»Und wenn ich jetzt vor deinen Augen sterbe? Dazu bin ich nicht zu feig, Frona! Wirst du mich dann wieder lieben können?«
»Es ist zu spät, Vincent. Einen schwachen, armen, kleinen Menschen hätte ich lieben können. Ich will kein Heldenweib sein. Ich will nie wieder versuchen, etwas anderes zu sein als eine Frau, wie alle Frauen sind. Aber du hast etwas zerstört, und das kann nicht wieder werden.«
»Was hab’ ich zerstört?«
»In dir habe ich den tapfersten aller Männer gesehen! Alle Träume, die ein Mädchen träumt, waren in dir Körper geworden! Und das ist vorbei. Das kommt nie wieder. Aber du würdest mich immer daran erinnern …«
»Geh fort!« schrie sie mit so furchtbarer Energie, mit so hasserfüllten Augen, dass er plötzlich nicht mehr zweifeln konnte: hier war sein Spiel ausgespielt.
»Gut, ich gehe. Du wirst nie wieder von mir hören. Vielleicht wirst du einmal lesen und lernen, dass du einen Menschen von dir gestoßen hast, der mehr wert ist als all deine Eisenfresser. Auch mehr als der, der mich verdrängt hat. Denn das lass dir sagen, als mein letztes Wort: Ich weiß, dass alles gelogen war! Du hättest mich weiter geliebt, du wärst durch Jammer und Elend mit mir gegangen ohne den, der von da drüben kommt.«
Dabei zeigte er auf ein Kanu, in dem Del Bishop mit Corliss herangepaddelt kamen.
»Ich weiß, dass deine Verachtung und dein Heldenglaube nichts ist als Pose! Aber der Mann, mit dem du eine gewisse Nacht, eine ganze Nacht, von der wir nicht sprechen wollen, in Happy Camp verbracht hast, in seinem Zelt, in seinen Decken, der …«
»Vance!« schrie Frona hinaus auf den Fluss: »Komm her und schütze mich!«
Bei diesem Schrei, dessen Echo die Flut widerhallte, verschwand Gregory St. Vincent wie ein Schatten.
ENDE
»Hörst du, Saxon? Komm mit! Was schadet es, wenn es Maurer sind. Ich werde ein paar feine Herren treffen, die ich kenne, und du auch. Die Al Vista-Musik soll spielen, und du weißt, sie spielt himmlisch. Und du tanzt ja so gern –«
Zehn Schritte von ihnen entfernt stand eine dicke ältere Frau, die das junge Mädchen in ihrer Unterhaltung störte. Die Frau wandte ihnen den Rücken – einen schlottrigen, runden und missgestalteten Rücken – der plötzlich in Krämpfen zuckte.
»Mein Gott!« schrie sie. »Oh, mein Gott!«
Ihre Augen, die den Ausdruck eines gefangenen Tieres hatten, schweiften wild durch den großen, weißgestrichenen Raum, der zum Ersticken erhitzt und mit nassen Dämpfen von dem feuchten Zeug gesättigt war, das unter den vielen Plätteisen zischte. Die zunächst stehenden Mädchen und Frauen warfen ihr einen schnellen Blick zu, und dann schwangen sie wieder ihre Eisen, aber mit erhöhter Schnelligkeit, hatten sie doch mehrere Dutzend Bewegungen ungleichmäßig oder nicht ganz so ausgeführt, wie sie sollten. Der Schrei der älteren Frau hatte die Angst vor dem Geldverlust erweckt, die sich nervös durch die Reihen der akkordarbeitenden Plätterinnen fortpflanzte.
Sie nahm sich zusammen, ergriff ihr Eisen und ließ es aufs Geratewohl auf das feingekräuselte Kleidungsstück auf dem Brett unter ihren Händen fallen.
»Ich glaubte, sie bekäme es schon wieder – du nicht?« sagte das junge Mädchen.
»Es ist eine Schande, eine Frau in ihrem Alter – und in dem Zustand«, antwortete Saxon, während sie mit einer warmen Tollschere eine Spitzenmanschette kräuselte. Ihre Bewegungen waren leicht, sicher und schnell, und obwohl ihr Gesicht blass vor Müdigkeit und Wärme war, arbeitete sie doch mit unverminderter Schnelligkeit.
»Und dabei hat sie sieben, und zwei in der Anstalt«, stimmte das Mädchen neben ihr, vor Mitgefühl schnüffelnd, ein. »Aber du solltest morgen mit in den Weasel-Park kommen, Saxon, die Maurer sind immer guter Laune – es gibt Tauziehen, Sacklaufen – echt irischen Jiggin – und – alles Mögliche. Und der Tanzboden ist prachtvoll …«
Aber die ältere Frau unterbrach wieder ihre Unterhaltung. Sie ließ das Eisen auf die Hemdbrust fallen, packte das Brett, tastete einen Augenblick darauf herum, sank dann ins Knie und fiel wie ein halbleerer Sack zu Boden, während ihre langgezogenen Schreie den stickigen, von dem scharfen Geruch versengten Zeuges erfüllten Raum durchschnitten. Die Frauen an dem nächsten Tisch stürzten zuerst auf das heiße Eisen, um das Zeug zu retten, und dann zu der Frau, während die Inspektorin mit langen kriegerischen Schritten durch den Gang geeilt kam. Die entfernter Stehenden plätteten weiter, kamen jedoch aus dem Takt und verloren dadurch viele Bewegungen.
»Da kann ein Hund krepieren«, murmelte das junge Mädchen und schleuderte das Eisen heftig und entschlossen auf seinen Platz. »Das Leben einer Arbeiterin ist anders, als man erzählt. Ich bin bald fertig damit – jawohl.«
»Mary!« Saxons Stimme drückte einen tiefen Vorwurf aus, und um ihr noch mehr Nachdruck zu verleihen, musste sie ihr Eisen einen Augenblick loslassen, was sie ein Dutzend Bewegungen kostete.
Mary warf ihr einen halberschrockenen Blick zu.
»So meinte ich es nicht, Saxon«, klagte sie. »Weiß Gott, nein. Den Weg würde ich nie gehen; aber sag’ selbst, ob ein solcher Tag einen nicht nervös machen kann. Hör nur!«
Die Frau, welche Krämpfe bekommen hatte, lag auf dem Rücken und trommelte mit den Absätzen auf dem Fußboden, während sie immerfort monoton wie eine Sirene schrie. Zwei Frauen griffen sie unter dem Arm und schleiften sie über den Fußboden. Sie trommelte und schrie unaufhörlich. Die Tür öffnete sich, und es ertönte ein gewaltiges, gedämpftes Dröhnen großer Maschinen, und in diesem Dröhnen ertrank ihr Trommeln und Schreien, worauf die Tür sich wieder schloss. Der Geruch von verbranntem Zeug hing noch in der Luft als eine unheimliche Erinnerung an das Geschehene.
»Das ist zum Krankwerden«, sagte Mary.
Und dann verging eine lange Zeit, in der die Eisen sich hoben und senkten, ohne dass das Maximaltempo in der Stube auch nur einen Augenblick vermindert wurde. Die Inspektorin stolzierte unterdessen zwischen den Tischen auf und ab, und ihre Augen stießen Drohungen gegen alle beginnende Schlaffheit und Hysterie aus. Hin und wieder ließ eine Plätterin für einen Augenblick das Eisen los, gähnte oder seufzte und machte sich dann mit müdem Entschluss wieder an die Arbeit. Der lange Sommertag schwand, aber die Wärme nicht, und die Arbeit wurde unter dem harten Schein der elektrischen Lampen fortgesetzt. Gegen neun Uhr begann die erste Frau heimzugehen. Die berghohen Wäschehaufen waren zusammengeschrumpft. Nur wenige Reste lagen noch hie und da auf den Plättbrettern, wo die Plätterinnen noch arbeiteten.
Saxon wurde etwas früher fertig als Mary, und als sie hinausging, blieb sie einen Augenblick am Brett der anderen stehen.
»Sonnabend abend und wieder eine Woche vorbei«, klagte Mary.
Das junge Gesicht war bleich und eingefallen, und unter den schwarzen Augen, die so müde blickten, lagen tiefe Schatten.
»Wie viel hast du denn verdient, Saxon?«
»Zwölfundeinenviertel« antwortete Saxon nicht ohne einen gewissen Stolz. »Und ich hätte noch mehr verdient, wenn die Stärkefabriken nicht die Stärke verfälschten.«
»Ja, das muss man sagen«, meinte Mary bewundernd. »Du kannst etwas schaffen – du frisst es gleichsam. Ich – ich habe nur zehn und einen halben verdient – für eine Woche Mühe. Wir sehen uns also um neun Uhr vierzig an der Bahn. Aber bestimmt. Wir können noch ein bisschen herumschlendern, ehe der Tanz anfängt. Am Nachmittag kommen ein paar Freunde von mir.«
Zwei Straßen von der Plätterei entfernt hatten sich ein paar Halbstarke unter einer Bogenlampe an einer Ecke aufgestellt. Saxon eilte an ihnen vorbei. Unwillkürlich wurde ihr Gesicht hart und straff. Sie erfasste zwar nicht den Wortlaut ihrer Bemerkungen, erriet ihn aber aus dem rohen Gelächter, das sie begleitete, und das Blut strömte ihr warm und zornig in die Wangen, während sie weiterging in der Abendluft, die schon kühl zu werden begann.
Zu beiden Seiten lagen Arbeiterwohnungen, Häuser aus verwittertem Holz, dessen alter Anstrich von jahrelangem Schmutz bedeckt war. Nur ihre Billigkeit und Hässlichkeit machten sie bemerkenswert.
Es war dunkel, aber sie ging nicht fehl, und das Schloss kreischte wie gewöhnlich vorwurfsvoll und kläglich unter ihren Händen, – wie sie diesen Gruß kannte! Sie trat in die Küche, wo eine einsam flatternde Gasflamme brannte. Es war eine kleine Küche, die nicht unordentlich zu nennen war, weil nichts darin war, was sie unordentlich machen konnte. Die gegipste Decke, die vom Dampf vieler Waschtage dunkel und hässlich war, wurde von Rissen, einer Erinnerung an das große Erdbeben im letzten Frühling, durchkreuzt. Der Fußboden war uneben und hatte tiefe Risse; vor dem Herd war er ganz abgetreten, und eine aus einer flachgehämmerten und doppelt gelegten Petroleumkanne verfertigte Platte glich den Schaden aus. Ein Ausguss, ein schmutziges, derbes Handtuch, ein paar Stühle und ein Tisch vervollständigten das Bild.
Ein Apfelgehäuse krachte unter ihrem Fuß, als sie den Stuhl an den Tisch zog. Auf einem abgenutzten Stück Wachstuch wartete das Abendessen. Sie nahm ein wenig von den kalten, fettgetränkten Bohnen, ließ sie aber stehen und schmierte sich ein Stück Brot.
Das baufällige Haus zitterte unter schweren schleppenden Schritten, und Sarah trat ein, eine frühgealterte Frau mit hängendem Busen und wirrem Haar, das fette Gesicht in mürrische, vergrämte Falten gelegt.
»Na, bist du da?« grunzte sie zur Begrüßung. »Ich habe das Essen nicht warmhalten können. Was für ein Tag! Ich bin vor Hitze fast krepiert.«
Sarah kam näher und stellte sich in ihrer ganzen mächtigen Fülle an den Tisch.
»Was ist mit den Bohnen?« begann sie herausfordernd.
»Nichts, sie sind nur …« Saxon flüchtete vor dem aufziehenden Unwetter. »Ich habe nur keinen Hunger. Es ist heute so warm gewesen. Es war furchtbar in der Plätterei.«
Gleichgültig trank sie einen Schluck von dem kalten Tee, der so lange gezogen hatte, dass er wie Tinte schmeckte, und gleichgültig schluckte sie ihn und den Rest des Getränkes vor den Augen ihrer Schwägerin hinunter. Dann wischte sie sich den Mund mit ihrem Taschentuch und stand auf.
»Ich glaube, ich gehe zu Bett.«
»Merkwürdig, dass du nicht zum Tanzen gehst«, schnüffelte Sarah. »Ja, es ist wirklich komisch – jeden Abend kommst du todmüde nach Hause, aber jeden Abend kannst du ausgehen und bis in den hellen Morgen hinein tanzen.«
Saxon wollte antworten, besann sich aber und presste die Lippen zusammen. Dann verlor sie plötzlich die Selbstbeherrschung und sagte heftig: »Du bist wohl auch einmal jung gewesen?«
Sie wartete die Antwort nicht ab, sondern machte kehrt und ging in ihr Zimmer, das neben der Küche lag. Es war ein ganz kleiner Raum, und auch hier hatte das Erdbeben seine Spuren im Putz hinterlassen. Ein Bett, ein billiger Stuhl aus Kiefernholz und eine sehr alte Kommode bildeten das ganze Mobiliar. Die Kommode hatte Saxon ihr ganzes Leben gekannt. Ihr Anblick war mit ihren frühesten Erinnerungen verwebt. Sie wusste, dass sie mit ihren Vorfahren auf einem »Prärieschiff« über die Prärie gekommen war. Die Kommode bestand aus massivem Mahagoni, aber die eine Seite war gesprungen und verschrammt, als der Wagen im Rock Canyon abstürzte. Das runde Loch einer Büchsenkugel in der obersten Schublade berichtete von dem Kampfe mit den Indianern bei Little Meadow. Von diesen Ereignissen hatte ihre Mutter ihr erzählt, und sie hatte ihr auch erzählt, dass die Kommode ursprünglich mit ihrer Familie aus England gekommen war, und zwar zu einer Zeit, die vor der Geburt George Washingtons lag.
Saxon machte Miene, ihren Hut abzunehmen, stattdessen aber setzte sie sich auf das Bett. Sie weinte leise, damit niemand es hören sollte, aber die schlechtschließende Tür ging geräuschlos auf, und beim Klang der Stimme ihrer Schwägerin fuhr Saxon zusammen.
»Was ist jetzt wieder mit dir los? Wenn die Bohnen dir nicht schmeckten –«
»Nein, nein«, erklärte Saxon schnell. »Ich bin nur müde, das ist alles, und die Füße tun mir weh. Ich hatte keinen Hunger, Sarah. Ich bin nur so erschöpft.«
»Wenn du das ganze Haus zu besorgen hättest«, lautete die Antwort, »und kochen und backen und waschen solltest und so viel um die Ohren hättest wie ich – dann hättest du einen Grund, erschöpft zu sein. Du kannst lachen! Aber warte nur.« Sarah hielt einen Augenblick inne und grinste boshaft. »Warte nur, sage ich, denn eines schönen Tages bist du schon dumm genug, zu heiraten wie ich, und dann kommst du an die Reihe. Kinder kommen, Kinder und Kinder und Kinder – und keine Bälle mit Seidenstrümpfen und drei Paar Schuhen auf einmal. Du hast es wie der Dotter im Ei – an keinen zu denken als an dein eigenes teures Ich – und dabei all die Laffen, die um dich herumschwänzeln und dir von deinen schönen Augen erzählen. Huh! Eines schönen Tages hängst du dich an einen von ihnen, und dann wirst du vielleicht zur Abwechslung Gelegenheit haben, mit ein paar blauen Augen herumzulaufen.«
»Sag das nicht, Sarah«, protestierte Saxon. »Mein Bruder hat dich nie geschlagen, das weißt du gut.«
»Nein, was tut er überhaupt? Er hat nie Grütze im Kopf gehabt, aber er ist nun auch viel besser als das Pack, mit dem du herumläufst, wenn er auch nicht genug verdient, um ordentlich zu leben und seiner Frau drei Paar Schuhe zu kaufen. Vielleicht sind die Mädchen heutzutage klüger, was weiß ich? Aber das weiß ich jedenfalls, dass es einem jungen Mädchen mit drei Paar Schuhen, das nur an ihr Vergnügen denkt, einmal schlecht gehen wird, das kann ich dir erzählen. In meiner Jugend war es anders. Meine Mutter hätte mich schön beim Schlafittchen genommen, wenn ich es gemacht hätte wie du, und sie hatte recht, das ist so sicher, wie heute alles in der Welt verkehrt ist. Sieh deinen Bruder an – zu Sozialistenversammlungen rennen und all den Quatsch anhören, das kann er, und all die Extraausgaben für ihre Gewerkschaften, die den Kindern nur das Brot aus dem Munde nehmen, statt dafür zu sorgen, gut mit seinen Vorgesetzten zu stehen. Für das Geld, das er für all das ausgibt, könnte er mir leicht siebzehn Paar Schuhe jährlich geben, wenn ich dumm genug wäre, mir etwas daraus zu machen. Aber eines schönen Tages, ja, du wirst sehen, kommt er ins Loch, und was sollen wir dann tun? Wie soll ich fünf Mäuler füllen, wenn nichts da ist?«
Sie hielt inne, um Luft zu schöpfen, war aber offenbar bis zum Rande mit neuen Tiraden gefüllt.
»Ach, Sarah, könntest du nicht die Tür schließen?« bat Saxon.
Die Tür schlug mit einem Krach zu, und während Saxon sich wieder weinend aufs Bett setzte, hörte sie ihre Schwägerin in der Küche herumrumoren und laute Selbstgespräche führen.
*
Sie bezahlten jede ihre Eintrittskarte am Eingang zum Weasel-Park, und beide waren sich ganz klar darüber, wie viel Stück Feinwäsche der halbe Dollar, den es kostete, darstellte. Es war noch früh am Tage, sodass die Leute erst spärlich kamen, aber die Maurer rückten schon mit ihren Familien an, mit mächtigen Frühstückskörben und einer ganzen Schar kleiner Kinder beladen – eine gesunde, unkultivierte Rasse von Arbeitern, gut gelohnt und kräftig ernährt. Auch Großväter und Großmütter sah man unter ihnen, leicht kenntlich in der Menge trotz ihrer guten amerikanischen Kleidung. Sie waren auch lange nicht so gut genährt, und es war leicht zu sehen, dass das nicht vom Alter allein kam, sondern von schweren Zeiten und vieljähriger, mühseliger Arbeit im alten Irland, wo sie das Licht der Welt erblickt hatten. Zufriedenheit und Stolz standen in ihren Gesichtern zu lesen, wie sie neben ihrer kräftigen Nachkommenschaft dahinhumpelten, die mit kräftigerer Kost ernährt war.
Es waren nicht diese Menschen, zu denen Mary und Saxon gehörten. Sie kannten sie nicht und hatten keine Freunde unter ihnen. Ihnen war gleichgültig, wer Feste feierte, Irländer, Deutsche, Slawonen; Maurer, Brauer, Schlächter – für sie kam alles auf eins hinaus. Sie, die Mädchen, gehörten zu dem tanzenden Publikum, das der Kasse einen gewissen Prozentsatz zuführte, mit dem man bei allen Festen rechnete.
Sie schlenderten zwischen den Buden umher, wo es aus Anlass des Tages geröstete Affennüsse und gemahlene Maiskörner gab, und gingen dann, um den Tanzboden in Augenschein zu nehmen. Saxon klammerte sich an einen eingebildeten Kavalier und versuchte ein paar Walzerschritte. Mary klatschte in die Hände.
»Gott!« rief sie. »Du bist direkt großartig. Und die Strümpfe sind fein!«
Saxon lächelte zufrieden und streckte den Fuß vor – sie trug kleine Samtschuhe mit hohen Kubaner Absätzen – hob ein wenig das enge schwarze Kleid und zeigte eine reizende Fessel und eine feingerundete Wade, deren weiße Haut durch die allerdünnsten und durchsichtigsten schwarzen Seidenstrümpfe zu fünfzig Cent das Paar leuchtete. Sie war schlank, nicht groß, hatte aber ausgeprägt weiblich runde Formen. Auf ihrer weißen Bluse trug sie ein plissiertes Jabot aus billiger Spitze, über der Bluse ein fesches kleines Jackett und dazu imitierte Wildlederhandschuhe. Echt waren hingegen die Locken, die, ganz unbekannt mit der Brennschere, unter dem koketten kleinen schwarzen Samthut hervorguckten, der ihre Augen beschattete. Die dunklen Augen Marys funkelten vor Freude. Mit einem raschen kleinen Anlauf schlang sie die Arme um die Freundin, presste sie an sich und küsste sie. Dann ließ sie sie wieder los, über ihre eigene Torheit errötend.
»Du siehst glänzend aus«, rief sie, wie um sich zu entschuldigen. »Wenn ich ein Mann wäre, könnte ich die Hände nicht von dir lassen. Ich würde dich fressen, ganz bestimmt.«
Hand in Hand verließen sie den Tanzboden und schlenderten durch den Sonnenschein. Vor lauter Vergnügen schwangen sie die Hände und revanchierten sich reichlich für die vernichtende Qual der Woche. Sie lehnten sich über das Geländer des Bärenzwingers, schauderten beim Anblick des gewaltigen einsamen Gastes und lachten zehn Minuten lang vor dem Affenkäfig. Dann gingen sie über die Rasenfläche und guckten unterwegs in die kleine Arena hinab, die auf dem Grunde eines natürlichen Amphitheaters lag, wo die Kampfspiele des Nachmittags stattfinden sollten. Dann machten sie Entdeckungsreisen zwischen den Labyrinthen und Pfaden des Parkes, wo sie beständig auf neue Überraschungen in Form von schattigen Winkeln mit ländlichen grüngestrichenen Tischen und Bänken stießen, von denen viele schon von Familien besetzt waren. Als sie an einen von Bäumen umgebenen Rasenhang kamen, breiteten sie eine Zeitung unter sich aus und setzten sich in das niedrige Gras, das die kalifornische Sonne schon gedörrt und gebräunt hatte. Nach sechstägiger unaufhörlicher Arbeit tat es gut, hier zu sitzen und nichts zu tun, und außerdem mussten sie sich doch über die Freuden des Tanzes unterhalten, die ihrer warteten.
Mary schwatzte. »Bert Wanhope kommt ganz sicher. Er sagte, er wollte Billy Roberts mitbringen. Den Großen Bill nennen sie ihn. Er ist ein großer Junge, aber mächtig zäh. Er ist Berufsboxer, und alle Mädel laufen ihm nach. Ich habe Angst vor ihm. Ein gutes Mundwerk hat er nicht, er ist ungefähr wie der große Bär, den wir vorhin sahen, Brr–rf! Brr–rf! – ebenso. Übrigens ist er eigentlich kein richtiger Berufsboxer, sondern Kutscher und Gewerkschaftsmitglied. Fährt für Corberly und Morrison. Manchmal aber tritt er in Vereinen auf. Er ist hitzig, und ob er einen Mann zu Boden schlägt oder isst, kommt auf eines heraus. Ich glaube nicht, dass er dir gefallen wird, aber er tanzt großartig. Schwer, weißt du. Er gleitet und schreitet nur über den Boden. Du musst sehen, dass du mit ihm tanzt. Und er ist kein Knicker. Aber hitzig, – oha!«
Und die Unterhaltung ging ihren Gang. Es war jedoch meistens Mary, die sprach, und sie kam immer wieder auf Bert Wanhope zurück.
»Ihr beide scheint ja sehr befreundet zu sein«, meinte Saxon.
»Ja, ich würde ihn morgen heiraten, wenn es sein sollte«, fuhr es aus ihr heraus. Dann sah sie plötzlich ganz verloren aus und wurde blass, fast hart im Gesicht vor hilfloser Verzweiflung. »Er hat mich nur noch nicht gefragt. Er ist – –« Sie zögerte ein Weilchen, dann brach die Leidenschaft aus ihr heraus: »Nimm dich vor ihm in acht, Saxon, wenn er sich je an dich heranmacht. Er ist ein dreckiger Kerl. Aber einerlei, ich würde ihn lieber heut als morgen heiraten. Anders kriegt er mich nie.« Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, seufzte aber stattdessen tief. »Es ist eine komische Welt, in der wir leben, nicht wahr? Zum Totlachen. Und alle Sterne sind auch Welten. Ich möchte wissen, wo Gott sich verbirgt. Bert Wanhope sagt, es gebe gar keinen Gott. Aber er ist schrecklich – sagt die schrecklichsten Dinge. Ich glaube an Gott. Du nicht auch? Wo, glaubst du, ist Gott, Saxon?«
Saxon zuckte die Achseln und lachte.
Die Töne einer Tanzmelodie erklangen jetzt vom Tanzboden, und die beiden jungen Mädchen sprangen auf.
»Wir können gut ein paar Runden tanzen, ehe wir essen«, schlug Mary vor. »Dann ist Nachmittag, und dann kommen die Männer. Die meisten von ihnen sind Knicker, deshalb kommen sie so spät, denn dann brauchen sie den Mädels kein Essen zu spendieren. Aber Bert ist nobel, und Billy auch. Komm, mach schnell, Saxon.«
Nur wenige Paare waren auf dem Tanzboden, als sie kamen, und die zwei Mädchen tanzten den ersten Walzer miteinander.
»Da ist Bert«, flüsterte Saxon, als sie zum zweiten Mal herumkamen.
»Tu, als sähest du sie nicht«, flüsterte Mary zurück. »Lass uns nur weiter tanzen. Sie dürfen nicht glauben, dass wir ihnen nachlaufen.«
Aber Saxon merkte gut, dass Marys Wangen sich gerötet hatten, und dass sie hastiger atmete.
»Hast du den anderen gesehen?« fragte Mary, während sie in einem langen Gleiten Saxon nach dem entgegengesetzten Ende der Estrade führte. »Das ist Billy Roberts. Bert sagte, dass er kommen würde. Er soll für dich das Essen ausgeben und Bert für mich. Es wird ein großartiger Tag, du wirst sehen. Gott, wenn doch die Musik anhalten möchte, bis wir ans andere Ende kommen.«
Und sie walzten weiter, auf der Jagd nach Kavalieren und Mittagessen – zwei frische junge Geschöpfe, die unzweifelhaft gut tanzten, und die froh überrascht waren, als die Musik sie in bedenklicher Nähe vom Ziel ihrer Wünsche ans Land spülte.
Bert und Mary nannten sich beim Vornamen, aber Saxon sagte »Herr Wanhope« zu Bert, obwohl er sie stets Saxon nannte. Sie kannten sich alle bis auf Saxon und Billy Roberts. Mary stellte sie mit nervöser und nachlässiger Eile vor.
»Herr Roberts – Fräulein Brown. Sie ist meine beste Freundin. Ihr Vorname ist Saxon. Ist das nicht ein wahnsinnig komischer Name?«
»Ich finde, dass er gut klingt«, antwortete Billy, nahm den Hut ab und streckte die Hand aus. »Guten Tag, Fräulein Brown.«
Als ihre Hände sich trafen und Saxon fühlte, dass er harte Haut an den Händen hatte wie alle Kutscher, erfasste sie mit einem einzigen schnellen Blick eine Menge anderer Dinge. Alles, was er bemerkte, waren ihre Augen, und er hatte eine schwache Vorstellung davon, dass sie blau waren. Erst später am Tage konstatierte er, dass sie grau waren. Sie hingegen sah gleich seine Augen, wie sie waren, tiefblau, groß und schön mit einem eigenen verdrossenen knabenhaften Blick. Sie fand, dass sie ehrlich aussahen, und sie gefielen ihr gut, wie ihr auch seine Hand sowie die Berührung dieser Hand gefiel. Ebenfalls hatte sie, wenn auch nur ganz flüchtig, Zeit gehabt, die kurze gerade Nase, die helle Gesichtsfarbe und die feste, kurze Oberlippe zu bemerken, ehe ihr schneller Blick mit Wohlgefallen auf dem gutgeformten Mund mit den reinen Linien und den roten lächelnden Lippen ruhte, die die beneidenswert weißen Zähne entblößten. Ein Junge, ein großer starker Junge von Mann, dachte sie, und während sie sich zulächelten und ihre Hände sich lösten, fand sie noch Zeit, sein Haar zu bemerken: kurzes, lockiges, sehr helles Haar, fast wie mattes Gold, so schien ihr, aber doch zu hell, um wirklich Gold zu gleichen.
Die Augen hatten dunkle Wimpern und waren verschleiert und voller Temperament – es war kein verwundert starrender Kinderblick –, und der aus glattem braunen Stoff bestehende Anzug war nach Maß angefertigt. Saxon schätzte sofort den ganzen Anzug ein und bewertete ihn im geheimen auf mindestens fünfzig Dollar. Auch von der Ungeschicklichkeit des skandinavischen Einwanderers war nichts an ihm zu bemerken. Im Gegenteil, er war einer der wenigen Glücklichen, deren Muskeln durch die schönheitsverlassene Kleidung der Zivilisation hindurch Schönheit ausstrahlen. Jede seiner Bewegungen war geschmeidig, besonnen und wohlberechnet. Aber das sah sie nicht und machte sie sich nicht klar. Was sie sah, war nur ein gut gekleideter Mann mit Schönheit in Haltung und Bewegung. Die beherrschte Ruhe, die über seinem ganzen Auftreten lag, dieses Spiel von Muskeln war etwas, das sie eher fühlte als sah, und ebenso fühlte sie, dass hier war, wonach sie sich gesehnt hatte: eine Befreiung und Ruhe, doppelt angenehm und willkommen für jemand, der sechs Tage lang von morgens bis abends Feinwäsche geplättet hatte. Wie die Berührung seiner Hand ihr angenehm gewesen war, so fühlte sie ein, wenn auch unklares Behagen bei allem an ihm, Körper und Seele.
Als er ihre Ballkarte nahm und mit ihr zu spaßen begann, wie junge Leute zu tun pflegen, stellte sie fest, wie plötzlich dieses Gefallen an ihm gekommen war. Noch nie hatte ein Mann einen solchen Eindruck auf sie gemacht. Sie konnte es nicht lassen, sich zu fragen: Ist dies der Mann?
Er tanzte ausgezeichnet. Sie freute sich, wie eine gute Tänzerin sich freut, wenn sie einen guten Tänzer gefunden hat. Wie er mit seinen besonnenen Muskelbewegungen in die Rhythmen des Tanzes hineinglitt und eins damit wurde, das war geradezu bezaubernd. Kein Zweifel, kein Schwanken. Sie sah nach Bert, der mit Mary »schwofte« und immer wieder mit den anderen Tanzenden, deren Zahl allmählich gewachsen war, zusammenstieß. Schlank und hochgewachsen, war Bert auf seine Art nicht ohne Charme und galt als guter Tänzer. Wenn Saxon aber an das Tanzen mit ihm dachte, schien ihr das Vergnügen nicht ganz ungemischt. In seinem ganzen Wesen lag etwas Krampfhaftes. Er war zu schnell oder doch immer im Begriff, es zu werden. Es war, als wollte er stets aus dem Takt geraten. Das störte so, es war keine Ruhe bei ihm zu finden.
»Sie tanzen wie ein Traum«, sagte Billy Roberts. »Ich habe oft gehört, wie gut Sie tanzen.«
»Ich tanze so gern«, antwortete sie.
Aber aus der Art, wie sie es sagte, verstand er, dass sie am liebsten nicht reden wollte, und sie tanzten schweigend weiter, während sie sich froh und stolz über diese Rücksicht fühlte, die sie als Weib vollauf zu schätzen wusste. Rücksicht war eine seltene Ware in der Gesellschaftsschicht, der sie angehörte. Ist dies der Mann? Sie erinnerte sich Marys: »Ich würde ihn lieber heute als morgen heiraten« und ertappte sich bei dem Gedanken, ob sie Billy Roberts morgen heiraten würde, wenn er sie fragte.
Die Augen zu schließen und sich in diesen Armen fortzuträumen, die so wunderbar führten! Ein Boxer! Ein komischer kleiner Schauder durchfuhr sie bei dem Gedanken daran, was Sarah sagen würde, wenn sie sie in diesem Augenblick sähe. Im übrigen war er ja gar nicht Boxer, sondern Kutscher.
Plötzlich ging die Musik in einen ganz anderen Takt über, die Schritte wurden länger, der Druck seines Armes wurde fester, er hob und trug sie, obwohl ihre kleinen Füße in den Samtschuhen nicht einen Augenblick den Fußboden verließen. Dann fielen sie, ebenso plötzlich, wieder in den kurzen Takt zurück. Sie merkte, wie er sie ein winziges Stück von sich abhielt, sodass er ihr ins Gesicht sehen konnte, und das war so lustig, dass sie sich anlachen mussten.