Jack London – Gesammelte Werke

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Wie­der streck­te der Aus­ru­fer die Arme hoch, und der Lärm leg­te sich.

»Um Frie­den und Ver­ständ­nis wie­der her­zu­stel­len, ha­ben die Rich­ter be­schlos­sen, dass Ti­mo­thy McMa­nus an dem Lauf teil­neh­men darf. Wenn er ge­winnt, ge­hört das Geld ihm.«

»Ist das nicht blöd?« brumm­te Bil­ly ge­kränkt. »Wenn Tim jetzt gut ge­nug ist, so war er es auch das ers­te­mal. Und wenn er das ers­te­mal gut ge­nug war, so ge­hör­te das Geld ihm.«

»Dies­mal wird Rot­schopf aus lau­ter An­stren­gung sich sel­ber in die Luft spren­gen«, tri­um­phier­te Bert.

»Ja, und Tim sich auch«, ant­wor­te­te Bil­ly. »Du kannst dich dar­auf ver­las­sen, dass er wü­tend ist, und dies­mal wird er sich ganz aus­ge­ben.«

Eine Vier­tel­stun­de ver­ging da­mit, die er­reg­te Men­ge aus der Are­na zu schaf­fen, und dies­mal stell­ten sich nur noch Tim und Rot­schopf am Start­pfahl auf. Die an­de­ren drei hat­ten den Kampf auf­ge­ge­ben.

Tim über­nahm die Füh­rung am Start mit ei­ner Elle Vor­sprung.

»Ja, ge­wiss ist er Pro­fes­sio­nal, und zwar durch und durch«, mein­te Bil­ly. »Seht, was er leis­tet!«

Um die hal­be Are­na be­hielt er die Füh­rung, in­dem er sei­nen Vor­sprung bis zu ei­nem Dut­zend Schritt ver­grö­ßer­te. Jetzt kam er, im­mer die­sen Ab­stand hal­tend, mit vol­ler Ge­schwin­dig­keit auf das Ziel los, als – ge­ra­de un­ter­halb des Han­ges, wo Bil­ly und sei­ne Ge­sell­schaft stan­den – et­was Un­glaub­li­ches und Un­denk­ba­res ge­sch­ah. Dicht ne­ben der Are­na stand ein jun­ger Mann mit ei­nem dün­nen Spa­zier­stock in der Hand. Er ge­hör­te of­fen­bar nicht mit zu den Fest­teil­neh­mern, denn nichts an ihm deu­te­te auf einen Ar­bei­ter. Hin­ter­her be­haup­te­te Bert, dass er eher nach ei­nem Tanz­leh­rer aus­ge­se­hen hät­te, wäh­rend Bil­ly ihn einen »Stut­zer« nann­te.

Aber die­ser jun­ge Mann wur­de das Schick­sal des Ti­mo­thy McMa­nus; denn als Tim an ihm vor­bei­kam, steck­te ihm der jun­ge Mann mit der of­fen­sicht­lichs­ten Über­le­gung sei­nen Stock zwi­schen die Bei­ne. Tim flog durch die Luft, mach­te einen Pur­zel­baum und fiel in ei­ner Staub­wol­ke auf das Ge­sicht.

Für einen Au­gen­blick trat tie­fes, atem­lo­ses Schwei­gen ein. Der jun­ge Mann war selbst von dem Un­ge­heu­er­li­chen sei­ner Tat ge­lähmt. So­wohl er wie die Zuschau­er brauch­ten Zeit, um sich zu be­sin­nen, was er ei­gent­lich ge­tan hat­te. Die Zuschau­er ka­men zu­erst zur Be­sin­nung, und aus tau­send Keh­len er­tön­te das wil­de iri­sche Ge­heul. Rot­schopf ge­wann den Lauf, ohne dass ein ein­zi­ger Hur­ra­ruf er­tön­te. Das Sturm­zen­trum hat­te sich zu dem jun­gen Mann mit dem Stock ver­rückt. Als das Ge­heul kam, mach­te er kehrt und eil­te den Hang hin­auf.

»Auf ihn! Auf ihn!« ju­bel­te Bert und schwang den Hut durch die Luft. »Dich habe ich gern. Wer hät­te das ge­glaubt? Wer hät­te das ge­glaubt? Was? Wer hät­te das ge­dacht? Wie? Wer hät­te das ge­dacht?« »Pah! Er will aus­rei­ßen!« rief Bil­ly. »Aber warum hat er es ge­tan? Er ist doch kein Mau­rer.«

Wie ein er­schro­cke­nes Ka­nin­chen flog der jun­ge Mann, von ei­nem ohn­mäch­ti­gen Ge­brüll ge­folgt, den Hang hin­auf bis zu ei­nem frei­en Fleck, wo er einen Au­gen­blick spä­ter ver­schwun­den war. Hun­der­te von blut­dürs­ti­gen Rä­chern wa­ren ihm auf den Fer­sen.

»Nur scha­de, dass er den Rest nicht mehr er­lebt«, sag­te Bil­ly. »Denn jetzt geht es los.«

Bert war ganz au­ßer sich. Er hüpf­te und sprang und heul­te im­mer­fort:

»Seht sie! Seht sie! Seht sie nur!«

Die Oa­k­land-Par­tei war tief ge­kränkt. Zum zwei­ten Mal war ihr Fa­vo­rit aus dem Spiel ge­setzt. Dies war na­tür­lich ein neu­er Trick der San-Fran­zis­ko­er Par­tei. Und Oa­k­land ball­te die ge­wal­ti­gen Fäus­te und schwang sie blut­dürs­tig San Fran­zis­ko ent­ge­gen. Aber San Fran­zis­ko, das sich sei­ner Un­schuld be­wusst war, leg­te nicht we­ni­ger Wert dar­auf, die Sa­che zu ent­schei­den. Fünf­tau­send stürz­ten sich mit Ei­fer in den Kampf. Die Frau­en gin­gen mit. Das gan­ze Am­phi­thea­ter hall­te wi­der vom Kampf. Fünf oder sechs Schutz­leu­te, die die Ver­wal­tung des Wea­sel-Parks aus An­lass des Ta­ges ge­mie­tet hat­ten, be­ka­men von bei­den Sei­ten, ohne Rück­sicht auf die Par­tei, Prü­gel.

Es ra­schel­te im Ge­büsch hin­ter ihm, Bert sprang bei­sei­te und mach­te zwei eng ver­schlun­ge­nen Ge­stal­ten Platz, die über den Hang roll­ten, wäh­rend sie aus vol­lem Her­zen auf­ein­an­der los­schlu­gen, ge­folgt von ei­ner Frau, die Hie­be und Schlä­ge auf einen von ih­nen, der of­fen­bar nicht zu ih­rer Par­tei ge­hör­te, her­ab­reg­nen ließ.

Auf der Tri­bü­ne stan­den die Rich­ter und wehr­ten sich männ­lich ge­gen einen ge­walt­sa­men An­griff, bis das gan­ze ge­brech­li­che Ge­bäu­de plötz­lich zu­sam­men­brach und ein­stürz­te.

»Was macht die Frau da?« frag­te Sa­xon und zeig­te auf eine äl­te­re Frau, die auf dem Han­ge un­ter ih­nen saß und sich ge­ra­de einen ih­rer ge­räu­mi­gen Gum­mi­zugs­tie­fel aus­zog.

»Sie will schwim­men«, ki­cher­te Bert, als sie jetzt auch den Strumpf aus­zog.

Sie be­ob­ach­te­ten, sprach­los vor Er­stau­nen, die Frau. Der Schuh wur­de wie­der an den blo­ßen Fuß ge­zo­gen. Dann nahm die Frau einen Stein von Faust­grö­ße, stopf­te ihn in den Strumpf, und, die­se ur­al­te furcht­ba­re Waf­fe schwin­gend, hum­pel­te sie in das Kampf­ge­tüm­mel.

»Oh! – Oh! – Oh!« heul­te Bert je­des Mal, wenn sie zu­schlug. »Heh, al­tes Blut­tier, pass auf! Jetzt setzt es was für dich! Oh! Oh! Ein Tref­fer! Habt ihr ge­se­hen? Ein Hur­ra für die alte Dame! Seht, wie sie drauf­los­geht. Pass auf, Alte! Ach!«

Sei­ne Stim­me erstarb in ei­nem kla­gen­den Ton, als die Frau mit dem Strumpf plötz­lich von ei­ner an­de­ren Ama­zo­ne hin­ten am Haar ge­packt und mit schwin­deln­der Ge­schwin­dig­keit her­um­ge­wir­belt wur­de.

Ver­ge­bens klam­mer­te sich Mary an Bert, wäh­rend sie ihn vor­wurfs­voll schüt­tel­te und laut pro­tes­tier­te.

»Kannst du denn nicht ver­nünf­tig sein? Es ist doch schreck­lich! Es ist schreck­lich, sage ich dir!«

Aber das mach­te nicht den ge­rings­ten Ein­druck auf Bert.

»Los, Alte!« rief er er­mun­ternd. »Du ge­winnst! Ich hal­te auf dich. Jetzt hast du eine Chan­ce! So! Teu­fel auch! Ein Tref­fer! Ein Tref­fer!«

»Das ist die tolls­te Ge­schich­te, die ich je mit­ge­macht habe«, sag­te Bil­ly zu Sa­xon. »So was kön­nen nur Ir­län­der zu­stan­de brin­gen. Aber warum hat er das nur ge­tan? Das möch­te ich wis­sen. Er war kein Mau­rer. Nicht ein­mal ein Ar­bei­ter. Er war ein rich­ti­ger Stut­zer, der kei­ne See­le hier kann­te. Aber wenn er die Ab­sicht hat­te, die­se Ge­schich­te an­zu­stel­len, dann hat er je­den­falls sei­nen Wunsch er­füllt. Seht nur, sie prü­geln sich auf der gan­zen Li­nie.«

Plötz­lich lach­te er so herz­lich, dass ihm die Trä­nen in die Au­gen ka­men.

»Was gibt es?« frag­te Sa­xon, die sich nichts ent­ge­hen las­sen woll­te.

»Es ist der Stut­zer«, er­klär­te Bil­ly zwi­schen zwei Lach­an­fäl­len. »Wa­rum tat er es nur. Das kann ich nicht in den Kopf krie­gen. Wa­rum tat er es?«

Wie­der krach­te es im Ge­büsch, und zwei Frau­en ka­men auf die Sze­ne ge­schos­sen, die eine flüch­tend, die an­de­re ver­fol­gend. Ehe die klei­ne Grup­pe Zeit hat­te, sich zu be­we­gen, sah sie sich in den wil­den Kampf ver­wi­ckelt, der, wenn auch nicht über die gan­ze Welt, so doch über den gan­zen sicht­ba­ren Teil des Wea­sel-Parks tob­te.

Die flie­hen­de Frau ver­such­te, um eine Bank her­um­zu­kom­men, stol­per­te aber, und die an­de­re woll­te schon auf sie los­schla­gen. In ih­rer Not pack­te sie Mary am Arm, um das Gleich­ge­wicht wie­der­zu­ge­win­nen, und schleu­der­te sie ih­rer Ver­fol­ge­rin ge­ra­de in die Arme. Die­se, eine kräf­ti­ge Frau in den bes­ten Jah­ren, miss­ver­stand die Si­tua­ti­on und pack­te Mary mit der einen Hand am Arm, wäh­rend sie gleich­zei­tig die an­de­re zum Schla­ge hob. Ehe sie Zeit dazu be­kam, hat­te Bil­ly ihre bei­den Hand­ge­len­ke ge­fasst.

»He, he, al­tes Mä­del, las­sen Sie das!« sag­te er be­ru­hi­gend. »Sie ir­ren sich. Sie hat nichts ge­tan.«

Aber jetzt tat die Frau et­was Merk­wür­di­ges. Ohne den ge­rings­ten Wi­der­stand zu leis­ten und ohne Ma­rys Hand los­zu­las­sen, stand sie auf­recht da und be­gann mit der ru­higs­ten Mie­ne der Welt wild zu schrei­en. Es war ein ab­scheu­li­ches Ge­schrei vol­ler Angst und Schre­cken. Aber in ih­rem Ge­sicht war nicht die ge­rings­te An­deu­tung von Angst oder Schre­cken zu le­sen. Sie be­trach­te­te Bil­ly mit ei­nem kal­ten, for­schen­den Blick, wie um zu se­hen, wel­chen Ein­druck es auf ihn mach­te. Ihr Ge­schrei war nur das Si­gnal für ihre Par­tei, ihr zur Hil­fe zu kom­men.

»Ach, willst du los­las­sen, du Streit­ham­mel!« rief Bert, der sie ver­ge­bens an den Schul­tern pack­te und ver­such­te, sie von Mary los­zu­rei­ßen. Die Fol­ge war nur, dass alle vier hin- und her­schwank­ten, wäh­rend die Frau ru­hig weiter­schrie. Das Ge­schrei er­hielt einen Bei­klang von Tri­umph, als ein neu­es Kra­chen im Ge­büsch zu hö­ren war.

Sa­xon sah, wie ein har­ter stäh­ler­ner Schim­mer in die be­son­ne­nen Au­gen Bil­lys trat, und gleich­zei­tig sah sie ihn das Hand­ge­lenk der Frau fes­ter pa­cken. Die Frau ließ Mary los und wur­de zu­rück­ge­sto­ßen. Im sel­ben Au­gen­blick war der ers­te Mann zu ih­rem Ent­satz da. Er ließ sich kei­ne Zeit zu fra­gen. Es ge­nüg­te ihm, dass er die Frau vor Bil­ly zu­rück­wei­chen sah, wäh­rend sie vor Schmerz schrie – ein Schmerz, der je­doch größ­ten­teils Ver­stel­lung war.

»Es ist al­les ein Miss­ver­ständ­nis«, rief Bil­ly schnell. »Ent­schul­di­gen Sie, Ge­nos­se.«

Der Ir­län­der lang­te aus. Bil­ly duck­te sich und un­ter­brach sei­ne Ent­schul­di­gung, und als die Faust des an­de­ren schwer wie ein Schmie­de­ham­mer über sei­nen Kopf hin­weg­flog, gab er ihm mit der Lin­ken einen Schwin­ger auf das Kinn. Der di­cke Ir­län­der fiel seit­wärts und blieb zap­pelnd am Ran­de des Han­ges lie­gen. Er woll­te ge­ra­de auf die Füße kom­men, hat­te aber das Gleich­ge­wicht noch nicht wie­der­ge­won­nen, als Berts Faust ihn emp­fing, und dies­mal flog er, alle Vie­re von sich ge­streckt, den Hang hin­un­ter, des­sen kur­z­es tro­ckenes Gras ganz glatt war.

 

Bert ver­setz­te der Frau einen Stoß, dass sie den ver­rä­te­rischen Hang hin­ab­schoss. Drei Mann tauch­ten aus dem Ge­büsch auf.

Bert war au­ßer sich vor Kampfei­fer; sei­ne schwar­zen Au­gen flamm­ten wild, sein dunkles Ge­sicht war feu­er­rot von dem nur zu leicht ent­zünd­ba­ren Blut.

»Nur her, ihr Schlapp­schwän­ze!« heul­te er den Zu­letzt­ge­kom­me­nen ent­ge­gen. »Nur her, ihr elen­den Frösche. Lasst uns ein we­nig von Get­tys­burg re­den. Wir wol­len euch zei­gen, dass die Ame­ri­ka­ner noch nicht aus­ge­stor­ben sind.«

»Halts Maul – wir kön­nen kei­nen Krach ge­brau­chen, wenn wir die Mäd­chen bei uns ha­ben«, brumm­te Bil­ly, der im­mer noch vor dem Tisch stand. Dann wand­te er sich zu den drei Hel­fern, die et­was ver­dutzt da­stan­den, da sie nichts zu hel­fen fan­den.

»Macht nur, dass ihr weg­kommt! Wir wol­len kei­nen Skan­dal. Ihr habt hier nichts zu su­chen. Wir schla­gen uns nicht – habt ihr mich ver­stan­den?«

Sie be­dach­ten sich im­mer noch, und wahr­schein­lich wäre es Bil­ly ge­glückt, einen wei­te­ren Kampf zu ver­mei­den, wenn der Mann, der den Hang hin­ab­ge­rutscht war, die­sen kri­ti­schen Au­gen­blick nicht be­nutzt hät­te, um sich mit blu­ten­dem Ge­sicht und wie ein Be­trun­ke­ner auf Hän­den und Fü­ßen krie­chend zu zei­gen.

Zum zwei­ten Mal lang­te Bert nach ihm aus und ließ ihn den Hang hin­un­ter­sau­sen. Die drei an­de­ren spran­gen mit wil­dem Ge­heul auf Bil­ly los, der zu­schlug, die Stel­lung wech­sel­te, sich duck­te, wie­der schlug und noch ein­mal die Stel­lung wech­sel­te, ehe er zum drit­ten Male schlug. Sei­ne Schlä­ge wa­ren si­cher und hart und wur­den mit wis­sen­schaft­li­cher Be­son­nen­heit und vol­ler Wucht aus­ge­teilt.

Sa­xon, die zu­sah, be­trach­te­te sei­ne Au­gen und er­fuhr da­durch al­ler­lei von ihm. Sie fürch­te­te sich, sah aber den­noch klar, und es fiel ihr auf, dass die gan­ze Tie­fe von Licht und Schat­ten, die sie zu­vor in sei­nen Au­gen be­merkt hat­te, ver­schwun­den war. Sein Blick war lau­ter Ober­flä­che, har­te, kla­re, gleich­sam er­starr­te Ober­flä­che, und wäre völ­lig aus­drucks­los ge­we­sen, wenn nicht ein so töd­li­cher Ernst dar­in ge­le­gen hät­te. In Berts Au­gen flamm­te der Wahn­sinn; die Au­gen der Ir­län­der wa­ren wild und ernst und den­noch nicht ganz ernst. Es war ein über­mü­ti­ger Schim­mer in ih­nen, als mach­te die Schlä­ge­rei ih­nen Spaß. In Bil­lys Au­gen aber war kein Spaß. Es war, als stän­de er vor ei­ner Ar­beit, die ge­tan wer­den soll­te, und hät­te sich vor­ge­nom­men, sie gründ­lich zu tun.

In sei­nem Ge­sicht lag die­sel­be Aus­drucks­lo­sig­keit, und es war, als hät­te es nichts mehr ge­mein mit dem Ge­sicht, das sie den gan­zen Tag ge­se­hen hat­te. Das Jun­gen­haf­te dar­in war ver­schwun­den. Dies Ge­sicht war bei­na­he un­heim­lich reif, ewig alt oder ewig jung. Zorn lag nicht dar­in, auch kei­ne Grau­sam­keit. Es war gleich­sam auf die­sel­be har­te und kal­te Art er­starrt wie die Au­gen. In ihr tauch­te et­was auf, das ihre wun­der­ba­re Mut­ter ihr von den al­ten An­gel­sach­sen er­zählt hat­te. Er schi­en ihr ei­ner die­ser An­gel­sach­sen, und blitz­ar­tig sah sie vor ih­ren in­ne­ren Au­gen ein lan­ges dunkles Boot mit ei­nem Ste­ven wie ein Raub­vo­gel­schna­bel und großen, halb­nack­ten Män­nern mit Flü­gel­hel­men auf dem Kop­fe – und ei­nes die­ser Ge­sich­ter glich dem sei­nen. Dies mach­te sie sich nicht recht klar. Sie fühl­te und sah es wie in ei­nem Traum, ohne Ge­dan­ken und Re­fle­xio­nen, und im sel­ben Au­gen­blick at­me­te sie tief auf, denn der Kampf­lärm hat­te auf­ge­hört. Er hat­te nur we­ni­ge Se­kun­den ge­dau­ert, Bert tanz­te am Ran­de des glat­ten Han­ges und ver­höhn­te die Über­wun­de­nen, die kraft­los drun­ten la­gen. Aber jetzt über­nahm Bil­ly das Kom­man­do.

»Los, Mä­dels!« be­fahl er. »Komm zu dir, Bert. Lasst uns ge­hen. Wir kön­nen uns nicht mit ei­nem gan­zen Heer schla­gen.«

Er lei­te­te den Rück­zug, Sa­xon am Arm, und Bert, der tri­um­phie­rend lach­te, bil­de­te die Nach­hut mit Mary, die sehr em­pört war und vor tau­ben Ohren pro­tes­tier­te.

»Jetzt ist es bald vor­bei«, sag­te Bil­ly la­chend zu Sa­xon. »Ich ken­ne sie. So eine Schlacht macht ih­nen den größ­ten Spaß. Und die heu­ti­ge Prü­ge­lei hat dem Fest die Kro­ne auf­ge­setzt. Was sag­te ich? – Seht den Tisch dort.«

Eine Schar zer­zaus­ter Män­ner und Frau­en, alle atem­los, drück­ten sich um den gan­zen Tisch die Hän­de. »Kommt jetzt, lasst uns tan­zen«, schlug Mary vor und zog sie nach dem Tanz­bo­den.

Im gan­zen Park drück­ten sich die krie­ge­ri­schen Mau­rer die Hän­de, und die of­fe­nen Wirt­schaf­ten füll­ten sich all­mäh­lich mit durs­ti­gen See­len. Sa­xon ging sehr dicht ne­ben Bil­ly. Sie war stolz auf ihn.

»Sie sind mu­tig«, sag­te sie.

»Das ist, als näh­me man ei­nem Säug­ling sei­nen Schnul­ler«, sag­te er ab­weh­rend. »Sie prü­geln sich nur. Von Bo­xen ver­ste­hen sie nichts. Das ist kein Kampf, wis­sen Sie.« Mit ei­nem leicht ver­dutz­ten, jun­gen­haf­ten Blin­zeln in den Au­gen be­trach­te­te er sei­ne zer­schla­ge­nen Knö­chel. »Und mit de­nen soll ich mor­gen fah­ren«, mein­te er. »Das ist kein Ver­gnü­gen, sage ich Ih­nen, wenn die an­schwel­len.«

*

Um acht Uhr spiel­te die Al-Vis­ta-Mu­sik »Hei­mat, süße Hei­mat«, und durch den däm­mern­den Abend gin­gen die vier mit dem Strom nach dem Bahn­hof und hat­ten das Glück, ge­gen­über­lie­gen­de Dop­pel­bän­ke zu er­wi­schen. Als Gän­ge und Platt­for­men bre­chend voll von lus­ti­gen Ball­gäs­ten wa­ren, setz­te sich der Zug in Be­we­gung, um die kur­ze Stre­cke von der Vor­stadt nach Oa­k­land zu fah­ren. Der gan­ze Wa­gen sang ein Dut­zend ver­schie­de­ner Lie­der auf ein­mal, und Bert stimm­te, den Kopf an Ma­rys Brust ge­lehnt, »An den Ufern des Wa­bash« an. Er sang das Lied von An­fang bis zu Ende, ohne sich von dem wil­den Lärm zwei ver­schie­de­ner Prü­ge­lei­en stö­ren zu las­sen, die eine auf der Platt­form dicht ne­ben ih­nen, die an­de­re am ent­ge­gen­ge­setz­ten Ende des Wa­gens, bis es den bei­den dazu ge­mie­te­ten Schutz­leu­ten un­ter Beglei­tung von Wei­ber­ge­heul und zer­bro­che­nen Schei­ben, end­lich ge­lang, Ruhe zu schaf­fen. Bil­ly sang ein trau­ri­ges Lied von ei­nem Cow­boy; es hat­te vie­le Stro­phen und einen Re­frain, der lau­te­te:

»Be­grabt mich auf der wil­den Prä-rä­rie.«

»Das ha­ben Sie noch nie ge­hört; es ist ei­nes von den Lie­dern mei­nes Va­ters«, ver­trau­te er Sa­xon an, die sich freu­te, als es fer­tig war.

Sie hat­te den ers­ten Feh­ler an ihm ent­deckt. Er hat­te kein Ge­hör. Er hat­te von An­fang bis zu Ende ent­setz­lich falsch ge­sun­gen.

»Ich sin­ge nicht oft«, füg­te er hin­zu.

»Nein, das soll er auch schön blei­ben las­sen«, er­klär­te Bert. »Sei­ne Ka­me­ra­den wür­den ihn ein­fach tot­schla­gen, wenn er es täte.«

»Sie ma­chen sich alle über mich lus­tig, wenn ich sin­ge«, sag­te Bil­ly kla­gend zu Sa­xon. »Of­fen ge­stan­den, fin­den Sie es auch so schreck­lich?«

»Sie sin­gen viel­leicht ein biss­chen falsch«, wich Sa­xon aus.

»Ich kann nicht hö­ren, dass es falsch ist«, pro­tes­tier­te er. »Es ist eine förm­li­che Ver­schwö­rung ge­gen mich. Ich möch­te wet­ten, dass Bert Ih­nen das ein­ge­re­det hat. Aber sin­gen Sie mal was, Sa­xon. Ich wet­te, dass Sie gut sin­gen. Ich kann es Ih­nen di­rekt an­se­hen.«

Sie be­gann »Wenn die Tage des Herbs­tes vor­bei«. Bert und Mary fie­len ein; als aber Bil­ly auch mit­sin­gen woll­te, ver­setz­te Bert ihm einen war­nen­den Tritt ge­gen das Schien­bein. Sa­x­ons Stim­me war ein rei­ner, kla­rer So­pran, et­was zart, aber süß, und sie war sich be­wusst, dass sie für Bil­ly sang.

»Das muss ich sa­gen, das nen­ne ich sin­gen!« sag­te er, als sie fer­tig war. »Sin­gen Sie das noch ein­mal. Nun, los! Sie ma­chen es wirk­lich gut. Es ist groß­ar­tig.«

Sei­ne Hand nä­her­te sich der ih­ren und be­mäch­tig­te sich ih­rer, und wäh­rend sie wie­der zu sin­gen be­gann, fühl­te sie sich von dem star­ken Strom sei­nes Puls­schla­ges durch­wärmt.

»Wie sie Hand in Hand da­sit­zen«, neck­te Bert. »Man soll­te glau­ben, dass sie Angst vor­ein­an­der hät­ten. Seht Mary und mich. Fes­te, ihr Feig­lin­ge. Nä­her zu­sam­men. Sonst sieht es ver­däch­tig aus. Ich habe schon mei­nen Ver­dacht.«

Sei­ne An­deu­tun­gen wa­ren nicht miss­zu­ver­ste­hen. Sa­xon merk­te, dass ihre Wan­gen glü­hend heiß wur­den.

»Be­nimm dich, Bert«, sag­te Bill zu­recht­wei­send.

»Halt den Mund«, sag­te Mary, die auch em­pört war. »Du bist ekel­haft roh, Bert Wan­ho­pe, und ich will nichts mehr mit dir zu tun ha­ben – bit­te!«

Sie zog ih­ren Arm an sich und schob ihn weg, aber nur, um ihn nach zehn Se­kun­den ver­zei­hend wie­der in Gna­den auf­zu­neh­men.

»Hört mal zu, alle drei«, fuhr der un­ver­bes­ser­li­che Bert fort. »Die Nacht ist lang. Lasst uns die Zeit be­nut­zen. Zu­erst Pabsts Café – nach­her et­was an­de­res. Was meinst du, Bil­ly? Was mei­nen Sie, Sa­xon? Mary macht mit.«

Sa­xon schwieg, war­te­te aber, halb krank vor Furcht, was der Mann, den sie erst so kur­ze Zeit kann­te, ant­wor­ten wür­de.

»Nein«, sag­te er be­son­nen. »Ich muss mor­gen früh auf­ste­hen und den gan­zen Tag ar­bei­ten, und ich den­ke, dass es den Mä­dels eben­so geht.«

Sa­xon ver­zieh ihm, dass er un­mu­si­ka­lisch war. Sie hat­te stets ge­wusst, dass es sol­che Män­ner gab. Auf einen sol­chen Mann hat­te sie ge­war­tet. Sie war jetzt vier­und­zwan­zig, und ih­ren ers­ten Hei­rats­an­trag hat­te sie mit sech­zehn be­kom­men. Den letz­ten vor nicht mehr als ei­nem Mo­nat – von dem In­spek­tor der Wä­sche­rei, ei­nem gu­ten, net­ten Mann, aber nicht mehr jung. Aber der hier ne­ben ihr war stark und gut und jung. Sie selbst war zu jung, um sich nicht Ju­gend zu wün­schen. Der In­spek­tor – das hät­te be­deu­tet, dass sie nicht mehr zu plät­ten brauch­te, aber er hät­te kei­ne Wär­me ge­schenkt. Aber die­ser Mann hier ne­ben ihr – sie er­tapp­te sich da­bei, wie sie ihm die Hand drücken woll­te.

»Nein, Bert, quäl uns nicht«, sag­te Mary. »Wir müs­sen et­was schla­fen. Mor­gen müs­sen wir den gan­zen Tag am Plätt­brett ste­hen.«

Sa­xon wur­de plötz­lich kalt vor Angst bei dem Ge­dan­ken, dass sie si­cher äl­ter als Bil­ly sei. Ver­stoh­len blick­te sie ihn und die wei­chen run­den Li­ni­en sei­nes Ge­sichts an, und das Jun­gen­haf­te an ihm ließ sie er­schre­cken. Na­tür­lich wür­de er ein Mäd­chen hei­ra­ten, das jün­ger war als er sel­ber, jün­ger als sie. Wie alt war er? War es denk­bar, dass er zu jung für sie war? Aber je un­er­reich­ba­rer er wur­de, de­sto hef­ti­ger fühl­te sie sich von ihm an­ge­zo­gen. Er war so stark und gut. Sie rief sich alle Er­eig­nis­se des Ta­ges wie­der ins Ge­dächt­nis zu­rück. Sie fand kei­nen Fehl, kei­nen Ta­del. Die gan­ze Zeit war er rück­sichts­voll ge­gen sie und Mary ge­we­sen. Und er hat­te ihre Ball­kar­te zer­ris­sen und mit kei­ner an­de­ren ge­tanzt. Es war klar, dass sie ihm ge­fiel, sonst hät­te er das nicht ge­tan.

Sie mach­te eine klei­ne Be­we­gung mit der Hand, die er in der sei­nen hielt, und fühl­te die raue Berüh­rung mit sei­ner har­ten Kut­scher­faust. Das war ein wun­der­vol­les Ge­fühl. Jetzt be­weg­te sei­ne Hand sich auch et­was, um sich nach der ih­ren zu rich­ten, und sie war­te­te ängst­lich. Sie woll­te nicht, dass er es wie an­de­re Män­ner mach­te, und sie wäre zor­nig auf ihn ge­wor­den, wenn er es ge­wagt hät­te, ihre schwa­che Be­we­gung mit den Fin­gern zu be­nut­zen, um den Arm um sie zu le­gen. Aber er tat es nicht, und eine Woge von Wär­me drang ihr ins Ge­müt. Er be­saß Fein­ge­fühl. Er war we­der ein Schwät­zer wie Bert noch plump wie an­de­re Män­ner, de­nen sie be­geg­net war. Denn sie hat­te Er­fah­run­gen ge­macht, die nicht an­ge­nehm wa­ren, und sie hat­te das ent­behrt, was man Rit­ter­lich­keit nann­te, wenn sie auch dies Wort nicht be­nutzt hät­te, um aus­zu­drücken, was sie ent­behr­te, und wo­nach sie sich sehn­te.

Und er war Be­rufs­bo­xer. Der Ge­dan­ke be­nahm ihr fast den Atem. Er ent­sprach gar nicht ih­ren Be­grif­fen von ei­nem Be­rufs­bo­xer. Im üb­ri­gen war er gar kein Pro­fes­sio­nal. Er hat­te selbst ge­sagt, dass er es nicht war. Sie be­schloss, ihn ein­mal da­nach zu fra­gen, falls – falls er sie zum Aus­ge­hen ein­lud. Aber dar­an zwei­fel­te sie ei­gent­lich nicht, denn wenn ein Mann einen gan­zen Tag lang mit ei­nem jun­gen Mäd­chen tanz­te, so ließ er sie nicht gleich wie­der lau­fen. Sie hoff­te bei­na­he, dass er ein Pro­fes­sio­nal war. Der Ge­dan­ke kit­zel­te sie. Bo­xer, das war et­was Schreck­li­ches und Mys­ti­sches. Bo­xer stan­den au­ßer­halb der Re­gel, sie wa­ren kei­ne ge­wöhn­li­chen Ar­bei­ter wie Zim­mer­leu­te und Wä­sche­rei­ar­bei­ter, sie re­prä­sen­tier­ten die Ro­man­tik. Sie re­prä­sen­tier­ten auch die Kraft. Sie ar­bei­te­ten nicht für Ar­beit­ge­ber, son­dern tra­ten mit Pomp und Ge­prän­ge auf, kämpf­ten für ei­ge­ne Rech­nung mit der großen Welt und press­ten viel, viel Geld aus den wi­der­stre­ben­den Hän­den her­aus. Es gab un­ter ih­nen wel­che, die sich ein Auto hiel­ten und mit ei­nem gan­zen Stab von Trai­nern und Die­nern reis­ten. Vi­el­leicht hat­te Bil­ly nur aus Be­schei­den­heit ge­sagt, dass er nicht mehr auf­trat. Und doch – die har­te Haut in sei­nen Hän­den – sie sag­te ihr, dass er auf­ge­hört hat­te.

 

*

An der Pfor­te nah­men sie von­ein­an­der Ab­schied. Bil­ly war sicht­bar ver­le­gen, und das tat Sa­xon wohl. Er war kei­ner der jun­gen Män­ner, die das als et­was Selbst­ver­ständ­li­ches hin­nah­men. Eine Pau­se trat ein, in der sie tat, als woll­te sie hin­ein­ge­hen, wäh­rend sie in Wirk­lich­keit mit ge­hei­mer Un­ge­duld auf die Wor­te war­te­te, die sie von ihm wünsch­te. »Wir se­hen uns doch wie­der, nicht wahr?« frag­te er, ihre Hand in der sei­nen.

Sie lach­te ein­wil­li­gend.

»Ich woh­ne in der Ge­gend von Ost-Oa­k­land«, er­klär­te er. »Dort liegt der Stall, wis­sen Sie, und wir fah­ren haupt­säch­lich in dem Vier­tel, so­dass mein Weg ja nicht oft hier vor­bei­führt. Aber hö­ren Sie mal –« Sei­ne Hand griff fes­ter um die ihre. »Wir müs­sen noch ein­mal eben­so gut zu­sam­men tan­zen. Mitt­woch ist Ball im Orin­do­re-Klub. Wenn Sie nichts an­de­res vor­ha­ben – oder ha­ben Sie?«

»Nein«, sag­te sie.

»Dann sa­gen wir also Mitt­woch. Wann soll ich Sie ab­ho­len?«

Und als sie al­les ver­ab­re­det hat­ten und er ein­ge­wil­ligt hat­te, dass sie ein paar Tän­ze mit an­de­ren tan­zen dürf­te, und sie sich noch ein­mal Gu­te­nacht sag­ten, fass­te er ihre Hand und zog sie an sich. Sie wehr­te sich, schwach, aber mit ehr­li­chem Wil­len. Es war üb­lich so, aber sie hat­te das Ge­fühl, dass sie es lie­ber las­sen soll­te, aus Furcht, miss­ver­stan­den zu wer­den. Und doch wünsch­te sie, ihn zu küs­sen, wie sie noch nie ge­wünscht hat­te, einen Mann zu küs­sen. Als es kam und sie das Ge­sicht zu ihm hob, stell­te sie fest, dass es sei­ner­seits ein Kuss in Ehren war. Nichts lag da­hin­ter. Un­be­hol­fen und freund­lich, wie er sel­ber war, wirk­te er fast jung­fräu­lich und ver­riet kei­ne große Er­fah­rung in der Kunst des Gu­te­nacht­sa­gens. Es sind also doch nicht alle Män­ner wie Tie­re, dach­te sie.

»Gute Nacht«, mur­mel­te er. Die Pfor­te kreisch­te un­ter sei­ner Hand. Er eil­te den en­gen Weg hin­ab, der zur Ecke des Hau­ses führ­te.

»Mitt­woch«, rief sie ihm lei­se nach.

»Mitt­woch«, ant­wor­te­te er. Aber in dem dun­keln Gang zwi­schen den zwei Häu­sern blieb sie ste­hen und lausch­te froh auf das Geräusch sei­ner Schrit­te auf dem ze­men­tier­ten Bür­ger­steig. Erst als sie ver­hall­ten, ging sie hin­auf. Sie schlich sich die Hin­ter­trep­pe hin­auf und durch die Kü­che in ihr Zim­mer, von Her­zen dank­bar, dass Sa­rah schla­fen ge­gan­gen war.

Sie zün­de­te das Gas an, und wäh­rend sie ih­ren klei­nen Samt­hut ab­nahm, spür­te sie noch, wie ihre Lip­pen nach dem Kuss zit­ter­ten. Selbst­ver­ständ­lich hat­te der nichts zu be­deu­ten. Es war un­ter jun­gen Leu­ten so üb­lich. Alle ta­ten es. Aber ihr Gu­te­nacht­kuss hat­te ihr nie die­ses zit­tern­de Ge­fühl im Ge­hirn und auf ih­ren Lip­pen ge­ge­ben. Was war das? Was be­deu­te­te das? Eine plötz­li­che Ein­ge­bung ließ sie sich im Spie­gel be­trach­ten. Die Au­gen strahl­ten glück­lich. Die Röte, die so leicht in ih­ren Wan­gen kam und ging, ver­lieh ih­nen im Au­gen­blick Far­be und Glut. Es war ein schö­nes Spie­gel­bild, das sie froh und selbst­be­wusst lä­cheln ließ, und das Lä­cheln ver­tief­te sich noch beim An­blick der zwei star­ken, wei­ßen und ganz eben­mä­ßi­gen Zahn­rei­hen. Wa­rum soll Bil­ly das Ge­sicht nicht ge­fal­len? frag­te sie sich. An­de­ren Män­nern hat­te es ge­fal­len. Selbst die an­de­ren Mäd­chen ga­ben zu, dass sie gut aus­sah. Char­ley Long muss­te es doch ge­fal­len, sonst wür­de er ihr das Le­ben nicht so zur Qual ma­chen.

Sie warf einen Blick nach dem Spie­gel, wo sei­ne Fo­to­gra­fie steck­te, schau­der­te und schnitt eine klei­ne Gri­mas­se vor Ab­scheu und Ekel. Grau­sam­keit lag in den Au­gen und Bru­ta­li­tät. Er war eine Bes­tie. Ein gan­zes Jahr lang ty­ran­ni­sier­te er sie jetzt. Er ver­scheuch­te die an­de­ren. Es war gleich­sam eine Art Skla­ve­rei, wie er ihr auf­pass­te. Sie muss­te an den jun­gen Buch­hal­ter in der Wä­sche­rei den­ken – der war kein Ar­bei­ter, nein, son­dern ein fei­ner Herr mit wei­chen Hän­den und wei­cher Stim­me – ihn hat­te Char­ley an der Stra­ßen­e­cke über­fal­len, nur, weil er ge­wagt hat­te, sie zum Thea­ter ein­zu­la­den. Und sie hat­te nichts tun kön­nen. Um sei­net­wil­len hat­te sie nie ja zu sa­gen ge­wagt, wenn er sie ein­ge­la­den hat­te.

Und nun soll­te sie Mitt­woch abend mit Bil­ly aus­ge­hen. Das Herz hüpf­te ihr. Es gab wohl Krach, aber Bil­ly wür­de sie von ihm be­frei­en. Er soll­te nur ver­su­chen, Bil­ly zu über­fal­len.

Mit ei­ner schnel­len Be­we­gung warf sie die Fo­to­gra­fie her­un­ter und ließ sie mit der Bild­sei­te auf die Kom­mo­de fal­len. Dort lag sie jetzt ne­ben ei­nem klei­nen vier­e­cki­gen Etui aus dunklem Le­der, das vom Zahn der Zeit ziem­lich mit­ge­nom­men war. Mit dem Ge­fühl, dass es eine Pro­fa­na­ti­on war, er­griff sie wie­der die un­se­li­ge Fo­to­gra­fie und warf sie in eine Ecke des Zim­mers. Hier­auf nahm sie das Le­de­re­tui, drück­te auf eine Fe­der, dass es auf­sprang, und be­trach­te­te die Da­guer­reo­ty­pie ei­ner klei­nen ab­ge­ar­bei­te­ten Frau mit fes­ten grau­en Au­gen und mit ei­nem Mund mit zu­ver­sicht­li­chem, rüh­ren­den Aus­druck. Auf dem Samt des Etu­is stand mit Gold­buch­sta­ben: Carl­ton von Dai­sy. Sie las es an­däch­tig, denn es war der Name ih­res Va­ters, den sie nie ge­kannt hat­te, und das Bild stell­te die Mut­ter dar, die sie nur so we­nig ge­kannt, wenn sie auch nie ver­ges­sen hat­te, dass die­se klu­gen trau­ri­gen Au­gen grau ge­we­sen wa­ren.

Ob­wohl Sa­xon kei­ne Re­li­gi­on im üb­li­chen Sin­ne hat­te, war sie doch von Na­tur aus tief re­li­gi­ös. Ihre Ge­dan­ken von Gott wa­ren vage und ver­schwom­men und wirk­ten fast ver­wir­rend. Sie konn­te Gott nicht vor sich se­hen. Hier auf der Da­guer­reo­ty­pie war das Kon­kre­te. In die Kir­che ging sie nicht. Dies war ihr Hochal­tar, ihr Hei­lig­tum. Hier­zu nahm sie ihre Zuf­lucht in Not und in Ver­las­sen­heit. Hier such­te sie Rat, gute Ein­ge­bun­gen und Stüt­ze. Sie hat­te das Ge­fühl, dass sie an­ders war als die jun­gen Mäd­chen ih­rer Be­kannt­schaft, und in dem ab­ge­bil­de­ten Ant­litz ver­such­te sie die Ei­gen­tüm­lich­keit ih­res ei­ge­nen We­sens zu fin­den. Ihre Mut­ter war auch an­ders ge­we­sen als an­de­re Frau­en. Die­sem Bild ge­gen­über be­müh­te sie sich, wahr zu sein, an­de­ren kein Un­recht zu tun oder Är­ger zu be­rei­ten. Und was sie in Wirk­lich­keit von ih­rer Mut­ter wuss­te, und wie viel sie ra­ten und ver­mu­ten muss­te, mach­te sie sich nicht klar. Denn seit vie­len Jah­ren form­te sie an ih­rer Mut­ter­my­the.