Jack London – Gesammelte Werke

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St. Vin­cent fiel in sich zu­sam­men und lag in sei­nem Stuhl wie ein Hau­fen lee­rer Klei­der.

»Ich … bin un­schul­dig … ich … habe es nicht ge­tan …«

»Ab­stim­mung, mei­ne Her­ren!« rief der Vor­sit­zen­de und rühr­te den Ham­mer. »Of­fe­ne Ab­stim­mung – wir sind Män­ner, von de­nen je­der sei­nen Spruch ver­tritt. Ich fra­ge Sie: ist der An­ge­klag­te Dr. Gre­go­ry St. Vin­cent, den Sie hier vor sich se­hen, schul­dig, den Mord an dem Gold­grä­ber, un­se­rem Ka­me­ra­den John Borg durch ei­ge­ne Hand­lung oder still­schwei­gen­des Ge­wäh­ren­las­sen ver­schul­det zu ha­ben oder nicht? Wer ihn für schul­dig hält, der hebe …«

»Hän­de hoch!« dröhn­te in die­sem Au­gen­blick Ja­cob Wel­ses Stim­me aus ei­ner Ecke des Saa­l­es, und von dem an­de­ren Ende des Saa­l­es hör­te man Baron Cour­ber­tins hel­les, schar­fes Or­gan:

»Ände ock!! Oder ick ssies­sen!«

Je­der der bei­den Män­ner hielt zwei sechs­läu­fi­ge Re­vol­ver auf die Ge­schwo­re­nen ge­rich­tet, 24 Feu­er­schlün­de starr­ten den Män­nern ent­ge­gen, und es war kei­ner un­ter ih­nen, der nicht wuss­te, dass min­des­tens Ja­cob Wel­se Ernst ma­chen wür­de. Alle Hän­de flo­gen zu­gleich in die Höhe, nichts rühr­te sich. Der Vor­sit­zen­de hat­te nicht ein­mal Zeit ge­fun­den, den Ham­mer bei­sei­te­zu­le­gen. Er hielt ihn in der hoch­ge­streck­ten Hand. In die­sem Saal wur­de nicht mehr ge­spro­chen, in die­sem Saal galt nur noch die Ge­walt. Aber es war die Ge­walt, wie Ja­cob Wel­se sie ver­stand, im Diens­te des Rech­tes und des Frie­dens.

»Jetzt los! Am Süd­ka­nal liegt das Boot! Rasch!! Fort! Du bist ge­ret­tet!« keuch­te Fro­na. »Hier ist Geld. Das nimm mit auf den Weg! Und fort! Fort! Lass dich nie wie­der hier se­hen!«

Sie drück­te St. Vin­cent einen ge­la­de­nen Re­vol­ver in die Hand. »Du bist frei! Worauf war­test du?! Fort! Fort!«

Er ächz­te: »Das ist – Wahn­sinn.« Wie ein Ge­lähm­ter hing er auf sei­nem Stuhl. Sie press­te ihm die Waf­fe in die Hand, aber sei­ne Fin­ger ga­ben nach, mit schwe­rem Pol­tern fiel der Re­vol­ver vor ihm auf den Bo­den. Sie zog und zerr­te an ihm, wie man einen Mann aus schwe­rem Schlaf er­weckt, aber in sein lei­chen­blas­ses Ge­sicht kam kei­ne Be­we­gung; er rühr­te sich nicht. In dem gan­zen Saal war kein Laut als das schwe­re At­men der vie­len Män­ner.

Plötz­lich war La Flit­che an den Stuhl des An­ge­klag­ten ge­tre­ten und hat­te sei­nen Fuß auf den Re­vol­ver ge­setzt. Fro­na bück­te sich has­tig, sie stieß ge­gen den Mann und woll­te sich des Re­vol­vers wie­der be­mäch­ti­gen. La Flit­che stand mit er­ho­be­nen Hän­den und sah schein­bar teil­nahm­los Ja­cob Wel­se an. Aber sein Fuß reg­te sich nicht. Es ent­stand zwi­schen die­sem ei­sen­har­ten, un­be­weg­li­chen Män­ner­bein und Fro­nas wü­ten­den Hän­den eine Art stil­len Rin­gens, und Ja­cob Wel­se, der nicht be­griff, warum Gre­go­ry noch im­mer dort saß, ver­lor auf eine Se­kun­de die Auf­merk­sam­keit. Ei­nen Blick wand­te er von der Men­ge ab, die er schon mi­nu­ten­lang wie ein Tier­bän­di­ger im Zaum hielt, nur einen Atem­zug lang war sein Re­vol­ver nicht mehr im An­schlag, und die­ser Au­gen­blick ent­schied al­les.

Aus hoch­ge­ho­be­ner Hand saus­te der Ham­mer des Vor­sit­zen­den ge­gen Wel­ses Schä­del, mit si­chers­tem Schwung ge­wor­fen. Der alte Wel­se reck­te sich, Fro­na stieß einen gel­len­den Schrei aus, Ja­cob Wel­se brach zu­sam­men und lag jetzt zu Fü­ßen der Mas­se, die er ge­zähmt hat­te. Im Fall ging sein Re­vol­ver los, der Schwe­de John stieß ein Ge­brüll aus: »Mein Bein! Mein Knie!«, und in die­sem Au­gen­blick ver­sag­ten auch Cour­ber­tins Ner­ven. Im Handum­dre­hen war er über­mannt. Es wa­ren Del Bi­shops Tat­zen, die ihn ge­packt hat­ten, und aus de­nen gab es kein Ent­rin­nen. La Flit­che griff nach Fro­na, sein Griff war nicht hart, aber un­wi­der­steh­lich. Er nahm sie in sei­ne In­dia­ne­r­ar­me wie ein Lie­ben­der, in die­se ge­schmei­di­gen, seh­ni­gen Arme, und da­mit war ihr letz­ter Mut ge­bro­chen.

Der Vor­sit­zen­de don­ner­te mit der Faust auf den Tisch und be­en­de­te den un­ter­bro­che­nen Satz: »Wer ihn für schul­dig hält, der hebe die rech­te Hand!« Gleich dar­auf ver­kün­de­te er: »Schul­dig mit al­len Stim­men!«

*

Am nächs­ten Mor­gen soll­te das Ur­teil voll­streckt wer­den. In die­ser Nacht war das letz­te Eis ge­taut. Jetzt lag die Flä­che des Yu­kon son­nen­über­spült da, wie die ebe­ne Flä­che ei­nes großen, fried­li­chen Sees, die klei­nen Kanäl­chen zwi­schen den »Sp­lit-up-Is­land« blink­ten grün und plät­scher­ten mit ih­ren Wel­len ge­gen die von Blu­men über­sä­ten Ge­sta­de. Nahe dem Strand war ein Baum zum Gal­gen her­ge­rich­tet; an ei­nem zwei Me­ter ho­hen Ast bau­mel­te die Sch­lin­ge, und dar­un­ter stand ein lee­res Fass. Mehr war nicht nö­tig, um einen Mann, der sich ge­gen die Lan­des­ge­set­ze der Ka­me­rad­schaft ver­gan­gen hat­te, vom Le­ben zum Tode zu be­för­dern.

Ein Gold­grä­ber, der vor lan­gen Jah­ren als In­dia­ner­mis­sio­nar ins Land ge­kom­men war und ne­ben­amt­lich als Seel­sor­ger diente, wenn eine Hoch­zeit oder eine Tau­fe zu voll­zie­hen war, hat­te die Nacht mit St. Vin­cent ver­bracht. Fro­na hat­te nur die eine Hoff­nung, Gre­go­ry wür­de tap­fe­rer ster­ben, als er ge­lebt hat­te. Dann woll­te sie ver­zei­hen, dass er sie so tief ent­täuscht hat­te, wie ein Ge­lieb­ter das Herz ei­ner Lie­ben­den nur ent­täu­schen kann. Dann, glaub­te sie, wür­den die Male sei­ner Küs­se nicht mehr wie Schand­ma­le auf ih­ren Lip­pen bren­nen, und sie wür­de sich einst nicht schä­men, wenn man sie nach der einen, großen, bren­nen­den Lie­be ih­rer Ju­gend frag­te.

Vin­cent ent­täusch­te sie auch dies­mal.

Wie er die Nacht ver­bracht hat­te, da­nach zu fra­gen, wag­te sie nicht. Aber was da an der Richt­stät­te er­schi­en, nicht am Arm des Mis­sio­nars schrei­tend, son­dern von vier hand­fes­ten Män­nern ge­zerrt und ge­schleppt, war nicht der Mann, dem sie vor we­ni­gen Ta­gen noch durch Him­mel und Höl­le ge­folgt wäre. Es war ein schlot­tern­des, kno­chen­lo­ses Et­was, wim­mernd und wil­len­los.

Um den Gal­gen hat­te sich in wei­tem Kreis die gan­ze Gold­grä­ber­ge­mein­schaft ver­sam­melt, alle vier­zig Män­ner, die ges­tern als Ge­schwo­re­ne am­tiert hat­ten, der Rich­ter, der An­klä­ger, Ja­cob Wel­se, des­sen ver­bun­de­nes Haupt tiefer als tags zu­vor er­graut schi­en.

»Ehe wir dir die Sch­lin­ge um den Hals le­gen und dich an die­sem Bau­me hän­gen las­sen, bis das Le­ben aus dir ge­wi­chen ist, darfst du noch ein­mal zu uns spre­chen, Gre­go­ry St. Vin­cent!« ver­kün­de­te der Rich­ter.

»Sag nichts! Bett­le nicht um dein Le­ben!« flüs­ter­te Fro­na dem De­lin­quen­ten zu. Er lag un­ter dem Gal­gen wie leb­los, auf ih­ren Kni­en lag sie ne­ben ihm. »Sei tap­fer! Das Le­ben ist nichts, nur Mut gilt!«

Aber bei dem Ge­dan­ken, noch ein­mal spre­chen, noch einen Ver­such der Ver­tei­di­gung ma­chen zu dür­fen, er­kann­te der im In­ners­ten Zer­bro­che­ne plötz­lich, dass das Le­ben im­mer noch lock­te, dass er un­ter die­ser la­chen­den Son­ne und beim Zwit­schern der Rot­kehl­chen, mit­ten in die­sem Früh­lings­grün nicht ster­ben konn­te. Durch alle Po­ren drang ihm die Ah­nung, dass nichts vor­bei war, so­lan­ge man at­me­te, und wenn er je in sei­nem Le­ben tap­fer ge­we­sen, dann wur­de er es in die­ser Mi­nu­te.

Er rich­te­te sich auf. In sein schnee­wei­ßes Ge­sicht trat wie­der eine Spur von Far­be. Jetzt kau­er­te er wie ein zu schwer be­la­de­nes Last­tier auf al­len vie­ren, jetzt kam er auf die Knie und stütz­te sich mit bei­den Ar­men auf das Fass, das sein Scha­fott wer­den soll­te.

An­fangs tat er nur den Mund auf, mit ver­zerr­ten Lip­pen, aber kein Ton woll­te sich in sei­ner Keh­le bil­den. Dann wur­de aus dem un­ar­ti­ku­lier­ten Keu­chen und Heu­len eine mensch­li­che Stim­me, er form­te Wor­te, und plötz­lich stand er auf­recht, nur noch auf die Schul­tern des Mis­sio­nars ge­stützt, und sprach: Wor­te, rich­ti­ge Sät­ze … So ge­wal­tig war sein Wil­le zum Le­ben, dass er, die grau­si­ge Angst im Ge­nick, den­noch im­stan­de war, ein Be­kennt­nis zu for­men und eine Rede zu hal­ten.

»Ich will mich nicht scho­nen, ihr Män­ner!« sag­te er. »Ich will al­les be­ken­nen, die gan­ze Wahr­heit. Ich bin ein Feig­ling ge­we­sen, ich habe ge­lo­gen, aber auf Feig­heit und Lüge steht auch nach eu­ren Ge­set­zen nicht der Tod. Es sind nicht zwei Män­ner in John Borgs Hüt­te ge­kom­men in je­ner Nacht, es war nur ein Mann.

Borg hat­te ihn im­mer er­war­tet.

Jede Nacht band er an sei­ne Tür einen Blechei­mer. Den nann­te er die Mör­der­fal­le. Wenn ein Frem­der von au­ßen in die Hüt­te ein­tre­ten woll­te, muss­te er den Alarm aus­lö­sen. Borg schlief im­mer mit dem Re­vol­ver im Gür­tel. Aber in sei­ner letz­ten Nacht hat­te er zu viel Whis­ky ge­trun­ken, denn in sei­ner ste­ten Angst vor Ver­fol­gern muss­te er manch­mal Be­täu­bung su­chen. Ich wach­te auf von lei­sen Schrit­ten, die um die Hüt­te schli­chen, aber er schnarch­te tief. Die Lam­pe war tief her­ab­ge­schraubt. Ich sah Bel­la an der Türe han­tie­ren; sie hat­te den Blechei­mer ge­räusch­los her­un­ter­ge­holt und bei­sei­te­ge­stellt. Ganz lei­se ging die Türe auf, und ein Mensch schlich her­ein. Er kam der Lam­pe nahe, ich sah sein Ge­sicht. Es war ein In­dia­ner, und ich wer­de sein Ge­sicht nie ver­ges­sen. Quer über sei­ner Stirn, in der Höhe der Au­gen­brau­en, trug er eine brei­te, furcht­ba­re, rote Nar­be.

Und wenn ihr mir drei­tau­send In­dia­ner vor­führt, wer­de ich die­sen Mann auf den ers­ten Blick er­ken­nen!«

»Und was ta­test du?«

»Ich tat nichts. Ich lag in mei­ne De­cken ge­wi­ckelt und tat nichts.«

»War der Mann be­waff­net?«

»Er trug ein brei­tes Mes­ser in der Hand und schritt ge­räusch­los auf Borgs La­ger zu. Bel­la stand da und wies ihm den Weg. Es war kein Zwei­fel, dass die bei­den Mord plan­ten.«

 

»Und du ta­test nichts?«

»Seid doch nicht so sinn­los grau­sam in eu­ren Fra­gen!« heul­te Gre­go­ry. »Könnt ihr denn nicht be­grei­fen, dass es Men­schen gibt, die aus Fleisch und Blut sind, nicht aus Stahl und Ei­sen, wie man es in die­sem Lan­de sein soll?! Na­tür­lich tat ich nichts … was soll­te ich denn tun? Ich lag in mei­nem Schweiß, und mir war, als ob sie­den­des Öl über mei­nen Kopf rann. Ich habe mich so ge­fürch­tet, dass ich das Gan­ze für einen gräss­li­chen Traum hielt. Ich habe mich so ge­fürch­tet, dass ich dach­te, mei­ne Haa­re wer­den weiß. Ich habe mich so ge­fürch­tet, dass ich nicht ein­mal heu­len konn­te vor Furcht. Ich bin bei­na­he ge­stor­ben vor Furcht. Was fällt euch denn ein? Was wollt ihr von mir? Könnt ihr von ei­nem Men­schen ver­lan­gen, dass er ein Held ist? Ich bin kein Held! Und das ist mein gan­zes Ver­bre­chen!

Dann be­gann der Kampf im Halb­dun­kel. Der In­dia­ner stieß mit sei­nem Mes­ser auf den schnar­chen­den Borg ein. Aber das Licht war zu schwach, er hat­te nicht den Mut ge­habt, ihm die De­cken weg­zu­rei­ßen. Borg fuhr auf, er war gleich bei vol­ler Be­sin­nung und fuhr dem In­dia­ner an die Gur­gel. Er schnell­te sich aus dem Bett und fiel mit sei­nem gan­zen Ge­wicht auf den Mann. Sie ran­gen um das Mes­ser, Borg hat­te es schon fast an sich ge­ris­sen, da biss der Mör­der ihm in die Faust. Er be­kam die be­waff­ne­te Hand frei und stieß im­mer wie­der zu. Sie wälz­ten sich ge­gen Ti­sche und Stüh­le, dass das Holz zu­sam­men­krach­te, und dann fiel der ers­te Schuss.«

»Und du?«

»Ich woll­te mich auf­raf­fen, woll­te um Hil­fe brül­len oder mit ei­nem Stuhl­bein den Mör­der er­schla­gen, aber ich konn­te nicht. Wie an Hän­den und Fü­ßen ge­fes­selt lag ich da, Gott hel­fe mir. Bel­la hat­te den ers­ten Schuss ab­ge­feu­ert, auf Borg, aber er leb­te im­mer noch. Er leb­te noch und kämpf­te noch, als wenn er drei Le­ben hät­te. Er schrie so­gar nach mir ›Hil­fe! Helft mir doch, St. Vin­cent!‹ Aber dann war plötz­lich kei­ne Hil­fe mehr nö­tig. Er hat­te mit sei­ner ei­ser­nen Faust den In­dia­ner knock­out ge­schla­gen, und dann lag Bel­la plötz­lich wie­der vor ihm, wie ich es oft ge­se­hen hat­te, wie ein Hund, der die Peit­sche er­war­tet. Borg riss ihr den Re­vol­ver aus der Hand und schoss zwei­mal auf den In­dia­ner. Sei­ne Au­gen wa­ren von strö­men­dem Blut ge­blen­det, er traf ihn nicht. Die Ku­geln pfif­fen scharf an mei­nem Kopf vor­bei in die Wand. Ihr könnt sie dort noch fin­den. Ich glau­be, er woll­te den In­dia­ner und mich zu­gleich er­schie­ßen, aber er fehl­te uns bei­de. Den drit­ten Schuss gab er auf Bel­la ab, und der traf.

Al­les an­de­re war so, wie ihr es von den Zeu­gen ge­hört habt.«

Es ent­stand eine lan­ge Pau­se. Kein Mensch wag­te zu spre­chen, aber wie zum Hohn die­ses Lyn­ch­ge­rich­tes, wie zum Tri­umph des Le­bens, das nach je­dem Grau­en und zu je­dem Ent­set­zen den­noch das letz­te Wort spricht, schmet­ter­te ein Rot­kehl­chen aus der Kro­ne des Bau­mes her­ab, der eben noch als Gal­gen die­nen soll­te.

»Hängt ihn auf! Hängt ihn, dass Schluss wird! So eine fei­ge Bes­tie hat kein Recht mehr zu le­ben!« rie­fen aus der Mas­se ein paar grim­mi­ge Stim­men. Aber die meis­ten der Män­ner wa­ren jetzt ganz stumm und be­klom­men. Ges­tern noch hät­te es ih­nen nichts aus­ge­macht, St. Vin­cent am Gal­gen zu se­hen. Aber in die­se Mor­gen­pracht hin­ein schi­en das Bild gräss­lich, und zu­dem war ih­nen klar, dass auf ein Ver­sa­gen der Ner­ven, selbst auf die er­bärm­lichs­te Feig­heit, nach kei­nem mensch­li­chen Ge­setz der Tod steht.

In die­sem Au­gen­blick lenk­te ein großes Floß, das an je­dem Ende von ei­nem Steu­er­rie­men ge­führt wur­de, in ge­räusch­lo­ser Fahrt in den Kanal ein. Als es der Richt­stät­te ge­ra­de ge­gen­über­lag, wand­te das vor­de­re Ende sich dem Ufer zu, eine Lei­ne wur­de ans Land ge­wor­fen, dann kam mit ge­wal­ti­gem Satz ein wei­ßer Mann an den Strand, der die Lei­ne ein paar­mal um den Gal­gen­baum schlang.

»Lasst euch nicht stö­ren, Jun­gens!« sag­te der Mann, der mit ei­nem Blick die gan­ze Si­tua­ti­on er­fasst hat­te. »Wird schon rich­tig sein, was ihr da macht! Nur ha­ben wir da einen Bur­schen an Bord, der auch nicht mehr lang’ zu le­ben hat. Vi­el­leicht ha­ben ein paar von euch Zeit, sich auch um den zu küm­mern?«

Als ob die Gold­grä­ber glück­lich wä­ren, einen an­de­ren Ge­gen­stand für ihre Auf­merk­sam­keit zu fin­den, wand­ten al­ler Au­gen sich jetzt dem Floß zu. Auch Ja­cob Wel­se, des­sen Kopf ver­bun­den war, der aber jetzt fri­scher und tat­kräf­ti­ger aus­sah als am Tage zu­vor, folg­te den un­er­war­te­ten Vor­gän­gen.

»Was habt ihr da für eine La­dung?« frag­te er und wies auf einen Hau­fen Tan­nen­zwei­ge, mit de­nen das Floß ge­frach­tet war. Der an­de­re Floß­schif­fer trat an die Fracht her­an und warf ein paar von den Zwei­gen bei­sei­te.

»Fri­sches Elch­fleisch, Jun­gens!« rief er mit der Stim­me ei­nes Ver­käu­fers auf dem Jahr­markt. »Aus­ge­zeich­ne­te Ware! Fri­sches Fleisch, ihr Män­ner! Wenn wir bis Daw­son fah­ren, rei­ßen sie es uns aus den Hän­den, für 10 Un­zen Gold­staub das Kilo! Aber weil ih­r’s seid, und weil man sich den Weg nach Daw­son auch spa­ren möch­te, sollt ihr es bil­li­ger ha­ben!«

»Und das ist, wie ge­sagt, die Fracht Num­mer zwei«, sprach der ers­te Mann und wies auf die Um­ris­se ei­ner Männer­ge­stalt, die mit vie­len De­cken ver­hüllt war.

»Den ha­ben wir erst heu­te Mor­gen auf­ge­le­sen, so un­ge­fähr 30 Mei­len fluss­auf­wärts.«

»Der braucht einen Dok­tor«, er­zähl­te der Zwei­te. »Muss eine Mei­nungs­ver­schie­den­heit mit ei­nem Grizz­ly­bä­ren ge­habt ha­ben, und der Bär hat das letz­te Wort be­hal­ten. Aber wir ha­ben kei­ne Zeit. Ent­we­der kauft ihr gleich oder gar nicht! Bei der Son­ne hält sich das Fleisch nicht!«

Fro­na und St. Vin­cent sa­hen zu­gleich, wie der Ver­wun­de­te die Bö­schung hin­auf und durch die Men­ge ge­tra­gen wur­de. Eine bron­ze­far­be­ne Hand hing schlaff von der roh­ge­zim­mer­ten Bah­re her­ab, ein bron­ze­far­be­nes Ge­sicht kam zwi­schen den De­cken zum Vor­schein. Die Män­ner, die ihn tru­gen, mach­ten in der Nähe des im­pro­vi­sier­ten Gal­gens halt, um zu be­schlie­ßen, wo­hin sie ihn tra­gen woll­ten. Plötz­lich fühl­te Fro­na einen ra­sen­den Griff an ih­rem Arm. St. Vin­cent bohr­te sei­ne Nä­gel in ihr Fleisch.

»Sieh doch!« St. Vin­cent beb­te an al­len Glie­dern, sein Ge­sicht mit den lo­dern­den Angst-Au­gen war in die­sem Au­gen­blick noch wei­ßer als zu­vor.

»Schau hin! Die Nar­be!«

Der In­dia­ner schlug die Au­gen auf, sein leer­geblu­te­tes Ge­sicht ver­zerr­te sich zu ei­ner Gri­mas­se des Er­ken­nens.

»Das ist der Mann! Das ist der Mör­der!« brüll­te St. Vin­cent der Men­ge zu, mit ei­nem ganz zer­bors­te­nen Or­gan. »Schaut ihn euch an, schaut die Nar­be an! Das ist der Mann, der John Borg über­fal­len hat!«

Gleich dar­auf hät­te man nicht mehr glau­ben kön­nen, dass so­viel Men­schen zu­sam­men­ge­kom­men wa­ren, um über einen der Ihren hoch­not­pein­li­ches Ge­richt zu hal­ten. Nur die Sch­lin­ge, die aus der Kro­ne des Bau­mes her­nie­der­bau­mel­te, er­in­ner­te noch an den An­lass zu die­ser Ver­samm­lung. Aber St. Vin­cent selbst lag jetzt am Fuß des Bau­mes. Er streck­te sich in der Son­ne, und wahr­schein­lich schlief er. Die Angst war von ihm ge­nom­men, nach vier­und­zwan­zig Stun­den des Zit­terns und Za­gens, nach ei­ner Ket­te über­mensch­li­cher An­stren­gun­gen schlief er, wie je­des We­sen sich in den Schlaf flüch­tet, um neue Kräf­te zum Le­ben zu sam­meln, auch un­ter dem Gal­gen.

Der ver­wun­de­te In­dia­ner war in eine Hüt­te ge­tra­gen wor­den. Bei ihm sa­ßen Ja­cob Wel­se, der Vor­sit­zen­de des Ge­rich­tes und La Flit­che. Sie ver­such­ten in vie­len In­dia­ner­spra­chen, ihn zum Spre­chen zu brin­gen. Mit sei­nem letz­ten Atem soll­te er die Wahr­heit be­ken­nen. Nach lan­gem Su­chen pro­bier­te La Flit­che es mit ei­nem Dia­lekt, den er in Kin­der­ta­gen ein­mal ge­lernt und bei­na­he wie­der ver­ges­sen hat­te. Bei den ers­ten Lau­ten fuhr über das Ge­sicht des Ster­ben­den ein fro­hes Auf­leuch­ten …

1 Prahl­hans, Auf­schnei­der <<<

9

Am Ufer wur­de wa­cker ge­han­delt, die Gold­waa­ge war in Tä­tig­keit, Mann um Mann brach­te eine ge­wal­ti­ge Elchlen­de oder einen Schle­gel, ein­ge­han­delt ge­gen eine Sum­me von Gold, mit der man in an­de­ren Län­dern zu­min­dest ein paar Rin­der kau­fen konn­te, in Si­cher­heit. Fro­na saß nicht weit von Cor­liss. Ihre ver­wein­ten, er­staun­ten Au­gen fass­ten die­ses gan­ze Bild nicht. Sie be­wach­te den Schlaf des Un­glück­li­chen. Durch ihr Herz tob­ten wil­de Stür­me. Hass und Lie­be zu die­sem schö­nen, ver­füh­re­ri­schen, elen­den Men­schen ran­gen in ihr. Noch wuss­te sie nicht, ob sie ihn tief ge­nug ver­ach­ten konn­te, um ihn nicht mehr lie­ben zu müs­sen.

*

Ein paar Stun­den spä­ter wur­de die Ver­hand­lung wie­der auf­ge­nom­men. Bill Brown rief die Män­ner, die sich selbst zu Ge­schwo­re­nen er­nannt hat­ten, im Krei­se um den Gal­gen zu­sam­men. Er sprach:

»Ka­me­ra­den! Män­ner von Klon­di­ke und Alas­ka! Ihr wer­det so­gleich aus dem Mun­de von La Flit­che hö­ren, was der ster­ben­de In­dia­ner ihm ge­beich­tet hat, und ihr wer­det dann ent­schei­den, wie viel Schuld die­sen Mann un­ter dem Gal­gen trifft. Nur eine Fra­ge will ich zu­vor noch an Sie rich­ten, Gre­go­ry St. Vin­cent! Wa­rum ha­ben Sie nicht frü­her ge­spro­chen? Sie hat­ten das Wort, so oft Sie es wünsch­ten. Wir ha­ben Ihren Fall ge­prüft, wie kein Ge­richts­hof in den Staa­ten ihn bes­ser hät­te prü­fen kön­nen. Wir ha­ben ge­wusst, dass un­ser Spruch vor den höchs­ten Be­hör­den des Lan­des be­ste­hen muss, und es hät­te Herrn Wel­ses War­nung nicht be­durft, um uns zu sa­gen, wel­che Verant­wor­tung wir tru­gen!

Denn Sie hat­ten Un­recht, Herr Wel­se! Es gibt ein Not­ge­setz für Alas­ka, un­ter des­sen Schutz un­ser Ge­richts­hof tagt. Fünf­hun­dert Mei­len im Kreis von der nächs­ten Be­hör­de ist ein Ge­richt wie das un­se­re be­fugt, Ur­tei­le zu fäl­len und zu voll­zie­hen, wenn die Ge­fahr be­steht, dass ein Ver­bre­cher sich der ge­rech­ten Stra­fe ent­zieht. Wie groß in un­se­rem Fall die Ge­fahr war, das ha­ben ge­ra­de Sie, Herr Wel­se, und der fran­zö­si­sche Baron uns be­wie­sen. Was Sie ge­tan ha­ben, war ein Ein­griff in die Ma­schi­ne­rie der Jus­tiz. Aber dar­um han­delt es sich jetzt nicht. Wir wis­sen, dass auch Sie glaub­ten, der Ge­rech­tig­keit zu die­nen, und ich je­den­falls wer­de kei­ne An­kla­ge ge­gen Sie er­he­ben. Ich kom­me auf mei­ne Fra­ge zu­rück: warum ha­ben Sie, Gre­go­ry St. Vin­cent, der Wahr­heit nicht frü­her die Ehre ge­ge­ben? Die Ohren Ih­rer Rich­ter stan­den of­fen für Ihre Ver­tei­di­gung! Sie wa­ren nicht al­lein, nicht ver­las­sen, denn ne­ben Ih­nen wach­te in Fräu­lein Wel­se ein An­walt, wie Sie ihn bes­ser sich nicht wün­schen konn­ten!«

»Des­halb gra­de! … Weil Fräu­lein Wel­se mich ver­tei­dig­te, nur des­halb habe ich die Wahr­heit nicht ge­spro­chen.«

In die­sem Au­gen­blick war Gre­go­ry St. Vin­cent kei­ne schlot­tern­de Mem­me und kein wei­nen­des Kind mehr, zum ers­ten Mal be­kann­te er wie ein tap­fe­rer Mann:

»Weil ich in ih­ren Au­gen kein Feig­ling sein woll­te …«

*

La Flit­che sag­te aus, der seh­ni­ge, zun­gen­ge­wand­te Hal­bin­dia­ner, der der Na­tur so nahe war wie ein Tier des Lan­des, und des­sen Ver­stand scharf war wie der ei­nes wei­ßen Man­nes.

»Der Mann heißt Gau«, ver­kün­de­te er. »Er spricht die Wahr­heit. Er kommt vom Wei­ßen Fluss. Er ver­steht nichts – er wun­dert sich sehr über all die wei­ßen Män­ner. Er hat nie ge­glaubt, dass es so vie­le wei­ße Män­ner auf der Welt gebe. Er stirbt bald, und sein Name ist Gau.

Vor lan­ger Zeit – es ist gan­ze drei Jah­re her – kommt John Borg in das Land die­ses Man­nes. Er jagt, er bringt viel Fleisch ins La­ger, und des­halb ha­ben die Sticks am Wei­ßen Fluss ihn gern.

Gau hat eine Frau, Pisk-ku. Nach ei­ni­ger Zeit trifft John Borg An­stal­ten zur Abrei­se. Er geht zu Gau, und er sagt: ›Gib mir dei­ne Frau. Wir wol­len einen Han­del ma­chen. Ich will dir vie­le Din­ge für sie ge­ben.‹ Aber Gau sagt nein. Pisk-ku sei eine gute Frau, und kei­ne Frau kön­ne Mo­kass­ins nä­hen wie sie. Sie sei auch tüch­tig im Ger­ben von Elch­häu­ten und ma­che das wei­che­s­te Le­der. Er habe Pisk-ku gern. Da sagt John Borg, das sei ihm ei­ner­lei, er wol­le Pisk-ku ha­ben. Dann prü­geln sie sich, eine rich­ti­ge Prü­ge­lei, und Pisk-ku geht weg mit John Borg. Pisk-ku woll­te nicht ge­hen, tut es aber doch. Borg nennt sie Bel­la und gibt ihr vie­le gute Sa­chen, aber sie hat nur Gau lieb.«

 

La Flit­che zeig­te auf die Nar­be, die quer über Stirn und Au­gen des In­dia­ners lief. »Das hat John Borg ge­tan.

Lan­ge ist Gau sehr nahe am Ster­ben. Dann wird er ge­sund, aber sein Kopf ist krank. Er er­kennt nie­mand, ist ganz wie ein klei­nes Kind, ge­nau so. Da, ei­nes Ta­ges, eins zwei drei, springt et­was in sei­nem Kop­fe, und er wird ge­sund. Er er­kennt sei­nen Va­ter und sei­ne Mut­ter; er er­in­nert sich an Pisk-ku. Er er­in­nert sich an al­les. Sein Va­ter sagt, dass John Borg den Fluss hin­ab­ge­fah­ren ist. Da fährt Gau auch den Fluss hin­ab. Es ist Früh­ling, und das Eis ist sehr schlecht. Er fürch­tet sich sehr vor all den wei­ßen Män­nern, und als er hier­her kommt, reist er nachts. Nie­mand sieht ihn, aber er sieht alle Men­schen. Er ist wie eine Kat­ze und kann im Dun­keln se­hen. Dann kommt er ge­ra­des­wegs nach Borgs Hüt­te. Er weiß nicht, wie er es ge­macht hat. Er weiß nur, dass er ein Werk zu ver­rich­ten hat, ein gu­tes Werk.«

St. Vin­cent drück­te Fro­na die Hand, aber sie riss sich los und trat ei­ni­ge Schrit­te zu­rück.

»Er sieht, wie Pisk-ku die Hun­de füt­tert, und er spricht mit ihr. In der Nacht kommt er, und sie öff­net ihm die Tür. Was nach­her ge­schieht, wisst ihr selbst. Borg tö­te­te Bel­la; Gau tö­te­te Borg. Borg tö­te­te Gau, denn Gau stirbt bald. Borg hat einen star­ken Arm. Gau ist in­nen krank – ganz ka­putt ge­schla­gen. Gau ist al­les ei­ner­lei. Pisk-ku ist tot. Dann geht er über das Eis ans Ufer. Ich sage, dass ihr an­de­ren alle sagt, es ist un­mög­lich, dass nie­mand zu die­ser Zeit hin­aus­ge­hen kann. Er lacht und sagt, dass es so ist, und was so ist, das muss sein. Er ist krank in­wen­dig, und schließ­lich kann er nicht mehr ge­hen, er kriecht. Es dau­ert lan­ge, bis er an den Ste­ward kommt. Er kann nicht mehr ge­hen, und so legt er sich nie­der, um zu ster­ben. Zwei wei­ße Män­ner fin­den ihn und brin­gen ihn hier­her. Ihm ist es ei­ner­lei; er muss auf alle Fäl­le ster­ben.«

La Flit­che schwieg, aber kei­ner sag­te et­was. Da füg­te er hin­zu: »Ich fin­de, dass Gau ein ver­dammt gu­ter Mann ist!«

Fro­na trat zu Ja­cob Wel­se. »Bring mich fort, Va­ter«, sag­te sie. »Ich bin so müde.«

*

Am nächs­ten Mor­gen hack­te Ja­cob Wel­se, Mil­lio­när und Gold­kö­nig, vor sei­nem Zelt das Holz, das im Lau­fe des Ta­ges ge­braucht wur­de. Dann steck­te er sich eine Zi­gar­re an und ging Baron Cour­ber­tin be­su­chen. Fro­na wusch das Früh­stücks­ge­schirr auf, häng­te die Schlaf­sä­cke in die Son­ne und füt­ter­te die Hun­de. Da­nach nahm sie ein Buch und setz­te sich auf zwei um­ge­stürz­te Kie­f­ern­stäm­me, die eine Art Bank bil­de­ten. Aber sie öff­ne­te das Buch nicht. Ihr Blick schweif­te über den Yu­kon hin, such­te den Strom­wir­bel und den Fel­sen, den zu er­rei­chen sie vor­ges­tern mit Cor­liss und dem Schot­ten so ver­zwei­felt ge­kämpft hat­te.

Wie viel seit­dem ge­sche­hen war! Wie fern die­ser Tag heu­te schon lag! War sie es wirk­lich selbst ge­we­sen, die den Tod schon auf der Schul­ter ge­fühlt, den schäu­men­den Tod im ei­si­gen Was­ser? Um ein Nichts war es doch ge­gan­gen, um das Le­ben ei­nes frem­den In­dia­ners … Hier hat­ten Mord und Wut ge­tobt, hier hat­te man die Sch­lin­ge schon um den Hals ei­nes Un­schul­di­gen ge­legt, wäh­rend sie und zwei Män­ner, drei jun­ge, star­ke, nütz­li­che Men­schen, ihr Le­ben ein­setz­ten für das ei­nes Un­be­kann­ten.

Der Va­ter hat­te ihr mit­ge­teilt, wel­che Nach­richt der von ihr ge­ret­te­te In­dia­ner ge­bracht hat­te. Es wa­ren wich­ti­ge Ent­schei­dun­gen in Daw­son zu tref­fen, Fra­gen, die sich brief­lich nicht er­le­di­gen lie­ßen. Noch die­ser eine Tag, dann soll­te sie mit ihm auf­bre­chen, dann wür­de all die­ses In­sel­le­ben hin­ter ihr lie­gen, ihr Kampf mit dem Eis, ihr Kampf ge­gen Rich­ter Lynch. Es wür­de al­les in der Erin­ne­rung ver­schmel­zen und viel­leicht bald nicht mehr wahr sein.

Wie stand sie zu St. Vin­cent? In­stink­tiv wehr­te sie sich da­ge­gen, an ihn zu den­ken. Et­was Dunkles, Furcht­ba­res ver­band sie noch im­mer mit die­sem Man­ne. Ein­mal muss­te sie sich mit ihm aus­ein­an­der­set­zen, aber sie woll­te die Stun­de hin­aus­schie­ben. Steif und wund wa­ren ihre Glie­der, ihre See­le war müde und krank. Sie hat­te Angst vor neu­en Qua­len, sie hat­te Angst vor dem Wort, das ihr ei­ge­nes Herz spre­chen wür­de.

Das Geräusch von leich­ten Schrit­ten auf dem trock­nen Wald­bo­den nä­her­te sich. Sie sah auf, und St. Vin­cent stand vor ihr. Er hat­te sich völ­lig er­holt, als wä­ren die schreck­lichs­ten Stür­me, de­nen ein Mensch be­geg­nen kann, an ihm ab­ge­glit­ten. Sein Ge­sicht war fast hei­ter und so schön, wie es ihr im­mer er­schie­nen war. Kei­ne Spur hat­te sich in die­se fri­schen kna­ben­haf­ten Züge ge­gra­ben.

»Du bist eine Hel­din, Fro­na!« be­gann er, und es schi­en, als woll­te er sich vor ihr in die Knie wer­fen. »Du hast um mich ge­kämpft, und es gibt kein Wort, mit dem ich dir dan­ken könn­te. Vi­el­leicht kann ein gan­zes Le­ben voll Dank­bar­keit … Aber ich weiß nicht, ob ich es dir an­bie­ten darf … Nur das weiß ich: ohne dei­ne Tap­fer­keit, ohne dei­ne Treue, ohne dei­ne Lie­be wäre ich nicht mehr. Der schimpf­lichs­te Tod war mir ge­wiss … ohne dich, Fro­na!«

»Was soll ich sa­gen?« dach­te Fro­na. »Ich has­se ihn, ich ver­ab­scheue ihn!«

Sie hat­te die Hän­de in­ein­an­der­ge­presst, ihre zit­tern­den Hän­de, und über ihre Wan­gen lie­fen Trä­nen. Dann auf ein­mal brach sie in ein grel­les schluch­zen­des La­chen aus.

»Du hast furcht­bar ge­lit­ten, Fro­na!« flüs­ter­te er mit ei­ner Zärt­lich­keit, so weich und gut, wie sie nur ihm ge­ge­ben war. »Jetzt erst weiß ich, wie furcht­bar du ge­lit­ten hast.«

Sie lach­te noch hef­ti­ger, sie lach­te wie eine Kran­ke.

»Es ist ja al­les vor­bei, Fro­na! Ich lebe, du fühlst mich, ich lie­be …«

Da­bei leg­te er den Arm um sie. Ganz nahe wa­ren ihr sei­ne Lip­pen, von de­nen es kein Ent­rin­nen gab, wenn sie noch ein­mal die ih­ren fan­den. In ei­ner To­des­angst, die sie in den rei­ßen­den Stru­deln und zwi­schen den kal­ben­den Eis­ber­gen nicht emp­fun­den hat­te, stieß sie ihn mit bei­den Fäus­ten von sich.

»Du hast mich schmut­zig ge­macht! Mei­ne Lip­pen sind schmut­zig von dei­nen Küs­sen! Nie wie­der! Nie wie­der!«

Er starr­te sie an, er ver­stand nichts.

»So sprichst du mit mir?«

»Ein Feig­ling! …« hauch­te sie und rieb ih­ren Mund, rieb ihre Hän­de. Je­der Fleck ih­rer Haut ekel­te sie, den er ein­mal be­rührt hat­te.

»Du nennst mich Feig­ling? Und das ist al­les, was du mir zum Vor­wurf machst? Aber die­se an­de­ren, die mit Mes­sern und Re­vol­vern auf­ein­an­der los­ge­hen, all die­se Bur­schen, in de­nen ein Hen­kers­knecht steckt und da­nach brüllt, sich ein­mal aus­to­ben zu dür­fen … all die­se an­de­ren sind Hel­den?« Er ließ sich zu ih­ren Fü­ßen nie­der, und jetzt wein­te auch er.

»Ich habe ihre Ner­ven nicht, Fro­na. Ich kann nicht tö­ten. Ich kann kei­ne Wun­den schla­gen. Mei­ne Kraft gilt an­de­ren Zie­len. Aber ich glau­be, dass ich bes­ser lie­ben kann als die­se Hel­den. Ist das nichts, Fro­na?«

»Wenn du doch ge­stor­ben wärst, Vin­cent! Wenn du in der Nacht in Borgs Hüt­te ge­stor­ben wärst, mei­net­we­gen vor Angst ge­stor­ben wärst, wenn auch nicht im Kampf. Ja selbst, wenn du am Gal­gen ge­stor­ben wärst! Ich hät­te dich gren­zen­los ge­liebt. Ich hät­te dich für mein gan­zes Le­ben ge­liebt. Jetzt geh von mir!«