Aber – war es nur eine Mythe? In plötzlichem Zorn über ihren eigenen Zweifel zog sie die unterste Kommodenlade heraus und entnahm ihr eine alte abgegriffene Mappe. Vergilbte Manuskripte fielen heraus und verbreiteten einen schwachen, süßen Duft von fernen Zeiten. Die Schrift hatte die feine verschnörkelte Zierlichkeit, die vor einem halben Jahrhundert allgemein war. Sie las eine Strophe:
Süß wie der Äolsharfe luftige Saiten,
So lernte deine holde Muse die Gesänge,
Und Kaliforniens endlose Weiten
Bewahren noch im Echo diese Klänge.
Sie fragte sich, wie tausend Male zuvor, was eine Äolsharfe war, aber die Schönheit und Mystik des Wortes erinnerte an die dunkel in ihrem Bewusstsein stehende schöne Mutter. Sie fiel für eine Weile andächtig in Gedanken, dann öffnete sie ein anderes Manuskript. »An C. B.« stand dort. Sie wusste, dass das »an Carlton Brown« hieß, denn es war ein Liebesgedicht ihrer Mutter an ihren Vater. Saxon dachte über den Sinn nach:
Leis bin ich vom Lärm in den Hain entwichen,
Wo über Göttern die Bäume sich neigen:
Im Efeukranz Bacchus, die Liebesgöttin,
Pandora und Psyche in ewigem Schweigen.
Auch das ging über ihr Verständnis. Aber sie atmete gleichsam die Schönheit ein. Bacchus, Pandora und Psyche – geheimnisvolle Gottheiten, bei deren Namen man schwor. Aber ach! Nur ihre Mutter kannte den Schlüssel. Seltsame, sinnlose Worte, die so viel bedeuteten. Ihre herrliche Mutter hatte die Bedeutung gekannt. Saxon buchstabierte die drei Worte laut, Buchstaben für Buchstaben, aber sie wagte nicht den Versuch, sie auszusprechen; und Ehrfurcht einflößende, tiefe und unfassbare Vorstellungen kamen und gingen in ihrem Bewusstsein. Verwirrt und geblendet machten ihre Gedanken halt beim Eingang zu einer, sternestrahlenden Welt hoch über der ihren, wo ihre Mutter daheim gewesen war. Andächtig las sie diese Verse immer wieder, mit dem Gefühl, dass ihr Strahlenglanz Licht und Klarheit auf die Welt von Unruhe und Plage werfen musste, in der sie selbst zu Hause war. Zwischen diesen geheimnisvollen Versen verbarg sich der Schlüssel. Konnte sie ihn nur finden, so wurde alles klar – davon war sie fest überzeugt. Sie würde die scharfe Zunge Sarahs, ihren unglücklichen Bruder, die Grausamkeit Charley Longs, den Überfall auf den Buchhalter verstehen, den Sinn der tagelangen, monatelangen, jahrelangen Mühe am Plättbrett. Und überwältigt von dieser Poesie, dieser Menge von Mysterien, rollte sie das Manuskript zusammen und legte es weg. Wieder griff sie in die Lade und suchte die Lösung des Rätsels zwischen den letzten teuren Erinnerungen an die geheime Seele ihrer Mutter.
Diesmal war es ein mit Band zusammengebundenes Päckchen in Seidenpapier. Sie öffnete es vorsichtig mit dem Ernst und der Umständlichkeit eines Priesters vor dem Altar. Ein kleiner spanischer Gürtel aus roter Seide, mit Fischbein, fast wie ein kleines Korsett, kam zum Vorschein, ein Putz, wie die Frauen der ersten Ansiedler ihn trugen, als sie über die Prärie kamen. Es war eine Handarbeit nach dem alten spanisch-kalifornischen Modell. Selbst das Fischbein war zu Hause aus dem Rohmaterial bereitet, das die Alten von den Walfängern für Häute und Talg eingetauscht hatten. Den schwarzen Spitzenbesatz hatte ihre Mutter selbst verfertigt. Die dreifache Kante aus schwarzem Samtband – jeden Stich hatte ihre Mutter selbst genäht.
Saxon versank in Träumereien und sah auf den Gürtel. Dies war das Konkrete. Dies verstand sie. Dies verehrte sie, wie die Menschen Götter verehren, obwohl die Zeugnisse ihres Aufenthalts auf Erden oft weniger handgreiflich gewesen sind.
Der Gürtel maß zweiundzwanzig Zoll von einem Ende bis zum anderen. Sie wusste das, denn sie hatte ihn oft gemessen. Sie stand auf und legte ihn sich um den Leib. Es war der Teil eines Rituals. Er umschloss sie fast ganz. An einzelnen Stellen ging er ganz zusammen. Wenn sie entkleidet war, passte er ihr, wie er ihrer Mutter gepasst hatte. Nichts griff Saxon so ans Herz wie dieser Überrest aus alten Tagen. Sie hatte die Gestalt ihrer Mutter. Äußerlich glich sie ihrer Mutter. Ihre Geschicklichkeit, die Schnelligkeit, mit der sie ihre Arbeit verrichtete, und über die die anderen so erstaunt waren, hatte sie von ihrer Mutter. Gerade so hatte ihre Mutter ihre Mitwelt in Erstaunen gesetzt – ihre Mutter, das kleine puppenhafte Geschöpf, die Kleinste und Jüngste von der großen Schar der Pioniere, denen sie gleichwohl wie eine Mutter gewesen war. Immer war es ihre Klugheit, zu der sie ihre Zuflucht nahmen, selbst die Brüder und Schwestern, die ein Dutzend Jahre älter waren als sie. Daisy war es, die, mit ihrem kleinen Fuß aufstampfend, den Befehl gegeben hatte, von den flachen Fieberländern Colusas aufzubrechen und in die heilbringenden Berge Venturas zu ziehen; die ihren Vater, den alten wilden Indianerbezwinger, an die Wand gedrängt und den Kampf mit der ganzen Familie aufgenommen hatte, damit Vila einen Mann heiraten durfte, den sie selbst gewählt hatte; die wieder der Familie und der ganzen öffentlichen Moral getrotzt hatte, als sie verlangte, dass Laura sich von ihrem verbrecherisch schwachen Manne scheiden lassen sollte, und die andererseits jedes Mal die Familie zusammengehalten hatte, wenn Missverständnisse und menschliche Schwäche gedroht hatten, sie zu sprengen.
Friedensstifter und Krieger! All die alten Geschichten zogen an Saxons Augen vorbei. Klar in allen Einzelheiten, denn sie hatte sie so oft beschworen, obwohl es Dinge waren, die sie nicht gesehen hatte. Die Einzelheiten waren deshalb auch teilweise Kinder ihrer eigenen Einbildungskraft, denn sie hatte nie einen Zug Ochsen, einen wilden Indianer oder ein Prärieschiff gesehen. Und doch sah sie wie eine Wirklichkeit aus Fleisch und Blut eine lange Karawane der landgierigen Angelsachsen von Osten nach Westen quer über den Kontinent ziehen, eingehüllt in eine sonnenblinkende Wolke vom Staub von zehntausend Hufen. Es war Fleisch von ihrem Fleisch und Blut von ihrem Blut. Sie hatte diese Sagen und wirklichen Ereignisse mit der Muttermilch eingesogen, sie von deren Lippen gehört, die selbst alles mitgemacht hatte. Deutlich sah sie vor sich den langen Wagenzug, die mageren, abgehärteten Männer, die voranschritten, während die Jungen mit Stachelstöcken die brüllenden Ochsen antrieben. Und durch dieses Fantasiegespinst flog wie eine Spindel, die mit Goldfaden das Bild einer Persönlichkeit webte, die Gestalt ihrer unüberwindlichen kleinen Mutter, acht Jahre alt und neun, ehe die große Wanderung zu Ende war, eine Geistermahnerin und Gesetzgeberin, die ihre eigenen Wege gehen wollte – und sowohl der Wille wie der Weg waren stets gut und richtig.
Am allerlebendigsten aber sah Saxon den Kampf bei Little Meadow und Daisy, wie zum Fest gekleidet, in Weiß, mit einer seidenen Schärpe um den Leib, einen Schmuckkamm und Seidenband im Haar und in beiden Händen einen kleinen Wassereimer – in den Sonnenschein auf das blumenübersäte Gras heraustreten aus dem Wagenkreis, wo die Verwundeten in Fieberfantasien schrien und vom rinnenden Quell fabelten, und sie sah sie im Sonnenschein, unangefochten von den Indianern, die das Erstaunen hinderte, ihre Waffen zu gebrauchen, bis zu dem hundert Schritt entfernten Wasserloch und wieder zurück gehen.
Saxon drückte einen leidenschaftlichen Kuss auf den kleinen roten spanischen Gürtel; dann rollte sie ihn schnell zusammen und nahm mit feuchten Augen Abschied von ihrem mystischen Mutterkult und all dem Rätselhaften und Wunderbaren, das Leben hieß.
Als sie im Bett lag, beschwor sie unter den geschlossenen Lidern die wenigen reichen Erinnerungen an die Mutter, die ihre Kindheit barg. Dies war ihre liebste Methode, den Schlaf zu rufen. So hatte sie es ihr ganzes Leben lang gemacht – war in das Todesdunkel des Schlafes mit dem letzten sterbenden, von der Erinnerung an ihre Mutter gefärbten Bewusstsein gesunken. Aber diese Mutter war weder die Daisy von der großen Prärie, noch die von der Daguerreotypie. Die war aus der Zeit, ehe Saxon lebte. Die Daisy, die sie nachts sah, war eine ältere, von Schlaflosigkeit geplagte Mutter, mutig wie jemand, der die Sorge gekannt hat, ein blasses, gebrechliches Geschöpf, sanft und geduldig, das nur lebte durch seine Willenskraft, ohne die es längst den Verstand verloren hätte; das nicht schlafen konnte, so gern es auch wollte, und dem alle Ärzte der Welt keinen Schlaf verschaffen konnten. Kroch – immer im Hause herumkroch – vom Krankenbett zum Krankenstuhl und wieder zurück, immer wieder, die langen qualvollen Tage und Wochen, aber stets ohne Klage, wenn auch ihr sieghaftes Lächeln von Schmerz verzerrt war und die klugen grauen Augen, die immer noch klug und grau waren, unverhältnismäßig groß und bodenlos tief geworden waren.
Aber in dieser Nacht glückte es Saxon nicht, schnell einzuschlafen; das Mütterchen kam und ging, und dazwischen prägte sich Billys Gesicht mit den hübschen verdrossenen Augen, in denen Wolken kamen und gingen, in ihre Lider ein. Und noch einmal, als der Schlaf sie in seine sanften Arme nahm, stellte sie sich die Frage: Ist dies der Mann?
*
Die Arbeit in der Plättstube ging schnell vonstatten, aber die drei Tage bis Mittwoch abend waren sehr lang. Saxon summte über dem Zeug, das rasch unter dem Eisen fortflog.
»Ich begreife nicht, wie du es machst«, sagte Mary bewundernd. »Wenn du so dabei bleibst, verdienst du diese Woche leicht dreizehn oder vierzehn.«
Saxon lachte, und in dem Dampf ihres Eisen sah sie goldene Buchstaben tanzen, die sich zu einem »Mittwoch« fügten.
»Wie gefällt dir Billy?« fragte Mary.
»Gut«, lautete die freimütige Antwort.
»Schön, aber dabei lass es auch bleiben.«
»Das kommt wohl auf mich selber an«, antwortete Saxon heiter.
»Lass das lieber bleiben«, lautete die warnende Antwort. »Du hast nur Kummer davon. Er denkt nicht ans Heiraten. Das hat schon mehr als ein Mädchen erfahren. Sie werfen sich ihm ja direkt an den Hals.«
»Ich beabsichtige mich weder ihm noch einem anderen Mann an den Hals zu werfen.«
»Ich wollte es dir nur sagen«, schloss Mary. »Du wirst gut tun, es dir zu merken.«
Saxon war ernst geworden.
»Er ist wohl nicht – nicht so …«, begann sie, sah aber im selben Augenblick die Bedeutung der Frage ein, die sie nicht formen konnte.
»Ach nein, gar nicht so – obwohl ich eigentlich nicht weiß, was ihn davon abhalten sollte. Er ist durch und durch anständig. Nur eben keiner von denen, die vor jedem Unterrock kapitulieren. Er tanzt und amüsiert sich, aber mehr nicht. Viele sind ganz verrückt nach ihm gewesen. Augenblicklich laufen ihm mindestens ein Dutzend verliebte Mädels nach. Und er macht sich nur lustig über sie. Du kennst doch Lily Sanderson. Du hast sie letzten Sommer beim Fest der Slawonen in Shellmound gesehen – das große, hübsche blonde Mädchen, das mit Butch Willows zusammen war.«
»Ja, ich erinnere mich«, sagte Saxon. »Was ist mit ihr?«
»Sie ging einige Zeit mit Butch Willows, und nur, weil sie gut tanzte, tanzte Billy ziemlich viel mit ihr. Butch hat vor nichts Angst. Er macht auf der Stelle ein großes Hallo, nagelt Billy draußen, wo Gott und alle Welt es hören können, fest und gibt ihm eine lange Erklärung, und Billy hört auf seine besonnene, schläfrige Art zu, und Butch wird immer wütender, und alle erwarten einen Krach.
Da sagt Billy zu Butch: ›Bist du fertig?‹ ›Ja!‹ sagt Butch. ›Ich habe gesagt, was ich zu sagen hatte, und was willst du jetzt tun?‹ Und da sagt Billy – ja, was meinst du, was er sagte, während Gott und alle Welt zuhörten und Butch wie der Blutdurst selber aussah? Weißt du, was er sagte? ›Ich will gar nichts, Butch‹. Genau so. Butch war so erstaunt, dass man ihn mit einer Feder hätte umwerfen können. ›Und du tanzt nicht mehr mit ihr?‹ fragt er. ›Nicht, wenn du sagst, dass ich es nicht darf, Butch‹, sagt Billy. Genau so.
Ein anderer hätte sich nur so zurückziehen sollen – kein Mensch hätte ihn dann noch angesehen. Aber Billy – der konnte es sich leisten. Er hat einen Ruf als Boxer, und als er Butch ganz ruhig reden ließ, wussten Gott und alle Welt, dass er sich weder fürchtete noch den Schwanz zwischen die Beine steckte. Er machte sich nicht das geringste aus Lily Sanderson, das war alles, und doch konnten Gott und alle Welt sehen, dass sie ganz verrückt nach ihm war.«
Diese Geschichte machte Saxon nicht geringen Kummer. Sie war weder mehr noch weniger eitel als Frauen im Allgemeinen, wenn es aber darauf ankam, einen Mann zu erobern, hatte sie nicht viel Selbstvertrauen. Billy hatte es Vergnügen gemacht, mit ihr zu tanzen, und sie fragte sich, ob das alles wäre. Falls Charley Long Streit mit ihm suchte, würde er sie dann laufen lassen, wie er Lily Sanderson hatte laufen lassen? Er dachte nicht ans Heiraten. Aber Saxon konnte vor der Tatsache nicht die Augen verschließen, dass er im hohen Maße erstrebenswert als Ehemann war. Kein Wunder, dass die Mädchen ihm nachliefen. Und er war ein Männerbezwinger wie ein Frauenbezwinger. Die Männer hatten ihn gern. Bert Wanhope schien ihn geradezu zu lieben. Sie erinnerte sich des Butchertowners aus dem Weasel-Park, der an ihren Tisch gekommen war, um sich zu entschuldigen, und des Irländers vom Tauziehen, der jeden Gedanken, sich mit Billy zu prügeln, in dem Augenblick aufgab, als er ihn erkannte.
Ein sehr verzogener junger Mann, das war der Gedanke, der Saxon hin und wieder durch den Kopf schoss. Aber jedes Mal verwarf sie ihn als etwas Niedriges. Billy war sanft auf seine eigene, aufreizende, besonnene Art. Bei all seiner Kraft trat er den Rechten anderer nicht zu nahe. Da war die Geschichte mit Lily Sanderson. Bert hätte aus reiner Necklust und aus Freude am Krach nicht so gehandelt. Es hätte eine Prügelei und Hass gegeben, Butch wäre sein erbitterter Feind geworden, und Lily würde nichts dabei gewonnen haben. Aber Billy hatte sich richtig benommen, besonnen, ohne sich stören zu lassen, und mit der größten Rücksicht auf jeden, was ihn alles zusammen in Saxons Augen noch erstrebenswerter machte.
Sie kaufte sich ein Paar neue Seidenstrümpfe, deren Kauf sie von einer Woche zur anderen hinausgeschoben hatte, und Dienstag nacht blieb sie auf und nähte sich schläfrig und müde eine neue Bluse, während Sarah sie ausschalt, dass sie so viel Gas verschwendete.
Der Orindoreball am Mittwoch abend war kein ungemischtes Vergnügen. Es war schändlich zu sehen, wie die Mädchen Billy umschwärmten, und zuweilen reizte Saxon die Rücksicht, die er ihnen erwies. Aber sie musste zugeben, dass er die anderen jungen Männer in ihren Gefühlen nicht verletzte, wie die Mädchen die ihren verletzten. Sie bettelten ihn geradezu an, mit ihnen zu tanzen, und von dieser ganz offensichtlichen Jagd auf ihn entging ihrer Aufmerksamkeit nicht viel. Sie beschloss, es nicht so wie die anderen zu machen und es in dieser Weise auf ihn anzulegen, sondern tanzte bald mit dem einen, bald mit dem anderen und bemerkte mit heimlicher Freude, dass sie die richtige Taktik befolgte. Sie zeigte ihm mit voller Überlegung, dass es noch andere Männer gab, die ihr gefielen, während er ihr, ohne sich dabei etwas zu denken, seine Beliebtheit bei den Frauen zeigte.
Ihr Glück kam, als er kühl ihre Einwände überhörte und hartnäckig zwei Tänze mehr verlangte, als sie ihm versprochen hatte. Und sie wurde froh und zornig zugleich, als sie zufällig eine Unterhaltung zwischen zwei großen, starken Fabrikarbeiterinnen hörte. – »Wie die kleine Abgebrochene ihn mit Beschlag belegt!« sagte die eine. Und die andere: »Sie könnte eigentlich gern einem von ihrem eigenen Alter nachlaufen.« »Kinderräuberin!« lautete die letzte Bosheit, die Saxon das Blut in die Wangen trieb, während die beiden Mädchen sich entfernten, ohne zu wissen, dass sie ihnen zugehört hatte.
Billy begleitete sie nach Hause, küsste sie an der Pforte und nahm ihr das Versprechen ab, am Freitag abend mit ihm zum Tanz in der Germaniahalle zu gehen.
»Ich hatte eigentlich nicht daran gedacht, hinzugehen«, sagte er. »Aber wenn Sie wollen – Bert kommt auch.«
Am Plättbrett erzählte Mary ihr am nächsten Tage, dass sie und Bert in die Germaniahalle gingen.
»Kommst du auch?«
Saxon nickte.
»Und Billy Roberts?«
Wieder nickte sie. Mary sandte ihr mit erhobenem Plätteisen einen langen neugierigen Blick.
»Und wenn Charley Long Krach schlägt?«
Saxon zuckte die Achseln.
Schnell und schweigend plätteten sie eine Viertelstunde weiter.
»Nun ja«, sagte Mary schließlich, »wenn er es tut, kriegt er vielleicht, was er verdient. Das sollte mich freuen. Es kommt alles auf Billys Stimmung an – mit Bezug auf dich, meine ich.«
»Ich bin nicht Lily Sanderson«, antwortete Saxon zornig. »Ich würde Billy Roberts nie Gelegenheit geben, mich stehen zu lassen.«
»Doch, wenn Charley Long Krach schlägt. Und das sage ich dir, Saxon, der ist kein Gentleman. Wie er sich gegen Herrn Moody benommen hat! Es war grässlich, wie er ihn überfiel. Und Herr Moody ist ein so netter kleiner Mann, der keiner Fliege etwas zuleide tut. Nun ja, er wird schon merken, dass Billy kein Muttersöhnchen ist – längst nicht.«
Am selben Abend traf Saxon Charley Long, der vor dem Eingang der Wäscherei wartete. Als er vortrat, guten Abend sagte und sich anschickte, sie zu begleiten, spürte Saxon das alte ängstliche Herzklopfen, das er sie hinreichend kennengelehrt hatte. Die Farbe wich aus ihren Wangen, so ängstlich machte sein Anblick sie. Sie fürchtete den plumpen Körper dieses Mannes, seine schweren braunen Augen, die sie tyrannisierten und sich zugleich Vertraulichkeiten erlaubten; seine schweren Schmiedefäuste und die dicken schwarzen Finger mit der Behaarung auf dem ersten Glied. Er wirkte abstoßend auf sie, rein physisch sowohl wie auf all ihre besseren Gefühle. Es war nicht seine Kraft an sich, sondern deren Wesen und die Art, wie er sie missbrauchte, was ihr zuwider war. Sein Überfall auf den braven Herrn Moody hatte ihr lange qualvolle Stunden bereitet. Es schauderte sie noch, so oft sie daran dachte. Und doch hatte sie ohne zu schaudern zugesehen, wie Billy sich im Weasel-Park auf dieselbe primitive Manntierart schlug. Aber es war ein Unterschied gewesen. Das wusste sie, wenn sie es auch nicht zu entscheiden vermochte, worin dieser Unterschied bestand. Über das Tierische an Händen und Charakter dieses Mannes war sie sich jedoch klar.
»Du siehst so blass und mitgenommen aus, Mädel«, sagte er. »Warum schlägst du nicht zu? Einmal muss es ja doch sein. Du entkommst mir nicht, Kindchen.«
»Könnte ich nur«, antwortete sie.
Er lachte, ein rohes, lärmendes Lachen. »Da ist nichts zu machen, Saxon. Du bist wie geschaffen dazu, Frau Long zu werden, und es ist so sicher wie nur etwas, dass du es wirst.«
»Ich wünschte, ich wäre in allem so sicher wie du«, sagte sie mit einem missglückten Versuch, sarkastisch zu sein.
»Hör jetzt gut zu, was ich dir sage«, fuhr er fort. »Wenn ich mir etwas vornehme, so tue ich es, und wenn mir jemand in den Weg kommt, geht es ihm schlecht. Hast du mich verstanden? Du kannst dich eben so gut gleich entschließen, die Arbeit in meinem Haus zu tun statt in der Plätterei. Es ist gar nicht darüber zu reden. Viel zu tun gibt es nicht. Ich verdiene ein schönes Geld, und du sollst nichts entbehren. Ich habe mich nur nach der Arbeit gewaschen und bin hergekommen, um es dir noch einmal zu sagen. Du wirst wohl so gut sein, es dir zu merken. Ich habe mir nicht einmal Zeit gelassen, etwas zu essen. Da kannst du sehen, wie gern ich dich habe.«
»Dann solltest du lieber gehen und essen«, riet Saxon ihm, obwohl sie wusste, wie aussichtslos jeder Versuch war, ihn loszuwerden.
Sie wurde sich plötzlich bewusst, dass sie sehr müde und sehr klein und schwach neben diesem Koloß von Mann war. Soll er mich immer tyrannisieren? fragte sie sich verzweifelt, und im selben Augenblick sah sie ihr zukünftiges Leben vor sich, und Gestalt und Gesicht des dicken Schmieds verfolgten sie überall.
»Nur guten Mutes, Kindchen, schlag zu!« fuhr er fort. »Es ist jetzt Sommer, gerade die rechte Zeit zum Heiraten.«
»Aber ich will dich nicht heiraten«, protestierte sie. »Das habe ich dir mehr als tausendmal gesagt.«
»Ach Unsinn! Selbstverständlich heiratest du mich. Das ist abgemacht. Freitag abend fahren wir zusammen nach Frisco. Es wird großes Hallo bei den Hufschmieden geben.«
»Aber ich geh nicht mit«, protestierte sie.
»Freilich wirst du«, antwortete er mit vollkommener Sicherheit. »Mit dem letzten Boot fahren wir heim, und du wirst dich schon amüsieren. Ich werde dich einigen guten Tänzern vorstellen. Ach, ich bin nicht kleinlich, und du tanzt ja gern.«
»Aber ich sage dir doch, dass ich nicht kann«, wiederholte sie.
Er warf ihr einen misstrauischen Blick zu unter den schwarzen dichten Brauen, die über der Nase zusammenwuchsen.
»Warum kannst du nicht?«
»Ich habe eine Verabredung.«
»Mit wem?«
»Mit niemand, der dich etwas angeht, Charley Long. Ich habe eine Verabredung, das ist alles.«
»Ich werde dafür sorgen, dass es mich angeht. Denk an das Milchgesicht von Buchhalter! Ja, denk nur an ihn und an die Prügel, die er kriegte.«
»Ich möchte, dass du mich in Frieden lässt«, sagte sie gekränkt. »Kannst du dich denn nicht ein einziges Mal ordentlich benehmen?«
Der Schmied lachte boshaft.
»Wenn irgendein Flaps glaubt, sich zwischen dich und mich drängen zu können, so soll er etwas erleben. Charley Long wird es ihn lehren. Freitag abend – he? Wo?«
»Das sage ich nicht.«
»Wo?« wiederholte er. Sie schwieg und presste die Lippen zusammen, während der Zorn kleine rote Flecken auf ihre Wangen malte.
»Hm! – Als ob ich es mir nicht denken könnte. Germaniahalle. Schön, ich komme; verstehst du? Und nachher bringe ich dich nach Hause. Hast du jetzt verstanden? Und du tust am besten, dem Laffen zu raten, wegzubleiben, wenn du sein Gesicht nicht verschimpfiert sehen willst.«
Saxon fühlte sich versucht, ihm Namen und Ruf ihres neuen Beschützers ins Gesicht zu schreien. Dann aber kam die Furcht. Charley war ein starker Mann und Billy nur ein Knabe. So wirkte er jedenfalls auf sie. Sie erinnerte sich des ersten Eindrucks, den sie von seinen Händen erhalten hatte, und warf einen schnellen Blick auf die Hände des Mannes neben ihr. Sie erschienen ihr doppelt so groß wie die Billys, und die dichte Haarschicht machte auf sie den Eindruck ungeheurer Kraft. Nein, mit diesem dicken Tier konnte Billy den Kampf nicht aufnehmen. Er durfte nicht! Aber im selben Augenblick fühlte sie eine kleine boshafte Hoffnung, dass Billy kraft seiner geheimnisvollen und unglaublichen Geschicklichkeit als Boxer dennoch imstande sei, diesen Klotz zu züchtigen und sie von ihm zu befreien. Aber noch ein Blick, und der Zweifel meldete sich wieder, denn ihre Augen ruhten auf den breiten Schultern des Schmiedes. Die Jacke war voller Muskelfalten, und die Ärmel schwollen über dem massigen Oberarm.
»Wenn du wieder wagst, einen anzutasten, mit dem ich gehe –«, begann sie.
»Ja, dann ist es selbstverständlich am schlimmsten für ihn«, grinste Long. »Und das geschieht ihm recht. Jeder Mann, der sich zwischen einen Mann und sein Mädel drängt, verdient, dass es ihm schlecht geht.«
»Aber ich bin nicht dein Mädel und werde es nie, was du auch sagen magst.«
»Das ist recht, reg dich nur auf«, sagte er beifällig. »Dann hab ich dich gern. Ksskss. So eine Frau kann ein Mann brauchen, keine von den fetten Kühen hier. Die sind tot. Aber du bist lebendig. Und gerade so, wie du sein sollst.«
Sie blieb vor dem Hause stehen und legte die Hand auf die Klinke.
»Gute Nacht!« sagte sie. »Ich gehe hinein.«
»Komm wieder heraus und geh mit in den Idorapark«, schlug er ihr vor.
»Nein, ich fühle mich nicht ganz wohl und gehe gleich nach dem Abendessen zu Bett.«
»Aha«, knurrte er. »Um morgen Abend recht hübsch zu sein – was, Mädel?«
Mit einer ungeduldigen Bewegung öffnete sie die Pforte und trat ein.
»Ich habe es dir jetzt gesagt«, fuhr er fort. »Wenn du morgen Abend nicht mit mir gehst, dann wird es einem schlecht ergehen.«
»Ja, und hoffentlich dir«, rief sie rachsüchtig.
Er lachte und warf den Kopf zurück, spannte seinen mächtigen Brustkasten und hob die schweren Arme. Er erinnerte sie in diesem Augenblick an einen großen Affen, den sie einmal im Zirkus gesehen hatte, und sie fühlte einen tiefen Widerwillen.
»Ja, gute Nacht denn«, sagte er. »Wir sehen uns morgen Abend in der Germaniahalle.«
»Ich habe nicht gesagt, dass es die Germaniahalle ist.«
»Und du hast auch nicht gesagt, dass es nicht die Germaniahalle ist. Na, ich komme jedenfalls. Verlass dich darauf und bewahre mir hübsch viele Tänze auf. Das ist mein Recht. Sei nur recht wütend. Das steht dir gut.«
*
Die Musik spielte gerade die letzten Töne eines Walzers, als Billy und Saxon vor der großen Eingangstür des Tanzlokals standen. Ihre Hand ruhte leicht auf seinem Arm, und sie wollten sich gerade ein paar Stühle suchen, als Charley Long, der offenbar auch gerade gekommen war, sich zu ihnen hindurchdrängte.
»Ach so, du bist es? Und du willst hier Krach machen, wie?« sagte er, und sein Gesicht war böse und rot.
»Wer? Ich?« fragte Billy ruhig. »Du irrst dich, ich mache nie Krach.«
»Ich zerschlage dir den Kopf, wenn du dich nicht verziehst und zwar ein bisschen schnell.«
»Das möchte ich sehr ungern«, sagte Billy zaudernd. »Komm, Saxon, die Nachbarschaft ist nicht gesund für uns.«
Er machte Miene, sich mit ihr zu entfernen, aber Long stellte sich ihnen in den Weg.
»Du bist doch ein bisschen zu nass hinter den Ohren, Freundchen«, knurrte er. »Du musst ein bisschen gesalzen werden, verstanden?«
Billy kratzte sich mit einem Ausdruck übertriebenen Erstaunens den Kopf.
»Nein, ich glaube, ich verstehe dich nicht«, sagte er. »Was hast du übrigens gesagt?«
Aber der große Schmied wandte sich verächtlich von ihm ab zu Saxon.
»Komm, Mädel. Zeig mir deine Tanzkarte.«
»Willst du mit ihm tanzen?« fragte Billy.
Sie schüttelte den Kopf.
»Tut mir leid, Genosse. Aber dann ist nichts zu machen«, sagte Billy und schickte sich wieder zum Gehen an.
Zum dritten Mal stellte sich der Schmied ihnen in den Weg.
»Weg mit dir«, sagte Billy. »Weg mit dir, sage ich.«
Long stand sprungbereit da. Er hatte die Fäuste geballt, der eine Arm war zum Stoß zurückgezogen und Schultern und Brustkasten vorgeschoben. Aber Billys unerschütterliche Ruhe und sein kalter Blick, in dem Wolken kamen und gingen, ließen ihn sich bedenken. Billy hatte sich nicht von der Stelle gerührt und sah vollkommen ruhig aus. Es war, als beachtete er den drohenden Angriff gar nicht. Das war etwas Neues und Unbekanntes in Longs Praxis.
»Du weißt vielleicht nicht, wer ich bin?« knurrte er.
»Doch«, warf Billy leicht hin. »Du bist ein Rekordkrachmacher.« Long machte ein ganz vergnügtes Gesicht. »Du solltest den Diamantengürtel der ›Police Gazette‹ fürs Umwerfen von Kinderwagen haben. Ich bin sicher, dass du mit jedem anbändelst.«
»Lass ihn in Ruhe, Charley«, sagte einer der jungen Leute, die sich um sie geschart hatten. »Das ist Bill Roberts, der Boxer. Du kennst ihn. Der Große Bill.«
»Mir ist es einerlei, und wenn es Jim Jeffries selbst wäre. Er soll hier keinen Krach mit mir machen.«
Nichtsdestoweniger konnten alle, auch Saxon, merken, dass seine Wut sich bedeutend abgekühlt hatte. Billys Name schien eine beruhigende Wirkung auf brüllende Männchen auszuüben.