Im Auge des Falken

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Aus der Reihe: Regelence #1
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Hier auf dem Hügel lag er auf dem Bauch im weichen Gras – seine bevorzugte Arbeitshaltung – und konnte die Erfahrung trotzdem in vollen Zügen genießen. Ein junger Lord bekam nur selten die Gelegenheit, das Herz von Regelence' interplanetarem Handel zu studieren. Bis Aiden fünfundzwanzig Jahre alt war, würde es vermutlich auch das einzige Mal bleiben.

Auch aus diesem Grund war er wild entschlossen, alles einzufangen. Je mehr Motive ein Künstler porträtierte, desto besser, und er war seiner Kunst mit Leib und Seele verfallen.

Er lenkte seine Aufmerksamkeit von der Szenerie vor ihm wieder auf seine Zeichnung und runzelte die Stirn. Er hatte bereits die Hälfte seines Speicherplatzes verbraucht, indem er einige der großen Raumfrachter skizziert hatte, und gerade versuchte er, das Antriebssystem der Wasserschiffe zu perfektionieren.

Diese Technik machte die Schiffe deutlich schneller und effizienter als die herkömmlichen Boote, die nur zum Spaß benutzt wurden, war aber nicht einfach darzustellen. Zeichne, was du siehst, Aiden, nicht was du zu sehen glaubst.

Das Problem lag darin, dass er nicht sicher war, was er da sah, weil sich das Wasser permanent in Bewegung befand, an den schwebenden Maschinen hochschwappte und dann wieder in den Ozean zurückfloss.

Er hatte keinerlei Schwierigkeiten mit Porträts, Landschaften, Stillleben und sogar Architektur, aber die Darstellungen mechanischer Details wollten einfach nicht so wie er. Er schloss die Augen, versuchte, sich das Bild im Kopf vorzustellen. Er konnte es praktisch vor sich sehen. Nun musste er es nur noch aufs Pad bringen.

»Hey, du da. Was machst'n hier, Kleiner?«

Erschrocken öffnete Aiden die Augen. Drei Männer kraxelten die kleine Anhöhe zu ihm hinauf. Sie sahen nicht gerade vertrauenerweckend aus. Einer war groß, mit kurzen, blonden Haaren und breiten Schultern, der zweite klein und dick und der dritte irgendwas dazwischen. Ihre lockeren Uniformröcke und eng sitzenden Hosen wiesen sie als Besatzungsmitglieder eines Raumschiffes aus.

Aidens Magen sackte in seine Kniekehlen. Er konnte sich nicht vorstellen, was die Männer von ihm wollten. Vielleicht war es seine hyperaktive Künstler-Fantasie, aber das Wort Pirat setzte sich in seinem Kopf fest und wollte nicht mehr verschwinden. Natürlich war das absolut lächerlich, Piraten würden sich nicht in einem Hafen unter gewöhnliche Raumfahrer mischen. Oder?

Aiden ließ seinen Stift fallen und stemmte sich in eine sitzende Position hoch. Die Männer blieben stehen und starrten auf ihn hinunter. Den großen hätte man fast als attraktiv bezeichnen können, wäre da nicht sein griesgrämiger Gesichtsausdruck gewesen. Der mittlere wirkte geradezu furchteinflößend mit seinem kahlen, knubbeligen Schädel, den kleinen Schweinsäuglein und seiner Hakennase.

Der kleinste – mit fettigen, braunen Haaren und einem zotteligen Bart – starrte Aiden unverwandt an. »Ich hab gefragt, was du hier wills', Junge!«

»Ich...« Aiden erhob sich hastig. Sein Bauchgefühl sagte ihm, dass diese Männer etwas im Schilde führten. Der finstere Ausdruck auf ihren Gesichtern verhieß nichts Gutes. Er mochte nicht viel für die Regeln der feinen Gesellschaft übrighaben, aber Aiden wollte ganz sicher auch nicht ermordet oder entführt werden, weil er sie missachtet hatte.

Er würde diese Kerle nicht wissen lassen, dass er alleine war. Wenn sie dachten, dass er eine Begleitung hatte... Er räusperte sich und deutete mit dem Kopf in Richtung des Gleiters, der ihn hergebracht hatte.

»Meine Anstandsbegleitung hat mich hergebracht, damit ich die Raumschiffe zeichnen kann. Nicht, dass es Sie etwas anginge...«

Die Augenbrauen des Blonden zogen sich zusammen, als er das Zeichenpad entdeckte. Er beugte sich hinunter, hob das Gerät vom Boden auf und klickte sich mit den Tasten durch die Seiten.

»He, geben Sie das wieder her!« Aiden griff nach seinem Pad, aber der Mistkerl hielt es außerhalb seiner Reichweite.

»Schaut im Gleiter nach. Ich wett', der feine, kleine Lord hier is' mutterseelenallein.« Der Blonde musterte Aiden und ein gemeines Lächeln erschien auf seinen Lippen. »Sieh ma' einer an, bist ja echt ein Hübscher. Ich denk, wir nehm' dich ma' mit.«

Aidens Herz schlug ihm bis zum Hals. Er hatte nur zwei Möglichkeiten: bleiben und kämpfen oder versuchen, an den Kerlen vorbeizukommen und wegzulaufen.

Er war nie wirklich schlecht in Selbstverteidigung und Waffentraining gewesen, aber es waren auch definitiv nicht seine Stärken. Er war eher der Stratege, jemand, der lieber seinen Verstand als die Fäuste benutzte.

Der entscheidende Faktor in diesem Fall war jedoch das Gewicht. Die drei Männer waren um einiges größer als er selbst. Was hoffentlich auch bedeutete, dass er schneller war als sie. Aiden war kein Dummkopf, er wusste, dass sie klar im Vorteil waren.

Er sprintete nach vorne und wich damit dem Dicken aus. Wenn er vor ihnen den Gleiter erreichte, konnte er es schaffen. Er würde die Zeichnungen verlieren, für die er einen Skandal riskiert hatte, aber immerhin würde er mit heiler Haut davonkommen.

Seine Augen waren auf die offene Tür des schwarzen Metallgefährts geheftet und er schien sich wie durch einen Tunnel darauf zuzubewegen. Alles, was zählte, war, dort hineinzugelangen. Der Gleiter war auf die Stimmen seiner Familie und der Dienerschaft programmiert – niemand sonst konnte ihn benutzen. Es war ein sicherer Hafen.

Er sprang hinein, ohne die Trittstufen zu benutzen. Doch bevor er seine Füße nachziehen und den Befehl zur Schließung der Tür geben konnte, packte jemand seine Knöchel. Ein irres Lachen hallte im Inneren des Gleiters wider und Aiden wurde grob zurück ins Freie gezerrt.

Er trat nach seinem Angreifer, während er fieberhaft versuchte, sich irgendwo festzuhalten. Als er nichts erreichte, grub er seine Fingernägel in das polierte Holz des Fußbodens und strampelte heftiger.

Ein Grunzen war die einzige Reaktion, als sein Fuß sein Ziel fand. Dann schlang sich plötzlich ein Arm um seine Waden und hielt seine Beine so fest, dass er nicht länger um sich treten konnte. Verdammte Scheiße!

»Komm schon, Süßer, willst nich' mit uns spiel'n? Bist doch eh nich' wie die and'ren feinen Pinkel, sonst wärste nich' allein hergekomm'. Hat dir wohl nieman' gesagt, dass das hier nix für kleine Jungs is'?«

Der große, blonde Kerl hatte ihn gepackt. Aiden erkannte seine Stimme. Ganz toll. Die anderen Rohlinge waren zwar schwergewichtiger, aber dieser hier sah deutlich stärker aus und hatte vermutlich auch mehr Ausdauer.

Eine Hand begrapschte seinen Hintern, was Aiden erstarren ließ. Himmel, niemand hatte sich je solche Freiheiten bei ihm erlaubt. Aiden wehrte sich heftiger, ohne Erfolg. Seine Finger glitten quietschend über den Boden, als er in Richtung der Türöffnung gezerrt wurde.

Flink breitete er die Arme aus, um sich im Türrahmen festzuklemmen. Der Druck auf seine Unterarme war unerträglich, aber er hielt es so lange aus, wie er konnte. Als seine Arme schließlich nachgaben, klammerte er sich mit den Händen am Türrahmen fest.

»Hab dich, wehren nützt nix. Komm schön da raus un' mach keine Fax'n, sonst tust dir noch was«, knurrte der große Mann.

Bildete er sich das ein oder klang der Kerl erschöpfter als zuvor? Schweiß rann Aiden in die Augen und über seine Lippen kamen wenig vornehme Laute. Er biss die Zähne so fest aufeinander, dass sein Kiefer schmerzte, aber er würde sich sicher nicht kampflos ergeben.

»Henri, Russell, helft ma'«, brüllte Aidens Angreifer.

Ein zweites Paar Arme legte sich um seinen Bauch und Aiden wurde unsanft aus dem Gleiter gezerrt.

»Arghh!« Seine Finger brannten wie Feuer. Aiden schüttelte die Hände im Versuch, den Schmerz zu lindern. Tat das weh! Glücklicherweise waren wenigstens seine Fingernägel noch dran. Wütend starrte er seinen glatzköpfigen Häscher über die Schulter hinweg an.

»Lass mich los!« Er ballte die Hand zur Faust und ließ sie nach hinten schnellen, wo er den Mann zielsicher am Ohr traf.

Dieser brüllte schmerzerfüllt auf, fasste sich an die Seite seines Kopfes und entließ Aiden dabei aus seinem Griff. Aiden drehte sich blitzschnell und schaffte es, sich mit den Händen abzufangen, woraufhin eine neuerliche Schmerzwelle durch seine Handgelenke schoss.

Aber darauf konnte er jetzt keine Rücksicht nehmen. Sobald er festen Halt auf dem Gras gefunden hatte, zog er seine Knie ruckartig an und nutzte damit das Überraschungsmoment für sich. Der Mann ließ ihn zwar nicht los, aber er geriet aus dem Gleichgewicht und fiel neben Aiden ins Gras.

Aiden rollte sich auf den Rücken und stemmte sich in eine sitzende Position hoch. Mit den Händen schlug er seinem Angreifer so hart er konnte auf die Ohren. Doch immer noch lockerte sich dessen Griff nicht.

»Henri!«, bellte er.

Aiden drehte und wand sich wie ein Besessener und warf sich herum. Er musste sich befreien... jetzt!

Plötzlich verschwanden die Hände des Mannes und Aiden robbte außer Reichweite. Sein Herz klopfte wie verrückt und seine Lungen schrien nach Luft, aber er gönnte sich keine Ruhepause. Die lockende Sicherheit des Gleiters war in greifbarer Nähe.

»Wären die Herren so freundlich, mir zu erklären, was Sie mit meinem Sohn vorhatten, oder soll ich raten?«, fragte eine tiefe, ruhige Stimme.

Cony? Aiden erstarrte und drehte sich um. Sein Sire war hier? Er strich sich die schwarzen Haarsträhnen aus den Augen und sah zu seinem Retter auf.

Da stand sein Sire, die Spitze seines Schwertes unter dem Kinn des bärtigen Mannes, die langen Beine kampfbereit in den Boden gestemmt. Cony musterte Aiden und ein Ausdruck der Erleichterung huschte über sein Gesicht, bevor sein finsterer Blick sich wieder auf die drei Männer richtete.

 

»Aiden, hol deine Sachen.« Cony nickte in Richtung des Zeichenpads.

Aiden rannte an den Männern vorbei, die wie Krebse zur Seite robbten, um sich aus Conys Angriffslinie zu bringen. Er schnappte sich sein Pad und eilte zurück zu seinem Sire.

Cony versetzte dem Blonden mit der flachen Seite seines Schwerts einen Schlag gegen die Schläfe und richtete die Spitze dann auf die beiden anderen. Er stampfte mit dem Fuß auf und brüllte: »Ab!«

Hastig gehorchten die Männer und machten, dass sie den Hügel hinunter zurück zu den Docks kamen. Kopfschüttelnd überwachte Cony ihren Abgang.

»Wenn eine Verhaftung und Verurteilung deinem Ruf nicht so sehr schaden würde, hätte ich sie unter Arrest stellen lassen.« Er senkte die Schwertklinge und wandte sich Aiden zu. »Was zur Hölle hast du dir dabei gedacht?«

»Ich –«

»In den Gleiter, Aiden.« Cony packte Aiden im Nacken und schob ihn unsanft in Richtung des Fahrzeugs. Da stand tatsächlich ein zweiter Gleiter neben dem, den Aiden genommen hatte. Was wohl auch der Grund war, warum Aiden Raleighs Ankunft nicht bemerkt hatte, da die Gleiter unglaublich leise waren.

Nachdem er einen nach Hause geschickt hatte, bedeutete Cony Aiden, in den zweiten Gleiter zu steigen. Aiden kletterte ins Innere und erst jetzt wurde ihm richtig bewusst, was da eben passiert war. Er wäre wirklich in Schwierigkeiten gewesen, wenn Cony nicht gekommen wäre.

Cony stieg in den Gleiter und gab den Befehl zur Rückkehr in die Residenz, bevor er sein Schwert wieder in die Scheide steckte. Dann ließ er es auf die Bank ihnen gegenüber fallen, setzte sich neben Aiden und streckte die Beine aus. Ein paar Minuten saß er bewegungslos da.

Aiden biss sich auf die Unterlippe und beobachtete seinen Sire. Die vertraute Umgebung des Gleiters wirkte äußerst beruhigend auf ihn. Wenn er jetzt nur noch das flattrige Gefühl in seinem Magen stoppen könnte...

Conys Kiefermuskeln spannten sich an und er schloss die Augen. Ein tiefes Seufzen kam über seine Lippen. Er rieb sich mit den Händen übers Gesicht, beugte sich vor und stützte sich mit den Ellenbogen auf seinen Knien ab. Dann drehte er den Kopf und sah Aiden direkt an. Er holte tief Luft und ließ den Atem dann langsam entweichen.

»Du hättest entführt, vergewaltigt oder gar ermordet werden können, Aiden.« Cony starrte ihn einen Moment lang an, fuhr ihm dann durch die Haare und zog ihn in eine feste Umarmung. »Was soll ich nur mit dir machen? Mit euch allen... du und deine Brüder werden mich ganz sicher eines Tages noch ins Grab bringen.«

Aiden lehnte sich in die Wärme seines Sires und schickte ein stilles Dankgebet in Richtung der Sterne, dass er noch am Leben war. Sein Puls beruhigte sich langsam wieder und das zittrige Gefühl ließ nach. Er hatte die Konsequenzen nicht bedacht. Er hatte einfach nur rausgewollt. Niemand hatte ihn mit zu den Docks genommen, also war er eben alleine gegangen.

Er löste sich aus den Armen seines Sires und zuckte die Schultern im Versuch, möglichst normal zu wirken und Cony nicht wissen zu lassen, wie nah ihm der Zwischenfall tatsächlich ging.

»Du solltest Colton und Tarren vielleicht einsperren und den Schlüssel wegwerfen. Rexley ist zu verantwortungsbewusst, um ein Problem zu sein, und Payton braucht nur eine Herausforderung. Er ist schlauer, als gut für ihn ist. Und ich? Schick mich auf eine Kunstschule? Lass mich bei einem Meister in die Lehre gehen?«

Cony starrte ihn an und blinzelte zweimal, bevor er in schallendes Gelächter ausbrach. Stöhnend massierte er sich die Nasenwurzel und ließ sich mit geschlossenen Augen gegen die burgunderroten Lederpolster zurücksacken.

Aiden versuchte, sich keine Gedanken um die plötzliche Stille zu machen. Entweder würde Cony ihn bestrafen oder nicht. Das Wichtigste war, dass er immer noch da war, um bestraft zu werden.

Den Rest des Heimwegs verbrachten sie schweigend. Aiden klickte sich durch die schönen Skizzen, die er geschaffen hatte, und Raleigh starrte aus dem Fenster. Schließlich hielt der Gleiter vor der großen Eingangstür der Residenz.

Das Zeichenpad fest unter einen Arm geklemmt, erhob sich Aiden. Cony hielt ihn jedoch am Arm fest, bevor er das Fahrzeug verlassen konnte.

»Ich verstehe dich ja, Aiden. Wirklich. Ich war auch mal jung.«

In Ermangelung einer passenderen Reaktion nickte Aiden nur. Er bezweifelte nicht, dass sein Sire seine Worte ehrlich meinte. Aber das änderte nichts an der Tatsache, dass Aiden fest entschlossen war, Künstler zu werden, und er einfach mehr verschiedene Motive brauchte, um sein Ziel zu erreichen.

Raleigh lachte leise und knuffte ihn gegen die Schulter.

»Hör auf, dir Sorgen zu machen, Junge. Ich werde dich schon nicht übers Knie legen. Aber du kannst dir sicher sein, dass wir diesen Zwischenfall mit deinem Vater erörtern werden.«

Eine Standpauke. Aiden stöhnte, schaffte es aber immerhin, nicht die Augen zu verdrehen. Er war so froh, überlebt zu haben, dass er sich beinahe auf die Predigt freute.

»Er wartet in seinem Arbeitszimmer.« Cony schob sich an ihm vorbei und verließ den Gleiter.

Ganz toll. Aiden stieg aus dem Fahrzeug und folgte seinem Sire. Noch bevor er die Tür erreichte, schwang sie bereits auf. An sich war das nichts Ungewöhnliches, Jeffers war inzwischen vermutlich wieder online. Allerdings war es nicht Jeffers, der sie in Empfang nahm, sondern Thomas, ihr menschlicher Butler.

Sein Gesicht war gerötet und sein ergrautes Haar zerzaust. Seine burgunderfarbene Uniform wirkte unordentlich und das war mehr als ungewöhnlich. Normalerweise war Thomas genauso steif wie Jeffers. Offensichtlich hatte es ihn aus der Fassung gebracht, dass Jeffers abgeschaltet gewesen war.

Der Mann atmete tief durch und machte ihnen dann Platz. »Jeffers startet soeben neu. Ich wurde beauftragt, Euch mitzuteilen, dass seine Majestät Euch beide in seinem Arbeitszimmer erwartet.« Thomas streckte eine Hand aus. »Darf ich Euer Zeichenpad in Verwahrung nehmen, Milord? Ihr werdet es in Euren Räumen wiederfinden.«

Aiden nickte und reichte das Gerät an Thomas weiter. »Danke, Thomas.«

Der Mann verbeugte sich.

Ein flaues Gefühl machte sich in Aidens Magen breit, als er seinem Sire den Korridor entlang folgte. Sein Vater erwartete sie hinter seinem Schreibtisch sitzend. Er hatte die Hände auf der riesigen, hölzernen Tischplatte gefaltet und sah ihnen mit zusammengezogenen Brauen entgegen. Sein Blick suchte zuerst Cony, dann Aiden. Die Anspannung wich sichtlich aus seinen Schultern.

»Setz dich, Aiden.« Er wandte sich wieder Cony zu. »Nun?«

Aiden nahm auf dem kleinen Sofa Platz, das im rechten Winkel zu dem riesigen Schreibtisch stand.

»Er war am Hafen, wie Muffin gesagt hat.« Cony setzte sich so auf eine Ecke des Tisches, dass er sowohl seinen Ehemann als auch seinen Sohn ansehen konnte.

Aidens Vater gab ein unwilliges Geräusch von sich und vergrub das Gesicht in den Händen. »Aiden!«

Cony runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. »Das war nicht das Schlimmste, Steven.« Er sah Aiden an. »Erzähl ihm, was passiert ist.«

Der Kopf seines Vaters schoss hoch und er sah mit aufgerissenen Augen erst Cony, dann Aiden an. Aiden wappnete sich innerlich für das Unausweichliche, als er seinem Vater von den drei Männern erzählte. Nachdem er geendet hatte, ließ er sich ins Sofa zurücksinken und wartete auf den Ausbruch. Der kam jedoch nicht.

Sein Vater lehnte sich in seinem Sessel zurück und schloss die Augen. Lange Minuten saß er schweigend da. Seine Brust hob und senkte sich unter seinen tiefen Atemzügen und er rieb sich mit den Handballen über die Augen.

»Du hättest getötet werden können. Was, wenn dein Sire nicht rechtzeitig gekommen wäre?« Steven beugte sich vor und stützte die Ellenbogen auf der Tischplatte ab. »Aiden, das muss aufhören.«

Zeit für seine Strafe. »Ja, Sir. Wir hätten Jeffers nicht wieder abschalten dürfen.«

Sein Vater seufzte schwer und tauschte einen Blick mit Cony, bevor er sich wieder Aiden zuwandte.

»Ich rede nicht davon, dass ihr euch davongeschlichen und an Jeffers rumgespielt habt. Das ist noch mal eine ganz andere Sache. Und du kannst dir sicher sein, dass das für euch alle Konsequenzen haben wird. Ich spreche von der Tatsache, dass du alles um dich herum vergisst, wenn es ums Malen geht. Du hast diese Männer nicht mal bemerkt, bis es schon zu spät war, nicht wahr?«

»Nein, Sir.« Aiden schüttelte den Kopf.

»Aiden, du musst aufwachen. Hast du dir in dieser Saison wenigstens einmal die möglichen Heiratskandidaten angeschaut? Erst heute habe ich wieder Ersuchen um deine Hand erhalten.«

Aidens Magen machte einen Purzelbaum. Sie hatten das Thema schon früher angesprochen und seine Eltern hatten versprochen, ihm keinen Ehemann ohne Aidens Zustimmung zuzuführen, aber trotzdem warf ihn die Nachricht eines Antrags jedes Mal ein wenig aus der Bahn.

»Von wem dieses Mal?«

»Wessen«, korrigierte ihn Cony.

»Wessen Antrag dieses Mal?«, berichtigte Aiden seinen Fehler ganz automatisch.

Sein Vater zuckte nicht einmal mit der Wimper, er war schon Zeuge unzähliger Grammatiklektionen geworden. »Lord Braxton.«

Aiden gab ein unwilliges Geräusch von sich. Braxton würde von ihm erwarten, dass er ein gesellschaftliches und politisches Vorzeigeobjekt wurde. Und Aiden stand auf Braxtons persönlicher, politischer Agenda ganz oben – zumindest hatte er es vor nicht allzu langer Zeit so ausgedrückt. Aiden hatte versucht, Lord Braxton höflich begreiflich zu machen, dass er nicht interessiert war, indem er ganz klar betont hatte, wie wichtig ihm seine künstlerische Laufbahn war. Allerdings hatte der Mann den Hinweis offensichtlich nicht verstanden.

»Du hast hoffentlich abgelehnt.«

»Ich habe ihm gesagt, dass ich darüber nachdenken werde, wenn ich mit dir gesprochen habe.«

»Ich will keinen Ehemann.«

»Warum denn nicht, um Himmels willen?«, fragte Cony. »Braxton ist ein guter Fang. Er ist reich, hat gute Verbindungen, ist willensstark...«

»Und gut aussehend«, warf Aidens Vater ein.

Cony runzelte die Stirn und beugte sich über den Tisch, um seinem Mann gegen das Ohr zu schnipsen.

»Autsch.« Steven schlug nach Conys Hand. »Was denn? Stimmt doch.«

»Er ist sehr einflussreich im Parlament und entstammt einer Linie sowohl von Offizieren der Regelence-Marine als auch von IN-Offizieren«, fuhr Cony ungerührt fort.

Aiden unterdrückte den Impuls, eine Grimasse zu schneiden. Wenn er jemanden fand, mit dem er die Art von Beziehung führen konnte, die seine Eltern hatten, würde er darüber nachdenken. Aber Braxton war nicht der richtige Mann dafür, auch wenn er wirklich attraktiv war mit seiner hochgewachsenen, schlanken Statur und seinem frühzeitig ergrauten Haar.

»Ich will mich meiner Kunst widmen. Und Braxton ist so...« Aiden machte eine ausladende Geste. »… überheblich.«

Cony nickte zustimmend. »Ja, der Mann wirkt in der Tat ein wenig herrisch.« Er warf einen bedeutungsvollen Blick auf Steven. »Das kann sehr lästig sein.«

Steven schnaubte. »Ich bin nicht herrisch, Raleigh.« Er sah wieder zu Aiden. »Irgendwann musst du heiraten.«

»Warum? Ich will zeichnen und malen. Ich will mir einen Namen mit Kunst schaffen und nicht irgendeinen Lord bei der Verwaltung seines Grundbesitzes unterstützen, überlegen, in was ich Geld investiere, und seine politische Karriere voranbringen.« Aiden sah auf seine im Schoß gefalteten Hände hinunter und kam nicht umhin, sich unverstanden zu fühlen. Wie konnte er ihnen das nur begreiflich machen?

Cony erhob sich vom Schreibtisch, ging vor Aiden in die Knie und nahm dessen Hände in seine.

»Willst du keine eigene Familie?«

Aiden zuckte die Schultern. Er hatte eine Familie, eine, die er sehr liebte. Meistens hatte er sie sogar gerne um sich. Warum glaubte also jeder, dass man einen Ehemann und Kinder brauchte, um sein Leben zu vervollständigen? Wen kümmerte es schon, wessen Familie nun wie mit wem verbandelt war? Er wollte nicht irgendjemandes Trophäe sein, nur weil er aus einer einflussreichen Familie stammte.

Sein Vater erhob sich, umrundete seinen Schreibtisch und lehnte sich vor Aiden dagegen. »Wir wollen doch nur, dass du glücklich bist, Junge. Und wir wollen sichergehen, dass du wohlbehalten bleibst. Im Laufe des letzten Jahres haben wir mehr und mehr den Eindruck gewonnen, dass du in Schwierigkeiten gerätst, sobald du zeichnest. Allein in den letzten beiden Wochen wärst du beinahe von einer Klippe gefallen, von Bienen gestochen und von einer Viehherde zertrampelt worden.«

 

Es war nur eine kleine Gruppe Kühe gewesen und sie waren nicht mal wirklich in seine Nähe gekommen – außer der, die ihm auf den Fuß getreten war – und wie hätte er denn voraussehen sollen, dass Tarrens Hundemeute eine Katze über die Weide hinter ihm jagen würde?

Und er war auch nicht beinahe von dieser Klippe gefallen – auch wenn er auf der Jagd nach seinem abhanden gekommenen Stift tatsächlich ein Stückchen abgerutscht war –, er hatte nur eine Weile auf einem Vorsprung festgesessen, bis Jeffers jemanden benachrichtigt hatte. Aus dieser Perspektive hatte er ein paar wirklich schöne Bilder vom Fluss anfertigen können.

Und die Bienen... na ja, in Zukunft würde er eben vorsichtiger sein und sichergehen, dass sich kein Nest in dem Baum befand, auf den er klettern wollte. Es war allerdings diese kleine Unannehmlichkeit mehr als wert gewesen, er hatte ein paar tolle Skizzen für seine Mappe machen können.

»Du musst heiraten. Das ist nun mal der Lauf der Dinge. Du wirst eine eigene Familie brauchen. Irgendwann werden deine Brüder alle ihre eigene haben und dein Sire und ich werden nicht ewig hier sein«, erinnerte ihn sein Vater.

Aiden verdrehte die Augen. Seine Eltern waren noch weit von ihrem Weg ins Grab entfernt, sie waren gerade einmal Anfang vierzig. Und bis seine Brüder Ehemänner und Kinder hatten, würde Aiden bereits auf dem besten Weg sein, ein Meister seiner Kunst zu werden.

»Warum kann ich nicht einfach hierbleiben, bis ich auf eigenen Beinen stehe?«

Steven massierte sich die Nasenwurzel und schloss die Augen. »Du bist der Sohn eines Königs, kein einfacher Mann. Wir finden passende Gefährten, wir gründen Familien, wir regieren das Land, wir gehen nicht irgendwelchen gewöhnlichen Arbeiten nach.«

»Aber genau darum geht es doch, Vater. Ich bin der Sohn eines Königs. Es sollte mir erlaubt sein, zu tun, was ich will. Ich habe kein Interesse an einer politischen oder militärischen Karriere in irgendeiner Form.«

Eine lange Stille breitete sich im Raum aus, während Aiden seine Eltern flehend ansah. Schließlich erhob sich Cony. Er nickte, als wäre er zu einer Entscheidung gekommen, und drehte sich dann zu Steven um.

»Es ist nicht jedem gegeben, Ehemann und Vater zu werden, Steven.«

»Raleigh, willst du, dass er alleine alt wird?« Steven machte einen Schritt nach vorne und strich Aiden mit einer Hand durchs Haar, während er die andere nach Conys ausstreckte. »Ich will doch nur, dass er glücklich wird. Du wolltest mich auch nicht heiraten, aber würdest du es jetzt ändern?«

Cony umfasste Stevens Hand und schüttelte den Kopf. »Du kennst meine Antwort, aber du hast mir auch erlaubt, mein Leben zu leben und zu arbeiten. Es ging nie darum, dass du nur eine Verbindung mit meiner Familie eingehen oder deinen politischen Einfluss vermehren wolltest. Das trifft sicher nicht auf andere Lords zu.«

Arbeit? Cony arbeitete nicht. Wobei, nein, so war das nicht richtig, natürlich arbeitete er. Cony half Steven in allen Bereichen der nationalen und planetaren Regierung und Diplomatie.

Steven nickte. »Du hast recht. Ihr beide habt recht.« Er hob Aidens Kinn an und sah ihm direkt in die Augen. »Ich biete dir einen Handel an, Aiden.«

»Einen Handel, Vater?« Aidens Blick huschte zu Cony.

Dieser zuckte die Schultern, lächelte aber. Er ließ Stevens Hand los und setzte sich neben Aiden aufs Sofa.

Steven sah Cony an. Seine Lippen zuckten ein wenig, doch dann wurde sein Gesichtsausdruck hart und er beugte sich vor, um Aiden zu fixieren.

»Du bringst dich nicht mehr in Schwierigkeiten – und damit meine ich keinerlei Zwischenfälle mehr! – und ich stelle einen Lehrer für dich ein.« Er schüttelte den Kopf, als Aiden zum Sprechen ansetzte. »An der Grundproblematik – deiner Sicherheit – hat sich nichts geändert. Ich liebe dich, Aiden, und ich will nicht, dass dir irgendetwas passiert. Wenn du es schaffst, die nächsten drei Monate allem fernzubleiben, was dir schaden könnte, engagiere ich einen Lehrer, der dich unterrichtet. Und an deinem fünfundzwanzigsten Geburtstag überschreibe ich dir einen kleinen Grundbesitz und eine jährliche Apanage. Aber ich möchte, dass du dich dem Gedanken an eine Heirat nicht völlig verschließt. Es besteht ja durchaus die Möglichkeit, dass du jemanden findest, der sehr gut zu dir passt. Ich bin immer noch nicht überzeugt, dass es nicht das Beste für dich wäre.«

Cony tätschelte sein Bein. »Dein Vater hat recht, du solltest es im Hinterkopf behalten.« Er sah seinen Ehemann an. »Du weißt, dass du einen Meister engagieren musst? Der Junge ist gut. Sehr gut sogar. Ich bezweifle ernsthaft, dass ein normaler Kunstlehrer ihm noch etwas beibringen kann.«

Steven schnaubte. »Das ist mir klar. Ich hatte vor, Contenetti einzustellen. Ich glaube nicht, dass es viel Überredung kosten wird, ihn davon zu überzeugen, den östlichen Turm als Atelier zu benutzen und einen Lehrling unter seine Fittiche zu nehmen.«

Aidens Grinsen wurde so breit, dass es beinahe wehtat. Contenetti war der berühmteste Künstler in Regelence, vielleicht sogar im ganzen Regelence-System!

»Gilt die Abmachung?«

Aiden nickte. »Ja!«

Sein Vater verengte die Augen zu Schlitzen in dem Versuch, streng auszusehen, aber er hatte nur mäßigen Erfolg.

»Wenn du dich noch einmal selbst in Gefahr bringst, wirst du noch nicht einmal mehr dein Zimmer ohne Begleitung verlassen. Und außerdem werde ich dir persönlich einen geeigneten Ehemann suchen. Haben wir uns verstanden?«

»Ja, Sir.«

Die Deckenlichter flackerten und zogen ihre Aufmerksamkeit auf sich. Das passierte nie, ohne dass Jeffers beteiligt war.

Seine Eltern lächelten sich an, doch dann runzelte Cony die Stirn. »Was Jeffers betrifft –«

Wie aufs Stichwort meldete sich Jeffers in diesem Moment zu Wort. »Eure Majestät? Eure Hoheit?«

»Willkommen zurück, Jeffers«, antwortete Steven.

»Danke sehr, Sir, aber ich komme mit schlechten Neuigkeiten. Es gab einen Diebstahl.«