Jack London – Gesammelte Werke

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»Und wenn ich jetzt vor dei­nen Au­gen st­er­be? Dazu bin ich nicht zu feig, Fro­na! Wirst du mich dann wie­der lie­ben kön­nen?«

»Es ist zu spät, Vin­cent. Ei­nen schwa­chen, ar­men, klei­nen Men­schen hät­te ich lie­ben kön­nen. Ich will kein Hel­den­weib sein. Ich will nie wie­der ver­su­chen, et­was an­de­res zu sein als eine Frau, wie alle Frau­en sind. Aber du hast et­was zer­stört, und das kann nicht wie­der wer­den.«

»Was hab’ ich zer­stört?«

»In dir habe ich den tap­fers­ten al­ler Män­ner ge­se­hen! Alle Träu­me, die ein Mäd­chen träumt, wa­ren in dir Kör­per ge­wor­den! Und das ist vor­bei. Das kommt nie wie­der. Aber du wür­dest mich im­mer dar­an er­in­nern …«

»Geh fort!« schrie sie mit so furcht­ba­rer Ener­gie, mit so has­s­er­füll­ten Au­gen, dass er plötz­lich nicht mehr zwei­feln konn­te: hier war sein Spiel aus­ge­spielt.

»Gut, ich gehe. Du wirst nie wie­der von mir hö­ren. Vi­el­leicht wirst du ein­mal le­sen und ler­nen, dass du einen Men­schen von dir ge­sto­ßen hast, der mehr wert ist als all dei­ne Ei­sen­fres­ser. Auch mehr als der, der mich ver­drängt hat. Denn das lass dir sa­gen, als mein letz­tes Wort: Ich weiß, dass al­les ge­lo­gen war! Du hät­test mich wei­ter ge­liebt, du wärst durch Jam­mer und Elend mit mir ge­gan­gen ohne den, der von da drü­ben kommt.«

Da­bei zeig­te er auf ein Kanu, in dem Del Bi­shop mit Cor­liss her­an­ge­pad­delt ka­men.

»Ich weiß, dass dei­ne Ver­ach­tung und dein Hel­den­glau­be nichts ist als Pose! Aber der Mann, mit dem du eine ge­wis­se Nacht, eine gan­ze Nacht, von der wir nicht spre­chen wol­len, in Hap­py Camp ver­bracht hast, in sei­nem Zelt, in sei­nen De­cken, der …«

»Van­ce!« schrie Fro­na hin­aus auf den Fluss: »Komm her und schüt­ze mich!«

Bei die­sem Schrei, des­sen Echo die Flut wi­der­hall­te, ver­schwand Gre­go­ry St. Vin­cent wie ein Schat­ten.

ENDE

Das Mondtal

Erstes Buch

»Hörst du, Sa­xon? Komm mit! Was scha­det es, wenn es Mau­rer sind. Ich wer­de ein paar fei­ne Her­ren tref­fen, die ich ken­ne, und du auch. Die Al Vis­ta-Mu­sik soll spie­len, und du weißt, sie spielt himm­lisch. Und du tanzt ja so gern –«

Zehn Schrit­te von ih­nen ent­fernt stand eine di­cke äl­te­re Frau, die das jun­ge Mäd­chen in ih­rer Un­ter­hal­tung stör­te. Die Frau wand­te ih­nen den Rücken – einen schlott­ri­gen, run­den und miss­ge­stal­te­ten Rücken – der plötz­lich in Krämp­fen zuck­te.

»Mein Gott!« schrie sie. »Oh, mein Gott!«

Ihre Au­gen, die den Aus­druck ei­nes ge­fan­ge­nen Tie­res hat­ten, schweif­ten wild durch den großen, weiß­ge­stri­che­nen Raum, der zum Er­sti­cken er­hitzt und mit nas­sen Dämp­fen von dem feuch­ten Zeug ge­sät­tigt war, das un­ter den vie­len Plätt­ei­sen zisch­te. Die zu­nächst ste­hen­den Mäd­chen und Frau­en war­fen ihr einen schnel­len Blick zu, und dann schwan­gen sie wie­der ihre Ei­sen, aber mit er­höh­ter Schnel­lig­keit, hat­ten sie doch meh­re­re Dut­zend Be­we­gun­gen un­gleich­mä­ßig oder nicht ganz so aus­ge­führt, wie sie soll­ten. Der Schrei der äl­te­ren Frau hat­te die Angst vor dem Geld­ver­lust er­weckt, die sich ner­vös durch die Rei­hen der ak­kord­ar­bei­ten­den Plät­te­rin­nen fort­pflanz­te.

Sie nahm sich zu­sam­men, er­griff ihr Ei­sen und ließ es aufs Ge­ra­te­wohl auf das fein­ge­kräu­sel­te Klei­dungs­stück auf dem Brett un­ter ih­ren Hän­den fal­len.

»Ich glaub­te, sie be­käme es schon wie­der – du nicht?« sag­te das jun­ge Mäd­chen.

»Es ist eine Schan­de, eine Frau in ih­rem Al­ter – und in dem Zu­stand«, ant­wor­te­te Sa­xon, wäh­rend sie mit ei­ner war­men Toll­sche­re eine Spit­zen­man­schet­te kräu­sel­te. Ihre Be­we­gun­gen wa­ren leicht, si­cher und schnell, und ob­wohl ihr Ge­sicht blass vor Mü­dig­keit und Wär­me war, ar­bei­te­te sie doch mit un­ver­min­der­ter Schnel­lig­keit.

»Und da­bei hat sie sie­ben, und zwei in der An­stalt«, stimm­te das Mäd­chen ne­ben ihr, vor Mit­ge­fühl schnüf­felnd, ein. »Aber du soll­test mor­gen mit in den Wea­sel-Park kom­men, Sa­xon, die Mau­rer sind im­mer gu­ter Lau­ne – es gibt Tau­zie­hen, Sack­lau­fen – echt iri­schen Jig­gin – und – al­les Mög­li­che. Und der Tanz­bo­den ist pracht­voll …«

Aber die äl­te­re Frau un­ter­brach wie­der ihre Un­ter­hal­tung. Sie ließ das Ei­sen auf die Hemd­brust fal­len, pack­te das Brett, tas­te­te einen Au­gen­blick dar­auf her­um, sank dann ins Knie und fiel wie ein halb­lee­rer Sack zu Bo­den, wäh­rend ihre lang­ge­zo­ge­nen Schreie den sti­cki­gen, von dem schar­fen Ge­ruch ver­seng­ten Zeu­ges er­füll­ten Raum durch­schnit­ten. Die Frau­en an dem nächs­ten Tisch stürz­ten zu­erst auf das hei­ße Ei­sen, um das Zeug zu ret­ten, und dann zu der Frau, wäh­rend die In­spek­to­rin mit lan­gen krie­ge­ri­schen Schrit­ten durch den Gang ge­eilt kam. Die ent­fern­ter Ste­hen­den plät­te­ten wei­ter, ka­men je­doch aus dem Takt und ver­lo­ren da­durch vie­le Be­we­gun­gen.

»Da kann ein Hund kre­pie­ren«, mur­mel­te das jun­ge Mäd­chen und schleu­der­te das Ei­sen hef­tig und ent­schlos­sen auf sei­nen Platz. »Das Le­ben ei­ner Ar­bei­te­rin ist an­ders, als man er­zählt. Ich bin bald fer­tig da­mit – ja­wohl.«

»Mary!« Sa­x­ons Stim­me drück­te einen tie­fen Vor­wurf aus, und um ihr noch mehr Nach­druck zu ver­lei­hen, muss­te sie ihr Ei­sen einen Au­gen­blick los­las­sen, was sie ein Dut­zend Be­we­gun­gen kos­te­te.

Mary warf ihr einen hal­b­er­schro­cke­nen Blick zu.

»So mein­te ich es nicht, Sa­xon«, klag­te sie. »Weiß Gott, nein. Den Weg wür­de ich nie ge­hen; aber sag’ selbst, ob ein sol­cher Tag einen nicht ner­vös ma­chen kann. Hör nur!«

Die Frau, wel­che Krämp­fe be­kom­men hat­te, lag auf dem Rücken und trom­mel­te mit den Ab­sät­zen auf dem Fuß­bo­den, wäh­rend sie im­mer­fort mo­no­ton wie eine Si­re­ne schrie. Zwei Frau­en grif­fen sie un­ter dem Arm und schleif­ten sie über den Fuß­bo­den. Sie trom­mel­te und schrie un­auf­hör­lich. Die Tür öff­ne­te sich, und es er­tön­te ein ge­wal­ti­ges, ge­dämpf­tes Dröh­nen großer Ma­schi­nen, und in die­sem Dröh­nen er­trank ihr Trom­meln und Schrei­en, wor­auf die Tür sich wie­der schloss. Der Ge­ruch von ver­brann­tem Zeug hing noch in der Luft als eine un­heim­li­che Erin­ne­rung an das Ge­sche­he­ne.

»Das ist zum Krank­wer­den«, sag­te Mary.

Und dann ver­ging eine lan­ge Zeit, in der die Ei­sen sich ho­ben und senk­ten, ohne dass das Ma­xi­mal­tem­po in der Stu­be auch nur einen Au­gen­blick ver­min­dert wur­de. Die In­spek­to­rin stol­zier­te un­ter­des­sen zwi­schen den Ti­schen auf und ab, und ihre Au­gen stie­ßen Dro­hun­gen ge­gen alle be­gin­nen­de Schlaff­heit und Hys­te­rie aus. Hin und wie­der ließ eine Plät­te­rin für einen Au­gen­blick das Ei­sen los, gähn­te oder seufz­te und mach­te sich dann mit mü­dem Ent­schluss wie­der an die Ar­beit. Der lan­ge Som­mer­tag schwand, aber die Wär­me nicht, und die Ar­beit wur­de un­ter dem har­ten Schein der elek­tri­schen Lam­pen fort­ge­setzt. Ge­gen neun Uhr be­gann die ers­te Frau heim­zu­ge­hen. Die berg­ho­hen Wä­sche­h­au­fen wa­ren zu­sam­men­ge­schrumpft. Nur we­ni­ge Res­te la­gen noch hie und da auf den Plätt­bret­tern, wo die Plät­te­rin­nen noch ar­bei­te­ten.

Sa­xon wur­de et­was frü­her fer­tig als Mary, und als sie hin­aus­ging, blieb sie einen Au­gen­blick am Brett der an­de­ren ste­hen.

»Sonn­abend abend und wie­der eine Wo­che vor­bei«, klag­te Mary.

Das jun­ge Ge­sicht war bleich und ein­ge­fal­len, und un­ter den schwar­zen Au­gen, die so müde blick­ten, la­gen tie­fe Schat­ten.

»Wie viel hast du denn ver­dient, Sa­xon?«

»Zwöl­f­und­ei­nen­vier­tel« ant­wor­te­te Sa­xon nicht ohne einen ge­wis­sen Stolz. »Und ich hät­te noch mehr ver­dient, wenn die Stär­ke­fa­bri­ken nicht die Stär­ke ver­fälsch­ten.«

»Ja, das muss man sa­gen«, mein­te Mary be­wun­dernd. »Du kannst et­was schaf­fen – du frisst es gleich­sam. Ich – ich habe nur zehn und einen hal­b­en ver­dient – für eine Wo­che Mühe. Wir se­hen uns also um neun Uhr vier­zig an der Bahn. Aber be­stimmt. Wir kön­nen noch ein biss­chen her­um­schlen­dern, ehe der Tanz an­fängt. Am Nach­mit­tag kom­men ein paar Freun­de von mir.«

Zwei Stra­ßen von der Plät­te­rei ent­fernt hat­ten sich ein paar Halb­star­ke un­ter ei­ner Bo­gen­lam­pe an ei­ner Ecke auf­ge­stellt. Sa­xon eil­te an ih­nen vor­bei. Un­will­kür­lich wur­de ihr Ge­sicht hart und straff. Sie er­fass­te zwar nicht den Wort­laut ih­rer Be­mer­kun­gen, er­riet ihn aber aus dem ro­hen Ge­läch­ter, das sie be­glei­te­te, und das Blut ström­te ihr warm und zor­nig in die Wan­gen, wäh­rend sie wei­ter­ging in der Abend­luft, die schon kühl zu wer­den be­gann.

Zu bei­den Sei­ten la­gen Ar­bei­ter­woh­nun­gen, Häu­ser aus ver­wit­ter­tem Holz, des­sen al­ter An­strich von jah­re­lan­gem Schmutz be­deckt war. Nur ihre Bil­lig­keit und Häss­lich­keit mach­ten sie be­mer­kens­wert.

Es war dun­kel, aber sie ging nicht fehl, und das Schloss kreisch­te wie ge­wöhn­lich vor­wurfs­voll und kläg­lich un­ter ih­ren Hän­den, – wie sie die­sen Gruß kann­te! Sie trat in die Kü­che, wo eine ein­sam flat­tern­de Gas­flam­me brann­te. Es war eine klei­ne Kü­che, die nicht un­or­dent­lich zu nen­nen war, weil nichts dar­in war, was sie un­or­dent­lich ma­chen konn­te. Die ge­gips­te De­cke, die vom Dampf vie­ler Wasch­ta­ge dun­kel und häss­lich war, wur­de von Ris­sen, ei­ner Erin­ne­rung an das große Erd­be­ben im letz­ten Früh­ling, durch­kreuzt. Der Fuß­bo­den war un­eben und hat­te tie­fe Ris­se; vor dem Herd war er ganz ab­ge­tre­ten, und eine aus ei­ner flach­ge­häm­mer­ten und dop­pelt ge­leg­ten Pe­tro­le­um­kan­ne ver­fer­tig­te Plat­te glich den Scha­den aus. Ein Aus­guss, ein schmut­zi­ges, der­bes Hand­tuch, ein paar Stüh­le und ein Tisch ver­voll­stän­dig­ten das Bild.

 

Ein Ap­fel­ge­häu­se krach­te un­ter ih­rem Fuß, als sie den Stuhl an den Tisch zog. Auf ei­nem ab­ge­nutz­ten Stück Wachs­tuch war­te­te das Abendes­sen. Sie nahm ein we­nig von den kal­ten, fett­ge­tränk­ten Boh­nen, ließ sie aber ste­hen und schmier­te sich ein Stück Brot.

Das bau­fäl­li­ge Haus zit­ter­te un­ter schwe­ren schlep­pen­den Schrit­ten, und Sa­rah trat ein, eine früh­ge­al­ter­te Frau mit hän­gen­dem Bu­sen und wir­rem Haar, das fet­te Ge­sicht in mür­ri­sche, ver­gräm­te Fal­ten ge­legt.

»Na, bist du da?« grunz­te sie zur Be­grü­ßung. »Ich habe das Es­sen nicht warm­hal­ten kön­nen. Was für ein Tag! Ich bin vor Hit­ze fast kre­piert.«

Sa­rah kam nä­her und stell­te sich in ih­rer gan­zen mäch­ti­gen Fül­le an den Tisch.

»Was ist mit den Boh­nen?« be­gann sie her­aus­for­dernd.

»Nichts, sie sind nur …« Sa­xon flüch­te­te vor dem auf­zie­hen­den Un­wet­ter. »Ich habe nur kei­nen Hun­ger. Es ist heu­te so warm ge­we­sen. Es war furcht­bar in der Plät­te­rei.«

Gleich­gül­tig trank sie einen Schluck von dem kal­ten Tee, der so lan­ge ge­zo­gen hat­te, dass er wie Tin­te schmeck­te, und gleich­gül­tig schluck­te sie ihn und den Rest des Ge­trän­kes vor den Au­gen ih­rer Schwä­ge­rin hin­un­ter. Dann wisch­te sie sich den Mund mit ih­rem Ta­schen­tuch und stand auf.

»Ich glau­be, ich gehe zu Bett.«

»Merk­wür­dig, dass du nicht zum Tan­zen gehst«, schnüf­fel­te Sa­rah. »Ja, es ist wirk­lich ko­misch – je­den Abend kommst du tod­mü­de nach Hau­se, aber je­den Abend kannst du aus­ge­hen und bis in den hel­len Mor­gen hin­ein tan­zen.«

Sa­xon woll­te ant­wor­ten, be­sann sich aber und press­te die Lip­pen zu­sam­men. Dann ver­lor sie plötz­lich die Selbst­be­herr­schung und sag­te hef­tig: »Du bist wohl auch ein­mal jung ge­we­sen?«

Sie war­te­te die Ant­wort nicht ab, son­dern mach­te kehrt und ging in ihr Zim­mer, das ne­ben der Kü­che lag. Es war ein ganz klei­ner Raum, und auch hier hat­te das Erd­be­ben sei­ne Spu­ren im Putz hin­ter­las­sen. Ein Bett, ein bil­li­ger Stuhl aus Kie­fern­holz und eine sehr alte Kom­mo­de bil­de­ten das gan­ze Mo­bi­li­ar. Die Kom­mo­de hat­te Sa­xon ihr gan­zes Le­ben ge­kannt. Ihr An­blick war mit ih­ren frü­he­s­ten Erin­ne­run­gen ver­webt. Sie wuss­te, dass sie mit ih­ren Vor­fah­ren auf ei­nem »Prä­rie­schiff« über die Prä­rie ge­kom­men war. Die Kom­mo­de be­stand aus mas­si­vem Ma­ha­go­ni, aber die eine Sei­te war ge­sprun­gen und ver­schrammt, als der Wa­gen im Rock Ca­ny­on ab­stürz­te. Das run­de Loch ei­ner Büch­sen­ku­gel in der obers­ten Schub­la­de be­rich­te­te von dem Kamp­fe mit den In­dia­nern bei Litt­le Mea­dow. Von die­sen Er­eig­nis­sen hat­te ihre Mut­ter ihr er­zählt, und sie hat­te ihr auch er­zählt, dass die Kom­mo­de ur­sprüng­lich mit ih­rer Fa­mi­lie aus Eng­land ge­kom­men war, und zwar zu ei­ner Zeit, die vor der Ge­burt Ge­or­ge Wa­shing­tons lag.

Sa­xon mach­te Mie­ne, ih­ren Hut ab­zu­neh­men, statt­des­sen aber setz­te sie sich auf das Bett. Sie wein­te lei­se, da­mit nie­mand es hö­ren soll­te, aber die schlechts­chlie­ßen­de Tür ging ge­räusch­los auf, und beim Klang der Stim­me ih­rer Schwä­ge­rin fuhr Sa­xon zu­sam­men.

»Was ist jetzt wie­der mit dir los? Wenn die Boh­nen dir nicht schmeck­ten –«

»Nein, nein«, er­klär­te Sa­xon schnell. »Ich bin nur müde, das ist al­les, und die Füße tun mir weh. Ich hat­te kei­nen Hun­ger, Sa­rah. Ich bin nur so er­schöpft.«

»Wenn du das gan­ze Haus zu be­sor­gen hät­test«, lau­te­te die Ant­wort, »und ko­chen und ba­cken und wa­schen soll­test und so viel um die Ohren hät­test wie ich – dann hät­test du einen Grund, er­schöpft zu sein. Du kannst la­chen! Aber war­te nur.« Sa­rah hielt einen Au­gen­blick inne und grins­te bos­haft. »War­te nur, sage ich, denn ei­nes schö­nen Ta­ges bist du schon dumm ge­nug, zu hei­ra­ten wie ich, und dann kommst du an die Rei­he. Kin­der kom­men, Kin­der und Kin­der und Kin­der – und kei­ne Bäl­le mit Sei­den­st­rümp­fen und drei Paar Schu­hen auf ein­mal. Du hast es wie der Dot­ter im Ei – an kei­nen zu den­ken als an dein ei­ge­nes teu­res Ich – und da­bei all die Laf­fen, die um dich her­um­schwän­zeln und dir von dei­nen schö­nen Au­gen er­zäh­len. Huh! Ei­nes schö­nen Ta­ges hängst du dich an einen von ih­nen, und dann wirst du viel­leicht zur Ab­wechs­lung Ge­le­gen­heit ha­ben, mit ein paar blau­en Au­gen her­um­zu­lau­fen.«

»Sag das nicht, Sa­rah«, pro­tes­tier­te Sa­xon. »Mein Bru­der hat dich nie ge­schla­gen, das weißt du gut.«

»Nein, was tut er über­haupt? Er hat nie Grüt­ze im Kopf ge­habt, aber er ist nun auch viel bes­ser als das Pack, mit dem du her­um­läufst, wenn er auch nicht ge­nug ver­dient, um or­dent­lich zu le­ben und sei­ner Frau drei Paar Schu­he zu kau­fen. Vi­el­leicht sind die Mäd­chen heut­zu­ta­ge klü­ger, was weiß ich? Aber das weiß ich je­den­falls, dass es ei­nem jun­gen Mäd­chen mit drei Paar Schu­hen, das nur an ihr Ver­gnü­gen denkt, ein­mal schlecht ge­hen wird, das kann ich dir er­zäh­len. In mei­ner Ju­gend war es an­ders. Mei­ne Mut­ter hät­te mich schön beim Schla­fitt­chen ge­nom­men, wenn ich es ge­macht hät­te wie du, und sie hat­te recht, das ist so si­cher, wie heu­te al­les in der Welt ver­kehrt ist. Sieh dei­nen Bru­der an – zu So­zia­lis­ten­ver­samm­lun­gen ren­nen und all den Quatsch an­hö­ren, das kann er, und all die Ex­tra­aus­ga­ben für ihre Ge­werk­schaf­ten, die den Kin­dern nur das Brot aus dem Mun­de neh­men, statt da­für zu sor­gen, gut mit sei­nen Vor­ge­setz­ten zu ste­hen. Für das Geld, das er für all das aus­gibt, könn­te er mir leicht sieb­zehn Paar Schu­he jähr­lich ge­ben, wenn ich dumm ge­nug wäre, mir et­was dar­aus zu ma­chen. Aber ei­nes schö­nen Ta­ges, ja, du wirst se­hen, kommt er ins Loch, und was sol­len wir dann tun? Wie soll ich fünf Mäu­ler fül­len, wenn nichts da ist?«

Sie hielt inne, um Luft zu schöp­fen, war aber of­fen­bar bis zum Ran­de mit neu­en Ti­ra­den ge­füllt.

»Ach, Sa­rah, könn­test du nicht die Tür schlie­ßen?« bat Sa­xon.

Die Tür schlug mit ei­nem Krach zu, und wäh­rend Sa­xon sich wie­der wei­nend aufs Bett setz­te, hör­te sie ihre Schwä­ge­rin in der Kü­che her­um­ru­mo­ren und lau­te Selbst­ge­sprä­che füh­ren.

*

Sie be­zahl­ten jede ihre Ein­tritts­kar­te am Ein­gang zum Wea­sel-Park, und bei­de wa­ren sich ganz klar dar­über, wie viel Stück Fein­wä­sche der hal­be Dol­lar, den es kos­te­te, dar­stell­te. Es war noch früh am Tage, so­dass die Leu­te erst spär­lich ka­men, aber die Mau­rer rück­ten schon mit ih­ren Fa­mi­li­en an, mit mäch­ti­gen Früh­stücks­kör­ben und ei­ner gan­zen Schar klei­ner Kin­der be­la­den – eine ge­sun­de, un­kul­ti­vier­te Ras­se von Ar­bei­tern, gut ge­lohnt und kräf­tig er­nährt. Auch Groß­vä­ter und Groß­müt­ter sah man un­ter ih­nen, leicht kennt­lich in der Men­ge trotz ih­rer gu­ten ame­ri­ka­ni­schen Klei­dung. Sie wa­ren auch lan­ge nicht so gut ge­nährt, und es war leicht zu se­hen, dass das nicht vom Al­ter al­lein kam, son­dern von schwe­ren Zei­ten und viel­jäh­ri­ger, müh­se­li­ger Ar­beit im al­ten Ir­land, wo sie das Licht der Welt er­blickt hat­ten. Zufrie­den­heit und Stolz stan­den in ih­ren Ge­sich­tern zu le­sen, wie sie ne­ben ih­rer kräf­ti­gen Nach­kom­men­schaft da­hin­hum­pel­ten, die mit kräf­ti­ge­rer Kost er­nährt war.

Es wa­ren nicht die­se Men­schen, zu de­nen Mary und Sa­xon ge­hör­ten. Sie kann­ten sie nicht und hat­ten kei­ne Freun­de un­ter ih­nen. Ih­nen war gleich­gül­tig, wer Fes­te fei­er­te, Ir­län­der, Deut­sche, Sla­wo­nen; Mau­rer, Brau­er, Schläch­ter – für sie kam al­les auf eins hin­aus. Sie, die Mäd­chen, ge­hör­ten zu dem tan­zen­den Pub­li­kum, das der Kas­se einen ge­wis­sen Pro­zent­satz zu­führ­te, mit dem man bei al­len Fes­ten rech­ne­te.

Sie schlen­der­ten zwi­schen den Bu­den um­her, wo es aus An­lass des Ta­ges ge­rös­te­te Af­fen­nüs­se und ge­mah­le­ne Mais­kör­ner gab, und gin­gen dann, um den Tanz­bo­den in Au­gen­schein zu neh­men. Sa­xon klam­mer­te sich an einen ein­ge­bil­de­ten Ka­va­lier und ver­such­te ein paar Wal­zer­schrit­te. Mary klatsch­te in die Hän­de.

»Gott!« rief sie. »Du bist di­rekt groß­ar­tig. Und die St­rümp­fe sind fein!«

Sa­xon lä­chel­te zu­frie­den und streck­te den Fuß vor – sie trug klei­ne Samt­schu­he mit ho­hen Ku­ba­ner Ab­sät­zen – hob ein we­nig das enge schwar­ze Kleid und zeig­te eine rei­zen­de Fes­sel und eine fein­ge­run­de­te Wade, de­ren wei­ße Haut durch die al­ler­dünns­ten und durch­sich­tigs­ten schwar­zen Sei­den­st­rümp­fe zu fünf­zig Cent das Paar leuch­te­te. Sie war schlank, nicht groß, hat­te aber aus­ge­prägt weib­lich run­de For­men. Auf ih­rer wei­ßen Blu­se trug sie ein plis­sier­tes Ja­bot aus bil­li­ger Spit­ze, über der Blu­se ein fe­sches klei­nes Jackett und dazu imi­tier­te Wild­le­der­hand­schu­he. Echt wa­ren hin­ge­gen die Lo­cken, die, ganz un­be­kannt mit der Brenn­sche­re, un­ter dem ko­ket­ten klei­nen schwar­zen Samt­hut her­vor­guck­ten, der ihre Au­gen be­schat­te­te. Die dunklen Au­gen Ma­rys fun­kel­ten vor Freu­de. Mit ei­nem ra­schen klei­nen An­lauf schlang sie die Arme um die Freun­din, press­te sie an sich und küss­te sie. Dann ließ sie sie wie­der los, über ihre ei­ge­ne Tor­heit er­rö­tend.

»Du siehst glän­zend aus«, rief sie, wie um sich zu ent­schul­di­gen. »Wenn ich ein Mann wäre, könn­te ich die Hän­de nicht von dir las­sen. Ich wür­de dich fres­sen, ganz be­stimmt.«

Hand in Hand ver­lie­ßen sie den Tanz­bo­den und schlen­der­ten durch den Son­nen­schein. Vor lau­ter Ver­gnü­gen schwan­gen sie die Hän­de und re­van­chier­ten sich reich­lich für die ver­nich­ten­de Qual der Wo­che. Sie lehn­ten sich über das Ge­län­der des Bä­renzwin­gers, schau­der­ten beim An­blick des ge­wal­ti­gen ein­sa­men Gas­tes und lach­ten zehn Mi­nu­ten lang vor dem Af­fen­kä­fig. Dann gin­gen sie über die Ra­sen­flä­che und guck­ten un­ter­wegs in die klei­ne Are­na hin­ab, die auf dem Grun­de ei­nes na­tür­li­chen Am­phi­thea­ters lag, wo die Kampf­spie­le des Nach­mit­tags statt­fin­den soll­ten. Dann mach­ten sie Ent­de­ckungs­rei­sen zwi­schen den La­by­rin­then und Pfa­den des Par­kes, wo sie be­stän­dig auf neue Über­ra­schun­gen in Form von schat­ti­gen Win­keln mit länd­li­chen grün­ge­stri­che­nen Ti­schen und Bän­ken stie­ßen, von de­nen vie­le schon von Fa­mi­li­en be­setzt wa­ren. Als sie an einen von Bäu­men um­ge­be­nen Ra­sen­hang ka­men, brei­te­ten sie eine Zei­tung un­ter sich aus und setz­ten sich in das nied­ri­ge Gras, das die ka­li­for­ni­sche Son­ne schon ge­dörrt und ge­bräunt hat­te. Nach sechs­tä­gi­ger un­auf­hör­li­cher Ar­beit tat es gut, hier zu sit­zen und nichts zu tun, und au­ßer­dem muss­ten sie sich doch über die Freu­den des Tan­zes un­ter­hal­ten, die ih­rer war­te­ten.

Mary schwatz­te. »Bert Wan­ho­pe kommt ganz si­cher. Er sag­te, er woll­te Bil­ly Ro­berts mit­brin­gen. Den Gro­ßen Bill nen­nen sie ihn. Er ist ein großer Jun­ge, aber mäch­tig zäh. Er ist Be­rufs­bo­xer, und alle Mä­del lau­fen ihm nach. Ich habe Angst vor ihm. Ein gu­tes Mund­werk hat er nicht, er ist un­ge­fähr wie der große Bär, den wir vor­hin sa­hen, Brr–rf! Brr–rf! – eben­so. Üb­ri­gens ist er ei­gent­lich kein rich­ti­ger Be­rufs­bo­xer, son­dern Kut­scher und Ge­werk­schafts­mit­glied. Fährt für Cor­ber­ly und Mor­ri­son. Manch­mal aber tritt er in Verei­nen auf. Er ist hit­zig, und ob er einen Mann zu Bo­den schlägt oder isst, kommt auf ei­nes her­aus. Ich glau­be nicht, dass er dir ge­fal­len wird, aber er tanzt groß­ar­tig. Schwer, weißt du. Er glei­tet und schrei­tet nur über den Bo­den. Du musst se­hen, dass du mit ihm tanzt. Und er ist kein Kni­cker. Aber hit­zig, – oha!«

Und die Un­ter­hal­tung ging ih­ren Gang. Es war je­doch meis­tens Mary, die sprach, und sie kam im­mer wie­der auf Bert Wan­ho­pe zu­rück.

»Ihr bei­de scheint ja sehr be­freun­det zu sein«, mein­te Sa­xon.

»Ja, ich wür­de ihn mor­gen hei­ra­ten, wenn es sein soll­te«, fuhr es aus ihr her­aus. Dann sah sie plötz­lich ganz ver­lo­ren aus und wur­de blass, fast hart im Ge­sicht vor hilflo­ser Verzweif­lung. »Er hat mich nur noch nicht ge­fragt. Er ist – –« Sie zö­ger­te ein Weil­chen, dann brach die Lei­den­schaft aus ihr her­aus: »Nimm dich vor ihm in acht, Sa­xon, wenn er sich je an dich her­an­ma­cht. Er ist ein dre­cki­ger Kerl. Aber ei­ner­lei, ich wür­de ihn lie­ber heut als mor­gen hei­ra­ten. An­ders kriegt er mich nie.« Sie öff­ne­te den Mund, um et­was zu sa­gen, seufz­te aber statt­des­sen tief. »Es ist eine ko­mi­sche Welt, in der wir le­ben, nicht wahr? Zum Tot­la­chen. Und alle Ster­ne sind auch Wel­ten. Ich möch­te wis­sen, wo Gott sich ver­birgt. Bert Wan­ho­pe sagt, es gebe gar kei­nen Gott. Aber er ist schreck­lich – sagt die schreck­lichs­ten Din­ge. Ich glau­be an Gott. Du nicht auch? Wo, glaubst du, ist Gott, Sa­xon?«

 

Sa­xon zuck­te die Ach­seln und lach­te.

Die Töne ei­ner Tanz­me­lo­die er­klan­gen jetzt vom Tanz­bo­den, und die bei­den jun­gen Mäd­chen spran­gen auf.

»Wir kön­nen gut ein paar Run­den tan­zen, ehe wir es­sen«, schlug Mary vor. »Dann ist Nach­mit­tag, und dann kom­men die Män­ner. Die meis­ten von ih­nen sind Kni­cker, des­halb kom­men sie so spät, denn dann brau­chen sie den Mä­dels kein Es­sen zu spen­die­ren. Aber Bert ist no­bel, und Bil­ly auch. Komm, mach schnell, Sa­xon.«

Nur we­ni­ge Paa­re wa­ren auf dem Tanz­bo­den, als sie ka­men, und die zwei Mäd­chen tanz­ten den ers­ten Wal­zer mit­ein­an­der.

»Da ist Bert«, flüs­ter­te Sa­xon, als sie zum zwei­ten Mal her­um­ka­men.

»Tu, als sä­hest du sie nicht«, flüs­ter­te Mary zu­rück. »Lass uns nur wei­ter tan­zen. Sie dür­fen nicht glau­ben, dass wir ih­nen nach­lau­fen.«

Aber Sa­xon merk­te gut, dass Ma­rys Wan­gen sich ge­rötet hat­ten, und dass sie has­ti­ger at­me­te.

»Hast du den an­de­ren ge­se­hen?« frag­te Mary, wäh­rend sie in ei­nem lan­gen Glei­ten Sa­xon nach dem ent­ge­gen­ge­setz­ten Ende der Estra­de führ­te. »Das ist Bil­ly Ro­berts. Bert sag­te, dass er kom­men wür­de. Er soll für dich das Es­sen aus­ge­ben und Bert für mich. Es wird ein groß­ar­ti­ger Tag, du wirst se­hen. Gott, wenn doch die Mu­sik an­hal­ten möch­te, bis wir ans an­de­re Ende kom­men.«

Und sie walz­ten wei­ter, auf der Jagd nach Ka­va­lie­ren und Mit­ta­ges­sen – zwei fri­sche jun­ge Ge­schöp­fe, die un­zwei­fel­haft gut tanz­ten, und die froh über­rascht wa­ren, als die Mu­sik sie in be­denk­li­cher Nähe vom Ziel ih­rer Wün­sche ans Land spül­te.

Bert und Mary nann­ten sich beim Vor­na­men, aber Sa­xon sag­te »Herr Wan­ho­pe« zu Bert, ob­wohl er sie stets Sa­xon nann­te. Sie kann­ten sich alle bis auf Sa­xon und Bil­ly Ro­berts. Mary stell­te sie mit ner­vö­ser und nach­läs­si­ger Eile vor.

»Herr Ro­berts – Fräu­lein Brown. Sie ist mei­ne bes­te Freun­din. Ihr Vor­na­me ist Sa­xon. Ist das nicht ein wahn­sin­nig ko­mi­scher Name?«

»Ich fin­de, dass er gut klingt«, ant­wor­te­te Bil­ly, nahm den Hut ab und streck­te die Hand aus. »Gu­ten Tag, Fräu­lein Brown.«

Als ihre Hän­de sich tra­fen und Sa­xon fühl­te, dass er har­te Haut an den Hän­den hat­te wie alle Kut­scher, er­fass­te sie mit ei­nem ein­zi­gen schnel­len Blick eine Men­ge an­de­rer Din­ge. Al­les, was er be­merk­te, wa­ren ihre Au­gen, und er hat­te eine schwa­che Vor­stel­lung da­von, dass sie blau wa­ren. Erst spä­ter am Tage kon­sta­tier­te er, dass sie grau wa­ren. Sie hin­ge­gen sah gleich sei­ne Au­gen, wie sie wa­ren, tief­blau, groß und schön mit ei­nem ei­ge­nen ver­dros­se­nen kna­ben­haf­ten Blick. Sie fand, dass sie ehr­lich aus­sa­hen, und sie ge­fie­len ihr gut, wie ihr auch sei­ne Hand so­wie die Berüh­rung die­ser Hand ge­fiel. Eben­falls hat­te sie, wenn auch nur ganz flüch­tig, Zeit ge­habt, die kur­ze ge­ra­de Nase, die hel­le Ge­sichts­far­be und die fes­te, kur­ze Ober­lip­pe zu be­mer­ken, ehe ihr schnel­ler Blick mit Wohl­ge­fal­len auf dem gut­ge­form­ten Mund mit den rei­nen Li­ni­en und den ro­ten lä­cheln­den Lip­pen ruh­te, die die be­nei­dens­wert wei­ßen Zäh­ne ent­blö­ßten. Ein Jun­ge, ein großer star­ker Jun­ge von Mann, dach­te sie, und wäh­rend sie sich zu­lä­chel­ten und ihre Hän­de sich lös­ten, fand sie noch Zeit, sein Haar zu be­mer­ken: kur­z­es, lo­cki­ges, sehr hel­les Haar, fast wie mat­tes Gold, so schi­en ihr, aber doch zu hell, um wirk­lich Gold zu glei­chen.

Die Au­gen hat­ten dunkle Wim­pern und wa­ren ver­schlei­ert und vol­ler Tem­pe­ra­ment – es war kein ver­wun­dert star­ren­der Kin­der­blick –, und der aus glat­tem brau­nen Stoff be­ste­hen­de An­zug war nach Maß an­ge­fer­tigt. Sa­xon schätz­te so­fort den gan­zen An­zug ein und be­wer­te­te ihn im ge­hei­men auf min­des­tens fünf­zig Dol­lar. Auch von der Un­ge­schick­lich­keit des skan­di­na­vi­schen Ein­wan­de­rers war nichts an ihm zu be­mer­ken. Im Ge­gen­teil, er war ei­ner der we­ni­gen Glück­li­chen, de­ren Mus­keln durch die schön­heits­ver­las­se­ne Klei­dung der Zi­vi­li­sa­ti­on hin­durch Schön­heit aus­strah­len. Jede sei­ner Be­we­gun­gen war ge­schmei­dig, be­son­nen und wohl­be­rech­net. Aber das sah sie nicht und mach­te sie sich nicht klar. Was sie sah, war nur ein gut ge­klei­de­ter Mann mit Schön­heit in Hal­tung und Be­we­gung. Die be­herrsch­te Ruhe, die über sei­nem gan­zen Auf­tre­ten lag, die­ses Spiel von Mus­keln war et­was, das sie eher fühl­te als sah, und eben­so fühl­te sie, dass hier war, wo­nach sie sich ge­sehnt hat­te: eine Be­frei­ung und Ruhe, dop­pelt an­ge­nehm und will­kom­men für je­mand, der sechs Tage lang von mor­gens bis abends Fein­wä­sche ge­plät­tet hat­te. Wie die Berüh­rung sei­ner Hand ihr an­ge­nehm ge­we­sen war, so fühl­te sie ein, wenn auch un­kla­res Be­ha­gen bei al­lem an ihm, Kör­per und See­le.

Als er ihre Ball­kar­te nahm und mit ihr zu spa­ßen be­gann, wie jun­ge Leu­te zu tun pfle­gen, stell­te sie fest, wie plötz­lich die­ses Ge­fal­len an ihm ge­kom­men war. Noch nie hat­te ein Mann einen sol­chen Ein­druck auf sie ge­macht. Sie konn­te es nicht las­sen, sich zu fra­gen: Ist dies der Mann?

Er tanz­te aus­ge­zeich­net. Sie freu­te sich, wie eine gute Tän­ze­rin sich freut, wenn sie einen gu­ten Tän­zer ge­fun­den hat. Wie er mit sei­nen be­son­ne­nen Mus­kel­be­we­gun­gen in die Rhyth­men des Tan­zes hin­ein­g­litt und eins da­mit wur­de, das war ge­ra­de­zu be­zau­bernd. Kein Zwei­fel, kein Schwan­ken. Sie sah nach Bert, der mit Mary »schwof­te« und im­mer wie­der mit den an­de­ren Tan­zen­den, de­ren Zahl all­mäh­lich ge­wach­sen war, zu­sam­mens­tieß. Schlank und hoch­ge­wach­sen, war Bert auf sei­ne Art nicht ohne Ch­ar­me und galt als gu­ter Tän­zer. Wenn Sa­xon aber an das Tan­zen mit ihm dach­te, schi­en ihr das Ver­gnü­gen nicht ganz un­ge­mischt. In sei­nem gan­zen We­sen lag et­was Krampf­haf­tes. Er war zu schnell oder doch im­mer im Be­griff, es zu wer­den. Es war, als woll­te er stets aus dem Takt ge­ra­ten. Das stör­te so, es war kei­ne Ruhe bei ihm zu fin­den.

»Sie tan­zen wie ein Traum«, sag­te Bil­ly Ro­berts. »Ich habe oft ge­hört, wie gut Sie tan­zen.«

»Ich tan­ze so gern«, ant­wor­te­te sie.

Aber aus der Art, wie sie es sag­te, ver­stand er, dass sie am liebs­ten nicht re­den woll­te, und sie tanz­ten schwei­gend wei­ter, wäh­rend sie sich froh und stolz über die­se Rück­sicht fühl­te, die sie als Weib vollauf zu schät­zen wuss­te. Rück­sicht war eine sel­te­ne Ware in der Ge­sell­schafts­schicht, der sie an­ge­hör­te. Ist dies der Mann? Sie er­in­ner­te sich Ma­rys: »Ich wür­de ihn lie­ber heu­te als mor­gen hei­ra­ten« und er­tapp­te sich bei dem Ge­dan­ken, ob sie Bil­ly Ro­berts mor­gen hei­ra­ten wür­de, wenn er sie frag­te.

Die Au­gen zu schlie­ßen und sich in die­sen Ar­men fort­zu­träu­men, die so wun­der­bar führ­ten! Ein Bo­xer! Ein ko­mi­scher klei­ner Schau­der durch­fuhr sie bei dem Ge­dan­ken dar­an, was Sa­rah sa­gen wür­de, wenn sie sie in die­sem Au­gen­blick sähe. Im üb­ri­gen war er ja gar nicht Bo­xer, son­dern Kut­scher.

Plötz­lich ging die Mu­sik in einen ganz an­de­ren Takt über, die Schrit­te wur­den län­ger, der Druck sei­nes Ar­mes wur­de fes­ter, er hob und trug sie, ob­wohl ihre klei­nen Füße in den Samt­schu­hen nicht einen Au­gen­blick den Fuß­bo­den ver­lie­ßen. Dann fie­len sie, eben­so plötz­lich, wie­der in den kur­z­en Takt zu­rück. Sie merk­te, wie er sie ein win­zi­ges Stück von sich ab­hielt, so­dass er ihr ins Ge­sicht se­hen konn­te, und das war so lus­tig, dass sie sich an­la­chen muss­ten.