Kostenlos

Sonderlinge

Text
iOSAndroidWindows Phone
Wohin soll der Link zur App geschickt werden?
Schließen Sie dieses Fenster erst, wenn Sie den Code auf Ihrem Mobilgerät eingegeben haben
Erneut versuchenLink gesendet

Auf Wunsch des Urheberrechtsinhabers steht dieses Buch nicht als Datei zum Download zur Verfügung.

Sie können es jedoch in unseren mobilen Anwendungen (auch ohne Verbindung zum Internet) und online auf der LitRes-Website lesen.

Als gelesen kennzeichnen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa
 
O unglücksel'ge Menschheit,
Die Ruhe ist dir nicht beschieden;
Erst dann lernst du sie kennen,
Wenn du den Grabesstaub geschluckt . . .
Wie bitter, ach, ist diese Ruh!
Ihr Toten, ruhet – weint, ihr Lebenden!
 

Diese Verslein waren das Werl eines gewissen Gormitsch-Gormitzki, eines fahrenden Poeten, den Telegin in sein Haus aufgenommen hatte, weil er ihm den Eindruck eines zartfühlenden, ja sogar empfindlichen Mannes zu machen schien. Dieser Dichter trug Schnürschuhe, sprach mit kleinrussischem Accent und stieß oft, die Augen gen Himmel gerichtet, leise Seufzer aus. Zu all diesen Vorzügen kam noch, daß Gormitsch-Gormitzki als Zögling einer Jesuitenanstalt leidlich französisch sprach, während Telegin es nur »verstand«. Aber als dieser feinfühlige Mann eines Tages sinnlos betrunken aus einer Schenke kam, lieferte er Beweise einer unerhörten Gewaltthätigkeit: er prügelte nicht bloß Telegins Kammerdiener bis aufs Blut, sondern auch seinen Koch, zwei zufällig herbeigeeilte Wäscherinnen und sogar einen fremden, im Hause anwesenden Tischler; außerdem zertrümmerte er eine große Anzahl Fensterscheiben; und dabei schrie er wütend: »Wartet nur, ich werd' euch aufspielen, ihr russischen Tagediebe, ihr ungehobelten Klötze!«

Und welche Kraft in diesem armseligen Wesen steckte! Acht Menschen waren nötig, um mit ihm fertig zu werden! Als er endlich gebändigt war, befahl Telegin, den Dichter aus dem Hause zu jagen, nachdem er ihn zuvor innaturalibus in den Schnee hatte setzen lassen (es war im Winter), um ihn wieder nüchtern zu machen . . .

»Ja ja,« sagte Telegin oft, »meine Zeit ist vorüber; ich bin ein gutes Roß gewesen; jetzt bin ich abgetrieben. Schau, ich habe mir auf eigne Kosten Dichter gehalten, ich habe den Juden Gemälde und Bücher abgekauft, und meine Gänse waren ebenso schön wie die des Muchanoff, auch habe ich ächte Purzeltauben mit thonfarbenem Gefieder gehabt . . . Alles Hab' ich gehabt! Und doch bin ich nie ein Hundeliebhaber gewesen, weil sich das mit der Trunksucht, Unsauberkeit und Roheit paart. Ich war ein wilder, unbändiger Bursch. Und welch ein herrliches Gestüt ich hatte! Und wovon glaubst du, daß sie abstammten, meine Pferde? Von den berühmten Rossen des Zaren Iwan Alexejewitsch, des Bruders Peters des Großen! . . . Ja ja, wie ich dir sage! Alle meine Zuchthengste waren Brandfüchse; ihre Mähnen reichten bis zum Knie, die Schweife bis zur Erde – wahre Löwen! . . . Und das alles ist verschwunden, es ist Gras darüber gewachsen. Eitelkeit der Eitelkeiten, alles ist nur Eitelkeit! . . . Indes, wozu mit Bedauern auf dies alles zurückblicken? Jedem Menschen ist sein Geschick vorgezeichnet. Höher als bis zum Himmel kann man nicht fliegen und weder im Wasser leben noch es vermeiden, daß man eines Tages unter der Erde liegt . . . Schlagen wir uns durchs Leben, so gut es gehen will!«

Und der gute alte Mann begann wieder zu lächeln und nahm sich eine Prise spanischen Tabak.

Die Bauern liebten ihn: er wäre ein guter »Barin«, sagten sie, der sie seinen Zorn nicht fühlen ließe. Aber auch sie verglichen ihn mit einem abgetriebenen Pferde. Früher überwachte er alles selbst; er besichtigte die Felder, die Korn- und die Oelmühle und die Speicher; er warf einen Blick in die Bauernhütten; jedermann kannte seine mit rotem Samte behangene Renndroschke, bespannt mit einem großen Pferde aus demselben berühmten Gestüte, das mitten auf der Stirn einen großen Stern hatte und von dem Volke »Laterne« genannt wurde. Die Zügel um die Hände geschlungen, lenkte Telegin es immer selbst. Aber als der Greis sein siebzigstes Jahr vollendet hatte, entsagte er alledem; die Verwaltung seines Gutes vertraute er dem Burmister (Schultheiß, Dorfschulzen) Antip an, vor dem er sich im geheimen fürchtete und den er Mikromegas – eine Erinnerung an Voltaire – oder sogar schlechtweg »Spitzbube« nannte.

»Nun, Spitzbube, was gibts Neues? Hast du deinen Speicher gut versorgt?« sagte er oft lächelnd zu ihm, indem er ihn anblickte.

»Alles, was ich besitze, verdanke ich Ihrer Güte,« antwortete Antip fröhlich.

»Güte, Güte . . . Aber nimm dich in acht, Mikromegas! Laß dirs nicht einfallen, die Bauern, mein? Unterthanen »da draußen« auch nur mit der Fingerspitze zu berühren! Wenn sie sich beklagen – siehst du diesen Stock? Mit dem wirst du dann Bekanntschaft machen!«

»Ihren Stock, Väterchen Alexis Sergejewitsch, vergesse ich niemals,« antwortete Antip- Mikromegas, sich liebevoll den Bart streichelnd.

»Sehr schön; vergiß ihn nur ja nicht.«

Und der Barin und der Burmister lachten sich gegenseitig ins Gesicht.

Die Hofleibeigenen und im Allgemeinen alle seine »Unterthanen« – wie er seine Leibeigenen zu nennen liebte – behandelte er mit großer Milde. »Denn im Grunde, lieber Neffe, besitzen sie für ihre Person gar nichts als etwa das Krenz, das sie am Halse tragen – und das ist noch von Kupfer; nach fremdem Gut wagen sie nicht zu begehren . . . Woher sollen sie den Verstand haben, sich gut aufzuführen?«

Selbstverständlich dachte in jener Zeit noch niemand an die Aufhebung der Leibeigenschaft, und so konnte diese Frage Telegin auch nicht beunruhigen. Er regierte seine »Unterthanen« sehr gelassen; aber streng tadelte er die schlechten Herren, welche er »die Feinde seines Standes« nannte. Und wenn einer von ihnen hart und tyrannisch gegen seine »Unterthanen« war, erklärte er ihn als einen Missethäter vor Gott und den Menschen.

Ja, die Hofleibeigenen hatten ein angenehmes Leben bei Telegin; »die Unterthanen da draußen« waren natürlich weniger glücklich gestellt, trotz des Stockes, mit dem er Mikromegas bedrohte.

Es war eine wahre Armee, all diese Hofleibeigenen – zum größten Teil alte, lang haarige, abgemagerte, knurrende, gebückt gehende Gestalten, die in lange Nankingröcke gewickelt waren und einen beißenden scharfen Duft verbreiteten. Was den weiblichen Teil betraf, so war es ein ewiges Stampfen nackter Füße und ein betäubendes Klatschen von Weiberröcken.

Der erste Kammerdiener hieß Irinarch. Sein Herr nannte ihn stets bei seinem Namen, indem er langsam jede Silbe betonte: I – ri- arch! Wenn er die Andern anrief, so sagte er einfach: »Heda, Kleiner!« oder: »Holla, du Spitzbube!« oder: »Wer von meinen Unterthanen ist da?« Schellen und Klingeln waren ihm verhaßt. »Das ist ja, als wenn man, Gott verzeih mir, in einer Schenke wäre!« sagte er. Was mich immer sehr wunderte, war, daß sein Kammerdiener, er mochte ihn rufen, wann er wollte, augenblicklich erschien, als wenn er aus dem Boden emporgewachsen wäre, und daß er immer mit zusammengezogenen Hacken und den Händen auf dem Rücken mit mürrischer, fast boshafter Miene vor seinem Herrn stand. Aber, welch ein eifriger Diener war er!

Telegin übte die Wohlthätigkeit in einem weit größern Maßstabe, als es ihm sein Vermögen erlaubte; aber er hatte es nicht gern, daß man ihn Wohlthäter nannte. »Wozu denn Wohlthäter, mein geehrter Herr? Mir, nicht Ihnen erweise ich eine Wohlthat!« Wenn er in Zorn oder Entrüstung geriet, sagte er zu Jedermann »Sie«.

»Wenn ein Armer dich um ein Almosen bittet,« pflegte er zu sagen, »so gib es ihm einmal, zweimal, dreimal. . . Kommt er zum vierten Mal, gib ihm auch dann etwas, aber füge hinzu: »Guter Freund, versuche jetzt mit etwas andern, zu arbeiten als mit dem Munde.«

»Aber, lieber Onkel, wenn er trotzdem zum fünften Mal kommt?«

»Na, so gib ihm auch zum fünften Mal etwas.«

Wenn Kranke ihn um Hilfe angingen, so ließ er sie auf seine Kosten behandeln, obgleich er zu den Aerzten kein Vertrauen hatte und für sich selbst niemals einen holen ließ.

»Meine selige Mutter,« versicherte er, »kurierte alle Krankheiten mit salzigem Olivenöl, bald innerlich bald äußerlich, und ihre Kuren waren alle von gutem Erfolg gekrönt. Und weißt du, was für eine Frau meine Mutter war? Sie war zur Zeit Peters des Ersten geboren! Danach urteile!«

Telegin war in allem ein ächter Russe: er liebte nur russische Küche und russische Lieder. Die Ziehharmonika verabscheute er als eine »Fabrikantenerfindung«. Gern sah er den Reigentänzen der Bauernmädchen und der jungen Frauen zu: in seiner Jugend, erzählte er, sei er ein tüchtiger Sänger gewesen, und im Tanzen habe es ihm niemand zuvorgethan. Auch liebte er Dampfbäder: aber sie mußten so heiß sein, daß Irinarch, der ihn dann bediente, jedesmal so rot »wie eine neue kupferne Bildsäule« wieder zum Vorschein kam und sagte: »Na, diesmal bin ich, Irinarch Tolobejeff, noch mit dem Leben davon gekommen! . . . Aber was wird mir das nächste Mal passieren?«

Telegin sprach ein ausgezeichnetes, etwas altmodisches, aber geschmackvolles und reines Russisch, und er hatte die Gewohnheit, seine Rede gelegentlich mit gewissen Lieblingsausdrücken wie »Auf Ehre, Gott helfe mir« u. s. w.  zu würzen.

Doch genug von ihm. Sprechen wir jetzt von seiner Frau Melanie Pawlowna.