mit ihr zu re­den.

»So, du gehst also mit ei­nem Bo­xer?« knurr­te er. »Wo das hin­führt, kann man ja mit ei­nem hal­b­en Auge se­hen.«

Zum ers­ten Mal in ih­rem Le­ben hat­te Sa­xon kei­ne Furcht vor die­sem schwer­glied­ri­gen dunklen Mann mit den schwar­zen Brau­en und den be­haar­ten Hän­den und Fin­gern. Sie hob ihre lin­ke Hand.

»Sieh her! Den konn­test du mir nicht an den Fin­ger ste­cken, so groß und stark du auch bist. Aber Bil­ly Ro­berts konn­te es – und das in we­ni­ger als ei­ner Wo­che. Er hat dich be­siegt, Char­ley Long, und mich oben­drein. Er ist nicht so ei­ner wie du. Er ist durch und durch ein Mann – ein fei­ner Mann mit ei­nem rei­nen Le­ben.«

Long lach­te hei­ser.

»Ich könn­te dir viel­leicht et­was an­de­res von ihm er­zäh­len. Of­fen ge­sagt, Sa­xon, er ist nicht der, für den er sich aus­gibt. Wenn ich er­zäh­len woll­te, was ich weiß –«

»Geh lie­ber«, un­ter­brach sie ihn, »sonst sage ich es ihm wie­der, und du weißt, was es dann setzt, du großer Lüm­mel.«

Long ver­zog sich un­wil­lig mit wi­der­stre­ben­den, schlep­pen­den Schrit­ten.

»Ja, du bist ge­fähr­lich«, sag­te er halb be­wun­dernd.

»Das ist Bil­ly Ro­berts auch«, lach­te sie und ging wei­ter. Als sie ein Dut­zend Schrit­te ge­gan­gen war, blieb sie ste­hen. »He!« rief sie.

Der große Mann mach­te so­fort kehrt.

»An der Ecke«, sag­te sie, »sah ich einen Mann mit ei­nem Hüft­scha­den. Den soll­test du nie­der­schla­gen.«

Eine ein­zi­ge Aus­schwei­fung er­laub­te sich Sa­xon in ih­rer kur­z­en Ver­lo­bungs­zeit. Sie op­fer­te einen gan­zen Ta­ges­lohn auf ein hal­b­es Dut­zend Ka­bi­nett­fo­to­gra­fi­en von sich. Bil­ly hat­te er­klärt, dass er nicht le­ben könn­te ohne ein Bild von ihr, das er an­se­hen könn­te, ehe er zu Bett gin­ge und so­bald er des Mor­gens auf­stän­de. Da­für war ihr Spie­gel mit zwei Fo­to­gra­fi­en von ihm ge­schmückt, ei­ner im Werk­tags­zeug und ei­ner im Bo­xer­tri­kot. Wäh­rend sie die letz­te­re an­sah, fiel ihr die Ge­schich­te ein, die ihre herr­li­che Mut­ter von den al­ten Sach­sen und ih­ren Raub­zü­gen an den Küs­ten Eng­lands er­zählt hat­te. Aus der Kom­mo­de, die die Rei­se über die Prä­rie mit­ge­macht hat­te, nahm sie eine ih­rer teu­ren Re­li­qui­en – ein Poe­sie­al­bum, das ih­rer Mut­ter ge­hört hat­te, und in das vie­le ge­druck­te Ver­se aus der ka­li­for­ni­schen Pio­nier­zeit ein­ge­klebt wa­ren. Es ent­hielt auch ver­schie­de­ne Re­pro­duk­tio­nen von Ge­mäl­den und al­ten Holz­schnit­ten aus Ma­ga­zi­nen, die eine Ge­ne­ra­ti­on oder län­ger zu­rück­la­gen.

 

Sa­xon blät­ter­te mit ge­üb­ten Fin­gern dar­in, bis sie das Bild fand, das sie such­te. Zwi­schen stol­zen Fel­sen und un­ter ei­nem grau­en, wol­ki­gen Sturm­him­mel sah man ein Dut­zend Boo­te, lan­ge, schma­le und dunkle Boo­te mit Ste­ven wie ge­wal­ti­ge Vo­gel­schnä­bel, die an ei­nem san­di­gen, schaum­wei­ßen Strand lan­den woll­ten. Die Män­ner in den Boo­ten wa­ren halb­nackt, mus­ku­lös, ab­ge­här­tet und tru­gen Flü­gel­hel­me. Schwer­ter und Spee­re hiel­ten sie in den Hän­den, und sie spran­gen bis zu den Hüf­ten in die Bran­dung und wa­te­ten an Land. Fell­be­klei­de­te Wil­de, die je­doch nicht In­dia­nern gli­chen, hat­ten sich in Scha­ren am Stran­de ver­sam­melt und gin­gen bis zu den Kni­en ins Was­ser, um sie an der Lan­dung zu ver­hin­dern. Die ers­ten Hie­be wa­ren ge­wech­selt, und hie und da sah man schon Tote und Ver­wun­de­te in der Bran­dung. Ein blond­lo­cki­ger Strandräu­ber lag über der Re­ling ei­nes der Boo­te; der Pfeil in sei­ner Brust er­zähl­te, dass er tot war. Aber über ihn hin­weg sprang in das Was­ser, das Schwert in der Hand, ihr Bil­ly. Ein Irr­tum war nicht mög­lich. Die ver­blüf­fen­de Blond­heit, das Ge­sicht, die Au­gen, der Mund, es war Bil­ly. Der Ge­sichts­aus­druck war der Bil­lys an je­nem Fest­ta­ge, als er die drei wil­den Ir­län­der in Schach hielt.

Von die­sen krie­ge­ri­schen Re­cken müs­sen Bil­lys Vor­fah­ren ab­stam­men und mei­ne auch, dach­te sie, als sie das Buch schloss und wie­der in die Kom­mo­de leg­te. Und ir­gend­ei­ner die­ser Vor­fah­ren hat­te eine alte mit­ge­nom­me­ne Kom­mo­de ver­fer­tigt, die über das Salz­meer und die Prä­rie ge­reist und im Kamp­fe mit den In­dia­nern bei Litt­le Mea­dow von ei­ner Ku­gel durch­bohrt war. Sie mein­te fast, die Frau­en se­hen zu kön­nen, die ih­ren Staat und ihre haus­ge­web­ten Bei­der­wand­stof­fe1 in die­sen La­den auf­be­wahrt hat­ten – die Frau­en die­ser wan­dern­den Ge­schlech­ter, die die Groß­müt­ter und Ur­groß­müt­ter und Urah­nen ih­rer ei­ge­nen Mut­ter ge­we­sen wa­ren. Nun ja, seufz­te sie, es ist je­den­falls eine gute Ras­se, von der man ab­stammt, eine Ras­se, gleich ge­eig­net für Ar­beit und Kampf. Sie dach­te, wie ihr Le­ben sich wohl ge­stal­tet hät­te, wenn sie eine Chi­ne­sin oder eine der klei­nen, schwer­fäl­li­gen, dun­kel­häu­ti­gen Ita­li­e­ne­rin­nen ge­we­sen wäre, die sie so oft bar­haupt oder mit bun­ten Kopf­tü­chern ge­se­hen hat­te, wenn sie mit großen Treib­holz­las­ten auf dem Kop­fe vom Stran­de ka­men. Dann muss­te sie über ihre ei­ge­ne Tor­heit la­chen, sie dach­te an Bil­ly und das Vier­zim­mer­haus in der Pine Street und ging zu Bett, zum hun­derts­ten Male den Kopf voll von Ge­dan­ken an die künf­ti­ge Woh­nung.

*

»Un­ser Vieh war ganz ab­ge­trie­ben«, sag­te Sa­xon, »und der Win­ter war so nah, dass wir nicht den Ver­such wag­ten, durch die große ame­ri­ka­ni­sche Wüs­te zu ge­hen; un­se­re Ka­ra­wa­ne blieb des­halb den Win­ter über in Salt Lake City. Die Mor­mo­nen wa­ren da­mals noch ver­nünf­tig und be­han­del­ten uns gut.«

»Du re­dest, als wä­rest du selbst mit da­bei ge­we­sen«, mein­te Bert.

»Mei­ne Mut­ter war mit da­bei«, sag­te Sa­xon stolz. »Sie war da­mals acht Jah­re alt.«

Sie sa­ßen am Kü­chen­tisch in dem klei­nen Haus in der Pine Street bei ei­nem aus But­ter­brot, Ta­ma­len und Bier be­ste­hen­den kal­ten Lunch. Es war Sonn­tag, so­dass sie alle vier ih­ren frei­en Tag hat­ten, und sie wa­ren früh ge­kom­men, um Fens­ter zu put­zen, Wän­de zu wa­schen, Fuß­bö­den zu scheu­ern, Tep­pi­che und Lin­ole­um zu le­gen, Gar­di­nen auf­zu­hän­gen, den Herd zu mon­tie­ren, Kü­chen­ge­rä­te und Tel­ler zu ord­nen und die Mö­bel auf­zu­stel­len.

»Er­zähl nur wei­ter, Sa­xon«, bat Mary. »Ich bin ganz ver­ses­sen dar­auf, mehr zu hö­ren. Und Bert, du wirst ge­fäl­ligst still­sit­zen und zu­hö­ren.«

»Schön. Es war im Win­ter, als Del Han­cock auf­tauch­te. Er war in Ken­tucky ge­bo­ren, leb­te aber seit vie­len Jah­ren im Wes­ten. Sein Weg führ­te ihn durch Salt Lake City – er soll­te ir­gend­wo­hin und ei­ni­ge Rocky-Moun­tain-Fän­ger zu­sam­men­brin­gen, mit de­nen er an ei­nem neu­en Ort, den er kann­te, Bi­ber ja­gen woll­te. Er war ein schö­ner Mann. Er trug lan­ges Haar, wie man es auf Bil­dern sieht, und eine sei­de­ne Schär­pe um den Leib – das hat­te er von den Spa­ni­ern in Ka­li­for­ni­en ge­lernt – so­wie zwei Re­vol­ver im Gür­tel. Er ge­hör­te zu den Män­nern, in die sich alle Frau­en auf den ers­ten Blick ver­lie­ben. Nun, er sah Sa­die, die äl­tes­te Schwes­ter mei­ner Mut­ter, und sie ge­fiel ihm wohl, denn er blieb in Salt Lake City. Er war der Schre­cken der In­dia­ner, und ich er­in­ne­re mich von klein auf, wie Tan­te Vil­la sag­te, dass er die schwär­zes­ten, fun­kelnds­ten Au­gen hat­te, und dass sein Blick an den ei­nes Ad­lers er­in­ner­te. Er fürch­te­te sich vor nichts.

Sa­die war eine Schön­heit. Sie flir­te­te mit ihm und mach­te ihn ganz ver­rückt. Ei­nes Abends kam er an­ge­rit­ten. ›Sa­die‹, sag­te er, ›wenn du mir nicht ver­sprichst, mich mor­gen zu hei­ra­ten, schie­ße ich mich noch heu­te Abend hier hin­ter der Wa­gen­burg tot.‹ Und er hät­te es auch ge­tan, und Sa­die wuss­te das und sag­te ja. War nicht Schwung in der Lie­be je­ner Tage?«

»Ach, ich weiß nicht recht«, sag­te Mary ver­ächt­lich. »Eine Wo­che, nach­dem du Bil­ly das ers­te­mal ge­se­hen hast, wart ihr ver­lobt. Sag­te Bil­ly, dass er sich hin­ter der Plät­te­rei er­schie­ßen woll­te, wenn du ihm einen Korb gäbst?«

»Ich gab ihm kei­ne Ge­le­gen­heit dazu«, ge­stand Sa­xon. »Aber Del Han­cock und Tan­te Sa­die hei­ra­te­ten am sel­ben Tage. Und sie wa­ren sehr glück­lich. Aber dann starb sie. Und vie­le Jah­re spä­ter wur­de er von den In­dia­nern ge­tö­tet. Er war da­mals ein al­ter Mann, aber ich glau­be schon, dass er eine gan­ze An­zahl In­dia­ner tö­te­te, ehe sie ihn ab­ta­ten. Män­ner sei­nes Schla­ges ster­ben im­mer kämp­fend und neh­men die mit, die sie tö­ten. So ging es auch mit Al St­an­ley, den ich kann­te, als ich klein war. Er wur­de am Ti­sche sit­zend von ei­nem Ei­sen­ar­bei­ter in den Rücken ge­schos­sen. Und der Schuss tö­te­te ihn. Er starb im Lau­fe von we­ni­gen Se­kun­den. Aber ehe er starb, zog er noch den Re­vol­ver und schoss drei Ku­geln ab auf den Mann, der ihn tö­te­te.«

»Ich kann kei­nen Kampf lei­den«, pro­tes­tier­te Mary. »Das macht mich ner­vös – Bert sucht im­mer Kra­keel – es hat kei­nen Sinn.«

»Ich gebe kei­nen sau­ren He­ring für einen Mann, der nicht den Mut hat, zu kämp­fen«, ant­wor­te­te Sa­xon. »Wir wür­den heu­te nicht hier sit­zen, wenn un­se­re Vä­ter nicht zu kämp­fen ver­stan­den hät­ten.«

»Du hast ja auch einen Mann be­kom­men, der zu kämp­fen ver­steht«, ver­si­cher­te Bert. »Un­ver­fälscht durch und durch. Bil­ly ist ein Mo­hi­ka­ner, dem die Skal­pe vom Gür­tel her­ab­hän­gen. Und wenn sein Ge­sicht mür­risch wird, ist es rat­sam, sich schleu­nigst zu ver­zie­hen, sonst fällt der Ham­mer – bums!«

»Eben«, be­kräf­tig­te Mary.

Bil­ly, der sich nicht an der Un­ter­hal­tung be­tei­ligt hat­te, stand plötz­lich auf und guck­te in die Schlaf­kam­mer ne­ben der Wohn­stu­be; dann kam er wie­der, blieb mit zu­sam­men­ge­zo­ge­nen Brau­en ste­hen und starr­te in die Schlaf­kam­mer ne­ben der Kü­che.