Chroniken von Chaos und Ordnung. Band 4: Lucretia L'Incarto

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„Ich muss dir was sagen…“ Es musste endlich raus, lastete schwer wie Blei auf ihren Schultern. „Ich … ich habe eines deiner Geheimnisse verraten.“

Al’Jebal lehnte sich zurück. „Ich weiß.“

Und?

„Du hast schon so viele Fehler gemacht, Chara. Da kommt es auf einen mehr nicht an.“

Das war allerdings ein Schlag ins Gesicht. Seltsamerweise war sein Ausdruck nicht zornig, sondern sanft.

„Ich nehme an, du wirst alles in deiner Macht Stehende tun, dass er die Information nicht weitergibt“, fügte er hinzu.

Chara nickte. Sie hatte bis jetzt zu viel um die Ohren gehabt – mit den Gelehrten sprechen, Beschattungen veranlassen und dann wieder einstellen, mit Siralen an den Berichten für die Vizeadmiräle arbeiten, die Flottenliste aktuell halten …

Es wurde still in der Kajüte. Dann wurde es warm über ihrer Brust. Verwirrt tastete sie nach ihrem Hemd.

Al’Jebals Blut … Die Flüssigkeit in der kleinen Phiole hatte sich spürbar erwärmt.

Sie blickte auf und sah ihm in die Augen.

„Du musst vorsichtig sein, Chara. Das Ende der Welt ist nicht mehr weit. Ich weiß nicht, wie lange wir danach noch die Verbindung halten können.“

Ein unwirklicher Schleier schob sich vor ihr Augenlicht. Irgendetwas in ihr regte sich, schnappte nach Luft, verhalf sich zu einer Stimme: „Hinter der nahen Grenze wartet die Fremde. Dort bin ich meinen Wurzeln entrissen. Dort bin ich leer und ohne Weisung … Dort ist der Meister nicht mehr als ein schwaches Pulsieren über meinem Herzen.“ Sie griff nach der Phiole zwischen ihren Brüsten. Etwas tastete nach ihren Gedanken und begann, damit zu spielen. Etwas, das fremd war und doch mehr Chara war, als irgendetwas sonst. Die Worte flossen ohne Halt aus ihr heraus – wie ein breiter Strom, dessen Quelle tief in ihr verborgen lag.

„Doch alles, was ich in der Fremde tun werde, ist sein. Denn er hat mich geschaffen und zu ihm werde ich zurückkehren. Aber wenn ich wiederkehre, und der Meister ist tot, werde ich alles in meiner Macht Stehende tun, um diese Welt in den Untergang zu führen. Denn wenn man mich berührt an den Wunden meiner Torheit, dann öffne ich die Tür zu einer Welt aus Schmerz und Angst.“

Ein Beben durchzuckte ihren Körper. Der Schleier vor ihren Augen löste sich auf. Über Al’Jebals Lippen glitt ein Lächeln.

„Ich werde hier sein.“

Das Licht um die Kugel erlosch und Chara sank erschöpft gegen den Bettrahmen.

„Eh, Chara?“, vernahm sie vage Kerrims Stimme. Sie hatte ganz vergessen, dass sie nicht allein in ihrer Kajüte war.

„Ist alles in Ordnung mit dir?“, fragte er und hob das Artefakt auf.

„Ja.“

„Ich schätże, es wird sain besser, wenn ich dich lasse allain jetżt.“ Er ließ die Kugel samt Gestell unter seinem Umhang verschwinden und ging zur Tür.

„Ich bin froh, dass du hier bist, Kerrim.“

„Ich waiß.“

„Gute Nacht.“

„Gute Nacht, Chara.“

Die Tür fiel klickend ins Schloss und Chara starrte an die Wand über dem Türrahmen. Sie hatte das Gefühl, als würde sie ihr entgegenkippen. Alle Wände schienen plötzlich nach innen zu kippen.

Kurz entschlossen schüttelte sie die Betäubung ab, stand auf, griff sich eines ihrer noch unbeschriebenen kleinen, schwarzen Bücher und setzte sich an den Tisch. Dort zog sie Feder und Tinte aus einer Gürteltasche und schickte ihre Gedanken auf Reisen.

Wann hatte alles begonnen? Wo hatte sie jene Abzweigung genommen, die sie zu Al’Jebal geführt hatte?

Eine Wüste schälte sich aus ihren Erinnerungen. Eine Gruppe Reisender auf Pferden. Ein Kriegspriester, ein vallandischer Barbar und ein Waldläufer aus Alba.

Chara senkte die Federspitze auf die erste Seite und schrieb: Thorn Gandir

Dann zog sie ein Stück Kohle aus ihrer Gürteltasche und begann zu zeichnen. Schwarze scharfe Linien und weiche Schatten füllten das Pergament. Während Thorns Silhouette langsam Gestalt annahm, zogen die Straßen, Gassen und prunkvollen Bauten der Stadt Valianor vor ihrem inneren Auge vorüber. Und dort, in einer Taverne, die für ihre Fischsuppe berühmt war, fand sie den Helden des Valianischen Imperiums. Er hatte sein langes braunes Haar mit einem Lederband im Nacken zusammengefasst und unterhielt sich leise mit einem Fremden. Plötzlich sah er auf, und ihre Blicke kreuzten sich.

Aonadag, 1. Trideade im Trollmond/347 nGF

Mein Name ist … Nein, das wäre schon zu viel gesagt.

Es ist unerheblich, wie ich heiße, unerheblich, wie man mich nennt. Denn noch bin ich ein Niemand, noch spielt es keine Rolle, wer ich bin oder was ich zu sagen habe.

Es ist zu früh für mich, offen zu sprechen; zu früh, die Dinge beim Namen zu nennen, denn im Schweigen offenbart sich vieles, das sich im Wort nie enthüllen wird. Im Schweigen offenbart sich eine Ahnung davon, dass die Welt größer ist, als wir zu begreifen imstande sind – dort zeigt sich unsere Sehnsucht, über die Grenzen des Verstandes hinauszugehen.

In der Stille liegt die Kraft der Bewegung, der Wunsch nach Größerem, der Trieb, etwas zu verändern. Und wir müssen etwas verändern, wir müssen uns bewegen.

Soviel zu dem, was ich denke.

Wer ich bin? Nun, das wird sich früher oder später zeigen. Heute jedenfalls nennt man mich Lebensretter, Friedensstifter, Lichtbringer, Schlüssel zu Caeir Aun Isahara … und, (denn es gibt immer auch eine zweite Seite der Medaille), Todesverächter, Chaosbringer, Gottesfeind, Zerstörer von Cair Urd …

Die meisten nennen mich aber einfach nur Das Sandkorn.

Ich denke, fürs Erste habe ich genug darüber verloren, wer oder was ich bin, selbst wenn es nichts über mich aussagt, und es wird auch noch eine ganze Weile dauern, bis ich mir darüber im Klaren bin, ob ich innerhalb der Pläne der mächtigsten unserer Wesen eine bestimmte Rolle spiele, von deren wahrer Natur ich selbst heute, acht Jahre nach meiner eigentlichen „Geburt“, nur einen unmaßgeblichen Teil kenne.

Ich bin im Grunde noch gar nicht da. Denn zu jener Zeit, da alles begann, wusste noch nicht einmal ich, dass ich im Begriff war, in die tückischen Fahrwasser der beiden Urmächte zu geraten, die unsere Welt zum Leben erweckten, oder dass ich irgendwann einmal zum Narren der herrschenden Fraktionen Amaleas werden würde.

Alles, was ich verstand, war, dass ich einen Befehl zu befolgen hatte. Und die Verweigerung eines Befehls ist für jemanden wie mich nicht nur tödlich, sondern ein Ding der Unmöglichkeit. Zumindest verhielt es sich damals so, und auch noch Jahre später. Genaugenommen bin ich erst jetzt dabei, einen Befehl zu missachten und einen Weg zu beschreiten, der weit von alldem wegführt, was ich irgendwann einmal war.

Doch das Jetzt, von dem ich spreche, betrifft die Zeit nach der einzigartigen Begegnung, die sich am Ende des Anfangs zugetragen hat, am Ende jener Vorgeschichte, die ich hier zu klären gedenke.

Ich werde mich heute damit begnügen müssen, zu verstehen, wie alles begann und wie es zu jener Begegnung kommen konnte, die mich, meine Begleiter, ja, die ganze verdammte Welt in ein neues, ein seltsames und verstörendes Licht rückte.

Manches von dem, das mir auf meinem Weg begegnete, nahm ich für bare Münze, anderes kam mir zu Recht abwegig vor, wieder anderes erweckte meinen Zorn oder kostete mich nur ein müdes Lächeln. Aber eines habe ich am Ende begriffen:

Ich bin mehr, als ich sein sollte.

Der Tod ist dein Begleiter

Darcean Dahoccu stand aufrecht in der Mitte seiner Kajüte, zu seinem Bedauern eine kleine Kammer ohne jeden Ausblick, wie es bei allen Kabinen, abgesehen von der des Kapitäns der Fall war. Doch mittlerweile hatte er sich an das schummrige Licht der Öllampe, an die karge Einrichtung und die beengenden Räumlichkeiten gewöhnt. Nicht gewöhnt hatte er sich an die Abwesenheit seiner kleinen Schwester. Sein Leben lang war er für sie da gewesen, war für ihre Sicherheit, ihre Erziehung, ihre Bildung verantwortlich gewesen – seit dem Tod ihrer Eltern, als das Chaos über Moravod hereingebrochen war und lange bevor sie in den neu gegründeten Elfenstaat Albion gereist waren. Doch als er schließlich von Albion nach Aschran aufbrach, um sich dieser Mission anzuschließen, hatte er Sedhorad zurücklassen müssen. Der Weltgeist hatte ihre beiden Leben voneinander getrennt, und Darcean fügte sich in diese Tatsache, auch wenn es ihm schwer fiel.

Um seinen Geist zu glätten, verlagerte er das Gewicht von einem aufs andere Bein, ließ seinen Blick einmal durch die Kajüte wandern und nahm seine privaten vier Wände in sich auf – die schwere Truhe mit den feinen Triskele-Schnitzereien auf dem Deckel, auf dem ein paar seiner zusammengefalteten Tuniken und Hemden neben einem Stück Seife, einem Handtuch und seinem Nachthemd lagen; den Tisch mit seiner weißen Feder in hölzerner Halterung, dem von Elfenhand geschmiedeten Dolch in einfacher Lederscheide und dem kleinen Gestell mit Kerze und Wasserkanne darauf, den Stab aus Eibenholz in der Ecke neben dem Bett …

Darcean schloss seine Augen. Wie von selbst glitten seine Arme zur Seite, hoben sich seine Handinnenflächen nach oben, berührten sich Mittelfinger und Daumen, zog sich ein Bein entlang des anderen bis auf die Höhe seines Knies. Jetzt hatte er die Position erreicht, die ihm dabei helfen würde, das innere Gleichgewicht zu finden.

Im Tai Ji Quaen übertrug sich der innere Kampf um die Ausgewogenheit auf das Äußere und der Körper reagierte, indem er dieses Gleichgewicht aufnahm und hielt. Der Körper spiegelte die innere Befindlichkeit wider und umgekehrt. Das war der Kern der Lehre des Tai Ji Quaen – eine Lehre, die Darcean nur bekannt war, weil einst ein entfernter druidischer Vorfahre mit einem Mönch aus dem Kibaner-Reich eng befreundet gewesen war und dessen Weisheiten nach seinen regelmäßigen Besuchen mit nach Moravod gebracht hatte.

 

Man erzählte sich, dass der Druide zusammen mit dem Mönch während eines gemeinsamen Spaziergangs einen großen Wasservogel beobachtet hatte, der in einen Kampf mit einer Giftschlange verwickelt gewesen war. Die Schlange hatte versucht, ihrem Gegner mit Hilfe ihrer naturgegebenen Schnelligkeit die Giftzähne in seine Flanke zu schlagen, wobei sie seinen hackenden Schnabelangriffen blitzartig auswich. Dabei hatte sie sich stets nur so weit bewegt, wie unbedingt erforderlich, sodass sie auf ihren kurzen Wegen Energie freigesetzt hatte, die sie sofort für einen neuerlichen Angriff nutzen konnte. Der Wasservogel wiederum hatte auf seine Flügel gesetzt, um das Gleichgewicht zu halten und auf diese Weise den Angriffen seines Gegners auszuweichen. Dabei hatte er dem gefährlichen Schlangenkopf stets seine Brust und seinen Kopf zugewandt und es damit vermieden, sich im Kampf die Blöße zu geben. Die beiden Gegner waren ebenbürtig geblieben.

Nach dieser Beobachtung entwickelte der Mönch anhand der beiden ungleichen Tiere und deren Verhalten eine äußerst effiziente Kampfkunst, die darauf abzielte, auch ohne Waffen siegreich zu sein: Qido. Indes schrieb der elfische Druide am Vorbild des Wasservogels eine Abhandlung über die Möglichkeiten, durch bestimmte Bewegungen des Körpers die Suche nach dem inneren Gleichgewicht zu fördern und sich so mit der Natur und dem Weltgeist in Einklang zu bringen: Tai Ji.

Darcean wusste nicht viel über die Kampfkunst, die der Mönch aus seinen Studien entwickelt hatte. Aber das nur wenigen Elfen bekannte Buch des Druiden hatte er bereits in jungen Jahren gelesen. Seither wandte er die Techniken des Tai Ji an, wann immer er das Gefühl hatte, es brächte ihn etwas aus dem Takt.

Seitdem er das Kommandoschiff betreten hatte, erschien es ihm, als hätte der Weltgeist ein erhebliches Problem damit, die Kräfte in ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen. Darceans einziger Trost war in diesen Tagen Siralen. Er konnte sich wunderbar mit ihr unterhalten und hielt große Stücke auf sie.

Darcean setzte sich auf den Hocker und füllte einen seiner gewachsten Holzbecher mit der Kräutermischung, die er aus Albion mitgebracht hatte. Dann goss er heißes Wasser darüber und ließ den Tee eine Weile ziehen. Er war gerade so weit, die Ruhe in der engen Kajüte zu würdigen, da klopfte es nicht gerade dezent an seiner Tür.

Darcean seufzte leise, stellte den Becher zurück auf den Tisch, stand auf und öffnete die Tür.

Heolilejen. Im Korridor stand dieser grobschlächtige Mensch namens Chara Pasiphae-Opoulos samt seiner beiden Leibwachen.

„Darf ich eintreten?“, fragte sie und Darcean unterdrückte ein weiteres Seufzen. „Wenn es Euch ein dringendes Bedürfnis ist.“ Er zog die Tür auf. „Aber diese beiden Archetypen bleiben, wo sie sind.“

Irgendwie schaffte es die Kommandantin, ihren Geleitschutz dazu zu bewegen, sich verdrießlichen Blicks vor der Tür zu positionieren. Nachdem selbige geschlossen war, setzte Darcean sich erneut und bot seinem Gast den noch freien Hocker an. Während Pasiphae-Opoulos sich langsam durch die Kajüte bewegte, studierte er ihr unvergleichliches Gesicht.

Die Geschichten, die er in Tamang gehört hatte, waren wahr. Chara war selbst für den Geschmack des unsterblichen Volkes von geradezu inspirierender Schönheit – wenn man denn von der Tatsache absah, dass der Stoff ihres Geistes von so grober Faser war wie einfache Jute und die Art, wie sie sich gebar, jeglicher Grazie spottete. Er wollte gerade zur Frage nach dem Grund ihres Besuches anheben, da stand sie plötzlich hinter ihm. Und noch bevor ihm klar wurde, was hier gespielt wurde, fühlte er kalten Stahl an seinem Hals.

„Habt Ihr den Verstand verloren?“, entfuhr es ihm, doch er ermahnte sich sofort zur Ruhe. Noch hatte sie ihren Dolch ja nicht in Bewegung gesetzt.

„Ihr wisst etwas, das Ihr nicht wissen dürftet“, vernahm er ihre Stimme in seinem Rücken. Ihr Arm lag über seiner Brust und drückte ihm die Luft ab.

„Wovon sprecht Ihr?“, fragte er und kämpfte darum, seine Stimme ruhig zu halten. Es gelang ihm nicht ganz.

„Von den Schwarzen Assassinen.“

„Deren Geheimnis Ihr verraten habt, nicht ich. Bin ich etwa für Euren Fehler verantwortlich?“

Jetzt spürte er, wie Charas Mund an seiner Schläfe ein Lächeln formte. Diese Frau war eindeutig einen Pakt mit dem Wahnsinn eingegangen.

„Nein, Darcean. Und es tut mir auch fast leid, dass Ihr für meinen Fehler bezahlen müsst. Aber am Ende ist es gleich, wer den Fehler macht. Eine Schadensbegrenzung bleibt nicht erspart. Ich bin sicher, Ihr versteht das.“

Charas Unterarm presste ihn hart gegen die Lehne. Er hatte keine Möglichkeit, sich herauszuwinden. Und die Klinge ihrer Waffe blieb, wo sie war. Seltsamerweise erschien ihm ihre Stimme sanfter, ihre Worte gerade in diesem bizarrsten aller Momente fast weise im Vergleich damit, was sie sonst so von sich gab.

„Da mögt Ihr Wahres sprechen, doch widerspricht es jeglicher Gerechtigkeit, die Schadensbegrenzung an Unschuldigen zu betreiben.“

„In diesem speziellen Fall kann das Problem leider nur auf diese Weise gelöst werden.“ Sie senkte ihre Stimme zu einem Flüstern. „Ich werde Euch nicht töten, Darcean. Aber wenn Euch dieses kleine Geheimnis je über die Lippen kommt, wenn Ihr nicht lernt, es zu vergessen, es so tief in Euch zu begraben, dass Ihr das nächste Mal, wenn Ihr einem Schwarzen Assassinen gegenübersteht, vergessen habt, wer oder was sich unter seinen dunklen Gewändern verbirgt, werdet Ihr tot sein, noch ehe Ihr Euren Fehler bemerkt habt. Habt Ihr das verstanden?“

„Verschwindet aus meiner Kajüte!“ Darcean konnte nicht mehr an sich halten. Dieser geistlose Mensch wagte es, ihn in seinen eigenen vier Wänden derart nassforsch zu bedrohen.

„Ich frage noch einmal“, kam es unverfroren zurück. „Habt – Ihr – mich – verstanden?“

Er fühlte, wie die Klinge seine Haut ritzte.

„Ich habe Euch sehr gut verstanden“, antwortete er heiser.

Der Dolch zog sich zurück. Der Arm um seine Brust verschwand. Darcean atmete tief durch.

„Nichts für ungut“, sagte Chara und steckte das Messer weg. „Im Grunde hab ich nichts gegen Euch. Ist einfach nur blöd gelaufen.“ Sie öffnete die Tür und verschwand im Korridor, wo sie sofort von ihren beiden Wachen in die Mitte genommen wurde.

Darcean massierte sich den Nacken und stand auf. Das war also die Oberkommandantin dieser Flotte … und so sahen ihre Problemlösungsstrategien aus.

Mit gemischten Gefühlen griff er nach seinem Dolch, öffnete seinen Webgürtel und befestigte die Dolchscheide daran. Dann zog er seinen Kapuzenumhang vom Bettpfosten.

Es würde ihm nicht erspart bleiben. Es war unabdingbar, Siralen über den Vorfall in Kenntnis zu setzen. Und da es erst früher Morgen war, befand sie sich vermutlich an Deck und widmete sich ganz ihrem Schwerttanz.

Auf dem Weg zurück in ihre Kajüte kam ihr einer der Matrosen entgegen.

„Lucretia L’Incarto schickt mich, Frau Flottenoberkommandantin. Sie braucht Euch an Deck.“

Chara zog die Hand vom Türgriff und blickte an dem Mann vorbei in die Mannschaftsunterkünfte. Kerrim war im Augenblick mit einem seiner Leute in der Flotte unterwegs. Aber Simi musste an Bord sein. „Worum geht es?“

Als Antwort bekam sie ein Schulterzucken und einen unbehaglichen Blick. „Weiß nicht genau. Aber die Stimmung an Deck ist ziemlich angespannt. Es geht um Stowokor Olschewski. Wenn ich’s richtig verstanden hab, will Lucretia ihn festnehmen lassen.“

„Und Olschewski wehrt sich.“

„So in etwa.“

Chara nickte. „Gehen wir.“

Während Chara dem Matrosen durch den Korridor zu den Mannschaftsunterkünften folgte, dachte sie an ihr letztes Gespräch mit Lucretia. Die Magierin hatte ihr von den Botschaften aus unbekannter Feder erzählt. Sogar, dass sie befürchtete, Stowokor wäre in die Sache verwickelt. Dabei war sie nicht zu betonen müde geworden, dass die Nachrichten von Schattenhand übermittelt worden waren. Und selbstredend, dass Schattenboten gerne mit den Assassinen in Verbindung gebracht wurden. Der eigentliche Hintergrund von Lucretias Redseligkeit war also die Hoffnung, ein Assassine wäre der eigentlich Verantwortliche und Chara könnte die Sache vielleicht irgendwie aufklären. Dann wäre Olschewski aus dem Schneider gewesen.

Lucretia hatte sich also entschieden, ihren Liebhaber festnehmen zu lassen. Damit bewies sie Initiative. Und eine gewisse Härte, wenn man bedachte, wie nahe sich die beiden allem Anschein nach standen. Gnadenloses Voranschreiten statt ängstlicher Stagnation … Die Magierin hatte offenbar ein Heilmittel gegen das lähmende Gift der Lethargie gefunden, die sie während der vergangenen Trideade gefangen gehalten hatte. Die Kommandantin der Zauberkundigen schritt erneut zur Tat. Und Olschewski war ihr Auftrag. Mit Verlaub, das war exakt jener Gang über eine schmale Brücke, den Chara sich bis jetzt erspart hatte.

„Simi, Tyrsis, mitkommen!“, rief sie, als sie vier der fünf Hatschmaschin in ihren Hängematten dösend vorfand. Die beiden waren so schnell auf den Beinen, als hätte Al’Jebal sie persönlich wachgeküsst. „Sieht so aus, als müssten wir jemandem seine Rechte vorlesen.“

Die Oberdecks der Meerjungfrau hatten sich drastisch verändert. Das Hauptdeck hatte sich in eine Arena verwandelt, und die kleineren Decks bug- und heckseitig in Tribünen. Dicht gedrängt standen die Matrosen auf dem Achterdeck und Vordeck und verfolgten gebannt, was sich um den Hauptmast im Zentrum der Meerjungfrau abspielte. Nur fand dort kein Kampf statt, sondern eine offensichtliche Tragödie.

Der Himmel war wolkenverhangen und eine steife Brise trieb Tauron die Tränen in die Augen. Er hatte sich am Poopdeck aufgebaut und beobachtete wachsamen Blicks, was auf seinem Schiff vorging. Sein Bart juckte, was er meistens tat, wenn er irgendwie angespannt war. Jetzt gerade war er ziemlich angespannt – immerhin sah es aus, als würde es demnächst eine Festnahme auf seinem Schiff geben.

Zeit für eine Rasur.

Er erhaschte einen Blick auf Siralen, die nahe dem Großmast stand, ihre blauen Augen unruhig die Reling fixierend, an welcher sich der etwas untersetzte Magier namens Stowokor Olschewski befand und wie in Trance auf das Meer hinausblickte. Neben ihm auf den Planken standen eine kleine Truhe und ein Rucksack.

Fällt nicht in meinen Zuständigkeitsbereich, ermahnte sich Tauron. Nicht, solange sich die werten Zauberkundigen an die Regeln an Bord meines Schiffes halten. Im Augenblick sah es ganz danach aus.

Die vier eben erst an Bord gekommenen Magier, darunter die Kleine, die zu Telos Malakin gehörte, waren umgehend in der Offiziersmesse abgetaucht und warteten dort darauf, ihren Dienst an der Sache zu tun. Soweit Tauron informiert war, waren sie hier, um Olschewski einer Befragung zu unterziehen, weil er sich des Verdachts auf Verrat schuldig gemacht hatte. Damit hatte Olschewski offenbar ein Problem, denn er hatte kurzerhand seine Sachen gepackt und nach einem Drachenboot verlangt. Das war natürlich gewesen, bevor Tauron gewusst hatte, worum genau es ging. Jetzt wartete Stowokor Olschewski, dass sein Drache aufkreuzte, was ihm wahrscheinlich nicht einmal dann weiterhelfen würde, wenn Tauron ihm gestattete, von Bord zu gehen. Denn gerade betraten Chara und zwei Assassinen das Hauptdeck, und die waren ganz sicher nicht hier, um ihn freundlich zu verabschieden. Lucretia hatte nach ihnen schicken lassen.

Die Kommandantin der Zauberkundigen stand neben Tauron auf dem Poopdeck, hatte das Kinn zu unwiderrufbarer Schicksalsverkündung erhoben und befahl Chara und den Hatschmaschin mit fester Stimme: „Nehmt ihn fest! Danach bringt ihr ihn in die Brig!“

Gleich darauf zog sie sich zusammen wie ein ausgepresster Schwamm. Ihre Zähne schienen sich ineinander verkeilt zu haben, ihre Kiefer mahlten. Die Narbe in ihrem Gesicht hatte sich weiß gefärbt. Also hatte sie ein Problem damit, ihren Gefährten auszuliefern. Es hätte selbst ihm, Tauron, ein Zwicken in der Bauchgegend verursacht, wenn es ihr egal gewesen wäre. Er hatte mit der Liebe nicht viel am Hut, wusste aber, was Solidarität bedeutete, und dass es Zeiten gab, in denen die Zusammengehörigkeit über allen anderen Dingen stehen musste. Nur so konnte man einen verrückten Haufen wie Piraten zusammenhalten, nur so konnten Freidenker an einem Strang ziehen, nur so war das Leben überhaupt lebenswert. Manchmal musste man dieses Zusammenhaltes wegen Regeln brechen. Wer wusste das besser als er? Klar brach er das Gesetz. Er war Pirat.

 

Lucretia L’Incarto hatte sich wiederum dazu entschlossen, sich an die Regeln zu halten und ließ jegliche Gefühle außen vor. Sie überantwortete ihren Geliebten seinen Häschern. Tauron respektierte das, auch wenn ihm sein Herz sagte, dass es falsch war.

Sein Blick kehrte zurück zu Siralen und er kratzte sich abwesend den Bart. Die Elfenkommandantin hatte sich nicht von der Stelle bewegt, aber mittlerweile Gesellschaft von ihrem farblosen Blutsverwandten bekommen. Das neue spitzohrige Besatzungsmitglied klebte an seiner Vorgesetzten wie eine Schnecke an einem angebissenen Apfel. Und wenn er es sich genau überlegte, war der Kerl eine ziemliche Konkurrenz. Elfen waren immer hübscher als Menschen. Das war ein unverdientes Privileg.

Tauron lenkte sein Augenmerk auf Chara, die jetzt zu Olschewski an die Reling trat. Ihre Leibwachen und die beiden Assassinen hielten sich zurück und blieben neben der Luke zu den Mannschaftsunterkünften stehen.

Es war beängstigend still an Bord der Meerjungfrau. Der große Kuhrn hatte es sich mit Stinkstiefel und Popoken am Vordeck bequem gemacht. Der gertenschlanke zweite Maat, der eigentlich Isiltar Tomalak hieß, verdankte seinen Kampfnamen der Tatsache, dass er seinen Besatzungsmitgliedern gerne an den Hintern fasste. Was Tauron zwar nicht gerade gut fand, aber auch schlecht verbieten konnte. Die drei steckten die Köpfe zusammen und tuschelten, ebenso wie die meisten anderen seiner Mannschaft. Gut, dass die Zauberkundigen, abgesehen von Lucretia und Magus Primus Kasai, nicht hier waren. Andernfalls würde es über kurz oder lang wahrscheinlich zu Reibereien zwischen den Hatschmaschin, den Robenträgern und den Piraten kommen. In letzter Zeit gingen die Wellen reichlich hoch.

Tauron blinzelte. Da war das Blitzen von Metall zwischen Chara und Olschewski …

Verdammt! Es sah ganz danach aus, als ginge es nicht ohne Blutvergießen.

„Alles klar, Olschewski“, murmelte Chara und fokussierte den Dolch in seiner Hand. „Schlage vor, Ihr kommt jetzt mit mir in die Offiziersmesse und lasst Euch von Euren Kollegen befragen. Dann bleibt Euch der dreckige Aufenthalt in der Brig erspart.“

Olschewski umklammerte die Reling, ohne dabei seinen Dolch wegzustecken – als hätte er Angst davor, über Bord zu gehen. „Ihr habt keine Vorstellung davon, was mich in der Messe erwartet, oder?“, stieß er hervor. „Ihr wisst nicht, was eine Befragung durch Magie bedeutet.“

„Kann nicht viel schlimmer sein, als eine Befragung durch mich.“ Sie grinste. Olschewski fand das offenbar nicht witzig. Nok und Iti ebenso wenig. Das knarrende Geräusch in ihrem Rücken sagte ihr, dass die beiden Dad Siki Na hinter sie getreten waren.

„Ich werde mich nicht von Euch festnehmen lassen“, bemerkte Stowokor und seine Stimme vibrierte. „Eher … sterbe ich.“

Charas Blick fiel erneut auf das Messer in seiner Hand. Die Klinge fest im Griff, drehte Olschewski sich um und suchte nach Lucretia. Chara sah keinen Grund, ihn daran zu hindern. Es ging nicht die geringste Gefahr von dem Moravi aus. Sollte er tatsächlich mit dem Gedanken spielen, den Dolch gegen sie zum Einsatz zu bringen, hätte sie ihn binnen eines Wimpernschlags entwaffnet. Nur seine Magie konnte ihr gefährlich werden. Aber dagegen war sie gewappnet. Magier brauchten Zeit für ihren Spruch. Für einen tödlichen Hieb brauchte man lediglich einen Herzschlag.

Eigentlich wollte sie nicht hinsehen. Eigentlich war es ratsam, sich diesem Anblick nicht auszusetzen. Doch sie folgte Stowokors Blick. Sie sah, was er sah: Lucretia, wie sie zwischen Tauron und Kasai auf dem Poopdeck stand und der Situation Herr war oder dies zumindest vorgab. Ihre roten Locken glänzten sogar in dem trüben Licht eines wolkenverhangenen Tages. Schönheit war so relativ wie alles andere. In diesem Fall war sie vom Einfallswinkel des Lichts abhängig.

„Ich liebe dich, Lucretia“, murmelte Olschewski, und Chara lenkte ihren Blick zurück auf den Ozean. „Egal, was passiert.“

Egal, was passiert …

„Nimm ihn fest, Chara!“, übertönte Lucretias harte Stimme das leise Geständnis. „Bringen wir es hinter uns!“

Wenn Stowokor nicht zuvor schon bar jeder Hoffnung gewesen war, dann war er es jetzt. Als er sich umdrehte, hatte sich sein Gesicht vor Schmerz verzerrt. Eine Träne stahl sich aus seinem Auge und blieb an seinen Wimpern hängen.

Nicht doch.

Irgendetwas in Chara rebellierte. Irgendetwas legte sich quer.

„Er wird sich nicht festnehmen lassen, Lucretia!“, rief sie zum Poopdeck hoch.

„Es wird ihm nichts anderes übrig bleiben!“, warf Lucretia gnadenlos zurück. „Seit wann bist du so zimperlich, Chara? Du hast ihn im Pass von Cunair Tarr ohne Hemmungen bewusstlos geschlagen.“

Chara spannte sich an. Der trockene Boden der Pragmatik verwandelte sich in ein unwirtliches Gelände, auf dem jeder Schritt zu einem Balanceakt wurde. Zorn keimte auf dem Feld nüchterner Berechnung und trübte die Wahrnehmung.

„Ich glaube, du verstehst nicht ganz, Lucretia“, knirschte sie und spürte, wie ihr die Hitze den Leib hochkroch. „Er wird sich unter – keinen – Umständen – festnehmen lassen!“

„Hör auf zu reden und mach deine Arbeit!“

Chara holte tief Luft. Von mir aus. Deine Entscheidung.

Sie hatte sich gerade so weit, Stowokor zu packen und ihm das Messer aus der Hand zu winden, da zog er eine Schriftrolle aus seinem Gürtel.

„Würdet Ihr Lucretia diesen Brief geben?“, fragte er und schob ihr die kleine Schriftrolle zu.

Wie mechanisch nahm sie das Pergament entgegen und ließ es in ihrer Manteltasche verschwinden.

„Versprecht es mir.“

„Ich verspreche es.“ Einem Sterbenden schlug man keine Bitte aus. Besonders, wenn er unter solchen Umständen zugrunde ging.

Ein Drachenboot näherte sich, drehte aber Augenblicke später wieder ab. Tauron hatte Flaggensignal geben lassen.

„Wirst du mich aufhalten, Sandkorn?“, murmelte Stowokor mit schmerzlichem Lächeln.

Chara spürte, wie ihre Augen schmal wurden. Gerade war es zwischen ihr und dem Magus sehr privat geworden.

„Willst du dich nicht einfach von deinen Leuten befragen lassen, Stowokor?“, unternahm sie einen letzten Versuch. „Vielleicht wird es ja nicht so schlimm, wie du befürchtest.“

„Wo liegt das Problem, Chara?“, flüsterte die Stimme in ihr.

Stowokor schüttelte schwach den Kopf und die Träne fiel von seinen Wimpern auf das Kinn, wo sie sich zitternd an den kaum vorhandenen Bartstoppeln festklammerte.

„Wieso nennst du ihn plötzlich Stowokor? War er nicht immer der schwächliche Olschewski?“

Die Frage war berechtigt. Trotzdem spürte sie das leise, nagende Verlangen, ihm die Waffe aus der Hand zu schlagen und damit zu verhindern, was er gerade zu tun gedachte. Aber wieso sollte sie? Oder besser, wie konnte sie? Es war seine Entscheidung. Sein Leben. Seine Wahl.

„Du kannst … das nicht verstehen, Chara. Es geht nicht darum, dass ich Angst vor der Folter habe. Schon, aber das ist es nicht …“

„Was dann?“ Irgendwie wusste sie es, irgendwie auch wieder nicht. Die Frage war, warum sie es ganz genau wissen wollte.

„Ich kann es dir nicht erklären. Vielleicht findest du es irgendwann selbst heraus. Wünschen tu ich es dir nicht.“ Er schloss die Augen, umfasste den Dolch fester.

Chara spähte zu dem Drachenboot, das jetzt nur noch ein kleiner schwarzer Punkt in der Ferne war. Hätte es Stowokor geschafft, mit dem Boot zu fliehen, würden sie und die Hatschmaschin jetzt hinter ihm her sein. Im Zweifelsfalle würden sie ihn, ohne mit der Wimper zu zucken, töten. Doch das hier war etwas anderes. Hier stand der Verdächtige und plante, sich das Messer selbst in den Leib zu stoßen. Seltsamerweise glaubte sie ihm, dass es nicht die Angst vor der peinlichen Befragung war. Ginge es hier um Angst, würde sie nicht zögern. Sie hätte auch kein Problem damit, ihn hier und jetzt umzubringen. Der Angst begegnete sie mit Gnadenlosigkeit.