St. Vincent fiel in sich zusammen und lag in seinem Stuhl wie ein Haufen leerer Kleider.
»Ich … bin unschuldig … ich … habe es nicht getan …«
»Abstimmung, meine Herren!« rief der Vorsitzende und rührte den Hammer. »Offene Abstimmung – wir sind Männer, von denen jeder seinen Spruch vertritt. Ich frage Sie: ist der Angeklagte Dr. Gregory St. Vincent, den Sie hier vor sich sehen, schuldig, den Mord an dem Goldgräber, unserem Kameraden John Borg durch eigene Handlung oder stillschweigendes Gewährenlassen verschuldet zu haben oder nicht? Wer ihn für schuldig hält, der hebe …«
»Hände hoch!« dröhnte in diesem Augenblick Jacob Welses Stimme aus einer Ecke des Saales, und von dem anderen Ende des Saales hörte man Baron Courbertins helles, scharfes Organ:
»Ände ock!! Oder ick ssiessen!«
Jeder der beiden Männer hielt zwei sechsläufige Revolver auf die Geschworenen gerichtet, 24 Feuerschlünde starrten den Männern entgegen, und es war keiner unter ihnen, der nicht wusste, dass mindestens Jacob Welse Ernst machen würde. Alle Hände flogen zugleich in die Höhe, nichts rührte sich. Der Vorsitzende hatte nicht einmal Zeit gefunden, den Hammer beiseitezulegen. Er hielt ihn in der hochgestreckten Hand. In diesem Saal wurde nicht mehr gesprochen, in diesem Saal galt nur noch die Gewalt. Aber es war die Gewalt, wie Jacob Welse sie verstand, im Dienste des Rechtes und des Friedens.
»Jetzt los! Am Südkanal liegt das Boot! Rasch!! Fort! Du bist gerettet!« keuchte Frona. »Hier ist Geld. Das nimm mit auf den Weg! Und fort! Fort! Lass dich nie wieder hier sehen!«
Sie drückte St. Vincent einen geladenen Revolver in die Hand. »Du bist frei! Worauf wartest du?! Fort! Fort!«
Er ächzte: »Das ist – Wahnsinn.« Wie ein Gelähmter hing er auf seinem Stuhl. Sie presste ihm die Waffe in die Hand, aber seine Finger gaben nach, mit schwerem Poltern fiel der Revolver vor ihm auf den Boden. Sie zog und zerrte an ihm, wie man einen Mann aus schwerem Schlaf erweckt, aber in sein leichenblasses Gesicht kam keine Bewegung; er rührte sich nicht. In dem ganzen Saal war kein Laut als das schwere Atmen der vielen Männer.
Plötzlich war La Flitche an den Stuhl des Angeklagten getreten und hatte seinen Fuß auf den Revolver gesetzt. Frona bückte sich hastig, sie stieß gegen den Mann und wollte sich des Revolvers wieder bemächtigen. La Flitche stand mit erhobenen Händen und sah scheinbar teilnahmlos Jacob Welse an. Aber sein Fuß regte sich nicht. Es entstand zwischen diesem eisenharten, unbeweglichen Männerbein und Fronas wütenden Händen eine Art stillen Ringens, und Jacob Welse, der nicht begriff, warum Gregory noch immer dort saß, verlor auf eine Sekunde die Aufmerksamkeit. Einen Blick wandte er von der Menge ab, die er schon minutenlang wie ein Tierbändiger im Zaum hielt, nur einen Atemzug lang war sein Revolver nicht mehr im Anschlag, und dieser Augenblick entschied alles.
Aus hochgehobener Hand sauste der Hammer des Vorsitzenden gegen Welses Schädel, mit sicherstem Schwung geworfen. Der alte Welse reckte sich, Frona stieß einen gellenden Schrei aus, Jacob Welse brach zusammen und lag jetzt zu Füßen der Masse, die er gezähmt hatte. Im Fall ging sein Revolver los, der Schwede John stieß ein Gebrüll aus: »Mein Bein! Mein Knie!«, und in diesem Augenblick versagten auch Courbertins Nerven. Im Handumdrehen war er übermannt. Es waren Del Bishops Tatzen, die ihn gepackt hatten, und aus denen gab es kein Entrinnen. La Flitche griff nach Frona, sein Griff war nicht hart, aber unwiderstehlich. Er nahm sie in seine Indianerarme wie ein Liebender, in diese geschmeidigen, sehnigen Arme, und damit war ihr letzter Mut gebrochen.
Der Vorsitzende donnerte mit der Faust auf den Tisch und beendete den unterbrochenen Satz: »Wer ihn für schuldig hält, der hebe die rechte Hand!« Gleich darauf verkündete er: »Schuldig mit allen Stimmen!«
*
Am nächsten Morgen sollte das Urteil vollstreckt werden. In dieser Nacht war das letzte Eis getaut. Jetzt lag die Fläche des Yukon sonnenüberspült da, wie die ebene Fläche eines großen, friedlichen Sees, die kleinen Kanälchen zwischen den »Split-up-Island« blinkten grün und plätscherten mit ihren Wellen gegen die von Blumen übersäten Gestade. Nahe dem Strand war ein Baum zum Galgen hergerichtet; an einem zwei Meter hohen Ast baumelte die Schlinge, und darunter stand ein leeres Fass. Mehr war nicht nötig, um einen Mann, der sich gegen die Landesgesetze der Kameradschaft vergangen hatte, vom Leben zum Tode zu befördern.
Ein Goldgräber, der vor langen Jahren als Indianermissionar ins Land gekommen war und nebenamtlich als Seelsorger diente, wenn eine Hochzeit oder eine Taufe zu vollziehen war, hatte die Nacht mit St. Vincent verbracht. Frona hatte nur die eine Hoffnung, Gregory würde tapferer sterben, als er gelebt hatte. Dann wollte sie verzeihen, dass er sie so tief enttäuscht hatte, wie ein Geliebter das Herz einer Liebenden nur enttäuschen kann. Dann, glaubte sie, würden die Male seiner Küsse nicht mehr wie Schandmale auf ihren Lippen brennen, und sie würde sich einst nicht schämen, wenn man sie nach der einen, großen, brennenden Liebe ihrer Jugend fragte.
Vincent enttäuschte sie auch diesmal.
Wie er die Nacht verbracht hatte, danach zu fragen, wagte sie nicht. Aber was da an der Richtstätte erschien, nicht am Arm des Missionars schreitend, sondern von vier handfesten Männern gezerrt und geschleppt, war nicht der Mann, dem sie vor wenigen Tagen noch durch Himmel und Hölle gefolgt wäre. Es war ein schlotterndes, knochenloses Etwas, wimmernd und willenlos.
Um den Galgen hatte sich in weitem Kreis die ganze Goldgräbergemeinschaft versammelt, alle vierzig Männer, die gestern als Geschworene amtiert hatten, der Richter, der Ankläger, Jacob Welse, dessen verbundenes Haupt tiefer als tags zuvor ergraut schien.
»Ehe wir dir die Schlinge um den Hals legen und dich an diesem Baume hängen lassen, bis das Leben aus dir gewichen ist, darfst du noch einmal zu uns sprechen, Gregory St. Vincent!« verkündete der Richter.
»Sag nichts! Bettle nicht um dein Leben!« flüsterte Frona dem Delinquenten zu. Er lag unter dem Galgen wie leblos, auf ihren Knien lag sie neben ihm. »Sei tapfer! Das Leben ist nichts, nur Mut gilt!«
Aber bei dem Gedanken, noch einmal sprechen, noch einen Versuch der Verteidigung machen zu dürfen, erkannte der im Innersten Zerbrochene plötzlich, dass das Leben immer noch lockte, dass er unter dieser lachenden Sonne und beim Zwitschern der Rotkehlchen, mitten in diesem Frühlingsgrün nicht sterben konnte. Durch alle Poren drang ihm die Ahnung, dass nichts vorbei war, solange man atmete, und wenn er je in seinem Leben tapfer gewesen, dann wurde er es in dieser Minute.
Er richtete sich auf. In sein schneeweißes Gesicht trat wieder eine Spur von Farbe. Jetzt kauerte er wie ein zu schwer beladenes Lasttier auf allen vieren, jetzt kam er auf die Knie und stützte sich mit beiden Armen auf das Fass, das sein Schafott werden sollte.
Anfangs tat er nur den Mund auf, mit verzerrten Lippen, aber kein Ton wollte sich in seiner Kehle bilden. Dann wurde aus dem unartikulierten Keuchen und Heulen eine menschliche Stimme, er formte Worte, und plötzlich stand er aufrecht, nur noch auf die Schultern des Missionars gestützt, und sprach: Worte, richtige Sätze … So gewaltig war sein Wille zum Leben, dass er, die grausige Angst im Genick, dennoch imstande war, ein Bekenntnis zu formen und eine Rede zu halten.
»Ich will mich nicht schonen, ihr Männer!« sagte er. »Ich will alles bekennen, die ganze Wahrheit. Ich bin ein Feigling gewesen, ich habe gelogen, aber auf Feigheit und Lüge steht auch nach euren Gesetzen nicht der Tod. Es sind nicht zwei Männer in John Borgs Hütte gekommen in jener Nacht, es war nur ein Mann.
Borg hatte ihn immer erwartet.
Jede Nacht band er an seine Tür einen Blecheimer. Den nannte er die Mörderfalle. Wenn ein Fremder von außen in die Hütte eintreten wollte, musste er den Alarm auslösen. Borg schlief immer mit dem Revolver im Gürtel. Aber in seiner letzten Nacht hatte er zu viel Whisky getrunken, denn in seiner steten Angst vor Verfolgern musste er manchmal Betäubung suchen. Ich wachte auf von leisen Schritten, die um die Hütte schlichen, aber er schnarchte tief. Die Lampe war tief herabgeschraubt. Ich sah Bella an der Türe hantieren; sie hatte den Blecheimer geräuschlos heruntergeholt und beiseitegestellt. Ganz leise ging die Türe auf, und ein Mensch schlich herein. Er kam der Lampe nahe, ich sah sein Gesicht. Es war ein Indianer, und ich werde sein Gesicht nie vergessen. Quer über seiner Stirn, in der Höhe der Augenbrauen, trug er eine breite, furchtbare, rote Narbe.
Und wenn ihr mir dreitausend Indianer vorführt, werde ich diesen Mann auf den ersten Blick erkennen!«
»Und was tatest du?«
»Ich tat nichts. Ich lag in meine Decken gewickelt und tat nichts.«
»War der Mann bewaffnet?«
»Er trug ein breites Messer in der Hand und schritt geräuschlos auf Borgs Lager zu. Bella stand da und wies ihm den Weg. Es war kein Zweifel, dass die beiden Mord planten.«
»Und du tatest nichts?«
»Seid doch nicht so sinnlos grausam in euren Fragen!« heulte Gregory. »Könnt ihr denn nicht begreifen, dass es Menschen gibt, die aus Fleisch und Blut sind, nicht aus Stahl und Eisen, wie man es in diesem Lande sein soll?! Natürlich tat ich nichts … was sollte ich denn tun? Ich lag in meinem Schweiß, und mir war, als ob siedendes Öl über meinen Kopf rann. Ich habe mich so gefürchtet, dass ich das Ganze für einen grässlichen Traum hielt. Ich habe mich so gefürchtet, dass ich dachte, meine Haare werden weiß. Ich habe mich so gefürchtet, dass ich nicht einmal heulen konnte vor Furcht. Ich bin beinahe gestorben vor Furcht. Was fällt euch denn ein? Was wollt ihr von mir? Könnt ihr von einem Menschen verlangen, dass er ein Held ist? Ich bin kein Held! Und das ist mein ganzes Verbrechen!
Dann begann der Kampf im Halbdunkel. Der Indianer stieß mit seinem Messer auf den schnarchenden Borg ein. Aber das Licht war zu schwach, er hatte nicht den Mut gehabt, ihm die Decken wegzureißen. Borg fuhr auf, er war gleich bei voller Besinnung und fuhr dem Indianer an die Gurgel. Er schnellte sich aus dem Bett und fiel mit seinem ganzen Gewicht auf den Mann. Sie rangen um das Messer, Borg hatte es schon fast an sich gerissen, da biss der Mörder ihm in die Faust. Er bekam die bewaffnete Hand frei und stieß immer wieder zu. Sie wälzten sich gegen Tische und Stühle, dass das Holz zusammenkrachte, und dann fiel der erste Schuss.«
»Und du?«
»Ich wollte mich aufraffen, wollte um Hilfe brüllen oder mit einem Stuhlbein den Mörder erschlagen, aber ich konnte nicht. Wie an Händen und Füßen gefesselt lag ich da, Gott helfe mir. Bella hatte den ersten Schuss abgefeuert, auf Borg, aber er lebte immer noch. Er lebte noch und kämpfte noch, als wenn er drei Leben hätte. Er schrie sogar nach mir ›Hilfe! Helft mir doch, St. Vincent!‹ Aber dann war plötzlich keine Hilfe mehr nötig. Er hatte mit seiner eisernen Faust den Indianer knockout geschlagen, und dann lag Bella plötzlich wieder vor ihm, wie ich es oft gesehen hatte, wie ein Hund, der die Peitsche erwartet. Borg riss ihr den Revolver aus der Hand und schoss zweimal auf den Indianer. Seine Augen waren von strömendem Blut geblendet, er traf ihn nicht. Die Kugeln pfiffen scharf an meinem Kopf vorbei in die Wand. Ihr könnt sie dort noch finden. Ich glaube, er wollte den Indianer und mich zugleich erschießen, aber er fehlte uns beide. Den dritten Schuss gab er auf Bella ab, und der traf.
Alles andere war so, wie ihr es von den Zeugen gehört habt.«
Es entstand eine lange Pause. Kein Mensch wagte zu sprechen, aber wie zum Hohn dieses Lynchgerichtes, wie zum Triumph des Lebens, das nach jedem Grauen und zu jedem Entsetzen dennoch das letzte Wort spricht, schmetterte ein Rotkehlchen aus der Krone des Baumes herab, der eben noch als Galgen dienen sollte.
»Hängt ihn auf! Hängt ihn, dass Schluss wird! So eine feige Bestie hat kein Recht mehr zu leben!« riefen aus der Masse ein paar grimmige Stimmen. Aber die meisten der Männer waren jetzt ganz stumm und beklommen. Gestern noch hätte es ihnen nichts ausgemacht, St. Vincent am Galgen zu sehen. Aber in diese Morgenpracht hinein schien das Bild grässlich, und zudem war ihnen klar, dass auf ein Versagen der Nerven, selbst auf die erbärmlichste Feigheit, nach keinem menschlichen Gesetz der Tod steht.
In diesem Augenblick lenkte ein großes Floß, das an jedem Ende von einem Steuerriemen geführt wurde, in geräuschloser Fahrt in den Kanal ein. Als es der Richtstätte gerade gegenüberlag, wandte das vordere Ende sich dem Ufer zu, eine Leine wurde ans Land geworfen, dann kam mit gewaltigem Satz ein weißer Mann an den Strand, der die Leine ein paarmal um den Galgenbaum schlang.
»Lasst euch nicht stören, Jungens!« sagte der Mann, der mit einem Blick die ganze Situation erfasst hatte. »Wird schon richtig sein, was ihr da macht! Nur haben wir da einen Burschen an Bord, der auch nicht mehr lang’ zu leben hat. Vielleicht haben ein paar von euch Zeit, sich auch um den zu kümmern?«
Als ob die Goldgräber glücklich wären, einen anderen Gegenstand für ihre Aufmerksamkeit zu finden, wandten aller Augen sich jetzt dem Floß zu. Auch Jacob Welse, dessen Kopf verbunden war, der aber jetzt frischer und tatkräftiger aussah als am Tage zuvor, folgte den unerwarteten Vorgängen.
»Was habt ihr da für eine Ladung?« fragte er und wies auf einen Haufen Tannenzweige, mit denen das Floß gefrachtet war. Der andere Floßschiffer trat an die Fracht heran und warf ein paar von den Zweigen beiseite.
»Frisches Elchfleisch, Jungens!« rief er mit der Stimme eines Verkäufers auf dem Jahrmarkt. »Ausgezeichnete Ware! Frisches Fleisch, ihr Männer! Wenn wir bis Dawson fahren, reißen sie es uns aus den Händen, für 10 Unzen Goldstaub das Kilo! Aber weil ihr’s seid, und weil man sich den Weg nach Dawson auch sparen möchte, sollt ihr es billiger haben!«
»Und das ist, wie gesagt, die Fracht Nummer zwei«, sprach der erste Mann und wies auf die Umrisse einer Männergestalt, die mit vielen Decken verhüllt war.
»Den haben wir erst heute Morgen aufgelesen, so ungefähr 30 Meilen flussaufwärts.«
»Der braucht einen Doktor«, erzählte der Zweite. »Muss eine Meinungsverschiedenheit mit einem Grizzlybären gehabt haben, und der Bär hat das letzte Wort behalten. Aber wir haben keine Zeit. Entweder kauft ihr gleich oder gar nicht! Bei der Sonne hält sich das Fleisch nicht!«
Frona und St. Vincent sahen zugleich, wie der Verwundete die Böschung hinauf und durch die Menge getragen wurde. Eine bronzefarbene Hand hing schlaff von der rohgezimmerten Bahre herab, ein bronzefarbenes Gesicht kam zwischen den Decken zum Vorschein. Die Männer, die ihn trugen, machten in der Nähe des improvisierten Galgens halt, um zu beschließen, wohin sie ihn tragen wollten. Plötzlich fühlte Frona einen rasenden Griff an ihrem Arm. St. Vincent bohrte seine Nägel in ihr Fleisch.
»Sieh doch!« St. Vincent bebte an allen Gliedern, sein Gesicht mit den lodernden Angst-Augen war in diesem Augenblick noch weißer als zuvor.
»Schau hin! Die Narbe!«
Der Indianer schlug die Augen auf, sein leergeblutetes Gesicht verzerrte sich zu einer Grimasse des Erkennens.
»Das ist der Mann! Das ist der Mörder!« brüllte St. Vincent der Menge zu, mit einem ganz zerborstenen Organ. »Schaut ihn euch an, schaut die Narbe an! Das ist der Mann, der John Borg überfallen hat!«
Gleich darauf hätte man nicht mehr glauben können, dass soviel Menschen zusammengekommen waren, um über einen der Ihren hochnotpeinliches Gericht zu halten. Nur die Schlinge, die aus der Krone des Baumes herniederbaumelte, erinnerte noch an den Anlass zu dieser Versammlung. Aber St. Vincent selbst lag jetzt am Fuß des Baumes. Er streckte sich in der Sonne, und wahrscheinlich schlief er. Die Angst war von ihm genommen, nach vierundzwanzig Stunden des Zitterns und Zagens, nach einer Kette übermenschlicher Anstrengungen schlief er, wie jedes Wesen sich in den Schlaf flüchtet, um neue Kräfte zum Leben zu sammeln, auch unter dem Galgen.
Der verwundete Indianer war in eine Hütte getragen worden. Bei ihm saßen Jacob Welse, der Vorsitzende des Gerichtes und La Flitche. Sie versuchten in vielen Indianersprachen, ihn zum Sprechen zu bringen. Mit seinem letzten Atem sollte er die Wahrheit bekennen. Nach langem Suchen probierte La Flitche es mit einem Dialekt, den er in Kindertagen einmal gelernt und beinahe wieder vergessen hatte. Bei den ersten Lauten fuhr über das Gesicht des Sterbenden ein frohes Aufleuchten …
1 Prahlhans, Aufschneider <<<
Am Ufer wurde wacker gehandelt, die Goldwaage war in Tätigkeit, Mann um Mann brachte eine gewaltige Elchlende oder einen Schlegel, eingehandelt gegen eine Summe von Gold, mit der man in anderen Ländern zumindest ein paar Rinder kaufen konnte, in Sicherheit. Frona saß nicht weit von Corliss. Ihre verweinten, erstaunten Augen fassten dieses ganze Bild nicht. Sie bewachte den Schlaf des Unglücklichen. Durch ihr Herz tobten wilde Stürme. Hass und Liebe zu diesem schönen, verführerischen, elenden Menschen rangen in ihr. Noch wusste sie nicht, ob sie ihn tief genug verachten konnte, um ihn nicht mehr lieben zu müssen.
*
Ein paar Stunden später wurde die Verhandlung wieder aufgenommen. Bill Brown rief die Männer, die sich selbst zu Geschworenen ernannt hatten, im Kreise um den Galgen zusammen. Er sprach:
»Kameraden! Männer von Klondike und Alaska! Ihr werdet sogleich aus dem Munde von La Flitche hören, was der sterbende Indianer ihm gebeichtet hat, und ihr werdet dann entscheiden, wie viel Schuld diesen Mann unter dem Galgen trifft. Nur eine Frage will ich zuvor noch an Sie richten, Gregory St. Vincent! Warum haben Sie nicht früher gesprochen? Sie hatten das Wort, so oft Sie es wünschten. Wir haben Ihren Fall geprüft, wie kein Gerichtshof in den Staaten ihn besser hätte prüfen können. Wir haben gewusst, dass unser Spruch vor den höchsten Behörden des Landes bestehen muss, und es hätte Herrn Welses Warnung nicht bedurft, um uns zu sagen, welche Verantwortung wir trugen!
Denn Sie hatten Unrecht, Herr Welse! Es gibt ein Notgesetz für Alaska, unter dessen Schutz unser Gerichtshof tagt. Fünfhundert Meilen im Kreis von der nächsten Behörde ist ein Gericht wie das unsere befugt, Urteile zu fällen und zu vollziehen, wenn die Gefahr besteht, dass ein Verbrecher sich der gerechten Strafe entzieht. Wie groß in unserem Fall die Gefahr war, das haben gerade Sie, Herr Welse, und der französische Baron uns bewiesen. Was Sie getan haben, war ein Eingriff in die Maschinerie der Justiz. Aber darum handelt es sich jetzt nicht. Wir wissen, dass auch Sie glaubten, der Gerechtigkeit zu dienen, und ich jedenfalls werde keine Anklage gegen Sie erheben. Ich komme auf meine Frage zurück: warum haben Sie, Gregory St. Vincent, der Wahrheit nicht früher die Ehre gegeben? Die Ohren Ihrer Richter standen offen für Ihre Verteidigung! Sie waren nicht allein, nicht verlassen, denn neben Ihnen wachte in Fräulein Welse ein Anwalt, wie Sie ihn besser sich nicht wünschen konnten!«
»Deshalb grade! … Weil Fräulein Welse mich verteidigte, nur deshalb habe ich die Wahrheit nicht gesprochen.«
In diesem Augenblick war Gregory St. Vincent keine schlotternde Memme und kein weinendes Kind mehr, zum ersten Mal bekannte er wie ein tapferer Mann:
»Weil ich in ihren Augen kein Feigling sein wollte …«
*
La Flitche sagte aus, der sehnige, zungengewandte Halbindianer, der der Natur so nahe war wie ein Tier des Landes, und dessen Verstand scharf war wie der eines weißen Mannes.
»Der Mann heißt Gau«, verkündete er. »Er spricht die Wahrheit. Er kommt vom Weißen Fluss. Er versteht nichts – er wundert sich sehr über all die weißen Männer. Er hat nie geglaubt, dass es so viele weiße Männer auf der Welt gebe. Er stirbt bald, und sein Name ist Gau.
Vor langer Zeit – es ist ganze drei Jahre her – kommt John Borg in das Land dieses Mannes. Er jagt, er bringt viel Fleisch ins Lager, und deshalb haben die Sticks am Weißen Fluss ihn gern.
Gau hat eine Frau, Pisk-ku. Nach einiger Zeit trifft John Borg Anstalten zur Abreise. Er geht zu Gau, und er sagt: ›Gib mir deine Frau. Wir wollen einen Handel machen. Ich will dir viele Dinge für sie geben.‹ Aber Gau sagt nein. Pisk-ku sei eine gute Frau, und keine Frau könne Mokassins nähen wie sie. Sie sei auch tüchtig im Gerben von Elchhäuten und mache das weicheste Leder. Er habe Pisk-ku gern. Da sagt John Borg, das sei ihm einerlei, er wolle Pisk-ku haben. Dann prügeln sie sich, eine richtige Prügelei, und Pisk-ku geht weg mit John Borg. Pisk-ku wollte nicht gehen, tut es aber doch. Borg nennt sie Bella und gibt ihr viele gute Sachen, aber sie hat nur Gau lieb.«
La Flitche zeigte auf die Narbe, die quer über Stirn und Augen des Indianers lief. »Das hat John Borg getan.
Lange ist Gau sehr nahe am Sterben. Dann wird er gesund, aber sein Kopf ist krank. Er erkennt niemand, ist ganz wie ein kleines Kind, genau so. Da, eines Tages, eins zwei drei, springt etwas in seinem Kopfe, und er wird gesund. Er erkennt seinen Vater und seine Mutter; er erinnert sich an Pisk-ku. Er erinnert sich an alles. Sein Vater sagt, dass John Borg den Fluss hinabgefahren ist. Da fährt Gau auch den Fluss hinab. Es ist Frühling, und das Eis ist sehr schlecht. Er fürchtet sich sehr vor all den weißen Männern, und als er hierher kommt, reist er nachts. Niemand sieht ihn, aber er sieht alle Menschen. Er ist wie eine Katze und kann im Dunkeln sehen. Dann kommt er geradeswegs nach Borgs Hütte. Er weiß nicht, wie er es gemacht hat. Er weiß nur, dass er ein Werk zu verrichten hat, ein gutes Werk.«
St. Vincent drückte Frona die Hand, aber sie riss sich los und trat einige Schritte zurück.
»Er sieht, wie Pisk-ku die Hunde füttert, und er spricht mit ihr. In der Nacht kommt er, und sie öffnet ihm die Tür. Was nachher geschieht, wisst ihr selbst. Borg tötete Bella; Gau tötete Borg. Borg tötete Gau, denn Gau stirbt bald. Borg hat einen starken Arm. Gau ist innen krank – ganz kaputt geschlagen. Gau ist alles einerlei. Pisk-ku ist tot. Dann geht er über das Eis ans Ufer. Ich sage, dass ihr anderen alle sagt, es ist unmöglich, dass niemand zu dieser Zeit hinausgehen kann. Er lacht und sagt, dass es so ist, und was so ist, das muss sein. Er ist krank inwendig, und schließlich kann er nicht mehr gehen, er kriecht. Es dauert lange, bis er an den Steward kommt. Er kann nicht mehr gehen, und so legt er sich nieder, um zu sterben. Zwei weiße Männer finden ihn und bringen ihn hierher. Ihm ist es einerlei; er muss auf alle Fälle sterben.«
La Flitche schwieg, aber keiner sagte etwas. Da fügte er hinzu: »Ich finde, dass Gau ein verdammt guter Mann ist!«
Frona trat zu Jacob Welse. »Bring mich fort, Vater«, sagte sie. »Ich bin so müde.«
*
Am nächsten Morgen hackte Jacob Welse, Millionär und Goldkönig, vor seinem Zelt das Holz, das im Laufe des Tages gebraucht wurde. Dann steckte er sich eine Zigarre an und ging Baron Courbertin besuchen. Frona wusch das Frühstücksgeschirr auf, hängte die Schlafsäcke in die Sonne und fütterte die Hunde. Danach nahm sie ein Buch und setzte sich auf zwei umgestürzte Kiefernstämme, die eine Art Bank bildeten. Aber sie öffnete das Buch nicht. Ihr Blick schweifte über den Yukon hin, suchte den Stromwirbel und den Felsen, den zu erreichen sie vorgestern mit Corliss und dem Schotten so verzweifelt gekämpft hatte.
Wie viel seitdem geschehen war! Wie fern dieser Tag heute schon lag! War sie es wirklich selbst gewesen, die den Tod schon auf der Schulter gefühlt, den schäumenden Tod im eisigen Wasser? Um ein Nichts war es doch gegangen, um das Leben eines fremden Indianers … Hier hatten Mord und Wut getobt, hier hatte man die Schlinge schon um den Hals eines Unschuldigen gelegt, während sie und zwei Männer, drei junge, starke, nützliche Menschen, ihr Leben einsetzten für das eines Unbekannten.
Der Vater hatte ihr mitgeteilt, welche Nachricht der von ihr gerettete Indianer gebracht hatte. Es waren wichtige Entscheidungen in Dawson zu treffen, Fragen, die sich brieflich nicht erledigen ließen. Noch dieser eine Tag, dann sollte sie mit ihm aufbrechen, dann würde all dieses Inselleben hinter ihr liegen, ihr Kampf mit dem Eis, ihr Kampf gegen Richter Lynch. Es würde alles in der Erinnerung verschmelzen und vielleicht bald nicht mehr wahr sein.
Wie stand sie zu St. Vincent? Instinktiv wehrte sie sich dagegen, an ihn zu denken. Etwas Dunkles, Furchtbares verband sie noch immer mit diesem Manne. Einmal musste sie sich mit ihm auseinandersetzen, aber sie wollte die Stunde hinausschieben. Steif und wund waren ihre Glieder, ihre Seele war müde und krank. Sie hatte Angst vor neuen Qualen, sie hatte Angst vor dem Wort, das ihr eigenes Herz sprechen würde.
Das Geräusch von leichten Schritten auf dem trocknen Waldboden näherte sich. Sie sah auf, und St. Vincent stand vor ihr. Er hatte sich völlig erholt, als wären die schrecklichsten Stürme, denen ein Mensch begegnen kann, an ihm abgeglitten. Sein Gesicht war fast heiter und so schön, wie es ihr immer erschienen war. Keine Spur hatte sich in diese frischen knabenhaften Züge gegraben.
»Du bist eine Heldin, Frona!« begann er, und es schien, als wollte er sich vor ihr in die Knie werfen. »Du hast um mich gekämpft, und es gibt kein Wort, mit dem ich dir danken könnte. Vielleicht kann ein ganzes Leben voll Dankbarkeit … Aber ich weiß nicht, ob ich es dir anbieten darf … Nur das weiß ich: ohne deine Tapferkeit, ohne deine Treue, ohne deine Liebe wäre ich nicht mehr. Der schimpflichste Tod war mir gewiss … ohne dich, Frona!«
»Was soll ich sagen?« dachte Frona. »Ich hasse ihn, ich verabscheue ihn!«
Sie hatte die Hände ineinandergepresst, ihre zitternden Hände, und über ihre Wangen liefen Tränen. Dann auf einmal brach sie in ein grelles schluchzendes Lachen aus.
»Du hast furchtbar gelitten, Frona!« flüsterte er mit einer Zärtlichkeit, so weich und gut, wie sie nur ihm gegeben war. »Jetzt erst weiß ich, wie furchtbar du gelitten hast.«
Sie lachte noch heftiger, sie lachte wie eine Kranke.
»Es ist ja alles vorbei, Frona! Ich lebe, du fühlst mich, ich liebe …«
Dabei legte er den Arm um sie. Ganz nahe waren ihr seine Lippen, von denen es kein Entrinnen gab, wenn sie noch einmal die ihren fanden. In einer Todesangst, die sie in den reißenden Strudeln und zwischen den kalbenden Eisbergen nicht empfunden hatte, stieß sie ihn mit beiden Fäusten von sich.
»Du hast mich schmutzig gemacht! Meine Lippen sind schmutzig von deinen Küssen! Nie wieder! Nie wieder!«
Er starrte sie an, er verstand nichts.
»So sprichst du mit mir?«
»Ein Feigling! …« hauchte sie und rieb ihren Mund, rieb ihre Hände. Jeder Fleck ihrer Haut ekelte sie, den er einmal berührt hatte.
»Du nennst mich Feigling? Und das ist alles, was du mir zum Vorwurf machst? Aber diese anderen, die mit Messern und Revolvern aufeinander losgehen, all diese Burschen, in denen ein Henkersknecht steckt und danach brüllt, sich einmal austoben zu dürfen … all diese anderen sind Helden?« Er ließ sich zu ihren Füßen nieder, und jetzt weinte auch er.
»Ich habe ihre Nerven nicht, Frona. Ich kann nicht töten. Ich kann keine Wunden schlagen. Meine Kraft gilt anderen Zielen. Aber ich glaube, dass ich besser lieben kann als diese Helden. Ist das nichts, Frona?«
»Wenn du doch gestorben wärst, Vincent! Wenn du in der Nacht in Borgs Hütte gestorben wärst, meinetwegen vor Angst gestorben wärst, wenn auch nicht im Kampf. Ja selbst, wenn du am Galgen gestorben wärst! Ich hätte dich grenzenlos geliebt. Ich hätte dich für mein ganzes Leben geliebt. Jetzt geh von mir!«