Wieder streckte der Ausrufer die Arme hoch, und der Lärm legte sich.
»Um Frieden und Verständnis wieder herzustellen, haben die Richter beschlossen, dass Timothy McManus an dem Lauf teilnehmen darf. Wenn er gewinnt, gehört das Geld ihm.«
»Ist das nicht blöd?« brummte Billy gekränkt. »Wenn Tim jetzt gut genug ist, so war er es auch das erstemal. Und wenn er das erstemal gut genug war, so gehörte das Geld ihm.«
»Diesmal wird Rotschopf aus lauter Anstrengung sich selber in die Luft sprengen«, triumphierte Bert.
»Ja, und Tim sich auch«, antwortete Billy. »Du kannst dich darauf verlassen, dass er wütend ist, und diesmal wird er sich ganz ausgeben.«
Eine Viertelstunde verging damit, die erregte Menge aus der Arena zu schaffen, und diesmal stellten sich nur noch Tim und Rotschopf am Startpfahl auf. Die anderen drei hatten den Kampf aufgegeben.
Tim übernahm die Führung am Start mit einer Elle Vorsprung.
»Ja, gewiss ist er Professional, und zwar durch und durch«, meinte Billy. »Seht, was er leistet!«
Um die halbe Arena behielt er die Führung, indem er seinen Vorsprung bis zu einem Dutzend Schritt vergrößerte. Jetzt kam er, immer diesen Abstand haltend, mit voller Geschwindigkeit auf das Ziel los, als – gerade unterhalb des Hanges, wo Billy und seine Gesellschaft standen – etwas Unglaubliches und Undenkbares geschah. Dicht neben der Arena stand ein junger Mann mit einem dünnen Spazierstock in der Hand. Er gehörte offenbar nicht mit zu den Festteilnehmern, denn nichts an ihm deutete auf einen Arbeiter. Hinterher behauptete Bert, dass er eher nach einem Tanzlehrer ausgesehen hätte, während Billy ihn einen »Stutzer« nannte.
Aber dieser junge Mann wurde das Schicksal des Timothy McManus; denn als Tim an ihm vorbeikam, steckte ihm der junge Mann mit der offensichtlichsten Überlegung seinen Stock zwischen die Beine. Tim flog durch die Luft, machte einen Purzelbaum und fiel in einer Staubwolke auf das Gesicht.
Für einen Augenblick trat tiefes, atemloses Schweigen ein. Der junge Mann war selbst von dem Ungeheuerlichen seiner Tat gelähmt. Sowohl er wie die Zuschauer brauchten Zeit, um sich zu besinnen, was er eigentlich getan hatte. Die Zuschauer kamen zuerst zur Besinnung, und aus tausend Kehlen ertönte das wilde irische Geheul. Rotschopf gewann den Lauf, ohne dass ein einziger Hurraruf ertönte. Das Sturmzentrum hatte sich zu dem jungen Mann mit dem Stock verrückt. Als das Geheul kam, machte er kehrt und eilte den Hang hinauf.
»Auf ihn! Auf ihn!« jubelte Bert und schwang den Hut durch die Luft. »Dich habe ich gern. Wer hätte das geglaubt? Wer hätte das geglaubt? Was? Wer hätte das gedacht? Wie? Wer hätte das gedacht?« »Pah! Er will ausreißen!« rief Billy. »Aber warum hat er es getan? Er ist doch kein Maurer.«
Wie ein erschrockenes Kaninchen flog der junge Mann, von einem ohnmächtigen Gebrüll gefolgt, den Hang hinauf bis zu einem freien Fleck, wo er einen Augenblick später verschwunden war. Hunderte von blutdürstigen Rächern waren ihm auf den Fersen.
»Nur schade, dass er den Rest nicht mehr erlebt«, sagte Billy. »Denn jetzt geht es los.«
Bert war ganz außer sich. Er hüpfte und sprang und heulte immerfort:
»Seht sie! Seht sie! Seht sie nur!«
Die Oakland-Partei war tief gekränkt. Zum zweiten Mal war ihr Favorit aus dem Spiel gesetzt. Dies war natürlich ein neuer Trick der San-Franziskoer Partei. Und Oakland ballte die gewaltigen Fäuste und schwang sie blutdürstig San Franzisko entgegen. Aber San Franzisko, das sich seiner Unschuld bewusst war, legte nicht weniger Wert darauf, die Sache zu entscheiden. Fünftausend stürzten sich mit Eifer in den Kampf. Die Frauen gingen mit. Das ganze Amphitheater hallte wider vom Kampf. Fünf oder sechs Schutzleute, die die Verwaltung des Weasel-Parks aus Anlass des Tages gemietet hatten, bekamen von beiden Seiten, ohne Rücksicht auf die Partei, Prügel.
Es raschelte im Gebüsch hinter ihm, Bert sprang beiseite und machte zwei eng verschlungenen Gestalten Platz, die über den Hang rollten, während sie aus vollem Herzen aufeinander losschlugen, gefolgt von einer Frau, die Hiebe und Schläge auf einen von ihnen, der offenbar nicht zu ihrer Partei gehörte, herabregnen ließ.
Auf der Tribüne standen die Richter und wehrten sich männlich gegen einen gewaltsamen Angriff, bis das ganze gebrechliche Gebäude plötzlich zusammenbrach und einstürzte.
»Was macht die Frau da?« fragte Saxon und zeigte auf eine ältere Frau, die auf dem Hange unter ihnen saß und sich gerade einen ihrer geräumigen Gummizugstiefel auszog.
»Sie will schwimmen«, kicherte Bert, als sie jetzt auch den Strumpf auszog.
Sie beobachteten, sprachlos vor Erstaunen, die Frau. Der Schuh wurde wieder an den bloßen Fuß gezogen. Dann nahm die Frau einen Stein von Faustgröße, stopfte ihn in den Strumpf, und, diese uralte furchtbare Waffe schwingend, humpelte sie in das Kampfgetümmel.
»Oh! – Oh! – Oh!« heulte Bert jedes Mal, wenn sie zuschlug. »Heh, altes Bluttier, pass auf! Jetzt setzt es was für dich! Oh! Oh! Ein Treffer! Habt ihr gesehen? Ein Hurra für die alte Dame! Seht, wie sie drauflosgeht. Pass auf, Alte! Ach!«
Seine Stimme erstarb in einem klagenden Ton, als die Frau mit dem Strumpf plötzlich von einer anderen Amazone hinten am Haar gepackt und mit schwindelnder Geschwindigkeit herumgewirbelt wurde.
Vergebens klammerte sich Mary an Bert, während sie ihn vorwurfsvoll schüttelte und laut protestierte.
»Kannst du denn nicht vernünftig sein? Es ist doch schrecklich! Es ist schrecklich, sage ich dir!«
Aber das machte nicht den geringsten Eindruck auf Bert.
»Los, Alte!« rief er ermunternd. »Du gewinnst! Ich halte auf dich. Jetzt hast du eine Chance! So! Teufel auch! Ein Treffer! Ein Treffer!«
»Das ist die tollste Geschichte, die ich je mitgemacht habe«, sagte Billy zu Saxon. »So was können nur Irländer zustande bringen. Aber warum hat er das nur getan? Das möchte ich wissen. Er war kein Maurer. Nicht einmal ein Arbeiter. Er war ein richtiger Stutzer, der keine Seele hier kannte. Aber wenn er die Absicht hatte, diese Geschichte anzustellen, dann hat er jedenfalls seinen Wunsch erfüllt. Seht nur, sie prügeln sich auf der ganzen Linie.«
Plötzlich lachte er so herzlich, dass ihm die Tränen in die Augen kamen.
»Was gibt es?« fragte Saxon, die sich nichts entgehen lassen wollte.
»Es ist der Stutzer«, erklärte Billy zwischen zwei Lachanfällen. »Warum tat er es nur. Das kann ich nicht in den Kopf kriegen. Warum tat er es?«
Wieder krachte es im Gebüsch, und zwei Frauen kamen auf die Szene geschossen, die eine flüchtend, die andere verfolgend. Ehe die kleine Gruppe Zeit hatte, sich zu bewegen, sah sie sich in den wilden Kampf verwickelt, der, wenn auch nicht über die ganze Welt, so doch über den ganzen sichtbaren Teil des Weasel-Parks tobte.
Die fliehende Frau versuchte, um eine Bank herumzukommen, stolperte aber, und die andere wollte schon auf sie losschlagen. In ihrer Not packte sie Mary am Arm, um das Gleichgewicht wiederzugewinnen, und schleuderte sie ihrer Verfolgerin gerade in die Arme. Diese, eine kräftige Frau in den besten Jahren, missverstand die Situation und packte Mary mit der einen Hand am Arm, während sie gleichzeitig die andere zum Schlage hob. Ehe sie Zeit dazu bekam, hatte Billy ihre beiden Handgelenke gefasst.
»He, he, altes Mädel, lassen Sie das!« sagte er beruhigend. »Sie irren sich. Sie hat nichts getan.«
Aber jetzt tat die Frau etwas Merkwürdiges. Ohne den geringsten Widerstand zu leisten und ohne Marys Hand loszulassen, stand sie aufrecht da und begann mit der ruhigsten Miene der Welt wild zu schreien. Es war ein abscheuliches Geschrei voller Angst und Schrecken. Aber in ihrem Gesicht war nicht die geringste Andeutung von Angst oder Schrecken zu lesen. Sie betrachtete Billy mit einem kalten, forschenden Blick, wie um zu sehen, welchen Eindruck es auf ihn machte. Ihr Geschrei war nur das Signal für ihre Partei, ihr zur Hilfe zu kommen.
»Ach, willst du loslassen, du Streithammel!« rief Bert, der sie vergebens an den Schultern packte und versuchte, sie von Mary loszureißen. Die Folge war nur, dass alle vier hin- und herschwankten, während die Frau ruhig weiterschrie. Das Geschrei erhielt einen Beiklang von Triumph, als ein neues Krachen im Gebüsch zu hören war.
Saxon sah, wie ein harter stählerner Schimmer in die besonnenen Augen Billys trat, und gleichzeitig sah sie ihn das Handgelenk der Frau fester packen. Die Frau ließ Mary los und wurde zurückgestoßen. Im selben Augenblick war der erste Mann zu ihrem Entsatz da. Er ließ sich keine Zeit zu fragen. Es genügte ihm, dass er die Frau vor Billy zurückweichen sah, während sie vor Schmerz schrie – ein Schmerz, der jedoch größtenteils Verstellung war.
»Es ist alles ein Missverständnis«, rief Billy schnell. »Entschuldigen Sie, Genosse.«
Der Irländer langte aus. Billy duckte sich und unterbrach seine Entschuldigung, und als die Faust des anderen schwer wie ein Schmiedehammer über seinen Kopf hinwegflog, gab er ihm mit der Linken einen Schwinger auf das Kinn. Der dicke Irländer fiel seitwärts und blieb zappelnd am Rande des Hanges liegen. Er wollte gerade auf die Füße kommen, hatte aber das Gleichgewicht noch nicht wiedergewonnen, als Berts Faust ihn empfing, und diesmal flog er, alle Viere von sich gestreckt, den Hang hinunter, dessen kurzes trockenes Gras ganz glatt war.
Bert versetzte der Frau einen Stoß, dass sie den verräterischen Hang hinabschoss. Drei Mann tauchten aus dem Gebüsch auf.
Bert war außer sich vor Kampfeifer; seine schwarzen Augen flammten wild, sein dunkles Gesicht war feuerrot von dem nur zu leicht entzündbaren Blut.
»Nur her, ihr Schlappschwänze!« heulte er den Zuletztgekommenen entgegen. »Nur her, ihr elenden Frösche. Lasst uns ein wenig von Gettysburg reden. Wir wollen euch zeigen, dass die Amerikaner noch nicht ausgestorben sind.«
»Halts Maul – wir können keinen Krach gebrauchen, wenn wir die Mädchen bei uns haben«, brummte Billy, der immer noch vor dem Tisch stand. Dann wandte er sich zu den drei Helfern, die etwas verdutzt dastanden, da sie nichts zu helfen fanden.
»Macht nur, dass ihr wegkommt! Wir wollen keinen Skandal. Ihr habt hier nichts zu suchen. Wir schlagen uns nicht – habt ihr mich verstanden?«
Sie bedachten sich immer noch, und wahrscheinlich wäre es Billy geglückt, einen weiteren Kampf zu vermeiden, wenn der Mann, der den Hang hinabgerutscht war, diesen kritischen Augenblick nicht benutzt hätte, um sich mit blutendem Gesicht und wie ein Betrunkener auf Händen und Füßen kriechend zu zeigen.
Zum zweiten Mal langte Bert nach ihm aus und ließ ihn den Hang hinuntersausen. Die drei anderen sprangen mit wildem Geheul auf Billy los, der zuschlug, die Stellung wechselte, sich duckte, wieder schlug und noch einmal die Stellung wechselte, ehe er zum dritten Male schlug. Seine Schläge waren sicher und hart und wurden mit wissenschaftlicher Besonnenheit und voller Wucht ausgeteilt.
Saxon, die zusah, betrachtete seine Augen und erfuhr dadurch allerlei von ihm. Sie fürchtete sich, sah aber dennoch klar, und es fiel ihr auf, dass die ganze Tiefe von Licht und Schatten, die sie zuvor in seinen Augen bemerkt hatte, verschwunden war. Sein Blick war lauter Oberfläche, harte, klare, gleichsam erstarrte Oberfläche, und wäre völlig ausdruckslos gewesen, wenn nicht ein so tödlicher Ernst darin gelegen hätte. In Berts Augen flammte der Wahnsinn; die Augen der Irländer waren wild und ernst und dennoch nicht ganz ernst. Es war ein übermütiger Schimmer in ihnen, als machte die Schlägerei ihnen Spaß. In Billys Augen aber war kein Spaß. Es war, als stände er vor einer Arbeit, die getan werden sollte, und hätte sich vorgenommen, sie gründlich zu tun.
In seinem Gesicht lag dieselbe Ausdruckslosigkeit, und es war, als hätte es nichts mehr gemein mit dem Gesicht, das sie den ganzen Tag gesehen hatte. Das Jungenhafte darin war verschwunden. Dies Gesicht war beinahe unheimlich reif, ewig alt oder ewig jung. Zorn lag nicht darin, auch keine Grausamkeit. Es war gleichsam auf dieselbe harte und kalte Art erstarrt wie die Augen. In ihr tauchte etwas auf, das ihre wunderbare Mutter ihr von den alten Angelsachsen erzählt hatte. Er schien ihr einer dieser Angelsachsen, und blitzartig sah sie vor ihren inneren Augen ein langes dunkles Boot mit einem Steven wie ein Raubvogelschnabel und großen, halbnackten Männern mit Flügelhelmen auf dem Kopfe – und eines dieser Gesichter glich dem seinen. Dies machte sie sich nicht recht klar. Sie fühlte und sah es wie in einem Traum, ohne Gedanken und Reflexionen, und im selben Augenblick atmete sie tief auf, denn der Kampflärm hatte aufgehört. Er hatte nur wenige Sekunden gedauert, Bert tanzte am Rande des glatten Hanges und verhöhnte die Überwundenen, die kraftlos drunten lagen. Aber jetzt übernahm Billy das Kommando.
»Los, Mädels!« befahl er. »Komm zu dir, Bert. Lasst uns gehen. Wir können uns nicht mit einem ganzen Heer schlagen.«
Er leitete den Rückzug, Saxon am Arm, und Bert, der triumphierend lachte, bildete die Nachhut mit Mary, die sehr empört war und vor tauben Ohren protestierte.
»Jetzt ist es bald vorbei«, sagte Billy lachend zu Saxon. »Ich kenne sie. So eine Schlacht macht ihnen den größten Spaß. Und die heutige Prügelei hat dem Fest die Krone aufgesetzt. Was sagte ich? – Seht den Tisch dort.«
Eine Schar zerzauster Männer und Frauen, alle atemlos, drückten sich um den ganzen Tisch die Hände. »Kommt jetzt, lasst uns tanzen«, schlug Mary vor und zog sie nach dem Tanzboden.
Im ganzen Park drückten sich die kriegerischen Maurer die Hände, und die offenen Wirtschaften füllten sich allmählich mit durstigen Seelen. Saxon ging sehr dicht neben Billy. Sie war stolz auf ihn.
»Sie sind mutig«, sagte sie.
»Das ist, als nähme man einem Säugling seinen Schnuller«, sagte er abwehrend. »Sie prügeln sich nur. Von Boxen verstehen sie nichts. Das ist kein Kampf, wissen Sie.« Mit einem leicht verdutzten, jungenhaften Blinzeln in den Augen betrachtete er seine zerschlagenen Knöchel. »Und mit denen soll ich morgen fahren«, meinte er. »Das ist kein Vergnügen, sage ich Ihnen, wenn die anschwellen.«
*
Um acht Uhr spielte die Al-Vista-Musik »Heimat, süße Heimat«, und durch den dämmernden Abend gingen die vier mit dem Strom nach dem Bahnhof und hatten das Glück, gegenüberliegende Doppelbänke zu erwischen. Als Gänge und Plattformen brechend voll von lustigen Ballgästen waren, setzte sich der Zug in Bewegung, um die kurze Strecke von der Vorstadt nach Oakland zu fahren. Der ganze Wagen sang ein Dutzend verschiedener Lieder auf einmal, und Bert stimmte, den Kopf an Marys Brust gelehnt, »An den Ufern des Wabash« an. Er sang das Lied von Anfang bis zu Ende, ohne sich von dem wilden Lärm zwei verschiedener Prügeleien stören zu lassen, die eine auf der Plattform dicht neben ihnen, die andere am entgegengesetzten Ende des Wagens, bis es den beiden dazu gemieteten Schutzleuten unter Begleitung von Weibergeheul und zerbrochenen Scheiben, endlich gelang, Ruhe zu schaffen. Billy sang ein trauriges Lied von einem Cowboy; es hatte viele Strophen und einen Refrain, der lautete:
»Begrabt mich auf der wilden Prä-rärie.«
»Das haben Sie noch nie gehört; es ist eines von den Liedern meines Vaters«, vertraute er Saxon an, die sich freute, als es fertig war.
Sie hatte den ersten Fehler an ihm entdeckt. Er hatte kein Gehör. Er hatte von Anfang bis zu Ende entsetzlich falsch gesungen.
»Ich singe nicht oft«, fügte er hinzu.
»Nein, das soll er auch schön bleiben lassen«, erklärte Bert. »Seine Kameraden würden ihn einfach totschlagen, wenn er es täte.«
»Sie machen sich alle über mich lustig, wenn ich singe«, sagte Billy klagend zu Saxon. »Offen gestanden, finden Sie es auch so schrecklich?«
»Sie singen vielleicht ein bisschen falsch«, wich Saxon aus.
»Ich kann nicht hören, dass es falsch ist«, protestierte er. »Es ist eine förmliche Verschwörung gegen mich. Ich möchte wetten, dass Bert Ihnen das eingeredet hat. Aber singen Sie mal was, Saxon. Ich wette, dass Sie gut singen. Ich kann es Ihnen direkt ansehen.«
Sie begann »Wenn die Tage des Herbstes vorbei«. Bert und Mary fielen ein; als aber Billy auch mitsingen wollte, versetzte Bert ihm einen warnenden Tritt gegen das Schienbein. Saxons Stimme war ein reiner, klarer Sopran, etwas zart, aber süß, und sie war sich bewusst, dass sie für Billy sang.
»Das muss ich sagen, das nenne ich singen!« sagte er, als sie fertig war. »Singen Sie das noch einmal. Nun, los! Sie machen es wirklich gut. Es ist großartig.«
Seine Hand näherte sich der ihren und bemächtigte sich ihrer, und während sie wieder zu singen begann, fühlte sie sich von dem starken Strom seines Pulsschlages durchwärmt.
»Wie sie Hand in Hand dasitzen«, neckte Bert. »Man sollte glauben, dass sie Angst voreinander hätten. Seht Mary und mich. Feste, ihr Feiglinge. Näher zusammen. Sonst sieht es verdächtig aus. Ich habe schon meinen Verdacht.«
Seine Andeutungen waren nicht misszuverstehen. Saxon merkte, dass ihre Wangen glühend heiß wurden.
»Benimm dich, Bert«, sagte Bill zurechtweisend.
»Halt den Mund«, sagte Mary, die auch empört war. »Du bist ekelhaft roh, Bert Wanhope, und ich will nichts mehr mit dir zu tun haben – bitte!«
Sie zog ihren Arm an sich und schob ihn weg, aber nur, um ihn nach zehn Sekunden verzeihend wieder in Gnaden aufzunehmen.
»Hört mal zu, alle drei«, fuhr der unverbesserliche Bert fort. »Die Nacht ist lang. Lasst uns die Zeit benutzen. Zuerst Pabsts Café – nachher etwas anderes. Was meinst du, Billy? Was meinen Sie, Saxon? Mary macht mit.«
Saxon schwieg, wartete aber, halb krank vor Furcht, was der Mann, den sie erst so kurze Zeit kannte, antworten würde.
»Nein«, sagte er besonnen. »Ich muss morgen früh aufstehen und den ganzen Tag arbeiten, und ich denke, dass es den Mädels ebenso geht.«
Saxon verzieh ihm, dass er unmusikalisch war. Sie hatte stets gewusst, dass es solche Männer gab. Auf einen solchen Mann hatte sie gewartet. Sie war jetzt vierundzwanzig, und ihren ersten Heiratsantrag hatte sie mit sechzehn bekommen. Den letzten vor nicht mehr als einem Monat – von dem Inspektor der Wäscherei, einem guten, netten Mann, aber nicht mehr jung. Aber der hier neben ihr war stark und gut und jung. Sie selbst war zu jung, um sich nicht Jugend zu wünschen. Der Inspektor – das hätte bedeutet, dass sie nicht mehr zu plätten brauchte, aber er hätte keine Wärme geschenkt. Aber dieser Mann hier neben ihr – sie ertappte sich dabei, wie sie ihm die Hand drücken wollte.
»Nein, Bert, quäl uns nicht«, sagte Mary. »Wir müssen etwas schlafen. Morgen müssen wir den ganzen Tag am Plättbrett stehen.«
Saxon wurde plötzlich kalt vor Angst bei dem Gedanken, dass sie sicher älter als Billy sei. Verstohlen blickte sie ihn und die weichen runden Linien seines Gesichts an, und das Jungenhafte an ihm ließ sie erschrecken. Natürlich würde er ein Mädchen heiraten, das jünger war als er selber, jünger als sie. Wie alt war er? War es denkbar, dass er zu jung für sie war? Aber je unerreichbarer er wurde, desto heftiger fühlte sie sich von ihm angezogen. Er war so stark und gut. Sie rief sich alle Ereignisse des Tages wieder ins Gedächtnis zurück. Sie fand keinen Fehl, keinen Tadel. Die ganze Zeit war er rücksichtsvoll gegen sie und Mary gewesen. Und er hatte ihre Ballkarte zerrissen und mit keiner anderen getanzt. Es war klar, dass sie ihm gefiel, sonst hätte er das nicht getan.
Sie machte eine kleine Bewegung mit der Hand, die er in der seinen hielt, und fühlte die raue Berührung mit seiner harten Kutscherfaust. Das war ein wundervolles Gefühl. Jetzt bewegte seine Hand sich auch etwas, um sich nach der ihren zu richten, und sie wartete ängstlich. Sie wollte nicht, dass er es wie andere Männer machte, und sie wäre zornig auf ihn geworden, wenn er es gewagt hätte, ihre schwache Bewegung mit den Fingern zu benutzen, um den Arm um sie zu legen. Aber er tat es nicht, und eine Woge von Wärme drang ihr ins Gemüt. Er besaß Feingefühl. Er war weder ein Schwätzer wie Bert noch plump wie andere Männer, denen sie begegnet war. Denn sie hatte Erfahrungen gemacht, die nicht angenehm waren, und sie hatte das entbehrt, was man Ritterlichkeit nannte, wenn sie auch dies Wort nicht benutzt hätte, um auszudrücken, was sie entbehrte, und wonach sie sich sehnte.
Und er war Berufsboxer. Der Gedanke benahm ihr fast den Atem. Er entsprach gar nicht ihren Begriffen von einem Berufsboxer. Im übrigen war er gar kein Professional. Er hatte selbst gesagt, dass er es nicht war. Sie beschloss, ihn einmal danach zu fragen, falls – falls er sie zum Ausgehen einlud. Aber daran zweifelte sie eigentlich nicht, denn wenn ein Mann einen ganzen Tag lang mit einem jungen Mädchen tanzte, so ließ er sie nicht gleich wieder laufen. Sie hoffte beinahe, dass er ein Professional war. Der Gedanke kitzelte sie. Boxer, das war etwas Schreckliches und Mystisches. Boxer standen außerhalb der Regel, sie waren keine gewöhnlichen Arbeiter wie Zimmerleute und Wäschereiarbeiter, sie repräsentierten die Romantik. Sie repräsentierten auch die Kraft. Sie arbeiteten nicht für Arbeitgeber, sondern traten mit Pomp und Gepränge auf, kämpften für eigene Rechnung mit der großen Welt und pressten viel, viel Geld aus den widerstrebenden Händen heraus. Es gab unter ihnen welche, die sich ein Auto hielten und mit einem ganzen Stab von Trainern und Dienern reisten. Vielleicht hatte Billy nur aus Bescheidenheit gesagt, dass er nicht mehr auftrat. Und doch – die harte Haut in seinen Händen – sie sagte ihr, dass er aufgehört hatte.
*
An der Pforte nahmen sie voneinander Abschied. Billy war sichtbar verlegen, und das tat Saxon wohl. Er war keiner der jungen Männer, die das als etwas Selbstverständliches hinnahmen. Eine Pause trat ein, in der sie tat, als wollte sie hineingehen, während sie in Wirklichkeit mit geheimer Ungeduld auf die Worte wartete, die sie von ihm wünschte. »Wir sehen uns doch wieder, nicht wahr?« fragte er, ihre Hand in der seinen.
Sie lachte einwilligend.
»Ich wohne in der Gegend von Ost-Oakland«, erklärte er. »Dort liegt der Stall, wissen Sie, und wir fahren hauptsächlich in dem Viertel, sodass mein Weg ja nicht oft hier vorbeiführt. Aber hören Sie mal –« Seine Hand griff fester um die ihre. »Wir müssen noch einmal ebenso gut zusammen tanzen. Mittwoch ist Ball im Orindore-Klub. Wenn Sie nichts anderes vorhaben – oder haben Sie?«
»Nein«, sagte sie.
»Dann sagen wir also Mittwoch. Wann soll ich Sie abholen?«
Und als sie alles verabredet hatten und er eingewilligt hatte, dass sie ein paar Tänze mit anderen tanzen dürfte, und sie sich noch einmal Gutenacht sagten, fasste er ihre Hand und zog sie an sich. Sie wehrte sich, schwach, aber mit ehrlichem Willen. Es war üblich so, aber sie hatte das Gefühl, dass sie es lieber lassen sollte, aus Furcht, missverstanden zu werden. Und doch wünschte sie, ihn zu küssen, wie sie noch nie gewünscht hatte, einen Mann zu küssen. Als es kam und sie das Gesicht zu ihm hob, stellte sie fest, dass es seinerseits ein Kuss in Ehren war. Nichts lag dahinter. Unbeholfen und freundlich, wie er selber war, wirkte er fast jungfräulich und verriet keine große Erfahrung in der Kunst des Gutenachtsagens. Es sind also doch nicht alle Männer wie Tiere, dachte sie.
»Gute Nacht«, murmelte er. Die Pforte kreischte unter seiner Hand. Er eilte den engen Weg hinab, der zur Ecke des Hauses führte.
»Mittwoch«, rief sie ihm leise nach.
»Mittwoch«, antwortete er. Aber in dem dunkeln Gang zwischen den zwei Häusern blieb sie stehen und lauschte froh auf das Geräusch seiner Schritte auf dem zementierten Bürgersteig. Erst als sie verhallten, ging sie hinauf. Sie schlich sich die Hintertreppe hinauf und durch die Küche in ihr Zimmer, von Herzen dankbar, dass Sarah schlafen gegangen war.
Sie zündete das Gas an, und während sie ihren kleinen Samthut abnahm, spürte sie noch, wie ihre Lippen nach dem Kuss zitterten. Selbstverständlich hatte der nichts zu bedeuten. Es war unter jungen Leuten so üblich. Alle taten es. Aber ihr Gutenachtkuss hatte ihr nie dieses zitternde Gefühl im Gehirn und auf ihren Lippen gegeben. Was war das? Was bedeutete das? Eine plötzliche Eingebung ließ sie sich im Spiegel betrachten. Die Augen strahlten glücklich. Die Röte, die so leicht in ihren Wangen kam und ging, verlieh ihnen im Augenblick Farbe und Glut. Es war ein schönes Spiegelbild, das sie froh und selbstbewusst lächeln ließ, und das Lächeln vertiefte sich noch beim Anblick der zwei starken, weißen und ganz ebenmäßigen Zahnreihen. Warum soll Billy das Gesicht nicht gefallen? fragte sie sich. Anderen Männern hatte es gefallen. Selbst die anderen Mädchen gaben zu, dass sie gut aussah. Charley Long musste es doch gefallen, sonst würde er ihr das Leben nicht so zur Qual machen.
Sie warf einen Blick nach dem Spiegel, wo seine Fotografie steckte, schauderte und schnitt eine kleine Grimasse vor Abscheu und Ekel. Grausamkeit lag in den Augen und Brutalität. Er war eine Bestie. Ein ganzes Jahr lang tyrannisierte er sie jetzt. Er verscheuchte die anderen. Es war gleichsam eine Art Sklaverei, wie er ihr aufpasste. Sie musste an den jungen Buchhalter in der Wäscherei denken – der war kein Arbeiter, nein, sondern ein feiner Herr mit weichen Händen und weicher Stimme – ihn hatte Charley an der Straßenecke überfallen, nur, weil er gewagt hatte, sie zum Theater einzuladen. Und sie hatte nichts tun können. Um seinetwillen hatte sie nie ja zu sagen gewagt, wenn er sie eingeladen hatte.
Und nun sollte sie Mittwoch abend mit Billy ausgehen. Das Herz hüpfte ihr. Es gab wohl Krach, aber Billy würde sie von ihm befreien. Er sollte nur versuchen, Billy zu überfallen.
Mit einer schnellen Bewegung warf sie die Fotografie herunter und ließ sie mit der Bildseite auf die Kommode fallen. Dort lag sie jetzt neben einem kleinen viereckigen Etui aus dunklem Leder, das vom Zahn der Zeit ziemlich mitgenommen war. Mit dem Gefühl, dass es eine Profanation war, ergriff sie wieder die unselige Fotografie und warf sie in eine Ecke des Zimmers. Hierauf nahm sie das Lederetui, drückte auf eine Feder, dass es aufsprang, und betrachtete die Daguerreotypie einer kleinen abgearbeiteten Frau mit festen grauen Augen und mit einem Mund mit zuversichtlichem, rührenden Ausdruck. Auf dem Samt des Etuis stand mit Goldbuchstaben: Carlton von Daisy. Sie las es andächtig, denn es war der Name ihres Vaters, den sie nie gekannt hatte, und das Bild stellte die Mutter dar, die sie nur so wenig gekannt, wenn sie auch nie vergessen hatte, dass diese klugen traurigen Augen grau gewesen waren.
Obwohl Saxon keine Religion im üblichen Sinne hatte, war sie doch von Natur aus tief religiös. Ihre Gedanken von Gott waren vage und verschwommen und wirkten fast verwirrend. Sie konnte Gott nicht vor sich sehen. Hier auf der Daguerreotypie war das Konkrete. In die Kirche ging sie nicht. Dies war ihr Hochaltar, ihr Heiligtum. Hierzu nahm sie ihre Zuflucht in Not und in Verlassenheit. Hier suchte sie Rat, gute Eingebungen und Stütze. Sie hatte das Gefühl, dass sie anders war als die jungen Mädchen ihrer Bekanntschaft, und in dem abgebildeten Antlitz versuchte sie die Eigentümlichkeit ihres eigenen Wesens zu finden. Ihre Mutter war auch anders gewesen als andere Frauen. Diesem Bild gegenüber bemühte sie sich, wahr zu sein, anderen kein Unrecht zu tun oder Ärger zu bereiten. Und was sie in Wirklichkeit von ihrer Mutter wusste, und wie viel sie raten und vermuten musste, machte sie sich nicht klar. Denn seit vielen Jahren formte sie an ihrer Muttermythe.