Gegenwindschiff

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Ich weiß nicht, ob die örtliche Schule speziell für uns geräumt worden war oder ob bei ihnen bereits die Sommerferien begonnen hatten, jedenfalls wurde uns das Schulhaus zur Verfügung gestellt. Das war ein einfacher Bretterschuppen mit zwei Klassenzimmern und Nebenräumen. In dem einen Raum richteten wir mein Arbeitszimmer ein, in dem zweiten meinen Wohnraum, der Rest war Lagerraum. Unser Beobachtungsplatz war der Schulhof, genaue Lage 10°45’ nördliche Breite und 124°0’ östliche Länge.

Und weiter nichts. Wir mussten für unsere Geräte drei Betonsockel gießen und legten ordentlich Hand an. Die vier von Herrn Moll geschickten Visayajungen waren tüchtiger als erwartet. Am achten April fingen wir mit dem Aufbau der Instrumente an. Am zweiundzwanzigsten war unsere Beobachtungsstation fertig. Abgesehen von der letzten Justierung der Geräte. Übrigens hatten wir vor der Sonnenfinsternis für eine Woche umfangreiche Aufnahmen der südlichen Milchstraße geplant, aber daraus wurde nichts. Denn wie verhext zog sich der Himmel jeden Tag gegen sechs, sieben Uhr zu und klarte erst wieder nach den allmorgendlichen heftigen Gewittergüssen auf. So blieb uns nichts anderes übrig, als den neunten Mai abzuwarten und hinsichtlich des Wetters am Tag der Sonnenfinsternis voller Hoffnung und Sorge zu sein. Ach ja, dann bekamen wir noch Besuch von den Amerikanern.

Ihre Expedition, nicht zwei, sondern an die zwanzig Mann, wollte die Sonnenfinsternis bei Iloilo auf der Insel Panay fotografieren, von uns aus hundertfünfzig Kilometer Luftlinie nach Westen. Wenn ich sage zwanzig Mann, dann ist das noch vorsichtig ausgedrückt. Genauso gut könnte man sagen, zweihundert. Denn zu uns auf die Reede von Sogod reisten die Amerikaner mit einem Kreuzfahrtschiff an, das sicher seine zweihundert Mann an Bord hatte. Matrosen in blauweißen Zebrashirts ruderten den wissenschaftlichen Stab an Land, und zwei Stunden lang hallten und schallten unsere Schulbaracke und unser Beobachtungshof von den raumgreifenden Stimmen der Yankees. Übrigens konnte man sie so schwer verstehen, dass ich nicht begreife, wie ich mit meinem Englisch Band für Band ihre wissenschaftlichen Bücher gelesen und meiner Meinung nach großartig verstanden habe, worum es ging.

Dann nahmen die Amerikaner unsere Apparatur in Augenschein. Im Zusammenhang damit blieb mir einer von ihnen besonders in Erinnerung. Obwohl ich nicht mal seinen Namen richtig in Erfahrung gebracht habe. Ein gewisser Link oder Flink oder Hink. Ich fragte ihn nicht: ›How do you spell it?‹ Ein Mann mittleren Alters mit einem Stiernacken, hellem Bürstenhaarschnitt und blonden Wimpern. Er betrachtete unseren Horizontalspiegel mit der 55-Zentimeter-Öffnung und insbesondere dessen Regulierungsvorrichtung, die ich für unsere Lapplandexpedition konstruiert hatte, und fragte:

»Aber warum haben Sie denn dieses Spielzeug aus Ihrem Hamburg bis hierher geschleppt? Kann man damit etwas Vernünftiges unternehmen?«

Ich sagte: »Spielen bestimmt …«

Aber Baade fragte grausam sachlich, ob die Herren amerikanischen Kollegen zufällig unsere Sonnenaufnahmen gesehen hätten, die wir vor zwei Jahren in Jokkmokk gemacht haben. Natürlich hatten sie sie gesehen. Sie hatten sie sogar detailliert studiert. Der gleiche Drink oder Prink sagte:

»To be sure! These are the best ever made!«

Und Baade zog seine etwas kurz geratene Oberlippe hoch, sodass seine breiten Zähne blitzten, und verkündete, sodass ich gleichzeitig peinlich berührt war und triumphierte:

»Eben. Sie alle sind das Werk von Herrn Schmidt und von ebendiesem seinem Apparat.«

Daraufhin rief derselbe Herr Flink »Incredible!« und bot mir eine Zigarre an, die ich ausschlug.

Zum Schluss tranken die Amerikaner auf dem Balkon des Schulhauses einen Whiskey auf unseren Erfolg und boten uns davon an (die Matrosen oder Küchenjungen des Kreuzfahrtschiffs in den Zebrashirts hatten Eiskisten mit Sodawasser dabei). Dann fuhren sie weg, und Baade schickte sich an, die Eindrücke ihres Besuches zu erörtern. Da er keine anderen Partner hatte, musste er dies mit mir tun, obwohl ich seine Kommentare nicht kommentierte. Letztendlich doch bedeutungsloses Gewäsch. Ein Mensch kann in Gedanken alles Mögliche erörtern. Die irrsinnigsten Dinge, wenn es ihm Spaß macht. Aber warum soll man für alle hörbar etwas erörtern? Also hörte ich ihm stumm zu. Bis auf einen Moment. Da sagte ich:

»Doktor, es war nicht nötig, ihnen unter die Nase zu reiben, dass die Jokkmokk-Fotos mit diesem Apparat gemacht worden sind. Man hätte sie in dem Glauben belassen sollen, dass wir hier mit Spielzeug spielen.«

Ich gebe zu, dass ich nicht ganz aufrichtig war, als ich das sagte. In Wirklichkeit war es eine Lüge. Eine Lüge aus übertriebener Zurückhaltung. Möglicherweise gar ein Versuch, von Baade noch einmal Lob für meinen Apparat und meine Arbeit zu erheischen. Offenbar hatte meine Seele das immer noch nötig. Weswegen es mir in Wahrheit trotz aller peinlichen Berührtheit überhaupt nicht gegen den Strich ging, dass Baade meine Arbeit den Amerikanern gegenüber gelobt hatte. Aber für diese Unaufrichtigkeit bekam ich augenblicklich die Quittung. Baade sagte (und er war natürlich überaus aufrichtig):

»Nein, nein, werter Kollege. Das war notwendig. Begreifen Sie denn nicht? Das erforderte die Reputation der deutschen Wissenschaft!«

Und ich fürchte, dass mir für einen Moment vor Überraschung der Unterkiefer runterklappte. Niemand hatte mir das jemals gesagt, selbst habe ich nie – ich glaube wirklich niemals – darüber nachgedacht: Ich war also, zumindest nach Baades Auffassung, ein deutscher Wissenschaftler? Und wahrscheinlich nicht nur nach seiner Auffassung. Ich spürte, wie etwas in mir aufzuckte und protestieren wollte. Aber gleichzeitig begriff ich, dass er von seinem Standpunkt aus betrachtet recht hatte. Denn welchen Landes Wissenschaftler war ich denn in erster Linie? Wenn ich beinahe dreißig Jahre in Deutschland gelebt und gearbeitet hatte? Zwar mit Unterbrechungen auf Naissaar und in Tallinn, aber überwiegend doch in Deutschland. Deutsche Auftraggeber und deutsche Instanzen haben mir meinen Brotverdienst gegeben. Deutsche Wissenschaftler waren es, die mit meinen Objektiven und Spiegeln den Himmel erforschten – Schwarzschild, Vogel, Schorr und wie sie alle hießen, nur Deutsche. Abgesehen von einigen Amateuren, einer in Pärnu, einer in Göteborg, ein paar in Frankreich. Eine andere Frage ist, welchen Landes Wissenschaftler ich gerne gewesen wäre. Überhaupt war die Sache nicht so einfach. Ich hatte beinahe achtzehn Jahre mit einem russischen Pass und zehn Jahre mit einem estnischen Pass in Deutschland gelebt. Für meinen estnischen Pass bin ich mitten in einer hektischen Arbeitsphase von Mittweida nach Berlin zu Eduard Wilde gefahren – der Herr Schriftsteller war damals für kurze Zeit estnischer Botschafter in Deutschland. Der Pass der neuen Republik wurde mir in der Hildebrandstraße ohne viel Palaver ausgestellt. Oder genauer gesagt: gerade mit gehörigem Palaver. Denn der alte Herr – er schien seine sechzig auf dem Buckel zu haben, aber ich weiß nicht genau, wann er geboren ist –, der alte Herr geruhte in seiner unzufriedenen Langeweile sich eine Stunde lang mit mir zu unterhalten. Was für ein Mann ich sei, und was ich hier in Deutschland täte und warum ich unverzüglich hier aufgetaucht sei, um einen Pass der Republik Estland zu beantragen. Also gab ich Erklärungen, nicht ohne mich meinerseits nach dem einen oder anderen zu erkundigen. Dass ich aus Naissaar gebürtig sei und dass Naissaar nun ein Teil der Republik Estland sei, wie mir Mutter ganz deutlich geschrieben hatte. Es sei also in jeder Hinsicht das Natürlichste von der Welt, wenn ich Bürger der Republik Estland würde. Wenn nun einmal überraschenderweise eine solche Republik geboren sei. Aber dass mich gleichfalls außerordentlich interessiert, was für ein Staat das genau ist oder werden will.

Mir scheint, soweit ich mich daran erinnere, dass der Herr Botschafter in dieser Sache Probleme hatte, die er nicht mit einem Wildfremden erörtern wollte. Stattdessen lehnte er sich in seinem Schreibtischstuhl zurück, betrachtete mich durch seinen goldenen Kneifer mit den ovalen Gläsern (ein großes Gentlemangesicht mit einem ruhigen Ausdruck, aber nervöser Haut und einem angegrauten Schnurrbart) und sagte:

»Ach, Sie stammen aus Naissaar? Sieh an. Da bin ich mal gewesen. Ein einziges Mal. Aber, das muss ich sagen, ein einprägsames Mal.«

Und dann erzählte er. Wie er als Einundzwanzigjähriger in Gesellschaft der Schauspieler des Deutschen Theaters nach Naissaar ins Grüne gefahren sei. Mit einem Segelschiff von Kalarand aus. Junge Herren mit steifen Kragen und Schnurrbärten und Fräulein in Turnürekleidern. Ein Dutzend Menschen, mit Weinflaschen, Bierkörben und Butterbroten. Er sagte: »Das wissen Sie natürlich selbst, Naissaar war damals kein populärer Ort für Fahrten ins Grüne. Für die Stadtbevölkerung war es ein ziemlich unbekannter und nach Meinung der meisten etwas merkwürdiger Ort. Aber genau deswegen hatten ihn sich die Schauspieler ausgesucht. Theaterleute haben ja immer etwas sonderbare Ideen. Besonders, wenn es sich mehrheitlich um bloße Amateure handelt, die sich verpflichtet fühlen, den Eindruck besonders origineller Geister zu hinterlassen.«

Weiter erzählte er, wie sie im Bootshafen des Süddorfs an Land gegangen waren, sich auf die Ufersteine gesetzt und eine Stärkung zu sich genommen hatten und dann sieben oder acht Werst durch den prächtigen Mastkiefernwald gewandert waren. Im Norddorf hatten sie auf einem Bauernhof, er erinnerte sich nicht mehr, auf welchem, zu Mittag gegessen, und gegen Abend sei das Ganze zu einem Gelage ausgeartet. Wilde sagte: »Sie verstehen doch selbst, was zieht so junges Volk denn sonst an so einen abgelegenen Ort? Doch nur wegen der Romantik. Besonders, wenn da eine Sofie mit prächtigen kupferfarbenen Haaren und grünen Augen ist. Nennen wir sie Sofie –«, sagte er. »Eine Bekannte eines unserer Schauspieler, von Feldmann oder Bürger« (»Nennen wir sie Feldmann oder Bürger, nicht wahr?«, sagte er), »aus Tallinn, aus den Tagen der Nähschule.« Jedenfalls hatte diese Sofie den Schauspielern – ich weiß nicht, ob im Hause ihres Vaters oder in der Stube eines der Nachbarhäuser – die Tafel gedeckt, sich zumindest zeitweise zu ihnen an den Tisch gesetzt und den Deklamationen von Herrn Feldmann oder Herrn Bürger zugehört, während ihre grünen Augen auf das Tischtuch gerichtet waren und das Abendlicht auf ihren kupferfarbenen Haaren und den kräftigen Jochbeinen leuchtete (ein solches Bild habe ich vor Augen). Möglicherweise sagte Wilde statt Deklamieren auch Kokettieren. Denn auf den Spaziergang zum großen Laubwald an der Ostküste in der Abenddämmerung ist sie nicht mit diesen Herren mitgegangen. Sondern war mit dem Herrn Walden dorthin gekommen. Ja. Unter diesem Namen war er im Deutschen Theater aufgetreten, sagte er, Wilde also. Im Deutschen Theater in Tallinn und damals auf Naissaar ebenfalls. Ehrlich gesagt habe ich später die Einzelheiten dieser Geschichte vergessen. Aber als er sie erzählte (wenn ich mich recht erinnere, war die Sache mehr oder weniger auf eine Duellforderung seitens Herrn Feldmanns oder Herrn Bürgers hinausgelaufen), als er sie erzählte, erkannte ich die Eckpunkte seiner Geschichte. Sie waren alle Schauspieler. Besagter Laubwald, in dem sie spazieren gingen, war der Garten des dänischen Königs. Jene jungen Herren, die ihn loswerden wollten, hatten vor einiger Zeit Rosencrantz und Güldenstern gespielt. Er, also der junge Herr Walden, hatte zwar nicht Hamlet gespielt. Der junge Wilde war von dieser Rolle meilenweit entfernt, soweit ich in diesen Angelegenheiten im Bilde bin. Aber damals, im gesetzten Alter, flocht er diese zufälligen Motive um sein jugendliches Ich so kunstvoll zusammen, dass man seine Freude dran hatte. Wenn ich mich nicht irre, blitzte in seiner Geschichte noch der Name des Dorfältesten auf. Zwar nicht Claudius, nein, aber Klaus hieß er auf jeden Fall. Und du meine Güte, war der Klaus aus Rävasaare in meiner Kindheit nicht tatsächlich Dorfältester? Sodass ich voll Verwunderung dachte: Wieso hat Wilde diese Geschichte nicht zu einer seiner berühmten Novellen ausgearbeitet? Sie mag bedeutungsvoller als so manch andere sein. Aber vielleicht hat er es ja getan, und sie befindet sich unter seinen Novellen. So genau kenne ich sie nun auch wieder nicht. Weiter dachte ich, dass manche Männer im Alter anscheinend ihr Jugend-Ich problematischer sehen wollen, als es tatsächlich war. Ich mache es, glaube ich, gerade umgekehrt. Was um Gottes willen nicht bedeutet, so hoffe ich, dass ich die Naivität meiner Jugend betone, um als Fünfzigjähriger einen umso problematischeren alten Herrn abzugeben. Also wirklich, wer so etwas über mich zu behaupten wagt, dem sage ich direkt ins Gesicht: ›Werter Herr oder werte Frau oder wer immer Sie zu sein belieben: Scheren Sie sich, mit Verlaub, zum Teufel!‹ Denn was bedeuten Probleme in persönlich-menschlichem Sinn überhaupt? Sie sind zu unbestimmt, als dass man über sie plaudern könnte. Zu delikat. Viel zu einmalig, als dass man sie als Probleme bezeichnen könnte. Wissenschaftliche Probleme kann ich begreifen, ihnen kann man sich systematisch annähern. Aber was Cebu betrifft, bekamen wir es da nicht mehr mit ihnen zu tun. Denn sobald sie sich abzeichneten, war alles vorbei.

 

Das Wetter war während unserer Wartewochen besorgniserregend instabil geworden. Die Ankunft der Regenzeit lag in der Luft, und am Nachmittag stieg die Luftfeuchtigkeit jeden Tag in verdächtige Höhen. Aber dazwischen gab es immer noch tadellose Tage, und am Morgen des neunten Mai sah es so aus, als würde der neunte genauso einer werden.

In der letzten Woche hatten uns zwei Professoren der technischen Abteilung der Universität von Manila unterstützt. Hyde und Melchor. Ohne jegliche Erfahrung auf dem Gebiet astronomischer Beobachtungen, aber angenehm lernfähige Kerle. Sodass unsere Artillerie am Morgen tipptopp justiert war, diese Arbeit kontrollierte ich persönlich, wir waren in Schlachtaufstellung und gefechtsbereit.

Die Sonnenfinsternis musste um 14.26 Uhr Ortszeit beginnen. Um eins war der Himmel, würde ich sagen, tadellos. Nur ein gaaanz klein wenig milchig. Aber um vierzehn Uhr entstand um die Sonne herum ein strahlender regenbogenfarbiger Ring. Kaum merklich, aber nicht wegzudiskutieren. Er zeigte eine Verdichtung der Wassertropfen in der für Cirrostratus typischen Höhe. Die anderen hatten es noch nicht bemerkt, und ich sagte niemandem etwas. Aber ich hatte ein Vorgefühl, dass dadurch unsere ganze Unternehmung scheitern würde. Die totale Finsternis war um 15.45 Uhr und 48 Sekunden. Während der achtzig darauf zugehenden Minuten blieb die Sonne zwar von einer Wolkendecke befreit, aber fleckenweise bildete sich Cirrostratus, und die Umgebung der Sonne verschleierte sich gleichmäßig, mit dem Auge kaum wahrnehmbar, aber das Fotografieren störte es auf verfluchte Weise. Dieser Stand herrschte noch während der ersten Minute der totalen Finsternis. Wir standen, saßen, hockten zu fünft – Herr Moll war uns zu Hilfe gekommen – hinter unseren fünf Apparaten. Wir hielten konzentriert den Atem an und fotografierten aus allen Rohren. Hauptziel: beim Aufkommen und während der totalen Finsternis die innere Korona der Sonne als die vielsagendste Zone im Sinne der Erforschung der Sonne abzulichten. Unsere Apparate klickten in regelmäßigen Abständen, um uns herum eine merkwürdige aschfarbene, lila getönte Dämmerung, die bald ihre maximale Dichte erreichte. Eine unwirkliche Dämmerung, in der alles entsetzlich konturenlos ist, man aber gleichzeitig spürt, dass jedes zitternde Blatt am Baum deutlicher sichtbar ist als am helllichten Tag, oder wenn nicht sichtbar, so doch deutlicher vorhanden. Während ich in mein zehn Meter langes Rohr starrte und fotografierte, bemerkte ich eine Gruppe junger Männer aus Sogod, die hinter dem Bretterzaun der Schule umherschlichen, und ab und zu erhoben sich graulila Gesichter über den Rand, die sich über unsere Aktivitäten wunderten. Wir waren schließlich die Sehenswürdigkeit des Dorfes. Während gleichzeitig die Alten und Greise und teilweise selbst die Kinder rechtzeitig in die Kirche geeilt waren, und aus der geöffneten Kirchentür erklang nun in die mittägliche Nacht hinein das Miserere einer asthmatischen Orgel, mit der der Herr gebeten wurde, seine Hand auszustrecken und die Furcht daran zu hindern, über die Menschen zu kommen. Obgleich ich in Gedanken in den Choral einfiel (damit er seine Hand vor die Wolkendecke halte, die sich vom Westen auf den Mond und die Sonne zubewegte), half es nichts: In der zweiten Minute der totalen Finsternis verschluckte der sich verdichtende Cirrostratus Mond und Sonne gleichzeitig und endgültig. Am Ende der totalen Finsternis (das war ungefähr viereinhalb Minuten nach Beginn) war der Himmel wie durch abscheuliche Hexerei von dicken Regenwolken verhangen. Sodass wir das Ende der Sonnenfinsternis nicht verfolgen konnten. Zu der Zeit zogen wir im strömenden Regen das Ölzeug über unsere Geräte.

Baade schrieb später, ich weiß nicht, wen er trösten wollte, wahrscheinlich sich selbst, dass das vom Cirrus erzeugte Streulicht sich zwar sehr ungünstig auf diejenigen Fotos ausgewirkt habe, die Details der äußeren Sonnenkorona zu erfassen versuchten, dass die Fotos der kraftvollen Details der inneren Korona uns aber tadellos gelungen seien. Bah. Mag sein, dass man anderen Menschen in Notlagen Mut zuspricht, aber Selbsttrost kann ich nicht ausstehen. Ich sage also direkt: Auch die Fotos der inneren Korona sind uns nur befriedigend gelungen. Was bedeutet, dass man es ebenso gut hätte bleiben lassen können. Aber ich muss zugeben, dass mir das aus zwei Gründen leichter fiel als Baade. Erstens war er es, nicht ich, der vor allen Behörden und Stiftungen, die uns finanziert und auf die Reise geschickt hatten, den Eindruck erwecken musste, dass wir wenigstens einen wesentlichen Teil unseres Programms trotz allem erfüllt hatten. Zweitens interessierte mich jetzt nur noch meine Bullaugenvision von der Andamanensee: meine Platte.

In der folgenden Woche demontierten wir in den Pausen der sich verdichtenden Sommerregenschauer die Beobachtungsstation und packten alles ein. Am Zweiundzwanzigsten wurde sie nach Cebu zurücktransportiert. Am Achtundzwanzigsten gingen wir bei einem heftigen Regenguss an Bord der »Dardanus« und am übernächsten Tag im gleichen Regen in Manila an Land. Hapags funkelnagelneue, letztes Jahr zu Wasser gelassene »Duisburg« brachte uns über Hongkong, Singapur und Colombo zurück nach Hause. Mit für diese Schiffsklasse völlig normalen 13,5 Knoten. Aber doch tödlich langsam.

2

»Sie wollen also einen Roman über Bernhard Schmidt schreiben?«

Der Mann mit dem lebhaften Gesicht eines Siebzigjährigen, der in Wirklichkeit über achtzig ist, trommelt mit den Fingern neben seinem Wermutglas auf den Tisch.

Ich nicke.

Unser Gespräch findet zehn Kilometer südlich von Gernsheim statt, in den Weinbergen entlang des Rheins, im Garten, wo über der Rhododendronhecke das schmiedeeiserne Tor zu sehen ist. Die Klingel und das Bronzeschild sind nicht zu sehen. Auf dem Schild steht: »Friedrich Kelter, Dr. rer. nat.« Aber der schmiedeeiserne Bogen mit den schmiedeeisernen Buchstaben ist deutlich zu sehen. Vom Garten aus erscheinen die Buchstaben spiegelverkehrt: SOLNEKLOW ALLIV. Von außen liest man: VILLA WOLKENLOS.

»Warum auch nicht?« Mein Gastgeber lächelt sein sauber rasiertes, sehniges, gerötetes Lächeln, »Schmidt hat sich bei uns ja gewissermaßen – wie soll ich sagen – in eine mythologische Figur verwandelt.«

»Lassen wir den Mythos mal beiseite«, entgegne ich, »aber Sie sind dem echten, leibhaftigen Schmidt begegnet. Sie kannten ihn. Aus diesem Grund …«

»Ja, was heißt ›kannte‹? Oberflächlich gewiss. Und lediglich ihn, aber keinesfalls sein Leben. Das macht ja einen Unterschied. Besonders für einen Romanautor. Von seinem Leben bekam ich nur so viel mit, dass ich meine Zweifel habe, ob es überhaupt genug Stoff für einen Roman hergibt. Aber ich bin natürlich nur ein Geschäftsmann. Und auch ein wenig Physiker. Demnach weiß ich nicht viel über ihr Medium. Abgesehen von dem alten Klischee«, er rührt mit seinem Strohhalm die Eiswürfel um und nimmt einen Schluck Cinzano, »dass ein fähiger Mann aus dem Leben so ziemlich jedes Menschen wenigstens einen Roman herausholen könne.«

Ich entgegne, dass dazu im vorliegenden Fall überhaupt keine speziellen Fähigkeiten nötig seien. Besonders, wenn mir Herr Doktor gnädigerweise mit seinen Erinnerungen unter die Arme greifen würde. Was umso leichter sein dürfte, da seine Erinnerungen mit denen seines Vaters eine Einheit bildeten, und meines Wissens war sein Vater Schmidt gegenüber recht wohlgesonnen. Wenn er jetzt doch bitte …

»Jaja. Wohlgesonnen ist sogar noch vorsichtig formuliert. Sehen Sie, mein Vater war kein Gefühlsmensch. Er war Unternehmer. Und Professor, das auch. Aber nebenbei bemerkt hatte er den Titel nicht von irgendeiner Universität bekommen. Er war ihm von der Regierung Preußens für seine wissenschaftlichen und unternehmerischen Leistungen verliehen worden. In erster Linie für den Aufbau und die Leitung seines Unternehmens. Die Firma Kelter war vielen ein Begriff, wie man sagt. Woran denken wir etwa beim Namen Zeiss? Natürlich an eine herausragende Produktion. Das schon. Aber in Massen. Objekte, die individuelle Lösungen erforderten, ultrapräzise und gleichzeitig großformatige Gegenstände, wissenschaftliche Ausrüstung, aber nicht nur, sondern Geräte, die sowohl in der Astronomie als auch beim Militär Verwendung fanden, Sie verstehen, wurden bei ›Kelter‹ in Auftrag gegeben. Zahlenmäßig waren wir kein großes Unternehmen. Aber in der Branche trotzdem sehr angesehen. Einhundertfünfzig Angestellte. Einige davon herausragende Ingenieure. Die präzisesten Kärger-Drehbänke zum Schleifen und Polieren. Hinter den Maschinen die erfahrensten Meister. Und an der Spitze mein Vater. Mit allen per Du. Er war nach Amerika gereist und hatte seine preußische Steifheit abgelegt. Weshalb ihn sogar Arbeiter, gestandene Sozialdemokraten duzten. Das will was heißen. Ich kann Ihnen versichern: eine großartige patriarchale Stimmung, ganz im Geiste der alten Berliner Gesellschaft. Gebildete Techniker und fähige Arbeiter, Hand in Hand, eine Arbeiteraristokratie, würde ich sagen. In der Tat: Das wäre Stoff für einen Roman! Aber ich bitte um Verzeihung. Sie kommen ja von drüben. Es dürfte Sie nicht interessieren, welche Vorbilder es im Bereich der Industrieorganisation irgendwo auf der Welt vor Ihrem Lenin gab.«

 

Ich stimme zu: »Entschuldigen Sie, Doktor Kelter, aber Sie haben in der Tat vollkommen recht: In diesem Augenblick interessiert mich vor allem Bernhard Schmidt.«

»Jaja!«, ruft Herr Kelter amüsiert aufgebracht, »ich verstehe schon: Romanschreiber sind Sonderlinge – verzeihen Sie mir meine Direktheit – und interessieren sich für Sonderlinge. Denn sonderbar war Ihr Schmidt zweifellos.«

»Erzählen Sie mir, inwiefern.« Ich schalte den Recorder mit einer fragenden Geste ein. Er nickt, es scheint ihn überhaupt nicht zu stören.

»Nun, vielleicht insofern, als er dreißig Jahre in einem Loch wie Mittweida lebte. Das würde ich verstehen, wenn er Philosoph gewesen wäre. Dessen Welt sich in seinem Kopf befindet. Wenn es keine Rolle gespielt hätte. Wie Kants fünfzig Jahre in Königsberg, Husserls fünfundzwanzig Jahre in Freiburg. Oder wenn er selbst Schriftsteller gewesen wäre. Denen ist es offenbar auch egal, in welcher Umgebung sie fabulieren. Aber er war Techniker. Ich verstehe, dass solch ein blinder handwerklicher Individualismus vor zweihundert Jahren noch fruchtbar gewesen sein mochte. Aber im zwanzigsten Jahrhundert?! Wo die ganze technische Entwicklung von Kontakten und Informationen abhängt?! Wie kann ein vernünftiger Techniker – heute wird er bisweilen sogar als Genie bezeichnet – sich für dreißig Jahre in Mittweida vergraben? Mir kommen nur zwei Gründe in den Sinn, und keiner der beiden ist besonders ehrenwert. Erstens: Trägheit. Er blieb dort hängen, wo er zufällig gelandet war. Schlicht aufgrund eines provinziellen Minderwertigkeitskomplexes. Wer aus der einen Peripherie kommt, macht sich nicht die geringste Mühe, die andere zu verlassen. Die zweite Möglichkeit: Blinde Überheblichkeit. Ich bin Bernhard Schmidt von der Insel Nargen, ich brauche euer Berlin und euer München nicht. Egal wo ich sitze, ich arbeite, schwitze, schufte, poliere mich nach oben. Bis ihr alle zu mir kommt. Halt, halt, halt. Ich sehe Ihnen an, dass meine extremen Überlegungen Sie irritieren. Aber Sie wissen aus eigener Erfahrung, dass beide Elemente in der Natur des Menschen vorhanden sind. Natürlich nicht in ihrer chemischen Reinform, also entweder dieses oder jenes. Sondern stets in praktischen Kombinationen. Und überhaupt: Ich bin in keiner Weise mit Ihrer Mentalität da drüben vertraut. Das ist Sache der Sowjetologen. Aber ich habe den Eindruck, dass es Ihresgleichen an unserer objektiven, gleichzeitig messerscharfen und – wenn es Anlass dazu gibt – anerkennenden, unmittelbaren, etwas geschwätzigen Art, kritisch zu denken, fehlt. Bei Ihnen heißt kritisches Denken entweder, etwas zu vernichten oder es in den Himmel zu heben. Und Schmidt gehört bei Ihnen seltsamerweise zu denen, die man in den Himmel hob. Ist es nicht so?«

»Herr Kelter, meine Antwort hat für Sie keinerlei Bedeutung. Schließlich haben Sie weder vor, eine sowjetologische Abhandlung zu verfassen, noch einen Roman über Bernhard Schmidt. Erlauben Sie mir also die Frage: Könnten Sie nun ausführen, wann und unter welchen Umständen Sie seinerzeit nach Mittweida fuhren?«

»Also, es war, glaube ich, im Jahr 1925. Ja. Im Frühjahr 1925. Ich erinnere mich, dass die Inflation vorüber war, und Vater die Fabrik retten konnte. Folglich war nicht die gesamte deutsche Industrie in den Taschen von Stinnes und seinesgleichen gelandet. Wir hatten angefangen, ein neues Haupthaus zu errichten und erste Aufträge vom Staat erhalten. Und dann begann mein Vater, sich schlichtweg dafür zu interessieren, was für ein Mann dieser Schmidt war.«

»Schmidt war zu dieser Zeit also schon ein Begriff

»Nun, das nicht. Aber er hatte schon vor dem Krieg für das Potsdamer Observatorium einige überraschend ausgereifte Geräte angefertigt.«

»Und Ihr Vater fuhr im Frühjahr 1925 nach Mittweida, um sich selbst einen Eindruck von Schmidt zu machen?«

»Exakt.«

»Womöglich, um ihn für die Firma anzuheuern?«

»Nein, nein. Nicht doch. Oder vielleicht, hätte er sich als besonders tauglich herausgestellt, wenn Sie verstehen.«

»Und Sie begleiteten Ihren Vater?«

»Ja. Ich studierte Physik an der Technischen Hochschule Berlin. Im dritten Semester. Und half meinem Vater in der Firma. Planung. Korrespondenzen. Auf Dienstreisen trat ich als sein Sekretär auf. Günstiger und vertrauenswürdiger als irgendein bezahlter Fremder.«

»Und weiter?«

»Wissen Sie, ich habe keine Ahnung, wie dieses Mittweida heute unter Honecker ist. Aber damals, zu Eberts Zeiten war es ein bedrückendes provinzielles Nest. Wir bekamen im besten Hotel der Stadt ein Zimmer mit Kakerlaken und machten uns auf die Suche nach Schmidt. Seine Adresse kannten wir. Und je weiter wir gingen, desto überzeugter waren wir davon, dass es in dieser Stadt absolut nichts Interessantes gab.«

»Nun, immerhin gab es das berühmte Technikum. Wo auch Schmidt studiert hatte.«

»Wissen Sie, wenn es sich bei Mittweida um ein siebtklassiges Nest handelte, dann war dieses Technikum eine, sagen wir, fünftklassige Lehranstalt. Also nicht viel besser als die Stadt selbst. Wussten Sie das nicht? Nach heutigem Verständnis war es einfach eine Berufsschule. Inhaltlich. Nun, vielleicht ein wenig effektiver, wie alle Lehranstalten zu jener Zeit, aber im Grunde eine Berufsschule. Heute lernen diese sechsjährigen Rotzlöffel in der ersten Klasse die Grundlagen der Mengenlehre. Damals wurde noch das Einmaleins gelehrt. Damals hielt man Adam Riese noch in Ehren. Und die Ergebnisse waren im Verhältnis – ich sage, im Verhältnis, Sie verstehen – besser als heute. Aber was das Technikum Mittweida betrifft – es produzierte trotzdem nur Spezialisten mit mittelmäßigen Fähigkeiten, denen man Ingenieurdiplome gab. Aber deshalb waren sie noch keine Ingenieure mit einer akademischen Bildung. Und Schmidt hatte nicht einmal solch ein Diplom in der Tasche.«

»Sind Sie sich da sicher?«

»Absolut. Mein Vater hat die Unterlagen in der Kanzlei des Technikums später persönlich überprüft.«

»Mit welchem Ziel?«

»Hm, ganz einfach. Er wollte Schmidt kennenlernen. Und dabei ging er mit deutscher Gründlichkeit vor.«

»Und weiter?«

»Nun, ich sagte bereits, dass wir seine Adresse hatten. Vergleichsweise nah am Bahnhof. In der Wilhelmstraße, wenn ich mich nicht irre. Ein dreigeschossiges Mietshaus, dem man die Verwahrlosung aus der Kriegszeit ansah. Das Gartentor verbogen. Im Erdgeschoss ein genossenschaftlicher Kindergarten oder dergleichen. Lärm und Geschrei aus den geöffneten Fenstern. Eine schmale, von Zwiebeldunst erfüllte Treppe in den zweiten Stock. Im dunklen Eingang zur Wohnung kleinbürgerlicher Naphthalingeruch und eine ältere Frau mit toupiertem Haar. An ihrem Blick war zu erkennen, dass der Mieter nichts für Besuch übrighatte. Außerdem war der Mieter nicht zu Hause. Er musste in seiner Werkstatt sein. Aber vielleicht auch nicht. Wie die Frau schwammig formulierte. Wir ließen uns den Weg erklären und suchten die Werkstatt auf. Diese lag in drei- oder vierhundert Metern Entfernung. Nebenbei bemerkt: Dreißig Jahre lang spielte sich Schmidts gesamtes Leben innerhalb dieser dreihundert Meter ab. Das Mietzimmer. Das vegetarische Lokal ›Sanitas‹ in der Nachbarstraße. Weiter zur Werkstatt. Dahinter der Aussichtspunkt. Und unmittelbar neben der Werkstatt das Restaurant ›Lindengarten‹. Also wortwörtlich dreißig Jahre und dreihundert Meter!«